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»Knacken Sie Lauren«, hatte Paula Wenner gesagt.

Ich saß zu Hause in der Küche, die Hände um eine Tasse heißen Kakao gelegt. Der Satz lärmte in meinem Kopf. Zwei andere Sätze gesellten sich dazu: »Ich kenne Leo. Er war es nicht.« Max hatte sie am Abend zuvor ausgesprochen, bevor er eingeschlafen war.

Ich hatte vorhin gewartet, bis mein Vater auf den Friedhof gefahren war. Erst danach hatte ich Max gefragt, woher er Leo kennen würde.

»Ich hab geträumt«, hatte er gesagt. »Da war ein Mann, und der hieß Leo. Er ist in ein Flugzeug gestiegen und weggeflogen. Er musste in den Krieg. Seine Feinde waren seine eigenen Blutsbrüder. Er ist dort gestorben.«

Ich hatte nach dem Aussehen des Mannes gefragt, und er hatte ihn beschrieben. Seine Beschreibung entsprach ziemlich genau den Fotos, die in Leos Zimmer hingen.

Ich hatte wehmütig gelächelt, weil die Fotos seines Onkels ihn bis in seine Träume begleiteten, und ihn an mich gezogen.

Mit seiner Antwort hatte ich mich zufriedengegeben, denn Kinder träumten nun mal viel. Ich hatte mich damit beruhigt, dass er die angebliche Geschichte seines Vaters mit der seines Onkels vermengt hatte.

Die Sache besaß nur einen Haken: Sie stimmte nicht. Max hatte mich belogen.

Ich trank den Kakao aus und ging nach oben in Leos Zimmer. Schon im Flur hörte ich, dass Max das Radio eingeschaltet hatte. Stampfende Bässe, ohrenbetäubendes Schlagzeug. Deutscher Rap.

Max lag ausgestreckt auf dem Bett, den Rücken an das Kopfteil gelehnt, die Füße im Rhythmus wippend, und er las in einem »Spiderman« aus Leos Comicsammlung.

Über den Rand des Comics hinweg sah er mich an.

Ich schaltete das Radio aus, Max’ Füße stellten das Wippen ein. Ich setzte mich zu ihm und nahm ihm den Comic aus der Hand.

»Wir müssen uns unterhalten«, sagte ich.

Er rutschte weiter nach oben, so dass er jetzt vor mir saß. Er sah weder zerknirscht aus noch so, als hätte er ein schlechtes Gewissen.

Ich holte tief Luft. »Hast du mit Daniel telefoniert?«

»Ja«, sagte er und griff nach dem Comic. Ich legte meine Hand auf seine.

»Ich hab mit Opa gelernt. Opa hat mir neue Textaufgaben zum Rechnen gegeben.«

»Das ist fein«, sagte ich und atmete erleichtert aus. Der Gesprächsauftakt war schon mal gelungen.

Er zog an dem Comic, meine Hand umschloss seine fest.

»Du hast nicht von Leo geträumt«, sagte ich. »Du kennst ihn.«

Max kräuselte leicht die Lippen und blickte nach unten.

»Wer hat dir von den Blutsbrüdern erzählt? Wer, dass sie Leos Feinde sind?«, fragte ich und sagte dann mit meiner strengsten, mütterlichen Stimme: »Ich möchte die Wahrheit wissen.«

Er reagierte anders, als ich es mir vorgestellt hatte.

»Aber du darfst mich belügen.« Er sah mich herausfordernd an.

Ich fuhr in die Höhe. »Wie meinst du das?«

»Mein Papa ist nicht tot. Mein Papa weiß nicht, dass es mich gibt. Und du bist schuld.«

Er warf sich bäuchlings auf das Bett, vergrub den Kopf in der Decke und weinte, und ich weinte urplötzlich mit ihm und streichelte den schmalen Rücken, der von Schluchzern geschüttelt auf und nieder zuckte. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Ich wollte ihn beschützen und behüten. Davor, dass er verletzt wurde, weil Konrad ihn vermutlich nicht akzeptierte, ihn nicht sehen und nicht mit ihm zusammen sein wollte. Doch nun hatte ich ihn verletzt. Mehr als ich mir wohl vorstellen konnte.

Was sagte man in solchen Situationen? Woher weißt du das? Seit wann weißt du es? Wieso hast du nicht mit mir darüber gesprochen?

Nichts erschien mir tauglich.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich und wischte mir die Tränen ab. »Es tut mir so leid.«

Ohne sich umzudrehen, schluchzte er aus der Bettdecke heraus: »Geh weg.«

Ich schob den schmächtigen Körper etwas beiseite und legte mich zu ihm. Ich liebte ihn, ich wollte ihn nicht verlieren. Ich legte meinen Arm um ihn. Meine Finger tasteten die dünnen Rippen entlang, die so zerbrechlich unter dem Pulli lagen. Ich wollte sein Vertrauen zurück, und so erzählte ich ihm, wer sein Vater war und weshalb ich es ihm nicht gesagt hatte.

Der kleine Körper neben mir begann sich zu beruhigen, und als ich sagte: »Ich wollte dich immer nur davor beschützen, dass dir jemand wehtut, Mäxchen, und ich habe einen Fehler gemacht«, drehte er sich endlich um und drückte seinen Kopf zwischen meine Brüste, wie er es als Baby getan hatte.

»Ich hab dich lieb.« Ich drückte ihn noch ein wenig enger an mich.

Ungestüm und mit den Armen rudernd, befreite er sich aus meiner Umklammerung. »Ich krieg keine Luft, Manno.«

Ich gab ihm mein Taschentuch, er putzte sich laut und ausgiebig die Nase, als wollte er etwas Zeit gewinnen, setzte sich auf, sah mich an und sagte: »Ich werde meinen Papa besuchen, und wenn er mich möchte, dann ist es gut. Und wenn nicht, dann auch.« Dann zog er noch einmal die Nase hoch und atmete tief ein. Ich war überrascht, denn so viel Coolness hatte ich ihm nicht zugetraut, und so fragte ich mich, weshalb wir dazu neigten, unsere Kinder zu unterschätzen.

»Du kannst nur gewinnen. Wenn er dich nicht mag, haben wir immer noch uns beide und nichts verloren«, sagte ich optimistischer, als ich war. Es klang nach einem Strohhalm, doch er nickte erleichtert mit einem Funken Hoffnung in den Augen, von dem ich wünschte, er würde nicht zerstört.

»Opa hat gesagt, ich soll es dir nicht erzählen. Aber ich verrate es dir jetzt. Ich bin vorgestern Morgen wach geworden, als es noch stockfinster war. Dann bin ich runter in die Küche und wollte Milch trinken. Ich hab aber was in der Küche gehört und bin hingeschlichen. Ich dachte, Opa ist schon wach und trinkt auch Milch. Opa war aber gar nicht in der Küche. Ich hab aus dem Fenster geguckt und gesehen, dass ein Mann im Schuppen verschwand. Er sah komisch aus.«

Beifallheischend sah er mich an.

»Du bist aber nicht einfach im Schlafanzug rausgelaufen, oder?«

»Mama.« Sein Blick war voller Entrüstung. »Erst hab ich vorne durchs Wohnzimmerfenster geguckt. Der Mann im Auto war wieder da. Dann hab ich meine Jacke angezogen und die Stiefel. Ich hab kein Licht gemacht und bin hinten raus.«

»Und?«

Er grübelte. Man sah es an den kleinen Falten auf der Stirn und dem konzentrierten Blick.

»Nun sag schon«, forderte ich ihn auf.

»Opa war im Schuppen mit dem Mann. Sie hatten kein Licht an. Aber Opa hat mich gesehen, als ich die Tür aufmachte. Der Mann hatte eine Pistole in der Hand.« Er sah zu mir hoch und zuckte mit den Achseln. »Die war geladen, glaub ich.«

Mein Puls knackte gerade die zulässige Höchstgeschwindigkeit, ich presste meine Hand auf mein Herz und stöhnte auf wie ein alte Frau.

»Aber ich hatte keine Angst, Opa war ja da«, sagte Max.

Schön, dachte ich, red weiter, fass dich bitte kurz.

Er fasste sich kurz. Der Opa hätte dem Mann die Pistole abgenommen und ihm dann erklärt, das wäre sein Onkel Leo. Er hätte versprechen müssen, dass er es niemandem erzählt. Sonst würden wir alle furchtbaren Ärger bekommen.

Er schaute mich verschwörerisch an: »Jetzt dürfen wir nicht sagen, dass ich es dir erzählt habe.«

Also gaben wir einander das große Ehrenwort, es für uns zu behalten.

Er vertraute mir wieder. Halleluja.

Allerdings durfte ich ihn auf keinen Fall noch weiter in diese Geschichte hineinziehen. Es wäre unverantwortlich.