35
Ich musste mein Leben ordnen. Ich brauchte Gewissheiten.
Mein Blick fiel auf das graue Telefon neben dem Bett. Ich starrte es an, als könnte es mir bei meiner Entscheidung helfen. Doch es tat nichts dergleichen. Ich überlegte, was ich tun könnte, und mein erster Impuls war, Alex anzurufen.
Ich stieg vorsichtig aus dem Bett, holte meine Handtasche aus dem Schrank und suchte nach dem Handy.
Wieder erreichte ich nur Alex’ Anrufbeantworter, doch diesmal hinterließ ich keine Nachricht.
Dann rief ich meinen Vater an. Es war inzwischen spät geworden, fast acht, und ich wollte hier keine Minute länger als nötig verbringen.
»Wieso im Krankenhaus?«, fragte Adam bestürzt. »Was ist passiert, Kind?«
Mir wurde bewusst, dass er nicht wissen konnte, dass ich im Krankenhaus lag. Ich fasste kurz zusammen, was geschehen war, und bat ihn, Max nichts zu sagen und mich allein abzuholen.
»Julie, was machst du nur für Sachen?«, sagte er, und mir schossen Tränen in die Augen.
»Beeil dich«, würgte ich heraus, fiel ins Bett zurück und schloss die Augen. Nur einen Moment. Nur noch einmal entspannen. Gleich würde ich aufstehen.
Die Tür öffnete sich, und jemand betrat das Zimmer.
Es war eine sehr junge Schwester in weißen Jeans unter dem Schwesternkittel. »Sie haben Besuch.«
Ich sah sie fragend an. »Von der Polizei.«
»Wer ist es?«, fragte ich und richtete mich auf.
»Ein Herr Kortner. Wollen Sie mit ihm reden, oder soll ich ihn wegschicken?«
»Könnten Sie ihn bitten, sich zehn Minuten zu gedulden?«
Ich duschte und hatte mich kaum angekleidet, da polterte Kortner herein. Die Wut knallte aus jedem Schritt, ja selbst aus dem nachgezogenen Bein. Sie sprang aus der eckigen Bewegung seiner Arme und aus dem vorgeschobenen Kopf mit diesem dämlichen Hut obendrauf.
»Guten Abend«, sagte ich höflich, als würde ich die Wut nicht bemerken.
»Lassen Sie zukünftig diese Sperenzchen«, fuhr er mich an, ohne zurückzugrüßen. »Hauen Sie nie wieder ab, wenn wir Ihnen schon ein Auto vors Haus stellen. Sie haben es offenbar nicht begriffen.«
»Was?«
»Denken Sie wirklich, jemand von uns glaubt, Sie seien so blöd, Ihren Bruder zu treffen, selbst wenn er jetzt da wäre? Glauben Sie wirklich, wir würden Ihnen deshalb ein Auto derart sichtbar vor die Tür stellen?«
Er schob seinen Hut ein wenig zurück und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab.
»Frau Lambert, da draußen rennt ein Psychopath rum, der kein Pardon kennt. Begreifen Sie nicht, dass Sie in einer Geschichte herumwühlen, die eine Nummer zu groß für Sie ist? Wenn der Typ, der diese Frauen umgebracht hat, glaubt, Sie würden ihm gefährlich werden, wird er auch vor Ihnen nicht Halt machen. Könnten Sie das bitte in Ihrem Bewusstsein verankern?« Er betrachtete kurz das Taschentuch, faltete es mit einer routinierten Bewegung zusammen und steckte es zurück in seine Manteltasche.
Ich wartete.
»Sie sind Mutter«, sagte er, schon weniger aufgebracht. »Sie sollten sich um Ihren Sohn kümmern. Ich kann Ihnen das Auto nicht wochenlang vor die Tür stellen, nur um jedem zu signalisieren, dass wir Sie im Auge haben. Nur tun Sie mir einen Gefallen und gehen Sie nie wieder ohne uns irgendwohin, nicht mal zum Bäcker. Und sorgen Sie dafür, dass Ihr Sohn immer in Begleitung eines Erwachsenen ist, wenn er draußen spielt.«
»Sie glauben, Max sei in Gefahr?«
»Sie sind in Gefahr und damit Ihre ganze Familie.«
»Sie wissen doch mehr, als Sie zugeben«, sagte ich.
»Das ist mein Job.«
»Wen verdächtigen Sie? Warum wurden diese Frauen getötet?«
Er sah mich an, als überlegte er tatsächlich, ob er es mir sagen wollte.
»Wieso haben Sie meine Mutter gedeckt und Leo den Mord in die Schuhe geschoben? Und wieso wollen Sie Leo jetzt schon wieder einen Mord anhängen?«, platzte es aus mir heraus.
»Halten Sie sich da raus«, sagte er. »Ich kann Ihnen im Moment nicht mehr sagen.« Er zog den Hut wieder tiefer in die Stirn, drehte sich um und ging zur Tür.
Ich spielte ein paar Möglichkeiten durch. Ihn bitten, ihn festhalten, ihn anflehen, ihn zurückzerren. Doch sosehr ich mir auch eine Antwort von ihm wünschte, letztlich tat ich nichts dergleichen und sah ihm nur resigniert hinterher.
Er drehte sich noch einmal um, wünschte mir gute Besserung und einen schönen Abend. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.