56

Gegen sechs hielt ich es nicht mehr aus. Meine Lider hingen bleischwer über den Augen, ich gähnte im Minutentakt, und auch der zweite Kakao machte mich nicht munterer. Ich brauchte Bewegung.

»Lass uns fahren«, sagte ich zu Leo.

»Das willst du dir nicht antun. Nicht in deinem Zustand.«

Ich ließ nicht locker. Schließlich gaben die beiden nach.

Cornelius würde im Haus bleiben, auf Siggi Meier im Keller und die Kinder oben aufpassen und ihnen Frühstück machen, wenn sie wach würden.

Leo und ich nahmen meinen Audi mit dem Allradantrieb. Den brauchten wir, um im Wald durch den Schnee zu kommen.

Leo fuhr. Mir war es recht.

Nicht recht war mir, dass er Eddies Gewehr mitnahm. Nur zur Vorsicht, lenkte er ein, als ich ihn fragte, ob wir es nicht zu Hause lassen könnten.

Der Dezembermorgen war noch nachtschwarz, und die Scheinwerfer fraßen sich im Wald durch die Dunkelheit. Links und rechts der Forstwege, die wir passierten, glitten die Schatten der Bäume an uns vorbei.

Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, als Leo nach einer halben Stunde endlich neben Kortners nagelneuem Mercedes parkte.

Es war ein rauer Zementblock, etwa drei Meter hoch und sechs Meter breit, mit einer Stahltür. Sie knirschte, als Leo sie öffnete.

Wir betraten eine Art Vorraum. Es gab sogar Licht.

Wir gingen eine Treppe hinunter in einen Gang, von dem mehrere Türen abgingen. Aus einem Raum fiel Licht, und wir hörten die Stimmen von Kortner und meinem Vater.

Leo öffnete die Tür und ließ mich zuerst eintreten. Mein Vater sah uns entgeistert an.

Hinner saß zusammengesunken auf einem Stuhl, die Hände auf dem Rücken gefesselt.

»Und?«, fragte Leo.

»Wir brauchen noch einen Moment«, sagte mein Vater unwirsch. »Bring deine Schwester hier weg.«

Hinner hob den Kopf. Blut lief aus einer Platzwunde über seiner linken Braue, er spuckte Blut und einen Zahn aus.

»Ich bleibe«, sagte ich zu meinem Vater, der sein Gewehr in der Hand hielt. Auf dem Lauf gab es eine Spur Blut. Dann sah ich zu Kortner. Ich fragte mich, wer öfter zugeschlagen hatte.

Konrad stand abseits mit einem unbeteiligten Gesicht.

»Ich war es nicht«, sagte Hinner und keuchte. »Und es ist mir scheißegal, ob ihr mich zerhackt, langsam gart oder mir jeden Knochen einzeln brecht. Ich werde nicht gestehen, was ich nicht begangen habe.«

Mein Vater trat auf ihn zu.

»Du hast deine Schwester jahrelang vergewaltigt.«

»Ja«, sagte Hinner. »Und? Hat sie mich angezeigt? Oder hat es ihr wehgetan?« Er streckte den Kopf nach vorn. »Es hat ihr gefallen.«

»Sie war ein Kind«, sagte ich.

»Halt dich da raus, Julie«, stöhnte Hinner. »Du weißt doch überhaupt nichts.«

»Aber du«, sagte Leo gefährlich leise, »nicht wahr?«

Leo ging auf ihn zu und legte ihm den Gewehrlauf an die Stirn. »Was hast du mit meinen Töchtern gemacht?«

Hinner warf den Kopf in den Nacken und lachte: »Wer zuerst ejakuliert, hat gewonnen, was?«

Konrad trat von hinten auf Leo zu, riss ihm das Gewehr aus der Hand und richtete es auf meinen Bruder.

Ich hatte Recht gehabt. Sie hatten Hinner unterschätzt und Konrad auch. Hinner und Konrad waren nicht nur Blutsbrüder, Thor, Konrad und Hinner machten seit Jahren Geschäfte miteinander. Wahrscheinlich hatten Thor und Konrad Hinner geschmiert, damit er ihnen Zugang zu den Angeboten für die Bauaufträge verschaffte. Doch dafür deckte man doch keinen Vergewaltiger und Mörder, dachte ich.

Kortner wirbelte herum und richtete seine Pistole auf Konrad.

Mein Vater richtete sein Gewehr weiterhin auf Hinner.

»Du hast in deinem Leben zwei Fehler gemacht, Leo«, sagte Konrad in die Stille, die entstanden war. »Du und Hinner, ihr habt Koslowski hier früher beobachtet. Und du hast meine Schwester wahrscheinlich sogar hier unten zwei Tage lang gefangen gehalten und sie dann so zugerichtet, dass es aussah, als wäre Koslowski der Täter. Das war dein erster Fehler, Leo. Denn es gibt nur deine Spermaspuren in ihrem Mund. Das aber ist unmöglich, wenn ein anderer sie zwei Tage misshandelt hätte. Dein zweiter Fehler ist, dass du zurückgekommen bist.«

Er hatte Recht, dachte ich. Wäre ich nicht so von Leos Unschuld besessen gewesen, hätte ich das vielleicht auch erkannt, als ich es gelesen hatte. Aber ich hatte diese Tatsache einfach ausgeblendet.

Mein Vater stöhnte auf, und ich sah in sein schmerzverzerrtes Gesicht.

»Bevor ihr kamt, hat Hinner gestanden, dass ihr beide Koslowski hier beobachtet habt«, sagte Konrad zu Leo. »Ihr wusstet, dass er seine Opfer hierherschleppte.«

Hinner wand sich. Leo starrte Konrad ungerührt an.

»In dem Fall sagt Hinner die Wahrheit, und ihr habt euch beide einen dabei runtergeholt.«

Jetzt wurde Leo blass.

Hinner lachte scheppernd.

»Und weißt du, woher ich weiß, dass du Claudia umgebracht hast?«

Hinner lachte nicht mehr. »Sag’s ihm endlich«, sagte er, »und dann nimm mir die verdammten Fesseln ab. Mir reicht’s nämlich langsam.«

»Claudia war bei Hinner. Richtig. Aber Hinner kam nach seinem Gespräch mit ihr zu mir. Er sagte, ich sollte meine Schwester besser davon abhalten, Gerüchte in die Welt zu setzen, er hätte was mit Lauren. Als Claudia an dem Nachmittag entführt wurde, Leo, gab es nur dich, der kein Alibi hatte, der sie umbringen konnte und der auch noch ein Motiv hatte. Oder Koslowski. Doch der verging sich nur an Kindern.«

Das Gewehr meines Vater fuhr herum und richtete sich auf seinen Sohn.

Ich sah Leo an. Er sah mich an. Sein Blick war überrascht und zugleich erschreckend gefühllos. Als sei alles Leben daraus gewichen.

Ich brauchte keinen Beweis mehr. Ich wusste schon alles.

»Wir haben darauf gewartet, dass Sie aus Ihrem Versteck kommen, Leo«, sagte Kortner. »Nur darum ging es.«

»Aber Sie haben mir gesagt, wir könnten Hinner gemeinsam festnageln.« Es war die Stimme meines Vaters. »Sie versprachen mir, dass wir Leos Unschuld beweisen würden und dass das nur ging, wenn wir Hinner dazu brächten, ein Geständnis abzulegen.«

Kortner sagte einen Moment lang nichts.

»Ich versprach«, sagte er dann, »dass wir seine Unschuld beweisen würden, wenn er unschuldig ist. Das ist er aber nicht. Und ich wusste es bis eben auch nicht sicher.« Kortner drehte sich zu Leo: »Sie haben noch etwas verschwiegen, nicht wahr?«

Leo starrte Kortner ohne jede Regung an, als der fortfuhr: »Sie sind pleite, Leo. Das haben wir inzwischen herausbekommen. Als Ihre Mutter Ihnen vor vier Monaten mailte, Vera Schnitter sei in der Stadt und habe vor, Hinner mit dem Band zu erpressen, da haben Sie gedacht, Sie kommen her und hängen sich dran, nicht wahr? Nur dass Sie den Fehler machten, die junge Frau allein zu Hinner gehen zu lassen. Und dann brachte Hinner sie um. Genauso, wie Koslowski die Kinder und Sie Claudia umgebracht hatten. Sehen Sie, als ich mit Nora Schnitter über Veras Tod sprach, da sagte sie etwas Merkwürdiges. Sie sagte, Vera hätte in Hamburg alle Brücken abgebrochen. Sie sollte mit Ihnen in die Staaten, nicht wahr? Nun, Nora jedenfalls erzählte mir, Vera würde vielleicht nach Amerika auswandern. Nora wusste nämlich genau, was Vera vorhatte, nachdem Margo ihr erzählt hatte, dass Lauren vergewaltigt worden war. Vera wollte Geld. Deshalb hat Nora sich auch keine Sorgen gemacht, als sie nichts mehr von ihr hörte. Sie erfuhr erst hier von ihrem Tod. Meine Frage ist nur: Wie kamen Sie an Nora?«

Leo wirkte müde. Doch als er die Frage beantwortete, sah er mich an und niemanden sonst.

»Eddie mailte mir, es gehe ihr schlecht. Sie schrieb, sie habe ein komisches Gefühl. Nora sei da, und ich solle herkommen und dafür sorgen, dass zumindest diese Tochter nicht in Schwierigkeiten gerät.«

»Unsere Mutter wusste, dass Vera Hinner erpressen wollte und Nora das ebenfalls vorhatte?«, fragte ich.

Leo nickte.

»Nora und ich haben uns getroffen und beschlossen, uns das Geld nicht von Hinner, sondern von Christa zu holen. Christa würde alles tun, um Hinner und seine Karriere zu schützen. Deshalb sind wir zusammen zu Christa gefahren und haben ihr das Band vorgespielt. Dann haben wir einen Termin für die Geldübergabe bei ihr ausgemacht. Doch Christa rief Hinner an, obwohl wir ihr gesagt hatten, wir würden verschwinden, sobald wir das Geld hätten. Als wir bei ihr ankamen, lag Hinner schon auf der Lauer und erschoss Nora, als sie gerade das Band abspielte. Damit hatte Christa nicht gerechnet, denn sie kreischte herum und ließ sich nicht beschwichtigen. In dem Moment kam Jan von draußen herein. Er musste schon eine Weile gelauscht haben, denn er rannte auf Christa zu und riss ihr das Tonbandgerät aus der Hand. Hinner legte auf den Jungen an. Ich schnappte mir Jan und rannte mit ihm raus. Doch er strampelte, riss sich los und stürzte so schnell er konnte davon. Ich sah auch zu, dass ich wegkam, denn Hinner schoss hinter mir.«

Hinner lachte. »Was für ein Mist.«

»Du bist ein Erpresser, ein Mörder und Vergewaltiger, Leo«, sagte mein Vater ganz ruhig.

»Nein«, sagte Leo. »Ich habe Claudia nicht vergewaltigt. Es war ein Unfall. Sie hat mich angerufen, und ich habe mich mit ihr verabredet. Sie hat gebrüllt und getobt. Ich hab es doch nur so aussehen lassen, als hätte Koslowski sie getötet.«

»Sie wurde zwei Tage lang misshandelt, Leo«, sagte Kortner. »Und das waren Sie.«

Kortner hatte es kaum ausgesprochen, da krachte ein Schuss.

In Leos Gesicht rührte sich kein Muskel, kein Erstaunen lag darin, als er in sich zusammenbrach.

Ich schrie auf, stürzte auf ihn zu, umfasste seinen Oberkörper und drückte ihn an mich. Ich sah nicht, was hinter mir geschah. Als der zweite Schuss fiel, erschrak ich noch einmal, doch ich hatte nur Augen für meinen Bruder.

»Es tut mir alles so leid, Julie.« Leo sah mich an. »Ich liebe dich. Ich habe meine Töchter nicht umgebracht.«

Ich drehte mich um und sah zu meinem Vater. Er konnte mir nicht mehr helfen. Er hatte das Einzige getan, was ihm möglich gewesen war. Er hatte sich selbst erschossen.

An die darauffolgende halbe Stunde habe ich keine Erinnerung. Konrad fuhr mich nach Hause, Kortner Hinner ins Krankenhaus, Siggi Meier wurde in unserem Haus verhaftet.

Ich war so erleichtert, als Cornelius die Tür öffnete, mich in die Arme nahm und mich ins Bett brachte. Er hielt mich einfach fest, und ich erzählte, was geschehen war. Irgendwann schlief ich ein.

Als ich Stunden später wach wurde, hielt er mich noch immer im Arm.

In dem Moment wusste ich, dass ich ihn wollte und dass ich nichts mehr wünschte, als mit ihm den Rest meines Lebens zu verbringen.