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Ich hatte eine Stablampe meines Vaters aus dem Regal im Keller heraufgeholt und verstaute sie in der Innentasche meiner Daunenjacke.
Mein Vater saß im Wohnzimmer und sah sich die Spätnachrichten im ZDF an. Ich setzte mich zu ihm. Ich hatte noch drei Stunden vor mir bis zum ersten Einbruch meines Lebens. Ein Gedanke, der mir Schauer über den Rücken jagte. Es waren keine wohligen.
Unruhig stand ich auf. Mein Vater warf mir einen Blick zu und schaute dann wieder auf den Fernseher.
»Ich gehe ins Bett«, sagte ich, und er nickte. Im Vorbeigehen beugte ich mich zu ihm und küsste ihn auf die Wange.
»Schlaf schön«, sagte er, und ich hörte ihm an, dass er mit den Tränen kämpfte.
»Ich liebe dich«, sagte ich.
Ich ging die Treppe hinauf und an meinem Zimmer vorbei, darauf bedacht, dass kein Knarren der Dielen verriet, wohin ich ging. Leise öffnete ich die Tür des Schlafzimmers meiner Eltern, schaltete das Licht ein, schlich zur Kommode, zog die erste Schublade auf und Bingo: Ich zog eine lange alte Unterhose aus einem Stapel und ein langärmeliges Hemd aus einem anderen.
Ich schloss die Schublade und schaute auf die drei Fotos, die auf der Kommode standen. Ein aktuelles Farbfoto von Max und mir, ein grobkörniges Schwarzweißfoto meiner Eltern kurz nach ihrer Hochzeit und eines von Leo mit diesem umwerfenden Lächeln, das Frauenherzen in Brand gesteckt hatte.
Weshalb, fragte ich mich, stand noch immer ein Foto von Leo auf dieser Kommode genau gegenüber dem Bett meiner Eltern, so dass sie jeden Morgen als Erstes an diese Tragödie erinnert wurden. Noch vor ein paar Tagen hatte ich geglaubt, Eddie würde Leo auf diese Weise täglich in ihre Gegenwart zwingen, um sich selbst für ein Versagen ihrer Erziehung zu bestrafen.
Ja, Eddie hatte sich mit diesem Foto selbst bestraft. Ebenso wie sie sich damit gestraft hatte, dass sie in diesem Haus geblieben war und in dieser Stadt. Meine Eltern hätten damals weggehen können. Spätestens nach dem Fall der Mauer hätten sie irgendwo neu anfangen können, in jeder beliebigen kleinen Ortschaft mit einem Ärztemangel. Aber sie blieben hier und veränderten nichts. Wenn ich es richtig bedachte, glich das Haus einem Mausoleum. Doch wenn Eddie Charles erschossen hatte, dann, so wurde mir nun klar, hatte sie sich selbst in lebenslange Geiselhaft genommen.
Ich schob die Gedanken beiseite. Meine Mutter war tot, und jetzt ging es um uns, die Lebenden. Ich nahm Leos Foto und stopfte es in Eddies Kommodenfach unter ihre Wäsche. Wenn das hier alles vorbei war, würde ich große blaue Plastiksäcke kaufen und ihre Sachen aussortieren.
Dann schlich ich zurück zur Tür, verließ das Zimmer und atmete erleichtert auf, als ich endlich auf meinem Bett lag.
Ich stellte den Wecker auf eins. Nur zur Vorsicht. Ich hatte nicht vor einzuschlafen. Ich wäre nach zwei, drei Stunden Schlaf nur wie gerädert.
Ich las im Schein der Nachttischlampe in Roberts Unterlagen noch einmal nach, was Cornelius mir bereits über Margo erzählt hatte. Die Worte verschwammen ein ums andere Mal, und ich las denselben Absatz wieder und wieder, nur um sofort zu vergessen, was ich gelesen hatte.
Ich nahm mein Laptop und loggte mich ins Internet und dann in meinen E-Mail-Account ein. Manchmal benutzte ihn Max, um mit seinen Freunden zu mailen. Ich fragte mich, wie Leo Max getroffen hatte, wie sie miteinander kommuniziert hatten, wie gut sie einander kannten, ob sie sich jemals gesehen hatten. Ich fragte mich, ob es Max gewesen war, der Leo über Eddies Tod informiert hatte. Ich fragte mich, was ich noch so alles nicht über meinen Sohn wusste, von dem ich noch vor zwei Stunden behauptet hätte, er hätte keine Geheimnisse vor mir. Jedenfalls keine wichtigen.
Ich schlich zu Max ins Dachzimmer hoch, suchte leise seinen Schulranzen und schleppte ihn hinunter. In meinem Zimmer schüttete ich ihn aus und kontrollierte seine Stiftmappe, seine Hefte, seine Bücher. Ich suchte nach einem Passwort, einer Mailadresse. Nach irgendetwas, das mir verriet, ob mein Sohn irgendwo einen E-Mail-Account auf meinen Namen angelegt hatte mit einer anonymen Adresse.
Ich fand nichts, was mir weiterhalf. Es beruhigte mich nicht, doch immerhin kehrten nach dieser Pause meine Lebensgeister zurück. Vielleicht war auch nur mein Blutdruck aus seinem Kellerloch emporgestiegen, weil ich mich bewegt hatte.
Jedenfalls las ich Roberts Unterlagen diesmal konzentrierter. Ich fand nichts, was Cornelius nicht erwähnt hatte. Dann las ich die Namensliste der Jugendlichen, die mit Leo und Konrad inhaftiert gewesen waren. Sie waren alphabetisch geordnet. Fast hätte ich den Namen überlesen.
Doch da stand er: Siegfried Meier. Vor Schreck erstarrte ich. Siggi Meier. Ich konnte kaum atmen. Der Mann vor Margos Haus. Er war mit Konrad und Leo im Jugendwerkhof gewesen. Ich war mir sicher, dass er nicht zufällig in unserer Straße wohnte. Thor und Konrad Langhoff kauften ab und an marode Altbauten auf, sanierten sie und vermieteten sie dann. Ich hätte zu gerne gewusst, ob das Haus, in dem Siggi wohnte, den Langhoffs gehörte. Der Gedanke erschien mir so ungehörig, dass ich die Liste erst einmal neben mich aufs Bett legte, sie dann doch wieder in die Hand nahm, draufstarrte und mein Handy zückte, um Cornelius mitten in der Nacht eine SMS zu schicken. Robert sollte herausfinden, ob Siggi Meier für Konrad arbeitete und ob das Haus neben Margos den Langhoffs gehörte.
Und dann begann ich – zum wievielten Mal eigentlich? –Koslowskis Unterlagen erneut zu durchforsten. Ich studierte die Seiten zum Mord an Claudia Langhoff, Koslowskis erste Vernehmung durch Kortner, Koslowskis Aussagen später im Gerichtsverfahren, Kortners Aussagen vor Gericht. Ich las die Berichte der Spurensicherung, den Obduktionsbefund und malte ein Zeitschema auf ein Din-A4-Blatt. Ich las, was Claudias Mutter Henny, ihr Vater Thor, Konrad und andere Zeugen ausgesagt hatten.
Am Nachmittag vor ihrem Verschwinden hatte Leo mit Claudia Schluss gemacht, und sie hatte sich kreuzunglücklich in ihrem Zimmer eingeschlossen.
Am Tag ihres Todes hatte Henny sie morgens um vier mit verquollenen Augen in der Küche getroffen. Henny hatte mit ihr einen Kaffee getrunken und sich danach noch einmal hingelegt. Gegen acht war Claudia zum Schwimmen ins Freibad gefahren, wie sie es bei schönem Wetter den ganzen Sommer über getan hatte. Sie kehrte zwischen neun und halb zehn mit nassen Haaren nach Hause zurück, hatte gemeinsam mit Henny gefrühstückt und war dann für Besorgungen mit dem Fahrrad in die Kaufhalle gefahren.
Gegen zwölf war sie zu Leo gefahren, um noch einmal mit ihm zu reden. Gegen halb fünf hörte Thor in seiner Firma von einem Arbeitskollegen, dass Leo Charles erschossen hätte. Henny erfuhr es erst gegen fünf von Thor, machte sich deshalb jedoch keine Sorgen um Claudia, da diese nach ihrem Treffen mit Leo wieder ins Schwimmbad fahren wollte. Nur wurde sie dort nie gesehen.
Die polizeilichen Ermittlungen ergaben später, dass unsere Nachbarin von gegenüber Claudia gegen halb zwei gesehen hatte. Völlig aufgelöst hätte sie ihr Fahrrad von unserem Grundstück weggeschoben. Die Nachbarin erinnerte sich deshalb so gut daran, weil der Saum von Claudias Sommerkleid hinten in ihrem Slip steckte und sie überlegte, es ihr aus dem Fenster zuzurufen. Aber dann dachte sie, das Mädchen würde es von allein merken. Außerdem hatte sie beobachtet, wie Charles ankam und Claudia mit einem Nicken grüßte, sie darauf aber nicht reagierte, sondern sich aufs Fahrrad setzte und davonfuhr.
Gegen halb drei wurde Claudia von unserem ehemaligen Mathelehrer hinter der Badeanstalt gesehen. Sie stand ans Geländer gelehnt auf der Brücke, und sie grüßten einander. Er hatte den Eindruck, dass sie auf jemanden wartete, denn sie sah mehrmals auf die Uhr.
Es war das letzte Mal, dass jemand sie lebend sah. Zwei Tage später fand man ihre Leiche.
Eddie, so hatte die Nachbarin bestätigt, war an diesem Tag früher nach Hause gekommen. Außerdem hatte sie einen lauten Knall gehört. An die Uhrzeit erinnerte sie sich nicht, aber es war irgendwann am frühen Nachmittag. Allerdings hatte sie geglaubt, es sei nur wieder der Auspuff irgendeines Trabants. Leo hatte Charles gegen zwei Uhr erschossen. Die Nachbarin war eine sehr zuverlässige Zeugin. Ich fragte mich, ob sie wohl jeden Tag hinter dem Fenster gelauert und gewusst hatte, dass meine Mutter und Paul ein Verhältnis hatten, und wer es wohl noch gewusst hatte in dieser Stadt, in der sich Geheimnisse schneller verbreiteten als ein Virus.
Um eins klingelte der Wecker in meine Überlegungen, um Viertel nach eins kroch ich aus der Wärme meines Bettes, duschte und schwang mich in eine schwarze Jeans. Ich schlich hinunter in die Küche und trank einen starken Kaffee, der meine Lebensgeister zu mehr Effizienz antrieb.
Ich schrieb eine Nachricht an Leo, kramte eine Reißzwecke aus der Küchenschublade und verließ das Haus durch die Hintertür zum Hof. Ich pinnte den Zettel im Schuppen an die Innentür, schloss sie leise und machte mich durch die Gärten auf den Weg.
Ein steifer Nordostwind blies mir ins Gesicht, und ich fröstelte, obwohl ich bestens eingepackt in die viel zu große Unterwäsche meines Vaters, einen dicken Kaschmirpullover und meine Daunenjacke durch die Nacht lief. Ich wagte in den Gärten nicht, Adams Taschenlampe zu benutzen, und hatte Mühe, den Weg durch Schnee und Finsternis zu finden.
Ich schaltete die Lampe erst ein, als ich am Bachlauf ankam und über das Brett balancieren musste.
In meiner Jacke klingelte das Handy.
»Konrad hier. Es geht nicht. Nicht heute Nacht. Wir reden morgen.«
Ich wollte etwas erwidern. Dass ich bereits unterwegs war, dass es unbedingt sein musste.
»Meiner Frau geht es nicht gut«, sprach Konrad weiter.
Ich hatte keine Chance, ihn zu überreden, und ließ es sein.
»Morgen?«, fragte ich und schickte ein Gebet zum Himmel.
»Wir müssen abwarten«, sagte er. »Entschuldige. Es tut mir leid.«
Irgendwo hinter mir knackten Zweige. Vielleicht ein Reh, das ich aufgeschreckt hatte. Vielleicht ein Wildschwein. Ich drehte mich nicht um. Ich wollte nur noch nach Hause.