40
Als ich das Haus verließ, parkte der dunkle Wagen unter der schneebeladenen Platane gegenüber.
Ich ging hinüber. Ein junger, blasser Typ in einer dicken Daunenjacke las in einer Zeitung, die auf dem Lenkrad ausgebreitet lag. Er schaute hoch, als ich an die Scheibe klopfte, und ließ sie herunter.
»Morgen«, sagte ich.
»Morgen«, antwortete er.
»Ich fahre ins Altersheim. Nur damit Sie Bescheid wissen.«
»Danke.«
Hatte ich mich gerade verhört, oder hatte er wirklich »Danke« gesagt?
»Es ist Ihre erste Beschattung, oder?«
Er nickte. Ich sah ihn mir genauer an. Er hatte noch die geraden Schultern und weichen Züge der Jugend und einen offenen Blick ohne jegliche Scheu und Arglist.
»Hatten Sie gestern meinetwegen Ärger?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Ihr Kollege Kortner hat mich jedenfalls ganz schön zusammengestaucht«, sagte ich. »Davon können Sie schon mal ausgehen.«
»Hm«, sagte er. »Mich auch.«
Ich schenkte ihm ein Lächeln. »Passen Sie auch nachts auf mich auf?«
»Nein«, sagte er. »Ich hab die Tagschicht. Ich bin seit sechs Uhr im Dienst. Davor war mein Kollege da.«
»Haben Sie keine Angst, dass ich hinten durch die Gärten verschwinde?« Ich lächelte wieder.
»Wir sollen vorne Präsenz zeigen. Und wir sollen Ihnen immer schön am Heck kleben.«
»Hat Kortner das so gesagt?«
Er schüttelte den Kopf. »Der andere. Carsten Unruh, sein Nachfolger, wenn er nächsten Monat in Pension geht.«
»Na, dann viel Spaß an meinem Heck«, sagte ich, klopfte mit der flachen Hand aufs Wagendach und ging zu meinem Audi.
Die Hanse-Residenz Rosenhof war ein U-förmiges, viergeschossiges Gebäude, das etwas zurückgesetzt von der Straße lag.
In der Lobby plätscherte ein Springbrunnen, künstliche Grünpflanzen rankten in den Ecken, an Tischen standen Clubsessel. Obwohl es für einen Sonntag recht früh war, herrschte bereits reger Betrieb. Zwei alte Damen mit silberweißen Locken gingen mit Rollatoren an mir vorbei. Eine alte Dame spazierte an einem Stock neben einer wesentlich jüngeren Frau her, die wie ein Wasserfall auf sie einredete. Zwei Schwestern sprachen leise mit einem jungen Mädchen, das an einem der Tische saß und weinte.
Am Empfang saß eine junge Frau mit blondiertem Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. »Schwester Irene« las ich auf ihrem Namensschild.
Sie sah zu mir hoch. »Sie wünschen?«
Sie besaß ein schelmisches Lächeln und einen kecken Blick.
Ich begrüßte sie und wollte ihr erklären, dass ich zu Roberta Bartels wollte, doch sie winkte ab.
»Ich weiß schon. Wir haben doch vorhin telefoniert«, sagte sie. »Ich werde Sie zu Roberta bringen. Dritter Stock, Zimmer 311.«
Sie kam hinter dem Tresen hervor und ging mit mir durch die Lobby zu den Fahrstühlen.
»Sie dürfen sich nicht zu viel von Roberta versprechen«, erklärte sie mir, während wir mit dem Fahrstuhl nach oben fuhren. »An manchen Tagen erinnert sie sich an alles. An anderen wieder an gar nichts, und dann fragt sie, wo ihr Sohn ist und warum er sie nicht besucht.«
»Ist sie dement?«
»Ja, aber wenn wir Glück haben, hat sie heute einen guten Tag. Und wenn sie erfährt, wer Sie sind, wird sie sich freuen und Sie bestimmt nach Ihrem Vater fragen. Sie wünscht sich so sehr, dass er endlich wiederkommt.«
»Roberta Bartels kennt meinen Vater?«
»Ja, Roberta war früher recht flott unterwegs, und Ihr Vater war ihr Hausarzt.«
»Gibt es da einen Zusammenhang?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Es gibt Gerüchte.«
»Gibt es die nicht immer?«, fragte ich.
Mein Vater soll mit einer seiner Patientinnen ein Verhältnis gehabt haben? Es fiel mir schwer, das zu glauben.
Im dritten Stock stiegen wir aus und gingen einen hellen Gang entlang bis zu Robertas Zimmer.
Schwester Irene klopfte.
Keine Antwort.
»Roberta?« Sie klopfte noch einmal. »Manchmal hat sie morgens ihre Kopfhörer auf.«
Irene zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss die Tür auf. Wir betraten den schmalen dunklen Flur eines Apartments. Sie machte Licht, und ich sah mich neugierig um. Ein kleines Bad und eine winzige Kochnische gingen von dem Flur ab, ein Wandschrank nahm die gesamte andere Seite ein.
Schwester Irene öffnete die Tür am Ende des Flurs und winkte mich näher.
In einem Sessel am Fenster saß eine zierliche Person mit dem Rücken zu uns und mit gepolsterten rosa Kopfhörern über den Ohren. Auf ihrem Schoß lag eine Fernbedienung, die auf eine altmodische, hellblaue Dual-Stereoanlage wies.
Sauber, ordentlich und adrett war das Erste, was mir zu dem Zimmer und der alten Dame einfiel. Sie war bestimmt 15 Jahre älter als mein Vater, und ich fragte mich, wer solche Gerüchte in die Welt setzte und ob das nie aufhörte.
Die Auslegeware dämpfte unsere Schritte, als wir auf Roberta zugingen. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick auf die Fotos, die in Silberrahmen auf einer Kommode standen. Immer Mutter und Sohn. Auf keinem Foto gab es außer den beiden noch eine andere Person. Zum ersten Mal überlegte ich, wie es wäre, wenn ich eines Tages in einem Heim leben würde, welche Fotos ich bei mir hätte, ob ich auch so einsam wie Roberta wäre und was es bedeuten würde.
Schwester Irene hatte meinen Blick bemerkt. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Ich nickte und versuchte ein Lächeln. »Alles in Ordnung.«
Die Augen der alten Dame waren geschlossen. Sie trug ein rosa Twinset zu einer hellblauen Hose und hatte frisch onduliertes kurzes Haar, das eine Spülung in ein leuchtendes Schneeweiß verwandelt hatte.
Nachdem Irene ihr vorsichtig auf die Schulter geklopft hatte, nahm Roberta die Kopfhörer ab.
Schwester Irene stellte mich vor und erklärte ihr, worum es ging.
Roberta wollte gern helfen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, was in dem Schuhkarton war. Es war so lange her. Sie wirkte zuerst resigniert, dann wurde sie wütend auf sich selbst.
Schließlich stand sie auf, ging in den Flur und öffnete den Wandschrank. Sie kniete sich davor und verschwand mit ihrem Kopf darin. Mit drei Schuhkartons in den Händen kam sie wieder zum Vorschein. Sie nahm die Deckel ab, doch in allen drei Kartons waren nur Schuhe. Sie wühlte ein weiteres Mal im Schrank und zog nach und nach ein halbes Dutzend Kartons hervor. Wieder riss sie die Deckel ab und verteilte sie ungehalten im Flur.
Ich sah Schwester Irene an. Sie lächelte, zuckte mit den Schultern und ging dann zu Roberta.
»Kann es sein, dass Sie die Sachen Ihres Sohnes im Keller mit den anderen ausrangierten Dingen verstaut haben?«
Robertas Gesicht hellte sich auf. »O ja, natürlich.« Sie verteilte die Deckel wieder auf die Kartons, Schwester Irene kniete sich neben sie und half ihr.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mit Frau Lambert in den Keller gehe und sie ihr zeige?«, fragte Schwester Irene.
»O nein, nein, ganz und gar nicht«, antwortete Roberta guter Dinge. »Das wäre sehr freundlich von Ihnen.« Sie stand auf, wischte sich die Handflächen an der Hose ab und machte Anstalten, sich von uns zu verabschieden.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
Roberta nickte und strahlte mich ermunternd an.
»Wann haben Sie Ihren Sohn das letzte Mal gesehen?«
Ihre Lippen wurden schmal, und für einen Moment sah es so aus, als wollte sie weinen, doch ihre Antwort kam schnell und klar: »An dem Tag, als er den Unfall hatte.«
»War er an dem Tag oder kurz vorher anders als sonst?«
»Anders?« Sie blinzelte. »Er war immer ein lieber Junge. Nicht so wie die anderen.«
»War er nervös oder irgendwie beunruhigt? Hatte er etwas Besonderes vor? Oder war vielleicht etwas Außergewöhnliches passiert?«, fragte ich.
Robertas Blick wanderte unsicher zu der jungen Schwester, die ihr aufmunternd zulächelte.
Doch Robertas Miene verschloss sich. »Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf.
»Ich habe gehört, er hätte sich Hals über Kopf verliebt«, sagte ich.
Sie reagierte nicht darauf. Schwester Irene schüttelte stumm den Kopf, und ich wechselte das Thema.
»Können Sie sich erinnern, ob er über den Kindermörder Koslowski berichtete?«
Bei meiner Frage legte sie den Kopf schief, und Leben kehrte in ihre Augen zurück.
»Natürlich. Ich las ja seine Artikel, und mein Peter sprach ja über nichts anderes. Vor allem nicht, nachdem das Kind …« Sie nestelte fahrig am Saum des rosa Twinset wie ein Kind, das nicht weiterwusste.
»Und was sagte er?«
Sie öffnete ihren Mund und schloss ihn wieder.
Schließlich flüsterte sie: »Dass er schlimm war, dass er wünschte, es gäbe für solche Menschen die Todesstrafe.«
Ich sah Schwester Irene an, die unser Gespräch inzwischen besorgt verfolgte.
»Glaubte Ihr Sohn, dass Koslowski Claudia Langhoff umgebracht hat?«
Roberta sah mich an. »Wen?«
»Eine junge Frau. Er hat ja nicht nur Kinder getötet.«
»Oh, Sie meinen Thor Langhoffs Tochter. Sagen Sie das doch gleich.« Sie schüttelte den Kopf, so dass die ondulierten Locken tanzten. »Natürlich nicht.« Sie sah mich an, als sei ich verrückt. »Das glaubte doch damals niemand, jedenfalls niemand, der bei Verstand war.«
»Hat Ihr Sohn das so gesagt?«
»Ich glaube schon.«
»Hat er noch mehr dazu gesagt?«
»Was meinen Sie?«
»Hat er Namen genannt? Hatte er vielleicht eine Vermutung? Oder Beweise? Gab es vielleicht Zeugen?«
»Daran erinnere ich mich nicht.« Sie knetete ihre Hände, als würde es ihr helfen, sich zu erinnern. »Es ist schon so lange her.«
»Koslowski war nicht Claudias Mörder«, sagte ich. »Ihr Sohn wusste das. Ich weiß es auch. Und jetzt, so viele Jahre später, versucht jemand, meinem Bruder Leo Lambert diesen Mord in die Schuhe zu schieben.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Leo? Adams Sohn?«
Sie duzte meinen Vater? Das war ungewöhnlich. Er hatte niemals seine Patienten geduzt. »Ja. Adams Sohn.«
»Peter mochte den Jungen. Er sagte immer, aus dem wird mal was ganz Großes.«
»Warum sagte er das?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Der Junge, Leo, war ein paar Mal bei uns zu Hause. Ein netter Junge. Er begrüßte mich immer als Erste. Aber dann waren sie in Peters Zimmer, und ich weiß nicht, was sie da gemacht haben.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, und ihre Schultern zuckten. »Es ging um diese Kinder. Die ganze Zeit ging es um diese toten Kinder. Und um das Kind dieser Frau.«
»Welcher Frau?«, fragte ich zugleich bestürzt und alarmiert.
Sie bedeckte weiterhin ihr Gesicht mit den Händen und begann zu schluchzen.
»Sie braucht etwas zur Beruhigung«, sagte Schwester Irene dicht an meinem Ohr. »Fragen Sie sie um Gottes willen nicht weiter nach dem Kind.«
Roberta hatte sie gehört. Sie schluchzte noch eine Spur lauter.
»Ich gehe etwas holen«, sagte Schwester Irene, und Roberta weinte jetzt hemmungslos.
Ich nahm sie in die Arme. »Es ist doch alles gut«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie und wehrte mich ab. »Nein. Nichts ist gut. Ich habe nicht aufgepasst. Es war meine Schuld.«
»Ihr Sohn war erwachsen«, sagte ich und strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Ich habe das Kind nicht beschützt. Verstehen Sie das denn nicht?«, fragte sie. Ihr Kopf lehnte an meiner Schulter, und ich spürte ihre Tränen. Nein, ich verstand nicht, was sie meinte.
Ich hörte Schritte auf dem Gang, jemand sprach, eine andere Stimme antwortete.
»Ich meine das Kind«, sagte Roberta da. »Paula Wenners Kind.«
Die Worte stürzten aus ihrem Mund, und dann schob sie mich energisch von sich weg.
»Oh«, sagte ich, »ich …« Mir fehlten die Worte.
Ich atmete auf, als Schwester Irene das Zimmer gemeinsam mit einer Ärztin betrat, die eine Spritze in der Hand hielt.
»Roberta«, sagte die Ärztin, »es ist alles in Ordnung. Wir geben Ihnen jetzt etwas zur Beruhigung. Danach geht es Ihnen besser.« Sie ging auf die kleine Frau zu. Roberta wich ängstlich einen Schritt zurück.
»Ich sollte auf das Mädchen aufpassen. Nur zwei Stunden haben Peter und Paula gesagt. Dabei wollte ich nicht. Sie war frech und vorlaut. Immer hatte sie das letzte Wort. Und dann kamen die beiden nicht wieder. Sie hat mich mit Füßen getreten, weil sie nicht fernsehen durfte. Dann habe ich sie in den Schuppen gesperrt. Woher sollte ich denn wissen, dass sie wegläuft? Und drei Monate später haben sie sie gefunden. Da war sie schon lange tot.« Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Sie war sehr aufgeregt, und ihre Wangen sprenkelten kleine rote Flecke.
Die Ärztin ging zu ihr. »Bertie«, sagte sie liebevoll, »Sie sind nicht schuld an dem Tod des Mädchens.« Roberta schluchzte auf, doch sie ließ zu, dass Schwester Irene ihren Arm nahm, sie zum Sessel führte und den Ärmel der Strickjacke über dem dünnen Arm nach oben schob. Die Ärztin klopfte kurz auf die Ellenbogenbeuge und injizierte ihr das Beruhigungsmittel.
Ich schaute ihnen zu.
Roberta lehnte sich zurück und lächelte.
»Gehen Sie«, sagte die Ärztin kurz angebunden zu mir.
»Haben Sie Kinder?«, fragte Roberta in dem Moment, und ich drehte mich zu ihr um. Sie tupfte sich mit einem Taschentuch über die verweinten Augen.
Ich schaute fragend zu der Ärztin. Sie zuckte mit den Schultern und sah keineswegs freundlicher aus.
»Einen Sohn wie Sie«, antwortete ich.
Sie lächelte immer noch. »Dann passen Sie gut auf ihn auf. Jungs schauen gern zu ihren Müttern auf. Ich war leider eine, zu der man nicht aufschauen konnte.«
»Sie …«, begann ich, doch Roberta sprach einfach weiter: »Genießen Sie jeden Tag mit ihm. Nicht jeder hat das Privileg, vor seinem Kind zu sterben. Wenn das Kind zuerst geht, ist das schlimmer als alles andere.«
»Ich …«, begann ich noch einmal, doch sie unterbrach mich erneut und deutete in Richtung Tür: »Gehen Sie. Gehen Sie runter und schauen Sie in seinen Sachen nach. Ich fürchte, ich schlafe gleich ein.«
»Mit wem könnte ich noch über Ihren Sohn sprechen?«
»Mit dem Pfarrer.« Sie zog die Stirn kraus, und dann lächelte sie wieder. »Aber was red ich. Der ist ja längst tot. Meine Güte, wie die Zeit vergeht! Wir waren jeden Sonntag in der Kirche, auch während der DDR-Zeit, wissen Sie. Wenn man heute darüber nachdenkt …«
Sie lehnte sich zurück.
»Ich bin viel zu müde«, sagte sie matt.
Leise verließen wir das Zimmer – und dann fuhr ich mit Schwester Irene in den Keller.