53
Leo stützte mich, als ich aus den Zweigen kroch, dann zog er mich an sich. Gegenüber schlugen Autotüren zu.
»Ich muss zu Max«, sagte ich und riss mich aus der Umarmung. Ich drehte mich um. Eine Hand hielt mich fest.
»Er schläft. Er ist zu Hause, und Cornelius ist bei ihm.«
»Cornelius ist in Hamburg«, sagte ich und begann zu laufen.
»Nein«, sagte Leo und lief neben mir her. »Er und Christopher sind hier. Sie waren die ganze Zeit hier. Cornelius ist nicht gefahren.«
Ich blieb stehen und fragte, wieso. Kortners Wagen hielt neben mir. Mein Vater ließ das Fenster herunter. »Nehmt meinen Wagen, Kinder. Er steht dahinten. Der Schlüssel steckt.« Mein Vater lachte. »Kinder«, wiederholte er, als könnte er nicht genug von dem Wort bekommen.
Wir rannten zu der Stelle, auf die mein Vater gezeigt hatte.
Leo fuhr. In mir wirbelten Hunderte Fragen durcheinander. Ich wusste nicht, welche ich zuerst stellen sollte.
»Erklär es mir«, sagte ich.
»Was?«
»Alles.«
»Von Anfang an, was? Und wie immer ganz genau?«
Ich nickte und legte meine Hand auf seinen Oberschenkel. Er drückte sie kurz. Er lebte, und er saß neben mir. Ich zog die Hand weg.
»Der Anfang?« Er dachte nach. »Wir hatten einen heißen Mai damals, und ich fuhr manchmal nach der Arbeit an das alte Wehr zum Schwimmen.«
Ich betrachtete sein Profil, das sich im Schein der Straßenlampen mal hell und klar, mal wie ein Scherenschnitt ausnahm. Ich konnte nicht genug von seinem Profil bekommen.
»Am Wehr traf ich Lauren. Sie ging manchmal hin und lernte oder las. Erst unterhielten wir uns nur, und dann verliebten wir uns, und sie wurde schwanger.«
»Von dir?«
»Ja.«
Ich zog die Brauen kurz hoch. Er konnte es nicht sehen.
»Irgendwann musste sie es zu Hause erzählen. Sie hatte eine Heidenangst. Ich wollte mit, aber das wollte sie auf keinen Fall. Und dann kam sie nicht mehr, und am zweiten Tag auch nicht. Ich fuhr hin. Paul Heinecken warf mich aus dem Haus. Er war außer sich.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte ich.
»Ja«, sagte er, »und dann begann es wieder von vorn.«
Er schwieg und schüttelte den Kopf.
»Hinner«, sagte er. »Es war Hinner, nicht Paul. Hinner hat sie das erste Mal missbraucht, als er 17 und sie zwölf war. Kannst du dir das vorstellen?«
Eine Gänsehaut kroch über meinen Körper. Mir kamen die Tränen. Hätten wir sie doch nur nicht ausgegrenzt. Hätten wir sie doch mitspielen lassen. Es war vor unseren Augen geschehen. Nicht sichtbar, sondern hinter heruntergelassenen Jalousien. In der Vertrautheit und Geborgenheit des Kinderzimmers, wo Teddys oder Puppen auf einem Bett mit hellem Überwurf saßen.
Leo sprach weiter. Hinner begann Lauren wieder zu missbrauchen, nachdem sie ihre Schwangerschaft gestanden hatte. Und sie musste Paul versprechen, Leo nicht mehr wiederzusehen. Deshalb trafen sie sich heimlich. Laurens Mutter stellte sich blind.
Leo sprach schließlich mit Charles darüber, und es war Charles’ Idee, das Band aufzunehmen und Paul damit zu erpressen. Damit kannten sie sich ja aus, sagte Leo und lachte. Sie wollten Druck auf Paul, den Chef der Familie, ausüben. Sie dachten, so hätten sie die besten Chancen, denn vor Paul hatte Hinner einen Riesenrespekt. Paul sollte dafür sorgen, dass Hinner aufhörte, Lauren zu vergewaltigen. Charles wollte heimlich das Band aufnehmen. Leo brachte es nicht über sich, der Vergewaltigung seiner Freundin zuzuhören. Danach trafen sie sich mit Paul bei uns in der Garage. Sie hatten Eddies Gewehrschrank geknackt. Sie hatten ein Gewehr mitgenommen, um dem Ganzen mehr Ernst zu geben, und es wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn Eddie an diesem Tag nicht früher aus der Bibliothek nach Hause gekommen wäre.
»Paul hat irgendwann gebrüllt, und Charles fuchtelte mit dem Gewehr vor Paul herum und brüllte zurück, er würde ihm und Hinner das Gehirn wegpusten, wenn diese Vergewaltigungen nicht endlich aufhörten. In dem Moment kam Eddie rein. Sie riss ihm die Waffe aus der Hand und hielt uns alle drei damit in Schach. Dann schaltete sie das Band ein. Sie hörte mit regloser Miene zu, und mit regloser Miene legte sie auf Paul an, als Lauren ›Daddy‹ sagte. Charles sprang dazwischen und stand mit dem Rücken zu Eddie, als sie abdrückte.«
Paul rief dann seinen Kumpel Kortner an, erzählte Leo weiter, und Kortner hatte einen perfekten Plan.
Leo fuhr an einem Auto vorbei, das genau vor unserer Einfahrt parkte. Gregor Patzig war es nicht. Der schlief längst.
Ich sprang aus dem Auto, kramte mit zitternden Händen den Schlüssel aus meiner Jackentasche und stürzte sofort hinauf in Leos Zimmer.
Friedlich schliefen die Jungs in Leos Bett. Max murmelte etwas, als ich mich über ihn beugte und ihn auf die Stirn küsste voller Erleichterung, dass er nicht irgendwo verängstigt, zitternd und einsam in einem dunklen Auto saß oder – noch schlimmer – in einem kalten Kellerloch.