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Ich lief den Weg bis zur Hütte zurück, folgte einem Forstweg, der sich durch ein Buchenwäldchen schlängelte, und kam unterhalb des Friedhofs auf der Bundesstraße heraus, die in die Innenstadt führte. Ich folgte ihr rund einen Kilometer, während sich der Himmel über mir dunkel färbte. Ich war auf dem Weg ins Krankenhaus, um dort mit der Gerichtsmedizinerin Bea Rudolf zu sprechen.

Die pathologische Abteilung lag im Kellergeschoss unter der Notaufnahme, und als ich ankam, hoben zwei Rettungssanitäter gerade einen Verletzten aus einem Krankenwagen. Der Notarzt hielt einen Infusionsständer, während die beiden anderen die Bahre transportierten.

In der Notaufnahme war es bemerkenswert ruhig. Zwei Kinder spielten auf dem Fußboden vor leeren Rollbetten, eine Frau hielt einen alten Mann am Arm und sprach mit einer Schwester, die sich Notizen auf einem Klemmbrett machte. Sie beachteten mich nicht weiter, als ich eiligen Schrittes zum Fahrstuhl ging.

Ich fuhr hinunter in den Keller und ging dann einen neonbeleuchteten Gang entlang bis zu einer Stahltür, hinter der die pathologische Abteilung lag. Da das kleine Solthavener Polizeirevier keine eigene gerichtsmedizinische Abteilung besaß, untersuchte hier bei ungeklärten Todesfällen ein Gerichtsmediziner vom Landeskriminalamt in Magdeburg die Leichen. Seit über 30 Jahren kam meistens Bea Rudolf nach Solthaven.

Der fensterlose Raum war in einem tristen 1970er-Jahre-Beige gefliest und wurde von Neonröhren in kaltes Licht getaucht. Sechs Rollbahren aus glänzend poliertem Edelstahl standen in einer Reihe längs nebeneinander. Fünf Tote waren mit Laken bedeckt. Die sechste Leiche war unbedeckt, weiblich und nackt. Vor ihr stand Bea Rudolf in einem grünen Kittel und sprach in ein Diktiergerät.

Als sie mich bemerkte, überflog ein ärgerlicher Ausdruck ihr Gesicht, und sie beendete die Aufnahme. Was ich wollte, fragte sie, während sie die Frau mit einem Laken bedeckte. Die Füße der Toten schauten hervor. An ihrem großen Zeh hing ein gelber Zettel.

Ich zeigte ihr meinen Presseausweis, erklärte, dass ich für eine Hamburger Tageszeitung arbeitete und dass Felix Kortner mich schickte, um ihr ein paar Fragen zu stellen. Es würde nicht lange dauern.

Sie nickte und bat mich, mit nach nebenan ins Dienstzimmer zu kommen.

Schließlich saßen wir uns gegenüber.

»Was wollen Sie wissen?«, fragte sie.

»Sagt Ihnen der Name Charles Swann etwas?«

»Seine Mutter liegt hier bei mir.« Sie konnte ihre Verblüffung kaum verbergen, dass ich ihr nicht als Erstes Fragen zu Margo oder Nora Schnitter stellte.

Von draußen waren Stimmen zu hören.

»Haben Sie Charles Swann damals auch obduziert?«

Eine Tür klapperte, die Stimmen verstummten.

»Wieso interessiert Sie das?« Sie lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und musterte mich interessiert.

»Haben Sie?«

»Felix Kortner hat Sie nicht geschickt, nicht wahr? Sie sind auf eigene Faust hier.«

Sie hatte mich erwischt. Ich nickte. »Tut mir leid. Ich befürchtete, Sie würden sonst nicht mit mir sprechen. Darf ich Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen?«

»Sie waren seine Freundin, nicht wahr?«, fragte sie zurück, und als ich wieder nickte, sagte sie: »Sie wollen die Einzelheiten nicht wissen, glauben Sie mir.«

»Wurde er von hinten erschossen?«, fragte ich. »Wissen Sie das noch?«

Bea Rudolf betrachtete mich. »Warum tun Sie sich das nach all den Jahren an?«

Ihr Blick glitt über mein Gesicht.

»Erinnern Sie sich?«, fragte ich.

Sie zögerte. »Ja, ich erinnere mich. Er wurde von hinten erschossen. Und danach hat man ihn unnötigerweise geschlagen. Wenn er nicht schon tot gewesen wäre …«

Ich unterbrach sie. »Geschlagen?«

Ihre Augen wurden schmal. »Frau Lambert, Ihr Bruder hat da ganze Arbeit geleistet.«

»Was meinen Sie damit?«

»Jemand hat Charles’ Schädel nach seinem Tod bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert und auf seinen Körper eingeprügelt. Dahinter steckte sehr viel Hass. Glauben Sie mir. Auch als Gerichtsmedizinerin sieht man so etwas nicht jeden Tag. Es war grauenhaft, sonst würde ich mich nicht so genau daran erinnern.«

Es war ein unheimliches Gefühl, das sich in mir ausbreitete. Als würde ich ins Leere fallen. Nein, dachte ich, nein. Es war kein Hass. Zu so etwas war Leo nicht fähig.

»Könnte es Kalkül gewesen sein?«

Sie überlegte einen Moment.

»Es war Hass«, sagte sie. »Von dem Kopf Ihres Freundes war nicht mehr viel übrig.«

»Musste Margo Charles dennoch identifizieren?«

»Ja.«

»War es leicht für sie?«

»Leicht?« Bea Rudolf sah mich ungläubig an.

»Konnte sie ihn problemlos identifizieren?«

Sie dachte einen Moment nach. »Ich glaube, er hatte ein daumengroßes Muttermal an der Innenseite eines Schenkels. Von daher war es für sie leicht.«

Ein neuer Schmerz zuckte durch meinen Unterleib, und mir wurde übel. Ich riss mich zusammen, holte tief Luft und fragte: »Wie hat Margo reagiert?«

Der Schmerz wurde stechender. Ich biss die Zähne aufeinander. Nicht jetzt, dachte ich.

»Sie hat geweint. Wissen Sie, niemand möchte sein Kind so sehen, nachdem …« Sie schwieg und sah mich besorgt an.

»Nachdem?« Ich bekam kaum noch Luft vor Schmerz.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Ich nickte.

»Wollen Sie das wirklich wissen?«, fragte sie.

»Ich bin Gerichtsreporterin. Ich halte es schon aus«, sagte ich mühsam. Die Wände schoben sich auf mich zu, und der ohnehin kleine Raum wurde winzig.

Bea Rudolf lehnte sich in ihrem Sessel zurück, verschränkte die Finger über den Hüftknochen, ihre beiden Mittelfinger zeigten wie eine Schere auf mich. Bitte mach hin, dachte ich, ich habe keine Zeit mehr.

»Seine Rippen waren gebrochen und hatten sich in sein Herz gebohrt. Sein Gesicht war durch Schläge so verunstaltet, dass man es nicht mehr erkennen konnte. Ich erinnere mich nicht an jedes Detail, aber ich weiß noch, dass selbst die Sehnen an seinem Kiefer gerissen waren, so brachial hatte man auf ihn eingeschlagen, nachdem er bereits tot war. Wir gingen damals davon aus, dass der Täter ein größeres Eisenteil benutzte. Allerdings wurde es nie gefunden.«

Sie sprach ruhig und sachlich, und ich wusste nicht, was schlimmer war: ihre Gefasstheit oder der Schmerz, der meinen Unterleib zu zerreißen drohte. Ich keuchte und beugte mich vor. Ich schwitzte aus jeder Pore meines Körpers, ich konnte die Übelkeit nicht mehr kontrollieren, und etwas Warmes lief mir an den Beinen entlang.

»Wo ist die Toilette?«, presste ich hervor.

»Müssen Sie sich übergeben?«

»Schwanger«, keuchte ich vornübergebeugt.

»Sie sind schwanger?«, rief sie, rannte aus dem Raum und kam umgehend mit einer Bahre zurück. Sie stützte mich beim Gehen und befahl mir, mich hinzulegen. Sie sprach in irgendein Gerät und schob mich im Laufschritt hinaus.

Ich hielt verzweifelt die Tränen zurück.

»Haben Sie Kopien von Ihren alten Obduktionsberichten? Kann ich den von Charles und Claudia Langhoff nachher sehen?«, stieß ich unter Schmerzen hervor, während sie mit der Bahre durch den Kellergang rannte.

Sie nickte beruhigend: »Sie sind hier unten im Archiv. Ich mache immer Kopien. Aber jetzt entspannen Sie sich. Versuchen Sie tief und ruhig zu atmen.«

Ich schloss die Augen. Wenn nicht noch ein Wunder geschah, verlor ich gerade mein Kind.