50
Nachmittags bekam ich einen Anruf von Cornelius.
»Braves Mädchen«, sagte er. »Immer schön zu Hause.«
»Was soll ich machen, wenn man mich rund um die Uhr bewacht?«
Ich hievte mich aus dem Bett, auf dem ich gelegen und gelesen hatte, diesmal nicht Koslowskis Akten, sondern einen Krimi aus der Sammlung meines Vaters.
Cornelius hatte wenig Zeit. Er sagte, Robert hätte sich um die Grundstückseinträge gekümmert. Das Haus neben Margos gehörte Thor. Es überraschte mich nicht. Er sagte auch, Siggi Meier stünde auf Thors und Konrads Gehaltsliste und ob wir später darüber reden könnten. Ich sollte keine Dummheiten machen, er würde es ohnehin erfahren. Dann lachte er gutmütig und verabschiedete sich.
Ich musste einen Weg finden, mit Lauren zu reden. Ich nahm Peter Bartels’ Aufnahmegerät mit dem Band, das bereits Menschen das Leben gekostet hatte, und ging hinunter zu meinem Vater in die Küche. Ich erklärte, ich müsste für Max und mich frische Unterwäsche kaufen. Wir hätten einfach zu wenig dabei. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich zu Lauren ging.
Er zeigte auf das Aufnahmegerät. »Was ist das?«
Ich winkte ab. »Aus Leos Zimmer. Ich will ein paar alte Songs überspielen.«
Ich schnappte mir meine Jacke und tastete in der Tasche nach der Rango-Figur, die ich für den Preis eines kompletten Menüs bei McDonald’s gekauft hatte. Ich stieg in meine Stiefel und verließ das Haus. Der eisige Wind hatte sich gelegt, doch es war immer noch so kalt, dass der Schnee unter den Füßen eisgefroren knirschte.
Gregor Patzig hatte ein Kindle-Lesegerät auf dem Lenkrad liegen und hielt in der Hand einen Thermosbecher mit Kaffee oder Tee.
Ich klopfte an die Scheibe.
Er sah auf, grinste, drückte den Knopf in der Seitentür, und die Scheibe fuhr fast lautlos herunter.
»Ich gehe rüber zu Lauren Heinecken«, sagte ich.
Er warf den Kindle auf den Beifahrersitz, riss die Wagentür auf und sprang mir vor die Füße, den Becher noch in der Hand. Kaffee schwappte über seine Jacke.
»Sie«, sagte er, kramte nach einem Taschentuch und putzte die Jacke ab, während er auf mich einredete, ich sollte es bleiben lassen.
»Ich will ihr helfen«, sagte ich, »und Sie passen auf.«
Gregor Patzig entgleisten die jungen Gesichtszüge. »Sie hat Sie geschlagen.« Ich winkte ab und ging los.
Er überholte mich in dem BMW kurz vor Margos Haus. Die Tür war mit rot-weißen Polizeibändern verklebt. Ich bog um die Ecke und ging die Straße weiter geradeaus bis zu Laurens Haus.
Dort fing er mich ab. »Ich werde läuten. Ohne mich kommen Sie da nicht rein, jede Wette.«
Ich ließ ihm den Vortritt, und er ging an mir vorbei.
Ich stand hinter ihm, als er klingelte.
»Wir müssen mit Ihnen reden«, sagte er, nachdem Lauren die Tür geöffnet und er sich mit seinem Dienstausweis in der Hand vorgestellt hatte.
»Ich bin gerade nach Hause gekommen …« Sie brach ab, als sie mich hinter Gregor Patzig erkannte.
Immerhin ließ sie uns eintreten.
»Was willst du schon wieder?«, fragte sie und setzte sich in der Küche auf eine Eckbank. Ich setzte mich auf einen Stuhl, sah Gregor Patzig an und zog die Brauen hoch.
»Schon gut«, sagte er. »Frauengespräche.« Er war freundlich, nicht naiv. Ich nickte. Lauren machte den Mund auf, schloss ihn wieder und stützte ihr Kinn in die Hand.
»Ich hol den Kindle«, sagte er und verließ die Küche.
»Sie können sich ins Wohnzimmer setzen«, rief Lauren hinter ihm her.
Ich zog die Rango-Figur aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Gregor Patzigs Schritte entfernten sich auf dem Korridor.
»Für Jan«, sagte ich. »Es tut mir so leid, dass er das alles mit ansehen musste. Wie geht es ihm?«
»Er liegt im Bett. Er ist auf Hennys Stufen ausgerutscht und hat sich den Kopf aufgeschlagen. Eine Platzwunde. Sie haben sie geklammert. Es ist schon okay …« Sie sah mich an. Ihre Augen schimmerten feucht. Gleich würde sie anfangen zu weinen.
»Lauren«, sagte ich und nahm ihre Hände.
»Er hat den Mord mit angesehen«, sagte sie. »Er war vor einem Mörder auf der Flucht. Voller Angst im Schneesturm. Wie soll er damit jemals klarkommen? Ich …« Sie brach ab.
»Er schafft das, wenn du ihm hilfst«, sagte ich.
»Ich bin nicht wie du. Ich habe nicht die Kraft.«
Ich hätte sie ihr gern gegeben. Ich sagte: »Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.«
»Was ist das? Ein Gedicht?«
»Erster Brief von Paulus an die Korinther, 7. Vers. Liebe versetzt Berge. Steht an derselben Stelle, zwar nicht wörtlich, ist aber so gemeint. Daran solltest du dich halten.«
Ich sagte nicht, was mir noch durch den Kopf ging. Liebe versetzte Berge, aber Hass setzte manchmal mehr Energie frei. Koslowskis Hass hatte mit der vernichtenden Kraft einer Kernschmelze in ihm gebrannt.
Ich nahm das Aufnahmegerät, klappte es auf, zog das alte Band heraus und legte es auf den Tisch.
»Es gehörte Peter Bartels«, sagte ich. »Willst du es hören?«
Sie rutschte auf der Bank nach vorn. Ihre Hände begannen zu flattern und strichen über das Band. Sie verschränkte die Finger ineinander und schüttelte den Kopf.
»Du weißt, was drauf ist, nicht wahr?«
Sie schwieg.
»Bartels starb, weil Leo und Charles bei ihm eine Sicherheitskopie hinterlegt hatten. Er war an seinem Todestag bei deinem Stiefvater und hat ihm das Band vorgespielt, damit er dich endlich in Ruhe lässt, Lauren.«
Ihr Gesicht wurde kreidebleich.
»Ein paar Stunden später ist Peter Bartels mit dem Auto angeblich tödlich verunglückt«, fuhr ich fort. »Mit einem enormen Alkoholspiegel. Dabei trank er gar nicht mehr.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Es gibt Leute, die annehmen, dass er ermordet wurde.«
»Peter Bartels wurde ermordet?«, fragte sie tonlos.
»Sprich mit mir, Lauren. Rede, meine Güte! Wie viele Menschen sollen denn wegen dieses Bandes noch sterben?«
»Wieso hast du es, wenn Peter Bartels deshalb ermordet wurde?« Es war ein Aufbäumen in ihrer Stimme, ein schwaches, kaum hörbares.
»Es existieren Kopien von der Aufnahme.«
»Sie hat es getan«, brach es aus ihr hervor. »Sie hat es einfach getan.«
Das war der Moment, auf den man in jedem Interview wartete. Es war der Augenblick, in dem die Menschen endlich hinter ihren sorgsam errichteten Mauern hervorkamen und man sich der Wahrheit näherte. Ich wollte diesen Moment auf keinen Fall verlieren.
»Wer, Lauren? Wer hat was getan?«, fragte ich so sanft wie möglich.
»Nora Schnitter«, sagte sie. »Dieses Mädchen, das ich …« Sie räusperte sich. »Eine der Zwillinge. Sie kam, um ihre Schwester zu identifizieren. Sie war bei mir. Die Mädchen hatten die Adoptionsunterlagen angefordert. Sie wollten wissen, wer sie sind. Als ob man dazu wissen muss, wer die leiblichen Eltern sind.«
»Muss man, glaube ich, manchmal.«
»Sie hatte meine Adresse von Margo bekommen. Der Name Swann ist selten. Margos Adresse hatte sie im Telefonbuch gefunden, und Margo sollte ihr erzählen, wie Charles ums Leben kam. Nora glaubte ja, Charles wäre der Vater.«
Ich wartete.
»Margo schickte Nora zu mir. Aber ich habe sie weggeschickt. Am nächsten Tag stand sie wieder vor der Tür. Sie sagte, Charles wäre nicht ihr Vater, aber sie hätte ein Recht darauf zu erfahren, wer ihr Vater sei, und Margo wollte es ihr nicht sagen. Sie drohte mir, meinen Kindern zu erzählen, dass sie meine Tochter sei und dass ich eine schlechte Mutter sei, die sich nicht um ihre Kinder kümmert. Die sie einfach weggibt, wenn sie ihr nicht passen.«
Ihre Lippen zitterten. Sie stand auf und fragte, ob ich etwas zu trinken wollte.
Ich schüttelte den Kopf und beobachtete sie.
Sie nahm sich ein Glas, goss Johannisbeersaft hinein und trank. Sie behielt einen roten Oberlippenbart zurück und wischte flüchtig mit der Hand darüber. Es blieb ein Rest in den flaumigen Härchen über dem Mund hängen. Ich legte einen Finger auf meine Lippen, und sie wischte noch einmal darüber.
»Wer ist der Vater?«, fragte ich.
»Leo.«
»Nein.«
»Leo«, wiederholte sie störrisch.
»Paul ist der Vater«, sagte ich.
Dann sagten wir eine Weile nichts.
»Deine Mutter …«, begann sie. »Deine Mutter hat mir geglaubt. Sie wusste, dass Leo und ich zusammen waren. Leo hatte ihr erzählt, dass ich von ihm schwanger war.«
»Was willst du damit sagen, Lauren?«
»Leo wollte mich heiraten«, sagte sie.
»Du hast Leo und später auch meiner Mutter weisgemacht, er sei der Vater. Du hast diese Nora zu Eddie geschickt, damit sie ihr etwas über ihren Vater erzählt. Eddie glaubte, mit ihrer Enkelin zu sprechen, und schenkte ihr die Uhr, die sie später an Noras Arm gefunden haben. So war es doch, Lauren, oder?«
Sie rieb sich die Augen. Als sie mich wieder ansah, lag darin eine große Müdigkeit.
»Lauren«, sagte ich. »Margo hat Nora wahrscheinlich mehr erzählt, als Nora dir gegenüber zugegeben hat. Margo hat ihr die Originalaufnahme vorgespielt. Dann ist Nora zu deiner Mutter gefahren und hat ihr gesagt, dass ihr eigener Mann ihre Tochter vergewaltigt hat und dass sie das Ergebnis ist. Vielleicht nur, um zu sehen, wie sie reagiert. Vielleicht wollte sie Geld. Vielleicht etwas anderes.«
Ich legte das Band in das Aufnahmegerät.
Versteinert sah sie mir zu. »Tu das nicht«, sagte sie.
Ich drückte auf Play.
Wir hörten sekundenlang zu, dann riss sie mir das Gerät aus der Hand und warf es auf den Tisch.
»Es war nicht mein Stiefvater«, sagte sie. »Er war streng, und er war schnell aufgebracht. Aber er hat mir nie etwas angetan.«
»Dann war es Hinner.«
Sie sank in sich zusammen.
»Bitte geh.«
Ich stand auf. Ich hatte keine Beweise, nur eine Frau, die zusammensank.
»Gib Jan die Figur und grüß ihn von Max«, sagte ich.
Laurens Schultern zuckten.