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Ich rief Cornelius an, den einzigen Menschen, auf dessen Freundschaft und Loyalität ich mich verließ. Ich erwischte ihn im Auto. Er war bereits auf dem Weg zu uns, und ich strahlte wie eine Hundert-Watt-Birne.
Cornelius war bester Laune, übermütig und tiefen entspannt. Er klang, als hätte er soeben den besten Sex seines Lebens gehabt.
Verdammt. Erst machte er mich an, und kaum wies ich ihn ab, stürzte er sich auf irgendein Mädchen mit langen Haaren und langen Beinen. Das vermutete ich jedenfalls, und prompt erlebte mein Hundert-Watt-Lächeln einen Totalabsturz.
Schwamm drüber. Er war mein bester Freund, und das Leben ging weiter.
»Kannst du mit Max und Chris in die Nachmittagsvorstellung von Rango gehen?«, fragte ich.
»Kommst du nicht mit?«
»Ich muss dringend noch mal weg.«
»Wohin?«
»Das geht dich nichts an. Ich frag dich ja auch nicht, wo du gerade herkommst.« Zu meiner eigenen Überraschung platzte das ziemlich schnippisch aus mir heraus.
Cornelius lachte los, herzlich, warm und gutmütig, und sagte: »Julie, Julie. Du wirst einfach nicht erwachsen.«
»Machst du’s oder nicht?«
»Schon gut, ich mach’s.«
Ich durchquerte die Innenstadt. Erleuchtete Fenster in historischen Fassaden tauchten auf und verschwanden. Vorgärten mit glitzernder Weihnachtsbeleuchtung kamen mir entgegen und glitten vorbei. Die Stadt war hübsch geworden. Viel historisches Fachwerk, viel Gründerzeit.
Ich blickte in den Rückspiegel. Gregor Patzigs Scheinwerfer klebten an mir wie Fliegenleichen am Nummernschild. Da half nur ein Hochdruckstrahler. Leider hatte ich keinen zur Hand.
Solthaven war nur ein Mal bombardiert worden: im Frühjahr 1945. Drei amerikanische Tiefflieger beschossen den Bahnhof. Die Unterführung zu den Bahnsteigen war eingebrochen, vom Hauptgebäude blieb nur der traurige Rest einer Seitenwand stehen, Gleise waren krachend aus dem Schienenbett gesprungen, ein Zug mit einem Truppentransport in den Osten war unter den Schmerzensschreien der Eingesperrten ausgebrannt. 311 Menschen starben bei dem Bombenangriff, darunter 72 Solthavener.
Dass nicht mehr zerstört worden war, war ein Glück gewesen – für die Stadt, für die Einwohner und auch für Thor Langhoff, Großvater meines Sohnes und einer der großen Gewinner des Mauerfalls.
40 Jahre DDR hatten einen Verfall der historischen Bausubstanz hinterlassen, den der Zweite Weltkrieg der Stadt nicht angetan hatte. Thor profitierte von den Aufträgen, die ihm die Instandsetzung der Gebäude nach der Wiedervereinigung eingebracht hatte: Er gab stets das beste Gebot ab, wenn es um städtische Ausschreibungen für die großen Bauaufträge ging. Seine Firma renovierte das Kloster, das jetzt die Behörden beherbergte, sanierte die alte Münze und baute die neuen Klinikgebäude. Man tuschelte seit Jahren von Korruption. Beweise gab es keine, Steuer- und Buchprüfungen liefen regelmäßig ins Leere. Langhoffs Baufirma gab es jetzt, nachdem sein Sohn Konrad sie vor zwei Jahren übernommen hatte, in der fünften Generation. Sie hatte die Nazis überlebt und die Kommunisten, und sie war eine der wenigen, die seit der Wende expandierte – Rezession hin oder her.
Ich war auf dem Weg zu Konrad. Als ich seine Telefonnummer herausgesucht hatte, hatte ich auch die Adresse gelesen. Amtstraße 36. Konrad wohnte mit seiner Familie in seinem ehemaligen Elternhaus.
Ich hatte mich nicht angekündigt. Vielleicht war er nicht zu Hause. Vielleicht würde er nicht mit mir sprechen und mich gleich abwimmeln.
Die Amtstraße war eine Sackgasse mit Kopfsteinpflaster, über das mein Audi im Schritttempo holperte. Rechter Hand lag ein 300 Jahre alter Friedhof mit verwitterten Grabsteinen und einer Kapelle, in der man seit ein paar Jahren wieder heiraten konnte. Gegenüber duckten sich windschiefe Häuser unter Schnee und Eis.
Am Ende der Sackgasse thronte Konrads Haus wie ein Bollwerk gegen die Zeit. Ich kannte es seit meiner Kindheit, und es hatte sich nicht verändert. Ein Herrenhaus mit roten Schindeln, dunklem Eichenfachwerk und weißem Putz. Eine Treppe führte zu einer dunkelgrünen Holztür mit einem Löwenkopf und drei gelben, geschliffenen Bleiglasfenstern, die das Sonnenlicht an den Sommerabenden dutzendfach gebrochen zurückschickten.
Hinter dem Haus lag ein verwunschener Garten mit einem Teich, an dem eine Trauerweide ihre schlanken Äste in weiten Bögen ins Wasser fallen ließ, und mit einer sechseckigen Gartenlaube mit bodentiefen Fenstern. Es gab Wege, die sich beim ersten Grün wie dunkle Narben durch den Rasen gruben.
Gregor Patzig parkte hinter mir. Ich winkte ihm zu und zeigte auf das Haus. Er nickte.
Ich läutete an der Haustür, und eine junge Frau öffnete mir. Sie stand vor mir wie eine Erscheinung. Ihr blondes, schulterlanges Haar schimmerte seidig in der Flurbeleuchtung, die sie von hinten anstrahlte. Sie musterte mich mit hellen Augen, und ich erkannte einen kleinen Leberfleck gleich unterhalb des festen roten Mundes. Sie war in einem Alter, in dem sie sich kaum an die Ereignisse erinnern konnte, durch die Konrads Familie auseinandergebrochen war. Und sie war hochschwanger. An diesem Nachmittag lagen bläuliche Schatten unter ihren Augen, und sie sah aus, als hätte sie geweint.
Ich nannte meinen Namen. Ein kleiner Junge rief von drinnen nach seiner Mama. Sie musterte mich erneut und sagte mit schmalen Lippen, sie würde ihrem Mann Bescheid geben. Sie bat mich nicht herein. Ich hörte, dass sie Konrad rief und dass er hastig die Treppe herunterkam. Dann vernahm ich ein Flüstern.
Die Frau sagte scharf: »Das ist das Allerletzte.«
Konrad kam heraus, packte mich am Arm und zog mich durch den Vorgarten nach hinten in den Innenhof.
»Bist du verrückt, hier unangemeldet aufzutauchen?«
Ich sah die Silhouette seiner Frau im Küchenfenster, die Hände in die Hüften gestemmt – eine Schwangere, die kaum noch stehen konnte.
»Das geht so nicht.« Er stand mir gegenüber und sah mich an. »Ich habe die halbe Nacht mit meiner Frau gesprochen. Sie ist völlig fertig, dass ich einen Sohn habe. Du musst uns Zeit lassen.«
»Es geht nicht um Max«, sagte ich. »Du musst für mich Akten beschaffen.«
Er stutzte: »Akten?«
»Aus dem Krankenhaus. Und aus dem Polizeirevier. Ich brauche die Originale der Obduktionsberichte von deiner Schwester und Charles. Hast du den über Claudia jemals gelesen?«
Die Sätze sprudelten aus mir heraus.
Er schüttelte den Kopf. »Wieso sollte ich? Wieso willst du sie lesen?«
»Ich muss wissen, ob sie in Claudias Leiche Spermaspuren von Leo oder Charles gefunden haben. Irgendwer nimmt mich gerade gewaltig auf den Arm. Ich brauche außerdem Kopien von Kortners alten Akten zu dem Mord an Charles und an Claudia. In beiden Fällen hat er sie manipuliert. Vielleicht finde ich in den Unterlagen Hinweise darauf.«
»Kortner?«
Ich nickte.
»Aber die Ermittlungsakten zu Margo und dieser jungen Frau willst du nicht zufällig, oder?«
»Alle, wenn es geht.«
Er schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich das tun?«
»Weil du ein anständiger Mensch bist und weil ich wissen muss, mit wem deine Schwester vor ihrem Tod geschlafen hat.«
»Man bricht nicht einfach in ein Polizeirevier oder in ein Krankenhaus ein. Die sind 24 Stunden besetzt. Ich sag’s dir noch einmal. Ich werde mich nicht daran beteiligen, Leos Unschuld zu beweisen. Ich habe eine Familie, und die braucht mich. Ich will nicht noch mal im Knast landen, schon gar nicht für Leo. Kannst du das verstehen?«
»Gut«, sagte ich. »Dann werde ich mit deinem Vater sprechen.«
»Das wirst du nicht.« Er packte mich am Arm.
»Doch«, sagte ich. »Jemand muss mir helfen. Jemand mit Mumm und Macht. Jemand, der keine Skrupel kennt.«
»Du hast einen Polizisten im Schlepptau, oder hast du das noch nicht bemerkt? Man kann ihn auf 100 Meter Entfernung erkennen, so stümperhaft, wie der sich im Wagen zusammenkauerte, als ich aus dem Haus kam.«
»Er ist jung. Außerdem überwacht er mich nicht, sondern er passt auf mich auf. Und ich kann ihn jederzeit abschütteln.«
»Sei nicht naiv. Du kannst keinen Schritt tun, ohne dass er ihn kennt. Du meinst doch nicht im Ernst, dass irgendjemand aus meiner Familie unter diesen Umständen etwas für dich tut.«
»Dein Vater hat seine Leute. Die hatte er schon immer.«
»Mein Vater ist nicht mehr derselbe wie früher.«
»O doch«, sagte ich. »Und er wird mir helfen. Er hat mich immer gemocht, und er wird der Mutter seines Enkels nicht abschlagen können, ihr zu helfen. Er wird mir glauben, dass ich herausfinden möchte, wer seine Tochter umgebracht hat. Wenn es Leo war, dann werde ich Leo finden, und er wird dafür büßen, glaub mir. Wenn mein Bruder ein Mörder ist, dann …« Ich sah ihn an.
»Schon gut«, sagte Konrad und lockerte seinen Griff. »Lass mich eine Nacht drüber schlafen.«
»Die Zeit habe ich nicht«, sagte ich. »Und ihr seid da schon mal eingebrochen, oder denkst du, ich weiß das nicht? Ihr wolltet erst in Adams Praxis Äther klauen. Aber dann habt ihr ihn doch im Krankenhaus geklaut, weil ihr zu viel Respekt vor Adam hattet. Der Äther war für den Spitz unserer Nachbarin gegenüber. Der hatte nämlich den Fehler seines Lebens begangen und Leo in die Wade gebissen.«
Konrad lachte. »Wir haben ihn betäubt.«
»Habt ihr nicht. Leo hatte mir versprochen, dass ihr es nicht tut.«
»Haben wir trotzdem. Er taumelte besoffen durch den Garten und wusste nicht mehr, wo vorne und hinten war. Leo und ich haben uns fast in die Hose gemacht vor Lachen.« Bei der Erinnerung lachte er noch mehr. Dann sah er betreten zum Küchenfenster, wo seine Frau immer noch stand und uns beobachtete. Er winkte ihr zu. Sie drehte sich um und ging weg.
»Du wirst nicht dabei sein«, sagte Konrad, als er mich wieder ansah. »Ich weiß auch nicht, wie ich unbemerkt bei der Polizei einsteigen soll. Dort ist dieses riesige Tor zur Straße hin, das abends geschlossen wird. Es wird nur bei Einsätzen geöffnet.«
»Du kannst von der Mauer des Burggartens aus einsteigen. Das haben wir als Kinder doch auch gemacht.«
»Julie, das Ganze ist wahnwitzig. Ich bin Geschäftsmann. Ich leite das Unternehmen meines Vaters, meine Frau ist mit unserem zweiten Kind schwanger, und jetzt soll ich wie ein jugendlicher Halbstarker bei der Polizei und ins Krankenhaus einsteigen? Was passiert, wenn sie mich erwischen?«
»Sie haben euch früher auch nicht erwischt.«
»Und weshalb waren wir dann im Jugendwerkhof?«
»Das weißt du nicht?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben Leo und mich auf frischer Tat ertappt.«
»Du weißt ehrlich nicht, dass Hinner euch denunziert hat?«
»Wer behauptet das?«
Meine Mutter, dachte ich, und dann fragte ich mich, warum weder mein Vater noch Leo noch ich sie je gefragt hatten, woher sie das wusste. Ich fragte mich auch, ob mein Vater sich nicht irrte, wenn er annahm, dass Eddies Affäre mit Paul Heinecken nur ein Jahr gedauert hatte. Vielleicht hatten Eddie und Paul schon ein Verhältnis, als Leo und Konrad verhaftet wurden. Vielleicht hatte Paul mit seinen Verbindungen es schon vorher erfahren und Eddie vorab informiert. Vielleicht hatte Paul ihr eingeredet, dass es keinen anderen Weg mehr gäbe und dass nur so Schlimmeres verhindert werden könnte. Vielleicht hatte sie ihm das geglaubt.
Es waren viel zu viele Unwägbarkeiten, zu viele Vielleichts, und so sagte ich: »Vergiss es. Es waren nur Gerüchte.«
Er schüttelte verständnislos den Kopf.
»Dein Vater hat den neuen Krankenhauskomplex gebaut. Im Keller unter der Notaufnahme bewahrt Bea Rudolf die Originale der Obduktionsberichte auf. Du musst nur reingehen und die Berichte mit einer Digitalkamera fotografieren. Du sollst ja nichts stehlen. Es dauert nicht länger als zehn Minuten. Und vielleicht reichen die Berichte ja aus, und wir müssen gar nicht mehr ins Polizeirevier einsteigen.«
»Ich muss drüber nachdenken, bitte.«
»Ich werde heute Nacht um zwei am Krankenhaus sein. Du weißt schon, bei den alten Büschen«, sagte ich. Ich schickte ein »Bitte« hinterher. Und: »Ich bitte dich. Wenn du es dir doch anders überlegst, ruf mich an. Es ist dieselbe Nummer wie vor zehn Jahren. Hast du sie noch?«
Konrad nickte. »Gut. Aber wenn Leo der Mörder meiner Schwester ist, werde ich ihn drankriegen. Und du wirst es nicht verhindern.«
Es klang wie ein fairer Deal.