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Ich unterschrieb ein Formular, dass ich auf eigenes Risiko entlassen wurde. Dann fuhren mein Vater und ich nach Hause.
»Was ist das denn?«, fragte Adam, als wir in die Einfahrt einbogen. Der Vordereingang war beleuchtet, und vor der Garage parkte ein schwarzer Geländewagen neben meinem Audi. Er gehörte Cornelius, und mein Herz hüpfte vor Freude.
Max und Chris saßen im Wohnzimmer auf der durchgesessenen Couch und spielten mit der Wii-Konsole Mario Kart. Ihre Augen klebten am Bildschirm, ihre Finger huschten über die Konsolen, und ihre Wangen waren gerötet vor Aufregung darüber, wer schneller, besser und raffinierter fuhr. Sie riefen mir ein flüchtiges »Hallo« zu, ohne den Blick vom Spiel abzuwenden.
In der Küche mischten sich die Kochdünste von Zwiebeln, Knoblauch und Tomaten mit dem Geruch von brennendem Holz. In dem alten gusseisernen Ofen knisterten und knackten Holzscheite.
Cornelius stand in einer schmal geschnittenen Anzughose am Herd und rührte in den Spaghetti. In einer Pfanne mit hohem Rand köchelten Tomaten zu einer Soße ein. Cornelius hatte seinen obersten Hemdknopf geöffnet und den Krawattenknoten gelockert. Sein Jackett hing über der Stuhllehne. Er war frisch rasiert, und sein Parfüm stieg mir in die Nase, als wir uns zur Begrüßung umarmten.
»Toll gemacht«, sagte ich und zeigte auf den Küchentisch.
Cornelius hatte die hellgrünen Porzellanteller, das Silberbesteck und die Leinenservietten aus dem Wohnzimmerschrank aufgedeckt. Ich war ein wenig erstaunt, dass er sich bei uns so gut auskannte, doch er gestand, dass ihm das Max verraten hatte.
Cornelius liebte schöne Dinge und Inszenierungen. Er selbst war an diesem Samstagabend so perfekt gekleidet, als ginge er zu einem Empfang.
Seine Mutter entstammte einer alteingesessenen altmärkischen Gutsfamilie, die nach 1945 enteignet worden war. Obwohl seine Mutter in der DDR auf sämtliche Privilegien verzichten musste, hatte sie einige Traditionen in ihr Privatleben hinübergerettet. Eine war, dass man sich zum Abendessen umzog, eine andere, dass man niemanden besuchte, ohne sich vorher anzumelden. Ich war heilfroh, dass Cornelius nicht alle Regeln seiner Mutter befolgte.
Zwischen den Tellern auf dem Tisch erblickte ich einen dicken Umschlag.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Wir reden später«, sagte Cornelius. Er begrüßte meinen Vater und entschuldigte sich, dass er den Tisch gedeckt hatte.
Mein Vater lächelte ihn freundlich an. »Als du das das letzte Mal gemacht hast, warst du zwölf Jahre alt und scharf auf meine Tochter.«
Cornelius lachte. »Meine Mutter wollte vorhin nur eine Brühe. Sonst hätte ich heute Abend bei ihr zu Hause gekocht.«
Seine Mutter hatte sich einen grippalen Infekt zugezogen und lag seit ein paar Tagen mit Fieber und Husten im Bett.
»Riecht lecker«, sagte ich, zog meine Jacke aus und warf sie ebenfalls über einen Stuhl. Mein Vater nahm beide Jacken und ging hinüber zu den Kindern ins Wohnzimmer.
»Hast du die beiden Kids gesehen? Spiel und Konsole gehören jetzt Max.«
»Bist du verrückt?«
»Nenn es Bestechung. Sonst spielt Max nicht mit Chris, weil der ihm zu jung ist. Und Chris meckert dann rum, und ich hab den Stress.«
Cornelius ging zum Kühlschrank, holte eine Flasche Weißwein heraus und entkorkte sie. Ich füllte zwei Gläser und brachte eins zu Adam ins Wohnzimmer. Ich hätte selbst gern ein Glas getrunken, doch seit ich schwanger war, hatte ich keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Also sah ich zu, wie Cornelius trank, während er abwechselnd in den Spaghetti und in der Tomatensoße rührte.
»Woher kommt ihr eigentlich so spät?«
»Aus dem Krankenhaus«, sagte ich.
»Ist es das, was ich denke?«, fragte er und sah mich besorgt an.
»Ja, aber es ist alles okay. Ich hatte noch mal Glück«, sagte ich.
»Bloß gut.«
Er trat hinter mich und nahm mich in die Arme, die Hände über meinen Rippen verschränkt. Ich ließ es geschehen und genoss den Moment. Er roch fantastisch. Ich schloss die Augen, und sanft begann er, mich zu wiegen. Es war tröstlich und beruhigend, so gehalten zu werden – auch wenn er der falsche Mann war.
Plötzlich erstarrte ich, denn etwas Hartes berührte mich dort, wo es nicht hingehörte. Ich schnappte hörbar nach Luft und schob ihn entrüstet weg.
Er grinste mich an. »Ich kann es nicht ändern. Ich bin ein Mann, du bist eine Frau, und wir beide sind gerade Singles.«
»Himmel, Conny, ich bin’s, Julie. Die, die du an den Zöpfen gezogen hast und die dir eine geknallt hat. Und das nicht nur einmal.«
»Ja, wir hatten schon in der ersten Klasse eine wilde Romanze.«
»Ich bin schwanger von einem anderen«, sagte ich. »Und auch wenn der gerade nicht da ist, hast du nicht das Recht …« Ich verlor den Faden.
»Alex sollte jetzt hier sein und nicht ich«, sagte Cornelius. »Und das weißt du auch ganz genau.«
Einen Augenblick sah ich ihn schweigend an mit aller Abwehr, zu der ich fähig war. In seinen Augen lag eine Sanftheit, die mich irritierte.
»Das soll jetzt aber keine Therapie werden, oder?«, fragte ich.
»Absolut nicht.« Er ging zum Herd und rührte weiter in der Soße. »Aber ich sag dir jetzt mal was, über das ich schon lange nachdenke. Als Jana starb, dachte ich, gut, es hat mich erwischt, und ich habe teuer bezahlt. Jetzt bin ich für den Rest meines Lebens in Sicherheit. Aber so läuft das nicht.«
»Wie weise.«
»Es gibt Menschen, die trifft’s einfach nie. Als hätten sie bei der Geburt einen Glücksbonus fürs ganze Leben mitgekriegt. Sie treffen die richtigen Partner, kriegen die richtigen Kinder, bauen das richtige Haus und haben die richtigen Jobs. Aber Menschen wie du und ich zahlen immer wieder drauf. Und das Schlimme ist, dass es keinen Schutz davor gibt und man auch nicht immun wird.«
»Du findest das Leben ungerecht?«
»Klar«, sagte er und lächelte mich vom Herd her an. »Aber man sollte trotzdem immer wieder versuchen, ein bisschen am Glücksrad zu drehen.«
»Wie soll ich das jetzt verstehen?«
Cornelius schaltete die Herdplatte aus, goss die Spaghetti ab und vermischte sie im Topf mit der Tomatensoße.
Ich wartete auf seine Antwort, doch sie kam nicht. Er stellte den Topf zurück auf die Herdplatte, legte einen Deckel darüber und kam auf mich zu.
»Wir waren von der ersten bis zur vierten Klasse ein Paar.«
»Eins, das sich ständig stritt«, sagte ich.
»Ein untrügliches Zeichen von Sandkastenliebe.«
»Wir sind Freunde«, beharrte ich.
»So was in der Art.« Er lächelte, als sei ich das naivste Wesen im Universum.
»Wir können uns alles erzählen«, sagte ich und merkte, wie hilflos ich wurde.
Er blieb vor mir stehen. Er stand viel zu nah und sah so verdammt gut aus. Panik ergriff mich.
»Weißt du eigentlich, dass alle deine Männer Charles immer ähnlich sahen?«
»Ich stehe eben auf diesen Typ.« Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und darüber hinaus.
»Du solltest deinen Typ ändern«, sagte er und grinste schon wieder.
Ich schnappte nach Luft. Er drehte sich um und ging zurück zum Herd.
»Weshalb versuchen wir beide es nicht mal, Julie?«
»Hast du sie noch alle?«
»War nur eine Frage«, sagte er, »reg dich nicht schon wieder auf.«
»Schluss jetzt mit den Kindereien«, erwiderte ich. »Sag mir lieber, was ihr über Margo rausgefunden habt.«
»Noch nicht das, was ich wollte«, sagte er. »Aber so viel wissen wir schon mal. Margo war in London Agentin für DDR-Spionagechef Markus Wolf. Sie übersiedelte dann in den Osten, um beim Aufbau des Sozialismus zu helfen, wie es so schön hieß.«
»Das ist nichts Neues. So stand es damals in den Zeitungen.«
»Aber jetzt kommt’s. In London war unter dem Namen Margo Swann nie jemand gemeldet.«
»Und was heißt das?«
»Margo und Charles heißen eigentlich Hazel und Steven Hamilton. Sie bekamen ihre neue Identität, als sie 1979 nach Berlin übersiedelten. Erst zwei Jahre später zogen sie dann nach Solthaven.«
»Wie habt ihr das so schnell herausgefunden?«
»Sagen wir mal, es gibt immer noch die berühmten Rosenholz-CDs, die die CIA Anfang der Neunziger in die Hände bekam und die sie erst 2003 an den Bundesnachrichtendienst weitergab. Und sagen wir mal, Kopien der CDs liegen heute auf einem Rechner. Noch Fragen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Robert hatte nur noch nicht genügend Zeit«, sagte Cornelius dann.
»Und woher kommen die Namen Margo und Charles Swann?«
»Von Proust. ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹.«
»Proust«, sagte ich. »Charles Swann, der Kunstliebhaber und Schürzenjäger, und seine Tante Margo.«
»Du kennst doch die Geschichten über die Romeos, die Markus Wolf ins Ausland schickte, um Sekretärinnen von Politikern, Wirtschaftsbossen und dergleichen anzuwerben.«
Ich prostete Cornelius mit einem Glas Wasser zu. »Und?«
»Hazel Hamilton arbeitete bis 1979 als Sekretärin im britischen Verteidigungsministerium.«
»Du meinst, jemand hat sie für die DDR angeworben?«
Er nickte und trank einen Schluck Wein. »Das ist wahrscheinlich. Als sich Werner Stiller 79 in den Westen absetzte, übergab er dem BND jede Menge Klarnamen von Markus Wolffs Agenten. Die Stasi hatte alle Hände voll zu tun, ihre Leute aus dem Ausland zurückzuholen. Ich nehme an, in dem Zusammenhang kamen auch Margo und Charles hierher. Hat er dir später nie etwas davon erzählt?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Eines Tages saß Charles in der Klasse, und es hieß, seine Mutter sei eine überzeugte Kommunistin und habe England verlassen, um mit uns gemeinsam eine gerechte Gesellschaft aufzubauen. Das leuchtete uns damals doch allen ein. Weshalb sollte ich da später mehr gefragt oder er mehr erzählt haben?«
»Hätte ja sein können«, sagte Cornelius. »Ich lasse dir Roberts Ausdrucke hier. Da hast du alles schriftlich. Aber sieh zu, dass sie niemandem in die Hände fallen, okay? Und eins noch: Die Liste der Namen von den Jungs, mit denen Leo und Konrad im Jugendwerkhof waren, findest du auch darin. Ich kenne keinen der Namen. Aber vielleicht sagen sie dir ja etwas.«
Wir aßen nur ein paar Minuten später. Chris bestand darauf, bei Max zu schlafen. Mein Sohn sah mich fragend an, ich stimmte zu. Die beiden knobelten mit Schere-Stein-Papier aus, wer in Leos Bett und wer auf der Luftmatratze nächtigen musste. Chris gewann das Bett. Ein triumphierendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er boxte Max auf den Oberarm.
»Luftmatratze ist auch cool«, sagte Max und boxte zurück.
Nach dem Essen ging mein Vater ins Wohnzimmer und legte sich auf die Couch. Das Ächzen der Sprungfedern hörte ich bis in die Küche, und kurz darauf erkannte ich die Filmmusik von »Die Spaziergängerin von Sanssouci«, Romy Schneiders letztem Film. Mein Vater und ich liebten Michel Piccoli und Romy Schneider. Zu gern hätte ich mich jetzt wie früher in meinen Sessel verkrochen – die Beine angezogen, eine Tüte Erdnussflips in der Hand – und Romy Schneiders Figur dabei zugesehen, wie ihr Leben aus dem Ruder lief.
Doch Cornelius und ich hatten beschlossen, Koslowskis Ordner durchzugehen, und so räumten wir die Küche wie ein altes Ehepaar gemeinsam auf, routiniert und ohne große Worte. Ich holte einen Stift und einen Schreibblock aus meiner Handtasche und setzte mich zu ihm an den Esstisch.
Recherche war das A und O jeder guten Reportage, und bevor ich einen Gerichtssaal betrat, um über einen Fall zu berichten, las ich jeden Artikel und jede Presseerklärung, die ich aus unserem Archiv anforderte oder selbst im Internet fand. Ich ordnete mein Wissen systematisch, legte mir einen Fragenkatalog zurecht und interviewte später die ermittelnden Beamten.
Ich hatte wie jeder Reporter ein paar streng gehütete Quellen und Informanten. Einige davon sogar am Landgericht, auf Polizeirevieren, unter Staatsanwälten, Richtern, Gutachtern und Polizeibeamten. Manchmal befragte ich Angehörige der Opfer oder Bekannte der Täter, manchmal Augenzeugen. Nach Möglichkeit besuchte ich auch den Tatort. Ich sammelte akribisch alles, was sich mir bot, unter dem Motto »Bring immer den Namen des Hundes mit«. Erst dann schrieb ich meine Artikel.
Ich hatte mir Koslowskis Ordner bislang immer nur flüchtig angesehen, weil ich den Anblick all der verstümmelten Kinder nur schwer ertrug. Er musste jedoch etwas enthalten, das uns weiterbringen konnte. Weshalb sonst sollte Koslowski ihn mir gegeben haben?
Cornelius und ich benötigten vier Stunden, in denen wir zunächst das Material sortierten. Wir lasen das eine, überflogen das andere, und ich machte mir Notizen, wenn mir etwas einfiel, auffiel oder fragwürdig vorkam. Es gab regionale und überregionale Zeitungsartikel zu den Mordfällen und zu Koslowskis Prozess. Es gab Zeugenvernehmungen, Vernehmungsprotokolle von Angehörigen, Arbeitgebern, Freunden und Bekannten, die wir ordneten und dann beiseitelegten. Wir lasen Protokolle der Aussagen von Polizisten, darunter die von Felix Kortner. Wir studierten Koslowskis Aussagen vor Gericht, drei Gutachten zu seiner Persönlichkeit und Schuldfähigkeit, und wir überflogen das Gerichtsurteil inklusive der 26 Seiten langen Begründung. Außerdem hatte Koslowski das Gutachten zu seiner Haftentlassung abgeheftet und alle Artikel zum Mord an Vera Schnitter vor vier Monaten.
Koslwoski hatte ein paar Notizen an den Rand geschrieben und ein Gedächtnisprotokoll angefertigt über das Gespräch mit Kortner, als der ihm vorschlug, die Schuld für Claudia Langhoffs Tod auf sich zu nehmen. Es verriet mir nichts, was ich nicht schon erfahren hatte.
Irgendwann war ich todmüde, ausgelaugt und erschüttert. Fast hätte ich mein Baby verloren und sah mich nun erneut all diesen Kindern gegenüber, deren Obduktionsfotos säuberlich abgeheftet waren wie für eine Trophäensammlung.
»Scheiße«, sagte Cornelius und klappte den Deckel des Ordners zu. »Dieses Stück Dreck.«
»Wir haben etwas übersehen«, sagte ich. »Der wollte mir nicht einfach nur ein Interview geben. Der wollte, dass ich diesen Ordner erhalte. Wieso wollte er das, wenn nichts drin zu finden ist?«
»Wir haben den ganzen Mist sortiert und gesichtet. Ich muss jetzt ins Bett. Wirklich«, sagte Cornelius. »Lass uns morgen weitermachen. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren.«
Cornelius ging zur Küchentür, um seine Jacke von der Garderobe zu holen.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich leise in seinem Rücken und stand auf.
Abrupt drehte er sich zu mir um. »Weiß der Wichser endlich, dass du schwanger bist?« Er kam auf mich zu und nahm mich in die Arme.
»Sprich nicht so von ihm.« Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. »Ich wollte es ihm sagen. Doch dann fragte er mich, ob ich Charles noch liebe, und ich sagte ja.«
»Und wo ist das Problem?«
»Er kommt damit nicht klar.«
»Nur weil meine Frau tot ist, höre ich doch nicht auf, sie zu lieben. Was ist das denn für ein Schmarren. Es wäre nur schlimm, wenn ich deshalb niemand anderen mehr lieben könnte.«
»Ach, Conny, du weißt doch selbst, dass das nicht so leicht geht.«
Er strich mir sanft übers Haar.
»Er hat sich aus dem Staub gemacht. Ich wusste, dass das früher oder später passiert. Er hat es nie ernst mit dir gemeint, hast du das nie begriffen? Spaß haben, ja. Nachts in Bars rumhängen, klasse. Tanzen gehen, großartig. Hätte er es jemals ernst gemeint, hätte er sich auch mal freiwillig um Max gekümmert und wäre auch mal das ganze Wochenende mit euch zusammengeblieben und nicht jede Samstagnacht nach dem Vergnügen nach Hause abgehauen.«
»Nicht jeder ist ein Familienmensch«, sagte ich lahm.
»Aber jeder will eine gut aussehende Frau vögeln.«
Es war eine Steilvorlage für ein Thema, über das ich mich an diesem Abend unter keinen Umständen noch einmal unterhalten wollte. Ich ließ die Vorlage vorüberziehen.
»Geh jetzt besser«, sagte ich und schob ihn weg.
Ich begleitete ihn zur Haustür, verabschiedete ihn und ging dann mit dem Ordner ins Dachgeschoss. Ich sah nach den beiden Kindern in Leos Zimmer. Chris schlief im Bett, Max auf der Luftmatratze, die Adam ihm aufgepumpt hatte. Ich steckte Chris’ Arm unter die Bettdecke, zog Max’ Decke zurecht und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Ich sah ihn gerührt an, und plötzlich überkam mich ein heilloser Zorn auf Alex, der sich ohne ein Wort aus meinem und Max’ Leben gestohlen hatte. Und dann wurde ich wütend auf Leo und sogar auf Charles und auf den ganzen Rest der Welt. Nicht nur Max hatte eine Familie gewollt. Nein, auch ich hatte mir eine gewünscht, seitdem ich schwanger war. Jeder Mensch sollte eine Familie haben – und Max und ich auch.
Zurück in meinem Zimmer, riss ich mir die Kleider vom Leib, ließ sie dort liegen, wohin sie gerade fielen, und huschte ins Bad. Ich duschte und schrubbte meinen Körper mit einem Luffahandschuh, als müsste ich den Dreck dieser Welt von mir bürsten. Noch immer wütend, putzte ich mir die Zähne, warf mir ein ausgeleiertes T-Shirt über, stieg in eine abgetragene Pyjamahose und ging endlich ins Bett.
Ich wartete, dass mir die Augen zufielen, stattdessen kreisten meine Gedanken wieder um den Aktenordner. Ich hatte dieses eigenartige Gefühl, das mich manchmal überkam, wenn ich mich mit einem Gerichtsfall befasste. Ich hatte das Recherchematerial zusammengetragen und Opfer, Polizeibeamte oder Staatsanwälte befragt. Ich hatte die Interviews auf dem Diktiergerät noch einmal abgehört und meine Unterlagen und Notizen studiert. Dennoch wusste ich, dass noch immer etwas fehlte, um den Artikel zu schreiben. Etwas Entscheidendes.
Etwas Entscheidendes fehlte auch diesmal.
Cornelius und ich hatten etwas übersehen.