Kapitel 1

Brisbane, 2009

Der Regen fiel in Strömen, er stand wie eine Wand vor ihrer Windschutzscheibe und glänzte im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Fahrzeuge. Julie Reagan war heilfroh, dass sie diese Vorortstraßen schon ihr Leben lang kannte, und bog in eine von dem sommerlichen Guss überflutete Auffahrt ein. Sie hielt vor einem schönen alten Haus, das auf hohe Pfähle gesetzt war, damit die Luft kühlend unter dem soliden Holzfußboden hindurchströmen konnte. Das Gebäude umgab eine große Veranda, zu der Sandsteinstufen hinaufführten. Auf dem schrägen Dach saß ein verziertes Türmchen. Das alte Queenslander hatte eine herrschaftliche Ausstrahlung, es überragte die anderen Häuser in der Nähe. Auf der Veranda mit den von leuchtend gelben Goldtrompeten umrankten Säulen hatte man einen schönen Blick in die Ferne.

Die junge Frau schlug den Kragen ihrer Baumwolljacke hoch, bevor sie über den durchweichten Rasen zu einem tropfenden Flamboyantbaum und von dort die Treppe hoch auf die vordere Veranda lief. Sie schlüpfte aus den Schuhen und schüttelte sich die tropfnassen schulterlangen braunen Locken, die sich ganz bestimmt in der feuchten Wärme kräuseln würden.

Als Julie die weiße Eingangstür mit den Schnitzereien und den Buntglasscheiben aufzog, hielt sie einen Augenblick inne, um die Fernsehnachrichten aus dem Wohnzimmer zu hören und den Geruch nach überbackenem Käse einzuatmen. Offenbar war ihre Mutter beim Kochen. Die langgestreckte luftige Eingangshalle mit dem polierten Holzboden, dem weißen durchbrochenen Schnitzwerk, der Decke aus den geprägten Metallplatten mit Blumenmuster und dem Läufer, der ihrer Urgroßmutter gehört hatte – alles war ihr seit ihrer Kindheit vertraut.

Ihre Urgroßeltern hatten Bayview vor über hundert Jahren gekauft. Hier hatte ihre Großmutter Margaret gelebt, und jetzt war es das Zuhause ihrer Eltern. Auch wenn alte Queenslander teuer im Unterhalt waren, wollte Julies Mutter Caroline das gemütliche, großzügige Haus, in dem sich seit ihrer Schulzeit kaum etwas verändert hatte, keinesfalls aufgeben. Für Julie war es immer ein ruhender Pol in ihrem Leben gewesen. Auch wenn sie ihre Karriere, ihren Freundeskreis und ihre Unabhängigkeit schätzte, konnte sie sich ein Leben ohne dieses wundervolle Heim als Anlaufpunkt nicht vorstellen.

»Mum? Ich bin’s.«

»In der Küche, Jules.«

»Nicht bei den Nachrichten?«

»Ich musste das Essen aus dem Rohr nehmen. Nichts Besonderes, aber dein Vater kommt heute spät, da hab ich für mich selbst eine Kleinigkeit gemacht.« Caroline Reagan betrachtete ihre zweiunddreißigjährige Tochter in der Tür, und es wurde ihr warm ums Herz. Zwar sah sie Julie regelmäßig, doch hin und wieder hielt sie wie jetzt inne und staunte, was für eine hübsche Frau Julie doch geworden war mit ihrem dichten welligen Haar, den leuchtend blauen Augen, dem entschlossenen Kinn und dem großen fröhlichen Mund. Aber da war noch etwas an ihr, was anderen, die ihr zum ersten Mal begegneten, hoffentlich ebenfalls auffallen würde. Sie strahlte Ruhe und Stärke und Warmherzigkeit aus, noch bevor sie ein Wort gesagt hatte.

»Bleibst du zum Essen?«

Julie kam mehrmals in der Woche bei ihren Eltern vorbei, die keinen großen Wert auf Förmlichkeiten legten. Sie wusste, dass ihre Mutter sich stets freute, wenn sie sie bekochen durfte. Im Kühlschrank fanden sich immer leckere Reste oder die Zutaten zu einem schnellen Gericht.

»Ich hatte es eigentlich nicht vor, aber es riecht so gut, und der Regen ist scheußlich. Wenn ich nicht störe, bleib ich ein bisschen.«

»Du störst doch nie, Liebes. Ich hatte gehofft, dass du vorbeikommst.«

»Aus einem bestimmten Grund?« Julie hörte am Ton ihrer Mutter, dass es Neuigkeiten gab. »Hast du etwas von Adam und Heather gehört?« Denn Caroline hoffte, dass ihr in Südaustralien verheirateter Sohn endlich verkünden würde, dass ein Baby unterwegs war.

»Ja. Aber nichts Weltbewegendes. Sie haben ein paar wunderbar erhaltene alte Balken aufgetrieben, die sie bei ihrer Renovierung gut gebrauchen können.«

Julie schmunzelte in sich hinein. Für ihre Mutter war es vielleicht nichts Besonderes, aber sie ahnte, wie sich Adam gefreut hatte, einen solchen Schatz für das Lehmziegelhaus zu entdecken, das er und Heather in den Adelaide Hills herrichteten. »Und gibt’s was Neues bei dir?«

»Ich erzähl’s dir gleich. Gieß uns doch bitte einen Schluck zu trinken ein. Und wie geht’s in der Arbeit«, fragte Caroline.

»Immer dasselbe. Hektik. Neue Firmen auf dem Markt zu plazieren ist hartes Brot.«

»Na ja, genau dafür wird ein Marketing Consultant wohl bezahlt. Für seine guten Ratschläge.« Die Mutter wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab und ging vor ins Wohnzimmer. Julie folgte ihr mit zwei Gläsern kühlem Weißwein.

Caroline schaltete den Fernsehapparat aus und setzte sich aufs Sofa. »Gleich bring ich das Essen. Nur Käsemakkaroni und ein bisschen Salat. Aber lies zuerst das.« Sie reichte Julie einen Brief, der auf dem Couchtisch gelegen hatte.

Julie stellte ihr Glas hin. »Kennst du den Absender?«

»Nein. Aber es ist ein interessantes Schreiben.«

Julie überflog den Briefkopf. Ein Dr. David Cooper von einer Universität in Queensland hatte geschrieben. Neugierig fing sie zu lesen an:


Liebe Mrs. Reagan,
Ich hoffe, Sie stören sich nicht daran, dass ich Ihnen schreibe. Ich bin außerordentlicher Professor für Anthropologie und befasse mich zurzeit mit den Iban in Borneo, wobei mein besonderes Interesse den veränderten Methoden des Ackerbaus und dem Wandel der Sozialstruktur und des Lebensstils nach dem Verlust ihres Lebensraums und der Umsiedlung aus Sarawak gilt, wo sie früher am Fluss und im Dschungel gelebt haben. Bei meinen Forschungen in Malaysia bin ich auf ein dünnes Buch von Bette Oldham gestoßen, Mein Leben bei den Kopfjägern von Borneo. Es ist in den Siebzigern erschienen, und sie schildert darin, wie sie eine Zeitlang bei einem Iban-Stamm in Sarawak gelebt hat.
Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, war Bette Oldham Ihre Tante. Natürlich bin ich sehr daran interessiert, mehr über sie und ihre Arbeit zu erfahren. Falls Sie mir dabei helfen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Bitte setzen Sie sich doch unter oben genannter Adresse, E-Mail oder Telefonnummer mit mir in Verbindung.
 
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Dr. David Cooper

»Guter Gott!«, rief Julie aus. »Ist das die Tante Bette, über die Gran immer die Nase gerümpft hat? Hast du gewusst, dass sie in Borneo bei den Kopfjägern war? Das klingt ja total spannend.«

»Mutter hat immer erzählt, ihre Schwester wäre nicht zu bändigen gewesen und hätte Schande über die Familie gebracht«, antwortete Caroline. »Aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie eigentlich getan hat.«

»Gran hat es nie erwähnt?«

»Bis zu dem Brief habe ich nichts davon geahnt.«

»Erinnerst du dich an Tante Bette?«

»Vage. Aus der Zeit, als ich noch ganz klein war und in Malaysia lebte. Bevor Mutter wieder hierherzog.«

»Na ja, Gran hat von ihr immer nur als ›meine grässliche Schwester‹ oder ›dieses schreckliche Weib‹ gesprochen, wenn sie sie überhaupt mal erwähnt hat«, überlegte Julie. »Sie scheint sie nicht besonders gemocht zu haben.«

»Kann man nicht behaupten, nein. Komisch, dass jetzt dieser David Cooper das Thema Tante Bette aufbringt. Um ehrlich zu sein, denke ich nicht oft an meine Familie in Malaya. Beziehungsweise Malaysia, wie es jetzt heißt«, meinte Caroline.

»Kein Wunder. Wir sind viel zu sehr mit unserem Alltagskram beschäftigt, oder?«, erwiderte Julie. »Wirst du dich bei ihm melden?«

»Nein. Was könnte ich ihm schon erzählen? Ich erinnere mich kaum an sie. Und Mutter konnte sie auf den Tod nicht ausstehen, sie brachte es ja kaum über sich, auch nur ihren Namen zu erwähnen.«

»Ich wüsste gern, wie dieser David Cooper auf uns gekommen ist.« Julie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in ihre Tasche. »Aber können wir jetzt essen? Ich sterbe vor Hunger.«


Es dauerte ein paar Tage, bis sie sich die Zeit nahm, David Coopers Brief aus der Handtasche zu kramen und ihn anzurufen.

»Dr. Cooper? Hier spricht Julie Reagan. Sie haben meiner Mutter geschrieben, wegen meiner Großtante Bette …«

»Ja, genau. Wie schön, so schnell von Ihnen zu hören. Wenn man dem Buch glauben darf, scheint Ihre Tante ja eine ganz bemerkenswerte Frau gewesen zu sein. Ich würde wirklich gern mehr über sie erfahren. Darf ich fragen, ob sie noch lebt?«

»Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Es würde mich wundern, denn dann wäre sie steinalt. Sie war zwar die Schwester meiner Großmutter, aber leider hatten die beiden sich so sehr entfremdet, dass ich gar nichts über sie weiß und meine Mutter sich kaum an sie erinnern kann. Deshalb waren wir so überrascht, von ihrem Buch zu hören. Wo kann man denn ein Exemplar bekommen?«

»Das dürfte schwierig werden. Ich kannte den Titel und habe über ein Jahr im Netz danach gesucht. Und dann habe ich es zu meiner großen Freude im Buchladen des Sarawak-Museums in Kuching entdeckt. Aber Sie dürfen sich gern mein Exemplar ausleihen. Es ist nur ein dünnes Bändchen, aber sehr aufschlussreich.«

»Ja, das würde ich gern. Darf ich fragen, wie Sie meine Mutter aufgespürt haben?«

»Das war nicht schwer. Vorn im Buch steht eine Widmung: Für Philip Elliott auf der Plantage Utopia in Malaysia. Ich habe mit der Plantage Kontakt aufgenommen, sie ist recht bekannt und wird von seinen Söhnen Shane und Peter, Ihren Cousins, geführt. Sie haben mir die Adresse Ihrer Mutter gegeben. Offenbar haben sie Ihre Mutter nie kennengelernt«, setzte er hinzu.

»Ja, das stimmt«, erwiderte Julie. »Meine Großmutter und meine Mutter sind nach dem Krieg nach Brisbane zurückgekehrt, aber Onkel Philip ist mit meinem Großvater in Malaysia auf der Plantage geblieben. Daher hat meine Mutter den größten Teil ihres Lebens hier verbracht und wird Ihnen wohl leider keine große Hilfe sein.«

»Danke trotzdem, dass Sie mich angerufen haben. Meine E-Mail-Adresse steht im Briefkopf. Nur für den Fall, dass Ihnen etwas unterkommt oder Ihrer Mutter noch etwas einfällt«, meinte David.

»Das glaube ich kaum. Wie gesagt, meine Mutter hat Malaya schon in sehr jungen Jahren verlassen und mit ihren dortigen Angehörigen fast keinen Kontakt. Sie haben sich höchstens mal zum Geburtstag oder zu Weihnachten Karten geschrieben.«

»Wie schade. Mir gefällt Malaysia so gut, dass ich ständig nach Gründen suche, wieder hinzufahren.«

»Forschen Sie auch über die Kopfjäger?«, fragte Julie. Die Stimme des Mannes klang ziemlich jung, und sie stellte ihn sich ein bisschen spießig vor.

Er lachte leise und antwortete dann: »Ja, ich habe insbesondere eine ganze Menge über die Iban geforscht. Borneo ist faszinierend. Und ich habe etliche Orang-Utans in einem Schutzgebiet adoptiert. Ihr Lebensraum ist ebenso gefährdet wie der der Ureinwohner. Beides nehme ich zum Anlass, so oft wie möglich hinzufahren. Falls Sie einmal nach Borneo reisen wollen, sagen Sie mir Bescheid, dann gebe ich Ihnen ein paar Tipps und Adressen.«

»Danke, aber momentan steht das nicht an. Viel Glück bei Ihren Forschungen.«

»Herzlichen Dank … Julie, oder?«

»Ja. Und ich würde mir das Buch wirklich gern ausleihen.«

»Natürlich. Wie ist Ihre Adresse? Und haben Sie E-Mail?«

Sie diktierte ihm beides. »Auf Wiederhören, Dr. Cooper.«

»Bitte nennen Sie mich David. Auf Wiederhören, Julie.«

Sie legte auf und hoffte, dass er nicht vergessen würde, ihr das Buch ihrer Großtante zu schicken. Bette Oldham fing an, sie zu interessieren.


Als Julie am nächsten Samstag bei ihren Eltern reinschneite, entdeckte sie ihre Mutter im Nähzimmer, wo sie neben einer Schachtel, einer Akte mit Eselsohren und einem Stapel Fotoalben auf dem Boden saß. Ursprünglich war es wirklich das Nähzimmer ihrer Urgroßmutter gewesen, aber Margaret und dann Caroline, die beide nicht nähten, benutzten es als Abstellkammer, als Bibliothek und für sonstige Zwecke.

»Was machst du da?«

»Hallo, Jules, Komm, setz dich zu mir. Das hier ist ziemlich interessant.« Caroline sprach laut, um den dröhnenden Rasenmäher ihres Mannes draußen zu übertönen. »Du weißt ja, dass ich nicht der Typ bin, der in der Vergangenheit wühlt, aber der Brief von diesem David Cooper hat mich nachdenklich gemacht. Ich erinnere mich nur an so wenig von der Familienplantage in Malaysia. Da standen ein paar Stühle unter einem riesigen Regenbaum, und Mutter hat auf einem weißen Korbtisch Tee serviert, aber sonst weiß ich kaum noch was. Also hab ich gedacht, ich stöbere mal in Mutters alten Fotos, vielleicht hilft ja irgendetwas meinem Gedächtnis auf die Sprünge.«

»Das hier sieht wie ein Regenbaum aus«, sagte Julie, die mehrere Fotografien in die Hand genommen hatte und sie durchsah. »Ist das Gran? Piekfein herausgeputzt. Wer sind die anderen Leute? Sieht aus, als wären sie bei einem Pferderennen.«

»Das ist mein Vater, Roland, ich erkenne ihn an seinem Schnurrbart«, sagte Caroline.

»Hier in der Gruppe sind mehrere Einheimische. Da ein Inder und ein Chinese. Und hier … ist das …?« Julie kniff die Augen zusammen.

»Ja, das ist Bette. Mal wieder gegen jede Konvention – kein Hut, keine Handschuhe, nur ein Schirm zum Schutz vor der Sonne.«

»Sie ist sehr hübsch. Gran ist hochelegant, aber Bette wirkt viel natürlicher.«

»Sie hat dieselben Haare wie du«, bemerkte Caroline. »Mutter hatte ganz feines Haar, immer hochgesteckt oder mit Dauerwelle. Bette macht einen viel zwangloseren Eindruck, stimmt’s?«

»Ich hätte sie gerne gekannt, als sie noch jung waren. Das Einzige, was ich wirklich über Großtante Bette weiß, ist, dass sie irgendeine entsetzliche Schande über die Familie gebracht hat. Ich habe Gran nie gefragt, was sie eigentlich so vor den Kopf gestoßen hat. Weißt du es, Mum?«

»O ja. Laut meiner Mutter ist Bette durchgebrannt und hat einen Chinesen geheiratet«, antwortete Caroline. »So wie meine Mutter darüber sprach, klang es, als habe der Leibhaftige persönlich Besitz von ihrer Schwester ergriffen.«

»Das muss damals für ziemliche Aufregung gesorgt haben. Wann war das genau?«, fragte Julie.

»Oh, nach dem Krieg. Aber Näheres weiß ich auch nicht, denn meine Mutter war so erbost über das Verhalten ihrer Schwester und wegen der angeblichen Familienschande, dass ich immer einen großen Bogen um das Thema gemacht habe.«

Julie schaute weiter die Fotos durch. »Die sind verblüffend. Muss eine unglaubliche Zeit gewesen sein damals vor dem Krieg. All die Herren in weißen Anzügen und mit Panamahüten! Ganz britische Kolonialzeit, oder?«

»Pflanzer und Memsahibs, nehme ich an. Mir gefällt, wie fein sich alle gemacht haben«, sagte Caroline. »Es war ein ganz anderes Leben damals, und Mutter hat prima dazugepasst. Dieses vornehme Getue.« Sie betrachtete eingehend ein Foto, dann gab sie es Julie.

»Schau hier, Mutter und Bette, die beiden Schwestern. Siehst du auch, was ich sehe?«

Julie betrachtete das steife Porträt der beiden Frauen und sah dann Caroline an, die das Haar zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz zurückgebunden, aber die Augenbrauen hochgezogen und die Lippen ein bisschen zusammengekniffen hatte, während sie das Kinn entschlossen vorschob. Und dann studierte sie das Gesicht der jüngeren Bette mit dem offenen Haar, den funkelnden Augen mit den dichten Wimpern, dem breiten lächelnden Mund und den kantigen Zügen. »Oh, mein Gott! Mein Ebenbild! Und du siehst aus wie Gran. Ich weiß noch, wie ähnlich ihr euch wart. Aber bis heute hatte ich noch nie ein Foto von Großtante Bette in der Hand.«

»Du kommst nach der hübscheren von den beiden«, sagte ihre Mutter.

»Mum, du siehst umwerfend aus. Ich hab in der Schule immer gedacht, meine Mutter ist die allerschönste«, erwiderte Julie und meinte es ernst.

»Danke, Schatz. Aber ich finde, dass Bette zu den Frauen gehört, die immer toll aussehen, ganz egal, ob sie perfekt geschminkt oder gerade erst aufgestanden sind, sogar noch krank oder müde machen sie was her. Mutter und ich waren ganz annehmbar, nachdem wir in den Schminkkasten gefallen sind, wie dein Vater es immer nennt.« Caroline lächelte ihre Tochter an. »Du dagegen siehst immer großartig aus, auch wenn du es gar nicht drauf anlegst.«

»Na, ich hoffe doch, dass ich ein bisschen besser rauskomme als gerade aus dem Bett gekrochen, wenn ich mir stundenlang Mühe gegeben habe«, meinte Julie und setzte dann hinzu: »Weißt du, Mum, ich glaube, du erinnerst dich an viel mehr, als du glaubst. Gran hat dir doch bestimmt jede Menge Geschichten über die alten Zeiten erzählt.«

»Ja, das hat sie. Ich kenne noch die kleinste Kleinigkeit aus ihrem Leben vor dem Krieg. Außerdem sind in diesem Schuhkarton Briefe an ihre Eltern, in denen sie ihr Leben als Ehefrau in Malaya schildert.«

»Also dann! Du könntest diesem Anthropologen eine Menge erzählen«, schlug Julie vor.

»Aber das sind doch ganz persönliche Sachen, so was interessiert ihn bestimmt nicht.«

»Wie kommt es eigentlich, dass du gar nichts über Großtante Bette und ihr Leben im Dschungel weißt?«

»Mmmm. Das Buch ist entstanden, lange nachdem Mutter und ich aus Malaya fort waren. Und, wie gesagt, konnte Mutter ihre Schwester nie erwähnen, ohne sie gleichzeitig herunterzumachen. Immer hieß es nur: ›Dieses grässliche Weib, das Schande über die Familie gebracht hat‹, und so weiter.«

»War das nicht ein komisches Familienleben, du und deine Mutter hier in Brisbane und dein Vater und dein Bruder in Malaya?«, fragte Julie.

»So haben wir das nicht gesehen. Als Mutter zurück nach Brisbane wollte, war Philip in England im Internat – er war zehn Jahre älter als ich –, also blieb er dort, und ich kam hierher. Und als er dann mit der Schule fertig war, wollte er bei Vater in Malaysia leben. Daher habe ich ihn nie richtig kennengelernt. Natürlich kenne ich nur Mutters Sicht der Dinge, wahrscheinlich fehlen mir ein paar Puzzleteile.«

»Glaubst du, dass der Krieg etwas mit eurer Familientrennung zu tun hatte?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht. Ich glaube, Vater hat die meiste Zeit des Krieges in Indien verbracht, und Mutter hat ihn in Brisbane durchgestanden. Aber danach sind beide zurück nach Malaysia, sonst wäre ich nicht auf der Welt. Das verrät uns aber noch nichts über Bette, oder?«

»Vielleicht weiß Dr. Cooper ja mehr. Ich meine, immerhin hat er von ihrem Buch erfahren.«

»Ich denke, er hat über die Eingeborenen in Borneo geforscht, nicht über unsere Familie!«

»Ja, schon klar. Aber es tut doch nicht weh, sich mal mit ihm zu unterhalten. Er hat versprochen, mir Bettes Buch zu leihen.«

Caroline zuckte die Schultern. »Na gut, dann lad ihn zum Tee ein. Vielleicht will er ja einen Blick auf die Fotos werfen. Jammerschade, dass Mutter nicht wenigstens die Namen hintendrauf geschrieben hat«, empörte sie sich. »Wer sind all diese Leute?«


Julie beobachtete, wie David Cooper aus seinem Wagen stieg, innehielt und das Haus ihrer Mutter betrachtete. Dann überquerte er den Rasen und sah zu den dicken Ästen des Flamboyantbaums hinauf, drehte sich um und bewunderte den Blick über die Moreton Bay. Er war etwa Ende dreißig, mittelgroß und hatte ziemlich langes Haar, das ihm bis zur Sonnenbrille in die Stirn hing. Seine Jeans waren gebügelt, das zitronengelbe Hemd hatte kurze Ärmel, und er trug ein Päckchen in der Hand. Als er zur Vordertreppe ging, trat Julie hinaus auf die Veranda, um ihn zu begrüßen.

»Hallo, ich bin Julie. Ihnen gefällt die Aussicht?«

»Was für ein hinreißendes altes Haus! Gut zu wissen, dass es noch ein paar gibt, die man nicht verfallen lässt, allerdings sind nur wenige so schön wie dieses. Hallo, ich bin David.« Er trat zu ihr auf die Terrasse, und Julie stellte fest, dass er größer war als gedacht. Sie nahm seine ausgestreckte Hand und schüttelte sie. Dann reichte er ihr das Päckchen.

»Das Buch. Wie versprochen.«

»Danke. Sie bekommen es zurück, sobald Mum und ich es gelesen haben.«

»Nein, behalten Sie es. Ich habe fotokopiert, was ich brauche, und finde, das Original gehört in Bettes Familie.«

»Oh, dann vielen Dank. Kommen Sie doch rein, meine Mutter hat Ihnen zu Ehren einen Kuchen gebacken.«

»Wie reizend. Ich bin beeindruckt.«

Lächelnd öffnete Julie die Eingangstür. »Mum ist nicht gerade berühmt für ihre Backkünste, es ist also nur ein schlichter Ananaskuchen.«

»Klingt großartig.«

Auf der hinteren Veranda stellte Caroline gerade einen Krug Wasser auf den Tisch. »Hallo, schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Caroline Reagan. Möchten Sie lieber Tee, Kaffee oder Eistee?«

»Eistee klingt wunderbar.« David Cooper musterte das zwanglose luftige Arrangement aus Rohrmöbeln, bunten Kissen und einer Kletterpflanze, die den Blick auf den üppig grünenden Garten verdeckte. »Das erinnert mich an die Kolonialhäuser der Pflanzer in den Tropen.«

»Reiner Zufall. Das Haus war schon in diesem Stil gehalten, bevor meine Mutter überhaupt wusste, wo Malaya liegt«, erwiderte Caroline. »Aber setzen Sie sich doch und erzählen uns etwas über sich.«

»Ich hole den Eistee«, erbot sich Julie und überließ David Cooper dem Verhör ihrer Mutter. Als sie zurückkam, waren beide in einer angeregten Unterhaltung begriffen. Julie stellte die Gläser mit den frischen Minzblättern hin und goss Eistee darauf. Ihre Mutter strahlte sie an.

»Wusstest du, dass Davids Familie aus Brisbane stammt? Es könnte gut sein, dass ich mit seiner Mutter Tennis gespielt habe, als ich noch zur Schule ging.«

»Ach ja? Und Sie sind auch hier aufgewachsen?«, erkundigte sich Julie.

»Ja. Aber meinen Abschluss hab ich an der National University gemacht. Allerdings hat mir die Kälte in Canberra ziemlich zugesetzt, weshalb ich heilfroh war, hier eine Stelle zu kriegen.« Er nahm das angebotene Glas Eistee. »Vermutlich ist das Klima ein weiterer Grund, dass es mir in Südostasien so gut gefällt.«

»Können Sie uns ein bisschen mehr über Ihr Projekt erzählen und wie Sie auf meine Tante gestoßen sind?«, fragte Caroline.

»Das war ein glücklicher Zufall. Ich wusste schon länger von ihrem Buch, weil es immer mal wieder in irgendwelchen Fußnoten erwähnt wurde, und war dann hocherfreut, in Kuching ein Exemplar in die Finger zu bekommen. Wie ich Julie schon erzählt habe, steht eine Widmung darin, die mich zu Ihrer Familienplantage Utopia geführt hat und damit zu Ihren Cousins Shane und Peter, die sehr gastfreundlich waren.«

»Darf ich mal?«, fragte Caroline, nahm das dünne Büchlein und fing an, es durchzublättern, wobei sie das eine und andere Foto näher in Augenschein nahm. »Das sieht wirklich interessant aus.«

»Ihre Tante scheint sich den Iban in Sarawak sehr verbunden gefühlt zu haben und zeigt viel Verständnis für sie. Die Schilderungen von im Ausland lebenden Landsleuten, auch wenn sie keine ausgebildeten Anthropologen sind, erzählen uns oft eine Menge über die Lebensverhältnisse und Gewohnheiten der dortigen Eingeborenen. Das bereichert meine Untersuchungen enorm. Und Bette war eine großartige Beobachterin.«

»Mum ist auf Utopia geboren worden«, sagte Julie, um eine Gesprächspause zu füllen, weil ihre Mutter tief in Gedanken versunken wirkte.

»Waren Sie mal dort?«, fragte David.

»Nein. Es ist mir eigentlich nie in den Sinn gekommen. Wie ist Malaysia denn so?«

»Sie sollten hinfahren und sich selbst ein Bild machen«, erwiderte David leise.

»Ja, vielleicht mache ich das mal«, sagte Julie leichthin und schien es nicht besonders ernst damit zu meinen. »Noch etwas Tee?«

»Nein, danke. Der Kuchen war übrigens köstlich, Mrs. Reagan, vielen Dank.«

»Gern geschehen. Und nennen Sie mich doch Caroline.« Inzwischen war David aufgestanden, und sie ergriff seine Hand. »Aber einen Augenblick noch, ich war mit den Gedanken ganz woanders. Hat Julie Ihnen erzählt, dass ich die Briefe und Fotos meiner Mutter durchgesehen habe und auch ein paar Bilder von Bette darunter sind, aus der Zeit vor dem Krieg? Vielleicht möchten Sie einen Blick darauf werfen?«

»Ich wüsste liebend gern, wie die Autorin dieses Buches ausgesehen hat.«

»Sei ein Schatz und räum die Gläser und den Kuchen weg, Jules«, bat Caroline ihre Tochter und führte David Cooper die Veranda entlang zu den Flügeltüren des Nähzimmers.


Julie war die nächsten beiden Wochen fast unentwegt in Victoria unterwegs, weil dort ein neuer Kunde sein Weingut zu einem großzügigen Gastbetrieb erweiterte. Zwar war es interessant gewesen, durch die Weinberge fahren, aber sie war doch froh, als sie wieder zu Hause im sonnigen Brisbane war. Auf dem Rückweg vom Flughafen verglich sie unwillkürlich die weite Landschaft von Victoria mit der Skyline aus dicht gedrängten Wohnhäusern rund um Brisbane.

Sie hatte in einem einstmals bescheidenen Vorort für Familien ein kleines altmodisches Haus gemietet, das in einem üppig wuchernden Garten versteckt lag. Zwar war das Haus ihrer Mutter viel größer und prächtiger, aber ihr luftiges weißes Queenslander Gebäude aus Holz wies einige Ähnlichkeiten mit Bayview auf.

Julie parkte in dem halbmorschen Unterstand unter dem großen Mangobaum. Oft malte sie sich aus, wie die früheren Bewohner auf der Vordertreppe gesessen und mit ihren Nachbarn, die in ähnlichen Häusern lebten, geplaudert hatten. Inzwischen wirkte ihr Holzhaus wie ein Anachronismus neben dem modernen Terrassengebäude aus Glas und Chrom auf der einen Seite und dem Haus mit den sechs Wohnungen auf der anderen, das ihr die Sonne nahm. Tagtäglich herrschte dichter Verkehr auf der Straße, die von parkenden Autos gesäumt war, obwohl man teuer dafür zahlen musste, denn es gab nicht genug Parkplätze für die vielen neu entstandenen Wohnungen und Büros. Sie wandte den Blick von den Neubauten ab und öffnete die Tür ihres kleinen Reichs.

Der Anrufbeantworter blinkte, und die Stimme ihrer Mutter hallte in Julies winziger heller Küche wider.

»Ich hoffe, dass bei deiner Reise alles gut gelaufen ist, Jules. Wenn du ein bisschen Zeit hast, komm doch rüber und iss mit uns zu Abend. Es gibt da etwas, worüber Dad und ich mit dir sprechen wollen. Keine Angst, uns geht’s gut, aber es gibt Ärger mit der Bezirksverwaltung. Bis dann, Schatz.«


Als Julie am nächsten Abend zu ihren Eltern kam, waren sie gerade bei den Essensvorbereitungen.

»Dad will grillen. Ach, wie ist das schön, dich zu sehen«, sagte Caroline und küsste Julie auf die Wange. »Schade, dass Adam nicht hier ist, aber vielleicht können wir später noch mit ihm sprechen.«

»Was ist los?«, fragte Julie.

»Es ist einfach unglaublich. Hier, lies den Brief von der Bezirksverwaltung.« Ihre Mutter schob ihr ein Kuvert hin, doch noch ehe Julie den Brief herausziehen konnte, platzte es aus Caroline heraus: »Sie wollen genau hier eine Umgehungsstraße bauen! Hat man so was Irrwitziges schon mal gehört? Man stelle sich nur vor: Schöne Häuser abzureißen für eine Straße!«

»Was meinst du mit ›abreißen‹? Doch nicht unser Haus? Das können sie nicht tun«, sagte Julie. »Lass mich mal lesen.«

»Es ist eindeutig, Paul, nicht wahr?«, sagte Caroline, als ihr Mann in die Küche kam.

Paul Reagan fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ja, klingt ganz so, als ob sie das vorhätten. Wobei natürlich noch nichts feststeht.«

Julie überflog den Brief. »Das ist ungeheuerlich. Dem müssen wir sofort einen Riegel vorschieben. Offensichtlich haben diese sogenannten Planungsexperten noch nie einen Fuß in diese Straßen gesetzt und mal einen Blick auf die Häuser geworfen. Sonst kämen sie nicht auf die Idee, hier alles plattzuwalzen.«

»Als Gran noch lebte, war das ein wunderschöner Vorort. Und heute ist er fast noch schöner«, stellte ihre Mutter fest.

»Keiner baut heutzutage mehr solche Häuser, das ist sicher«, setzte ihr Vater hinzu.

»Hast du schon mit Adam gesprochen? Was meint er?«, fragte Julie.

»Nein, noch nicht. Du kennst doch deinen Bruder, er würde nur sagen, dass wir in Ruhe abwarten sollen, wie sich die Dinge entwickeln, vielleicht würde ja gar nichts draus«, seufzte Caroline.

»Ja, da hast du wohl recht«, nickte Julie. »Er ist nicht gerade der Mann für schnelle Entscheidungen. Aber das Risiko können wir nicht eingehen. Was sagen denn die Nachbarn dazu?«

»Sie sind auch nicht gerade glücklich darüber«, antwortete ihr Vater.

»Wir müssen alle zusammentrommeln und überlegen, wie sich das verhindern lässt«, entschied Julie. »Komm, Mum, lass uns Tee aufsetzen, und dann stecken wir die Köpfe zusammen und knobeln was aus.«

»Siehst du? Ich wusste, dass Julie etwas einfallen würde«, sagte Caroline und sah schon ein bisschen fröhlicher aus.


Am nächsten Tag rief David Cooper bei Julie an.

»Hallo. Wie hat Ihnen das Buch Ihrer Großtante gefallen?«

»Um ehrlich zu sein, bin ich noch nicht dazu gekommen, auch nur einen Blick reinzuwerfen. Ich habe so viel um die Ohren. Aber Mum hat es sich angeschaut.«

»Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten herausgefunden, die Sie und Ihre Mutter vielleicht interessieren könnten.«

»Mum würde bestimmt gern mehr erfahren, aber wir sind zurzeit mit dem Kopf ganz woanders. Die Bezirksverwaltung will unser Haus abreißen, und wir versuchen uns zu wehren.«

»Was? Das Haus Ihrer Großmutter? Aber das ist doch absurd! Weshalb denn um alles in der Welt?«

»Es war davor sogar das Haus meiner Urgroßmutter. Man will eine Umgehungsstraße bauen, damit der Verkehr flüssiger wird«, erklärte Julie. »Tja, verrückt. Mum gründet gerade eine Bürgerinitiative, um das zu verhindern.«

»Kann sie da Hilfe gebrauchen? Recherchieren ist mein Metier, und vielleicht finde ich ja genug über die Geschichte und den kulturellen Wert des Viertels heraus, um damit die Straße zu verhindern. Mir tut es immer in der Seele weh, wenn solche schönen Häuser oder gar Straßen und ganze Viertel geschändet werden«, sagte David.

»›Geschändet‹ ist das richtige Wort. Solche herrlichen alten Häuser niederzureißen ist ein barbarischer Akt. Und zu Ihrer Frage: Jede Hilfe ist willkommen. Vielleicht könnten Sie ja heute Abend an unserem Nachbarschaftstreffen teilnehmen? Von Mums Haus aus einfach ein Stück die Straße runter, um 19 Uhr?«

»Klar doch. Könnten wir uns bei Ihrer Mutter treffen, damit ich es auch finde?«

»Ja, natürlich. Und herzlichen Dank. Wir wissen Ihre Hilfe wirklich zu schätzen.«

Julie freute sich, David Cooper kennengelernt zu haben. »Danke, Großtante Bette«, murmelte sie.


Zwei Dutzend Familien hatten sich im Garten eines der bedrohten Häuser zusammengefunden, das ebenfalls schon seit Generationen derselben Familie gehörte. Die empörten Nachbarn wählten Caroline und einen anderen Anwohner zu ihren Sprechern. Außerdem war der Bezirksrat Fred Louden vorbeigekommen, um sich die Sorgen der Bürger in seinem Wahlkreis anzuhören. David Cooper saß mit einem Aufnahmegerät und einem Notizblock im Hintergrund, was Fred Louden zu der besorgten Frage veranlasste, ob er Journalist sei. Als David erwiderte, er sei ein Bekannter der Reagans, lächelte Louden leutselig und setzte sich auf seinen Platz.

Caroline las den Brief vor, den sie alle erhalten hatten, und fuhr in ruhigem Tonfall fort: »Wir alle verstehen, was uns dieses Schreiben sagen will: Die Bezirksverwaltung plant, einen Teil unseres Viertels wieder der öffentlichen Hand zuzuführen, um auf dem enteigneten Grund eine Umgehungsstraße zu bauen, um den Verkehrsfluss zu verbessern und den künftigen Aufbau einer Infrastruktur zu erleichtern.« Sie schwieg einen Augenblick, ehe sie fortfuhr: »Was auch immer das genau bedeuten mag. Aber da kann uns hoffentlich Mr. Louden aufklären.«

Doch der Bezirksrat sprach so vage und allgemein – über das Wachstum von Brisbane und dass die Einwohner Opfer bringen müssten und selbstverständlich angemessen entschädigt würden –, dass keiner der Anwesenden danach wirklich schlauer war, was die Bezirksverwaltung im Einzelnen plante. Als Caroline ihre Nachbarn danach aufforderte, sich dazu zu äußern und Fragen zu stellen, hagelte es Beschwerden. David Cooper kam beim Mitschreiben kaum mehr nach.

»Mr. Louden, hat sich irgendwer in der Bezirksverwaltung oder im Straßenbauamt mal die Mühe gemacht hierherzukommen und sich anzuschauen, wo diese angedachte Straße verlaufen soll?«, wollte eine Frau wissen. »Haben sie gesehen, was für wunderschöne Häuser und Gärten dieser Planung zum Opfer fallen?«

»Natürlich nicht«, rief ein anderer Anwohner. »Die haben nur auf die Karte geguckt und gesehen, wie nahe wir an der Stadt sind. Und weil unsere Häuser schon vor über hundert Jahren gebaut worden sind, haben sie gedacht, dass alles hier baufällig ist. Was aber nicht stimmt! Diese Häuser sind bewohnt, und wir sind stolz auf sie.«

»Was ist mit den Geschäften und der Schule und der Bücherei?«, fragte jemand. »Unsere Kinder müssten eine verdammte mehrspurige Schnellstraße überqueren, nur um zur Schule zu kommen – wie soll das gehen?«

»Werden die Schule und die Bücherei auch umgesiedelt?«

Fred Louden hielt den Kopf gesenkt und machte sich augenscheinlich Notizen, aber seine Antworten waren nichtssagend und beschwichtigend.

David warf Julie einen Blick zu. Sie ging nach hinten und setzte sich neben ihn.

»Es wäre interessant, welche Untersuchungen und Berichte den Plänen zugrunde liegen beziehungsweise was die Behörden in dieser Hinsicht noch vorhaben«, warf er ein. »Umweltverträglichkeitsstudien, Lärmgutachten, Landschaftsschutzmaßnahmen und dergleichen.«

»Das gehört alles zur Machbarkeitsstudie«, erwiderte Fred Louden aalglatt und schlug sein Notizbuch zu. »Ganz offensichtlich muss noch eine Menge abgearbeitet werden, ehe eine endgültige Entscheidung fällt. Unter anderem ist die Bezirksverwaltung zu einer Anwohneranhörung verpflichtet. Danke für die Einladung zu Ihrem Treffen. Ich muss noch zu einem anderen Termin, und sicher haben Sie einiges unter sich zu bereden.«

Nachdem Louden gegangen war, wurde es unruhig.

»Und was schließen wir nun daraus?«, fragte Caroline.

»Viel Neues hat er ja nicht erzählt«, meinte Julie. »Wir sollten uns eine gemeinsame Strategie überlegen.«

»Wie wär’s, wenn wir uns an unsere Eingangstore ketten, mit Plakaten, auf denen ›Wir gehen nirgendwohin!‹ steht, und die Medien informieren?«, lautete ein Vorschlag.

»Was ist mit dem National Trust? Könnten die Häuser nicht als kulturelles Erbe unter Denkmalschutz gestellt werden, so dass sich niemand daran vergreifen darf?«, fragte jemand.

Caroline sah ihren Mann an. »Wir hatten das mal überlegt, aber da gab es zu viele Bestimmungen, welche Modernisierungen und Veränderungen einem dann noch erlaubt sind.«

»Nicht dass wir je in die Gebäudestruktur eingegriffen hätten, das hatten wir nie vor. Keiner will ein historisches Gebäude von Grund auf ummodeln«, ergänzte Paul.

»Ich glaube auch, dass wir irgendwann unbedingt die Medien einschalten sollten«, sagte Julie, »Aber vorher sollten wir einen umfassenderen Verteidigungsplan schmieden. Sonst klingt es noch, als ob da ein elitärer Haufen nur seine hübschen Häuser retten will. Aber es geht ja nicht bloß um unsere Queenslander Gebäude und die Gärten und Bäume, es ist doch auch fragwürdig, was stattdessen hier entstehen soll. Ist eine Umgehungsstraße in diesem Gebiet wirklich nötig?«

»Wahrscheinlich sollten Sie professionellen Rat von Ingenieuren, Ökologen und Spezialisten für Lärmbelästigung und Landschaftsverschandelung einholen und sich über mögliche Gesundheitsrisiken und Beeinträchtigungen Ihres Alltags kundig machen, falls diese Umgehungsstraße realisiert wird«, riet David. »Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass die Kostenschätzungen der Bezirksverwaltung zu niedrig sind. Sie müssten also herausfinden, was ein realistischer Kostenrahmen für so ein Projekt ist und was da letztlich auf den Steuerzahler zukommt. Das sollte uns genügend Munition geben.«

»So etwas zu recherchieren ist eine kostspielige Sache«, meinte Caroline. »Wir brauchen eine Kriegskasse.« Dies stieß auf allgemeine Zustimmung.

»Danke für Ihre Vorschläge, David«, sagte Julie.

»Es ist ebenso meine Heimatstadt«, erwiderte David. »Auch wenn ich in einem anderen Viertel wohne, finde ich die Vorstellung schrecklich, dass hier eine Betonschneise geschlagen werden soll. Zudem habe ich Zweifel an dem Sinn des Projekts. Es ist eine komische Stelle für eine Umgehung. Vielleicht sollte sich auch jemand mit den Verkehrsprognosen befassen. Ich kann Ihnen da ein paar Kontakte vermitteln. Wir können per E-Mail in Verbindung bleiben.«

»Phantastisch. Ich fürchte nämlich, dass viele hier glauben, wir müssten nur ein bisschen vor den Fernsehkameras herumhüpfen und die Lokalzeitung auf unsere Seite ziehen, und schon würde die Bezirksverwaltung klein beigeben. Aber so einfach wird es nicht werden«, meinte Julie. »Wir brauchen auch ein paar gute Argumente.«

»Unterschätzen Sie die Macht des Volkes nicht. Öffentliche Aufmerksamkeit ist eine prima Sache. Aber Sie haben recht, auf lange Sicht reicht das nicht, da müssen Sie schon mehr aufbieten«, stimmte David zu. »Vielleicht kommt es ja sogar zu einer Klage. Zum Glück leben wir in einer Demokratie. In manchen Ländern hätten wir gar nichts mitzureden, da würde die Regierung einfach Bulldozer und Bagger anrücken lassen.«

Nach dem Treffen entschwanden die Anwohner in die Nacht, noch immer empört über die geplante Zerstörung ihrer Häuser, aber zumindest ein bisschen optimistischer, sie vielleicht doch verhindern zu können.

Es war so spät geworden, dass Julie beschloss, bei ihren Eltern zu übernachten. Sie schlief liebend gern in ihrem früheren Zimmer im Turm, wo in den Regalen noch immer ihre Kinderbücher und ihr Spielzeug standen. Nachdem sie gute Nacht gewünscht hatte und die enge Stiege hinaufgeklettert war, trat sie ans Mansardenfenster und schaute hinunter auf den im Mondlicht liegenden schlafenden Vorort. Es herrschte völlige Stille, nur hin und wieder hörte man einen Flughund im Sturzflug durchs Geäst rauschen. Weit hinten schimmerte die Moreton Bay, wo ihr Vater ihr auf einer Flying Ant das Jollensegeln beigebracht hatte.

Ihr Blick fiel auf den Vorgarten. Die Baumkrone des Flamboyant war fast so hoch wie das Dach, der Rasen darunter lag in tiefem Dunkel. Sie erinnerte sich an die alte Schaukel, die früher dort gehangen hatte. Zwar hatte man die Seile erneuert, als Julie klein war, aber sie wusste noch, wie sich der feste, glatte Holzsitz angefühlt hatte, den ihr Großvater oder vielleicht sogar ihr Urgroßvater gemacht hatte. Dieses Haus und dieser Garten riefen nostalgische Gefühle in ihr wach, waren Schauplatz ihrer frühesten Erinnerungen, und ihrer Mutter und ihrer Großmutter war es wohl ähnlich ergangen.

Julie schloss die Augen. Während die milde, warme Nachtluft über ihre Wangen strich, versuchte sie den Klang von Kinderlachen und das leise Plaudern von Erwachsenen heraufzubeschwören, die im Garten Tee oder einen Aperitif tranken, den lauten Hall entschlossener Schritte auf der breiten Veranda, das Knirschen des Schotters in der Auffahrt, wo Autos und früher vielleicht Pferdekarren und Kutschen eingetroffen waren. Die hohen Hecken und tropischen Sträucher schirmten das Haus von den Nachbarn ab, die sich ebenfalls mit üppig grünenden Oasen umgeben hatten.

Als sie die Augen öffnete, fühlte sie sich entschlossener denn je. Nein, sie würde nicht zulassen, dass sich stählerne Klauen und Zähne von Maschinen in die Häuser dieser Straße gruben und, ihrem Verlauf folgend, im weiten Bogen den Hügel hinauffraßen. Gerade als sie sich umdrehen und ins Bett gehen wollte, erregte etwas Fahles, Huschendes ihre Aufmerksamkeit. Sie lehnte sich aus dem Fenster und kniff die Augen zusammen.

Was war das gewesen? Eine weiße Katze? Nein, zu groß dafür.

Ihre Phantasie spielte ihr einen Streich. Sie hatte wohl zu viel über die Vergangenheit nachgedacht. Nun kam es ihr vor, als ob im Schatten unter dem Flamboyantbaum eine weibliche Gestalt ruhte. Eine innere Stimme riet ihr, sich ganz still zu verhalten und sich die Szene einzuprägen. Die Sepiafotografien in den Alben der Mutter kamen ihr in den Sinn. Der helle Fleck sah aus wie eine Frau aus der Ära weicher wehender Musselinstoffe, hochgesteckter Haare, weißer Schnallenschuhe und Sonnenschirmchen. Fast, als wäre ihre Urgroßmutter in den von ihr angelegten und heiß geliebten Garten zurückgekehrt.

Plötzlich kam Wind auf, die Zweige schwankten, und der Schemen verflüchtigte sich. Unter dem Baum war wieder alles dunkel und leer.

Julie zog die Vorhänge vor das kleine Fenster und legte sich ins Bett. Sie würde für dieses Haus kämpfen – nicht allein für sich, auch für diese Menschen einer anderen Zeit.


»Ich habe gestern Nacht von Urgroßmutter geträumt« erzählte Julie, als ihre Mutter am nächsten Morgen den Toast butterte. »Sie lag unter dem Flamboyantbaum auf dem Rasen. Wenn wir uns wirklich anstrengen, können wir das Haus bestimmt retten.«

»Das glaube ich auch, mein Schatz. David hat uns ein paar gute Ratschläge gegeben.« Caroline legte die Toastscheiben neben Julies gekochtes Ei.

Julie tunkte ein Stück Toast in das weiche Eigelb. »Mir ist durch den Kopf gegangen, wie viele Erinnerungen sich für uns mit diesem Haus verbinden … und dass es für Urgroßmutter und Großmutter ebenso war. An was erinnerst du dich besonders?«

»Ach, du liebe Güte.« Caroline zuckte die Schultern. »Ich weiß noch, wie sich meine Großeltern gefreut haben, als Mutter und ich hierher zurückgekommen sind, nachdem sich meine Eltern getrennt hatten. Wobei ich nicht glaube, dass Mutter allzu glücklich darüber war.«

»Meinst du nicht? Gran hat das Haus doch so sehr geliebt.«

»Ja, das hat sie. Und sie war auch sehr stolz auf den Garten. Aber seltsamerweise hat sie hin und wieder erwähnt, am glücklichsten sei sie vor dem Krieg als junge Ehefrau in Malaya gewesen.«

»Warum hat sie dann in Brisbane gelebt?«, fragte Julie.

»Ich weiß nicht genau. Manchmal hatte ich den Eindruck, es lag mindestens ebenso sehr an Bette wie an Vater, dass sie Malaya verlassen hat.«

Julie durchzuckte ein Verdacht, und ihre Augen weiteten sich. »Mum! Dein Vater hatte doch nicht etwa eine Affäre mit Bette, oder?«

Entschieden schüttelte Caroline den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«

»Warum also ist Gran nach Australien zurückgekehrt?«, ließ Julie nicht locker.

»Ich weiß es wirklich nicht. Darüber wurde nicht geredet, das war tabu. Aber ich habe einiges von Mutters Geschichte aufgeschnappt. Als ich ungefähr fünfzehn war, hat sie mir doch tatsächlich erzählt, wie sie meinen Vater kennengelernt hat und wie die ersten Jahre mit ihm zusammen waren. Es ist zwar lange her, aber ich versuche mich nach bestem Wissen und Gewissen daran zu erinnern, wenn du es hören willst?«

»Ja, unbedingt«, sagte Julie, nahm sich noch mehr Toast und spitzte die Ohren.