46
Es war längst dunkel, als ich auf der Heimfahrt an Laurens Haus vorbeikam. Ich sah Licht hinter den heruntergelassenen Jalousien. Ich hatte keinen Plan. Ich bremste, schnappte meine Tasche mit dem Kassettenrekorder und stieg aus dem Wagen.
»Bin gleich zurück«, sagte ich zu Gregor Patzig, der wieder einmal hinter mir parkte und seinen Kopf neugierig aus dem Seitenfenster steckte.
Ich klingelte, und sie riss kurz darauf die Tür auf, als hätte sie dahinter gelauert.
Mit aufgeregter Stimme blaffte sie, sie hätte mir nichts mehr zu sagen, und schlug mir die Tür vor der Nase zu.
Es reichte mir langsam. Ich klappte den Briefschlitz auf und erhaschte einen Blick auf ihre Jeansbeine, bevor sie zur Seite trat.
»Hat dein Stiefvater dich missbraucht, Lauren?«, rief ich durch den Schlitz.
Sie riss die Tür wieder auf. Ihr Gesicht war blass, und ihre Züge waren brüchig wie gesprungener Marmor.
»Hat dein Stiefvater dich missbraucht, Lauren?« Sie imitierte eine hohe Kinderstimme und schüttelte den Kopf wie ein Wackeldackel auf einer Buckelpiste. Schon beim nächsten Satz nahm ihre Stimme eine zynische Tonlage an: »Das hättest du wohl gern, oder? Damit du so richtig im Dreck anderer Leute wühlen kannst. Das brauchst du mit deinem ganzen verpfuschten Leben doch wie ein Alkoholiker die Flasche.«
Ich kannte Lauren von klein auf, wie ein Kind ein anderes eben kennt, das in derselben Straße wohnte, in dieselbe Klasse ging und immer abseits stand.
Ich vermute, solche Kinder findet man in jeder Schule und in jeder Klasse. Es waren jene, die beim Sport immer als Letzte in die Volleyball- oder Fußballmannschaft gewählt wurden, nach Schulschluss immer allein nach Hause gingen und immer gehänselt wurden. Ich hatte Lauren nie gehänselt, aber ich hatte auch nichts dagegen unternommen, wenn es andere getan hatten. So mutig war ich in der Schule nicht. Es gab jedoch auch eine Seite an Lauren, die uns früher immer überrascht hatte. Fühlte sie sich in den ersten Schuljahren in die Ecke gedrängt, so warf sie sich auf den Boden, schlug mit den Armen um sich, strampelte mit den Beinen und brüllte nach ihrem Bruder Hinner.
Und später? Ich wusste wirklich nicht viel von ihr, aber an eines erinnerte ich mich genau. Eine Zynikerin war sie nie gewesen. Zurückhaltend? Ja. Schüchtern bis zur Selbstverleugnung? Ja. Mangelndes Selbstbewusstsein? Großes Ja. Wenig Selbstwertgefühl? Eindeutig. Aber eine Zynikerin? Nein.
Sie hatte den Satz kaum beendet, da tat sie etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Sie schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Ich schrie erschrocken auf, hielt mir die Wange und starrte auf die Eingangstür, die sie vor mir zuknallte. Die Tür vibrierte in den Angeln.
»Ich kenne den Inhalt des Tonbands«, sagte ich zu der Tür und hatte keine Ahnung, ob Lauren mich hörte.
Gregor Patzig rannte durch den Garten auf mich zu. Er fragte, ob er etwas tun könne. Er sagte, ich solle endlich Vernunft annehmen und die Leute in Ruhe lassen. Er sagte, hören Sie auf, beweisen zu wollen, dass Ihr Bruder unschuldig ist. Kümmern Sie sich um sich selbst. Das hatte mir schon mal jemand geraten. Auf einem Zettel. Mit einer Drohung. Und mein Vater hatte es mir auch empfohlen.
Gregor Patzig brachte mich zu meinem Auto.
Adam saß mit den Kindern und Cornelius beim Essen in der Küche.
Bratkartoffeln und Buntbarsch. Auch das konnte er wie kein Zweiter. Sie hatten mir Bratkartoffeln übrig gelassen, und Adam briet sie für mich noch einmal an. Der Fisch wartete in der Backröhre bei fünfzig Grad, mein Vater angelte ihn heraus und legte ihn mir zusammen mit einem Berg knuspriger, goldgelber Kartoffeln auf den Teller. Ich sah den Blicken der anderen an, dass sie dasselbe dachten wie ich: Das würde ich niemals schaffen.
Nachdem der erste Heißhunger gestillt war, öffnete ich den obersten Jeansknopf und aß ungerührt weiter. Es war zu köstlich, und alles andere war mir gerade egal.
»Hör auf zu grinsen«, sagte ich zu Cornelius, der mir halb spöttisch, halb bewundernd zusah, und schob mir eine neue Gabel Kartoffeln in den Mund.
»Die Menge hab nicht mal ich runtergekriegt«, sagte er, und Chris stieß Max den Ellenbogen in die Rippen.
Ich hätte mich fast verschluckt, und meiner Kehle entrang sich ein Laut, als würde ein Vergaser zünden. Cornelius’ Gesicht verschwand hinter einem Glas Bier, und Max und Chris grienten noch breiter, als ich meinen zweiten Jeansknopf mit einem »Sorry« öffnete, durchatmete und ungerührt weiteraß.
»Sie braucht das«, sagte mein Vater zu den Kindern.
»Die Nerven«, sagte ich. »Essen beruhigt.«
»Nicht zu fassen«, sagte Cornelius, und ich war mir nicht sicher, ob er meinte, nicht zu fassen, dass du so viel essen kannst, oder nicht zu fassen, dass du deinem Sohn nicht endlich erzählst, was mit dir los ist.
»Wenn sie so weitermacht«, sagte Max trocken, »schwappt im Sommer das Schwimmbecken über …«
»… und Kinder werden ertrinken«, sagte Chris ernst.
»Jetzt reicht’s«, sagte ich, schluckte die letzte Bratkartoffel runter, wischte mir den Mund ab, nahm einen Schluck Wasser und verkündete: »Wir bekommen ein Baby.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Ich hatte auch das nicht geplant, und ich hatte nicht vorgehabt, es Max vor allen anderen zu erzählen.
Mein Sohn sah mich schweigend an. Durch seine Augen stürzten Fragezeichen.
»Wir?«, fragte Cornelius, doch ich beachtete ihn nicht. Ich behielt Max im Blick.
»Wann?«, fragte Max.
»In sechs Monaten. Wahrscheinlich Ende Juni.«
»Cool«, sagte Max, und die Fragezeichen in den Augen verblassten.
»Es wird ein Mädchen.«
»Cool. Ich kriege eine Schwester.« Freude in den Augen.
»Freust du dich?«
»Cool. Ich werde ein großer Bruder.« Noch mehr Freude.
Chris machte ein ernstes Gesicht. Er dachte angestrengt nach. »Wo ist der Papa?«, fragte er dann.
Max schaute mich an und nickte. »Ist Alex der Papa? Wird er jetzt auch meiner?«
Mir stockte das Herz. »Nein«, sagte ich und sah hilfesuchend von meinem Vater zu Cornelius.
»Nein?«, fragte Adam.
»Nein«, sagte ich mit meiner geschmeidigsten Stimme. »Alex ist nicht der Papa.«
»Mädchen, Mädchen.« Mein Vater schüttelte den Kopf.
»Bin ich’s?«, fragte Cornelius, und die Köpfe der Kinder fuhren zu ihm herum. Ich saß mit offenem Mund da und schaute meinen Vater hilflos an. Der zuckte mit den Achseln, sagte tiefsinnig »Tja«, stand auf und räumte den Tisch ab.
»Erzähl nicht so einen Schmarren«, sagte ich schließlich ärgerlich zu Cornelius.
»Ich könnte es sein«, sagte Cornelius zu Chris, der seinen Vater ansah. Die Augen groß wie Tennisbälle, hatte er das Atmen vor lauter Aufregung kurz eingestellt. Dann ein lautes, erleichtertes Ausatmen: »Echt?«
»Nein«, sagte ich. »Dein Vater und ich sind Freunde. Freunde kriegen keine Kinder zusammen.«
»Aha«, sagte Cornelius. »Es war nur ein Scherz«, sagte er dann zu Chris und kniff grinsend ein Auge zu.
»Sie müssten zusammen in einem Bett schlafen«, erklärte mein Sohn.
»Haben sie aber nicht«, sagte Chris und nickte wissend.
»Werden wir auch nicht«, sagte ich, stand auf und räumte gemeinsam mit meinem Vater den Geschirrspüler ein.
»Meine Oma sagt, mein Papa braucht eine Frau ohne Mann mit einem Kind«, sagte Chris, als ich gerade das letzte Glas reinstellte. Ich fuhr hoch.
»Das finde ich auch«, sagte mein Vater.
»Unsere Oma ist eine schlaue Person«, sagte Cornelius.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich, fast glücklich, das Thema wechseln zu können. »Hat sie immer noch Fieber?«
»Nein«, antwortete Cornelius. »Der Arzt sagt, sie hätte Glück gehabt, dass es keine Lungenentzündung geworden ist. Sie ist heute früh das erste Mal seit zehn Tagen wieder aufgestanden.«
»Grüß sie. Ich hab gestern völlig vergessen, dass du sie grüßen sollst.«
»Ich hab sie trotzdem von dir gegrüßt. Heute geht’s nicht. Wir fahren gleich von hier aus zurück nach Hamburg«, sagte er, und Chris nickte.
»Wir kommen nächstes Wochenende wieder und bleiben dann bis Silvester«, sagte Chris.
»Wir bleiben auch bis Silvester«, sagte Max, und Chris nickte wieder.
Nach dem Abendessen gingen Cornelius und ich in mein Zimmer und setzten uns auf mein Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, wie ich es erst zwei Abende zuvor mit Alex getan hatte. Alex, der so dicht und warm neben mir gesessen hatte. Alex, dieser Feigling. Er lauerte noch immer wie ein Dieb in einer dunklen Nische meines Gehirns, jederzeit bereit, meine Aufmerksamkeit und mein Selbstbewusstsein zu stehlen, kaum dass ich die Kontrolle über mein Denken aufgab. Ich hasste es.
Ich rutschte an die äußerste Kante des Bettes, schob Alex aus meinen Gedanken fort und spielte Cornelius das Band vor, das zwischen uns lag. Wir sahen einander nicht an, während das Band lief. Er hielt den Kopf gesenkt, fuhr sich ab und an mit der Hand übers Kinn und starrte konzentriert auf einen imaginären Fleck auf der Bettdecke. Wir saßen jetzt auf dem Bett wie zwei Fremde, die der Zufall zusammengeführt hatte. Der Abstand zwischen uns hätte nicht größer sein können.
Ich hatte im Laufe der Jahre Hunderte Zeugenaussagen in Gerichtssälen gehört. Ich hatte Vergewaltigern gegenübergestanden und sie beobachtet. Ich hatte ihren Aussagen gelauscht oder denen ihrer Verteidiger. Ich hatte den Anklagen gelauscht. Ich war fähig, eine professionelle Distanz aufzubauen in Fällen, in denen ich persönlich nicht betroffen war, die Opfer nicht kannte und mich nicht fragen musste, ob wir vielleicht zu leichtgläubig, zu oberflächlich, zu selbstsüchtig gewesen waren. Ich überlegte, ob jemand Lauren unter unseren Augen missbraucht hatte. Ob er es wiederholt getan hatte und über Jahre hinweg, wie es so vielen anderen Mädchen widerfahren war. Ob Lauren deshalb so mürrisch, so zurückhaltend, so schüchtern gewesen war. Und während ich dem Band ein zweites Mal lauschte, fragte ich mich auch ein zweites Mal, ob es Anzeichen gegeben hatte. Ob wir es hätten wissen können. Ob wir nicht bösartig gewesen waren, indem wir sie ausgegrenzt, sie allein gelassen und uns nicht um sie gekümmert hatten.
Es gab viele offene Fragen, und nur auf eine hatte ich die Antwort: Lauren war mir während meiner Schulzeit gleichgültig gewesen. So einfach war das – und so schwer.
Das Band endete.
»Das ist nicht Paul«, sagte Cornelius. »Jede Wette.«
»Was ist mit Hinner?«, fragte ich.
»Hinner?« Er schüttelte den Kopf. »Das Band ist von 1989. Da war er doch längst mit seiner Frau zusammen. Wieso sollte er seiner Schwester da noch so etwas antun?«
»Missbrauch findet zu 80 Prozent innerhalb der Familien oder durch Bekannte statt«, sagte ich. »Anfang der neunziger Jahre ging man davon aus, dass acht von 100 Frauen vor ihrem 16. Lebensjahr Missbrauchserfahrungen gemacht haben. Acht«, wiederholte ich. »Wir waren 15 Mädchen in der Klasse. Statistisch kommt das hin.«
»Hör auf mit Statistiken. Die bringen uns keinen Deut weiter.«
»Heute sind es nur noch etwa sechs auf 100«, fuhr ich unbeeindruckt fort. »Ich nehme an, das liegt an der Aufklärung und an der Bereitschaft der Mädchen, einen sexuellen Übergriff eher anzuzeigen.«
Es entstand eine seltsame Pause, während der er mich ansah. »Alle Männer sind Schweine? Und kein Schwein ruft dich an? Ist es das?«
Ich schüttelte den Kopf. »Schieb es nicht auf die Schiene. Es geht hier nicht darum, was ich denke.«
»Tut mir leid«, sagte er. »Also, was meinst du?«
»Erinnerst du dich, wie Hinner Lauren früher immer zu Hilfe kam?«, fragte ich. »Weißt du noch, wie sie sich manchmal, als wir schon zehn oder elf waren, noch auf den Schulhof warf und schrie, wenn sie jemand ärgerte?«
Cornelius nickte. »Hinner musste nur auftauchen und diese Bewegung mit dem Kopf und den Schultern machen. Kopf wie ein Habicht nach vorn, Schultern wie ein Feldwebel nach hinten und Brust raus. Wenn er dann noch diesen starren Blick aufsetzte, brauchte er nicht mal was zu sagen. Man verschwand einfach so schnell wie möglich aus seinem Blickfeld in die hinterste Ecke des Schulhofs.«
»Genau«, sagte ich. »Das hatte er von Paul. Wenn der wütend war, starrte er einen auch an, als würde er einem die Eingeweide mit den Augen raussaugen.«
Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit Eddie. Sie erzählte mir, dass Hinner es anfangs gewohnt war, der Mittelpunkt im Leben seiner Mutter zu sein. Dann kam Lauren, und der fünfjährige Hinner musste sich mit einer Nebenbuhlerin abfinden. Lauren war als Baby sehr hübsch, ihr Gesicht von zarter Porzellanblässe, darüber lagen dunkelbraune Locken. Sie hatte wie ihr Bruder blaue Augen, und alle verliebten sich damals in sie.
Mit sechs Jahren bekam Hinner Windpocken, und er behielt ein paar sichtbare Narben im Gesicht zurück. Ich erinnerte mich nicht, ihn während meiner Schulzeit jemals mit einem Mädchen gesehen zu haben. Vielleicht lag es an den Narben, vielleicht aber auch an dem stechenden Blick, dass die Mädchen nicht mit ihm ausgingen. Bei einigen lag es sicherlich auch daran, dass Paul Grenzoffizier bei der NVA war und viele Angst vor ihm hatten. Denn Paul verkörperte Macht und Einfluss und ließ keine abweichende Meinung gelten.
Aber da war noch etwas, wie ich mich nun wieder erinnerte. Als wir älter wurden, benahm Hinner sich uns Mädchen gegenüber einerseits unbeholfen und schüchtern, andererseits kompensierte er seine Unsicherheit mit einer Großspurigkeit, die uns auf die Nerven ging. Dann lud er Jungs wie Mädchen in die Eisbar am Neuperver Tor ein und warf mit seinem angeblichen Taschengeld um sich, als gäbe es kein Morgen. Wahrscheinlich war es das Geld aus den Einbrüchen.
In der dritten Klasse blieb Hinner sitzen und kam zu Leo in die Klasse. Paul fühlte sich blamiert und prügelte seinen Stiefsohn halb tot. Auch das wusste ich von Eddie. Später bereute Paul es zutiefst, denn Hinner vertraute ihm nie wieder, und Eddie vermutete, Hinner hätte Paul bis zu dessen Tod gehasst.
Die Demütigung, sitzen geblieben zu sein, weckte Hinners Ehrgeiz, und so begann er, sich zu einem der besten Schüler hochzuarbeiten, obwohl sein Geist alles andere als brillant war. Aber er war schlau, gerissen und geradezu manisch ehrgeizig. Mit zehn trat er in den Judoverein ein, und nur zwei Jahre später wurde er in seiner Altersklasse das erste Mal Vizemeister der DDR.
Es sprach sich herum, und jeder ließ von Lauren ab, sobald Hinner erschien. Später dann schlug er zu, was einem Judoka satzungsgemäß verboten war. Hinner kümmerte es nicht, und Paul, der Stiefvater, den er so hasste, räumte hinter ihm die Scherben auf. Jedenfalls erzählte man sich das. Wenn Hinner wieder mal jemanden geschlagen hatte, tauchte Paul angeblich bei den Eltern auf, besorgte Baumaterial, Orangen, Einreisebewilligungen für die Verwandtschaft aus dem Westen, eine neue Küche. So etwas. Es kam wohl auf die Schwere der Verletzungen an.
Mein Vater behauptete früher, die Gang wäre Hinners Idee gewesen, und Hinner hätte einen schlechten Einfluss auf Leo ausgeübt. Mir war das schon damals zu einfach. Leo hatte die Gang mindestens ebenso gewollt wie sein Kumpel Hinner. Charles war eher der Mitläufer gewesen, ebenso wie Konrad.
Leo und Hinner waren einander in manchem ähnlich. Sie fühlten sich unschlagbar, glaubten an das Recht des Stärkeren und dass sie schlauer waren als alle anderen. Vor allem aber kannte ihre Aggressivität kaum Hemmungen und hatte nur ein Ziel: zu siegen. Heute war Hinner stellvertretender Bürgermeister. Ich vermutete, es war nur das Sprungbrett zum Bürgermeisteramt – und später dann in die Landespolitik. Hinner war auf einem kalkulierten Siegeszug. Alles andere würde auch nicht zu ihm passen.
»Rita«, sagte Cornelius in unser Schweigen. »Erinnerst du dich noch an sie? Sie ging mit Leo und Hinner in eine Klasse.«
»Rita und Leo haben mal rumgeknutscht.«
Er schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht.«
»Sondern?«
»Lass mich mal telefonieren, okay?«
Ich zuckte mit den Achseln, er zückte sein iPhone und drückte auf eine Taste.
»Hey, Liebilein.«
Liebilein? Ich dachte, ich hätte mich verhört. Ich sprang vom Bett auf und verzog mich eilig ins Badezimmer. Solchen Telefonaten musste ich nicht lauschen. Das ging zu weit.
Als ich zurückkam, hatte er bereits aufgelegt.
»Liebilein, was?«, fragte ich.
»Wir hatten mal was zusammen. Ist eine Ewigkeit her.«
»Wie lange ist Ewigkeit bei dir?«
»Sie lässt sich gerade scheiden«, sagte er. »Ich hab sie nur ein bisschen getröstet.«
Ich stieg über ihn hinweg auf meine Bettseite, und er fasste nach meinem Arm.
»Und? Ist sie heiß und sexy?« Ich zog meinen Arm weg.
»Ach herrje«, sagte Cornelius. »Sie ist lustig. Sie bringt mich zum Lachen …«
»… Überspring den Teil, wo sie dich durch Lachen nötigt und du sie gegen deinen Willen ranlässt«, unterbrach ich ihn.
»Sie ranlässt«, wiederholte er und drehte sich zu mir, so dass sein Körper mir ganz zugewandt war.
»Mit welchem deiner Sprüche hast du sie rumgekriegt?«
»Schau mir in die Augen, Kleines?« Seine hellblauen Augen mit den dunklen Sprengseln richteten sich auf meine. Ein Blick, der Straßenzüge erleuchtete. Mein Schulfreund Conny in Hochform.
»Uralt«, sagte ich. »Der hat bei mir schon in der Schule nicht gezündet.«
»Du riechst wie Himbeermarmelade?«
»Gott im Himmel! Das war in der ersten Klasse. Du bist hinter mir durch die Schultür gegangen und hast versucht, deine Nase in meinen Pferdeschwanz zu stecken.«
»Dazu sage ich jetzt nichts«, sagte Cornelius. Ich schlug ihm auf den Unterarm.
»Julie?«
»Hm?«
»Du warst die Erste.«
»Die Erste von was?«
Er rückte ein wenig näher. »Du warst meine erste große Liebe.« Der treue Blick eines Huskys. Er ließ wirklich nichts aus.
»Ach, Conny«, sagte ich und musste gegen meinen Willen lachen. »Wir waren sechs Jahre alt.«
»Sieben. Ich war sieben, als ich eingeschult wurde. Und ich habe jede Stunde gezählt, bis ich dich wiedersehe.«
»In der ersten Klasse konntest du zählen?«
»Ich konnte schon vorher rechnen.«
»Aha.«
»Ich habe Jahre gebraucht, um über dich hinwegzukommen.«
»Du warst mit … wie hieß sie doch gleich, das Mädchen aus der Parallelklasse?«
»Lizzie«, sagte er. »Und das auch nur, weil du mit Charles …«
Der Kindheitszauber verflog. »Hör jetzt auf«, sagte ich. »Wir haben über Laurens Vergewaltigung gesprochen.«
»Lass Charles endlich gehen«, sagte er.
»Wieso willst du immer mein Therapeut sein?«, fuhr ich ihn an.
»Will ich nicht«, sagte er. »Ich will dein bester Freund sein, und ich finde, du lachst viel zu wenig, okay? Und du solltest dich nicht mit solchem Mist wie Vergewaltigung und Mord abgeben. Ich hätte dich in deinem Zustand einfach nicht zu Koslowski fahren lassen sollen. Wenn du Neujahr zurückkommst, wirst du nicht mehr als Gerichtsreporterin unterwegs sein, bis das Baby da ist. Du …«
»Fein. Das besprechen wir, wenn es so weit ist«, unterbrach ich ihn und fühlte mich dennoch seltsam gut aufgehoben. »Und was war jetzt mit Rita? Weshalb hast du sie angerufen?«
»Hinner hat sie mal von der Schule nach Hause gebracht, als sie 15 und er 16 war. Sie mochte ihn nicht besonders, aber er tat ihr leid, weil kein Mädchen mit ihm zu tun haben wollte. Und sie kannte ja seinen Ruf und wusste, dass er und Leo und Konrad und Charles eine Bande waren. Deshalb hatte sie wohl auch ein bisschen Angst davor, ihm einen Korb zu geben.«
»Und?«
»Als sie durch den Park gingen, packte er sie plötzlich, zerrte sie in die Büsche und riss ihr die Bluse auf. Sie war vor Schreck wie gelähmt und wehrte sich nicht. Er starrte ihr auf die Brustwarzen und presste sich an sie, und sie spürte, dass er eine Erektion hatte. Sie hatte eine Heidenangst und dachte, er würde sie vergewaltigen. In dem Moment bellte in der Nähe ein Hund. Hinner ließ von ihr ab, zischte ihr zu, er würde sie umbringen, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlor, und rannte davon. Am nächsten Tag in der Schule bekam sie eine Panikattacke. Doch als sie Hinner dann auf dem Schulhof traf, sah er zur Seite und tat so, als wäre nichts geschehen. Sie begriff, dass er genauso viel Angst vor ihr hatte wie sie vor ihm. Sie baute sich vor ihm auf und erklärte ihm, er solle sie nie wieder anfassen. Sollte er das jemals wieder wagen, würde sie ihn anzeigen. Solange er sie aber in Ruhe ließ, würde sie den Mund halten. Seither ließ er sie in Ruhe, und sie hielt ihren Teil der Vereinbarung ein.«
Wir schwiegen, und ich dachte über das nach, was ich gerade gehört hatte.
Leo hatte einem größeren Jungen das Handgelenk gebrochen. Hinner hätte fast eine Mitschülerin vergewaltigt. Beide hatten Einbrüche begangen, beide Erpressungen. Leo war schließlich im Jugendwerkhof gelandet, Hinner blieb auf freiem Fuß.
In allen Untersuchungen über Serientäter zeichnete sich immer ein Bild ab: frühe Gewaltbereitschaft und ein auslösendes Ereignis. Was, wenn Rita das auslösende Ereignis gewesen war und Hinner der Mann, den alle suchten? Es gab noch eine Gemeinsamkeit in den Lebensläufen wenn nicht aller, so doch vieler Sexualstraftäter: Sie wurden in ihrer Kindheit oder frühen Jugend selbst sexuell missbraucht. Leo war vergewaltigt worden, Hinner nicht. Wenn ich es sachlich betrachtete, könnte einer von ihnen der Nachahmungstäter sein und sowohl Claudia Langhoff als auch vor vier Monaten Vera Schnitter vergewaltigt und ermordet haben.
Meine Beine kribbelten, ich brauchte Bewegung und schob mich an Cornelius vorbei aus dem Bett.
»Hör zu«, sagte er und zog eine Uhr aus seiner Hosentasche, eine dunkelblaue Plastikarmbanduhr mit leuchtend blauem Zifferblatt und schwarzer Schrift. »Ich möchte eigentlich, dass du mit nach Hamburg zurückkommst, bis der Spuk hier vorbei ist. Ich weiß, dass Carsten Unruh will, dass du hierbleibst. Wir wissen beide, dass du auch so bleiben würdest. Aber ich will, dass du die Uhr trägst. Wenn nicht für deine Sicherheit, dann für die deines ungeborenen Kindes und für Max.«
»Bist du verrückt?«
»Es ist eine GPS-Kinderuhr. Normalerweise ist sie für Eltern, die Angst haben, dass ihre Kinder entführt werden oder irgendwo verlorengehen. Robert hat sie gestern besorgt und programmiert. Ich hab sie mir mit einem Overnight-Kurier aus Hamburg kommen lassen. Man kann durch sie Infos übers Handynetz empfangen und senden. Ich fahre nachher, und ich möchte, dass dir nichts passiert. Solange du sie trägst, kann ich jederzeit verfolgen, wo du bist, denn sie berechnet deine Koordinaten. Nur musst du sie tragen. Können wir uns darauf einigen?«
Ich sah zu ihm hinunter, und was ich sah, gefiel mir nicht. Cornelius blickte ernst und sah besorgt aus.
Ich nickte, und dann band ich meine Jaeger-LeCoultre Reverso ab, legte sie auf den Nachtschrank und ersetzte sie durch dieses unübersehbar blinkende Plastikungetüm.
Wir gingen nach unten und spielten gemeinsam mit meinem Vater und den Kindern Scrabble mit altmodischen, abgewetzten Holzsteinen, die noch von mir und Leo in unserem Spielfach im Wohnzimmerschrank lagen.
Cornelius lag beim Scrabbeln weit vorn. Ich stieß ihn unter dem Tisch mit der Fußspitze an und runzelte die Stirn. Er schaute irritiert und besann sich dann. Die Kinder zogen an ihm vorbei und kreischten vor Begeisterung, als sie alle Erwachsenen geschlagen hatten.
Gegen halb neun brachen Cornelius und Chris auf. Ich brachte Max ein halbe Stunde später in Leos Zimmer hoch, hörte mir ein weiteres Kapitel von »Harry Potter« an und schlief mal wieder ein.
Ich hatte Max bereits angekündigt, dass ich in der Schule anrufen und seine Abwesenheit entschuldigen würde. Er hatte darauf bestanden, dass ich ihm erlaubte, nächste Woche mit seinem Schulfreund Daniel zu chatten, damit er die Hausaufgaben machen könnte und nicht später alles nachholen müsste. Ich hatte daraufhin mit Daniels Mutter gesprochen, und sie war einverstanden, dass die Kinder jeden Nachmittag übers Internet miteinander telefonieren konnten.
Kurz nach neun weckte mich mein Handy. Max schaltete die CD aus, ich legte den Finger auf den Mund und ging ran.
»Hör auf, meine Familie in den Dreck zu ziehen«, fauchte Hinner, dann hörte ich Gerangel und schließlich die in Tränen aufgelöste Stimme seiner Frau. »Wie kannst du so was Gemeines behaupten? Schämst du dich gar nicht? Hast du nicht genug mit deinem Bruder zu tun? Musst du Lauren und uns mit diesem Dreck bewerfen?«
Dann sprach wieder Hinner: »Wenn ich deinen Bruder erwische, mache ich ihn kalt.«
»Du bist stellvertretender Bürgermeister«, sagte ich hilflos, »das setzt du doch nicht aufs Spiel.« Aber ich wusste es besser.
»Er hat Claudia Langhoff und Laurens Töchter umgebracht«, sagte Hinner ganz ruhig, »und noch mal entkommt er mir nicht.«
Mir gingen die Nerven durch. »Mein Bruder hat niemanden umgebracht«, brüllte ich, doch er hatte schon aufgelegt.
Max lag neben mir und schaute mich entsetzt an. Mir zitterten die Hände. Ich steckte sie unter die Bettdecke und versuchte ein beruhigendes Lächeln.
Es misslang. Ein Felsbrocken legte sich auf meine Brust, und ich konnte kaum sprechen. Ich zog Max zu mir heran, strich über sein samtiges Kinderhaar, und dann erzählte ich ihm die ganze verdammte Geschichte. In einer Light-Version, von der ich hoffte, sie würde keine Alpträume hervorrufen. Max schwieg.
Als ich fertig war, nuschelte mein Sohn schon im Halbschlaf: »Ich kenne Leo. Er war es nicht.«
Mein ganzer Körper spannte sich wie die zu straff aufgezogenen Saiten eines Cellos. Ich fragte: »Was meinst du?«
Er antwortete nicht, und so lag ich da und lauschte seinem gleichmäßigen Atem. Ich ließ ihn schlafen.
Wir würden später reden.