Kapitel 7

Utopia, 2009

Nach einem Bad im Pool in einen Rattansessel gekuschelt, vor der spätnachmittäglichen Sonne durch die Bambusrouleaus geschützt und mit einem Gin Tonic in der Hand, fühlte sich Julie richtig entspannt und wie zu Hause. Shane, Peter und Martine, Shanes bezaubernde Frau, waren gespannt, was sie von ihrer Reise flussaufwärts in Sarawak zu erzählen hatte.

»Ich war noch nie in einem Langhaus, und als wir mal einen Ausflug zu den Orang-Utans machten, ließ sich keiner von ihnen blicken«, sagte Martine mit ihrem melodischen französischen Akzent. »Wir müssen es noch mal versuchen, meinst du nicht, Shane?«

»Es war faszinierend«, meinte Julie. »Ich habe mich gleich in die Orang-Utans verliebt. Sie haben so ein wunderbares Wesen. Und die Iban sind ausgesprochen sympathisch. Früher mögen sie Kopfjäger gewesen sein, aber sie haben eine sehr freundliche und fürsorgliche Gemeinschaft. Jetzt ist mir klar, warum Großtante Bette so für ihre Kultur geschwärmt hat.«

»Wir haben dich noch nicht so bald zurückerwartet«, sagte Peter. »Wir dachten, du wärst mit dem Forschungsteam mindestens eine Woche unterwegs.«

»Na ja.« Etwas verlegen rutschte Julie auf ihrem Sessel herum. »Sie hatten viel zu tun, und die Unterkünfte waren ziemlich primitiv.«

Martine lächelte sie an. »Und weiter? Ich habe das Gefühl, das ist nicht alles.«

Julie erwiderte ihr Lächeln. »Einer Frau kann man nichts vormachen! Ja, es gab ein paar Unstimmigkeiten, nein, eigentlich Ärger mit David Cooper. Er hat dem Tuak, dem Reiswein, zu sehr zugesprochen und wollte mir dann an die Wäsche …«

»Dieses Zeug ist höllisch. Deshalb kannst du ihm aber doch keinen Vorwurf machen, oder?«, meinte Peter.

»Das ist wieder mal typisch Mann«, entgegnete Martine. »Man kann sich doch nicht auf den Tuak rausreden, besonders wenn die Frau die Gefühle nicht erwidert.«

»Genau«, pflichtete Julie ihr bei. »David gehört zu den Männern, die einen ständig antatschen und betütteln müssen. Aber er ist einfach nicht mein Typ, was leider nicht bei ihm angekommen ist. Als sich das Ganze dann zuspitzte, bin ich auf eigene Faust zurückgefahren. Tja, und jetzt bin ich hier.«

»Und gerade zur rechten Zeit«, meinte Shane. »Wir haben uns überlegt, einen kleinen Ausflug zu machen, bei dem du vielleicht auch gern dabei wärst.«

»Wohin wolltet ihr denn?«, fragte Julie.

»Zur Insel Langkawi. Freunde von uns leiten dort eine Hotelanlage, die ist toll. Wir wollen zu mehreren hinfahren. Möchtest du auch mitkommen?«

»Sehr gern, wenn es nicht zu teuer ist. Was hat Langkawi denn so zu bieten?« Julie dachte sich, dass ihr nach all den Erlebnissen im Dschungel ein Inselurlaub ganz guttun würde.

»Nördlich von Penang, an der Grenze zu Thailand, liegt ein Archipel mit der Hauptinsel Langkawi. Dort gibt es Regenwald, Urlaubsorte und ein paar nette Speiselokale.«

»Und man kann wunderbar baden«, ergänzte Martine.

»Wir wollten uns für ein paar Tage eine Unterkunft in einem der Urlaubsorte mieten, wo die Häuser in der traditionellen malaiischen Weise gebaut sind«, erklärte Shane und fügte noch hinzu: »Aber sie sind ganz komfortabel ausgestattet.«

»Wir werden wohl so sieben oder acht Leute sein. Ich wünschte, meine Freundin wäre auch dabei«, bedauerte Peter. »Gehst du gern angeln, Julie? Wir können uns ein Boot mieten. Chris ist übrigens auch mit von der Partie. Du hast ihn schon kennengelernt – der Bursche von der Air Force. Ein leidenschaftlicher Angler. Und wenn du dich fit genug fühlst, können wir auch mal zu einem wunderschönen See auf der Nachbarinsel hinaufsteigen.«

»Ich gehe am liebsten baden und entspanne mich am Pool«, sagte Martine. »Es ist einfach traumhaft dort.«

»Klingt gut«, meinte Julie. »Ich gehe gern angeln, möchte mir aber auch die Gegend anschauen. Wer weiß, ob ich je wieder dorthin komme.«


Nach dem Abendessen führte Shane Julie in die große Bibliothek ihres Urgroßvaters. Während sie die mit glasigen Augen von den Wänden starrenden Tierköpfe zu ignorieren versuchte, öffnete er eine Schublade in dem mächtigen, mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch. Er nahm eine gebundene Kladde heraus und reichte sie ihr.

»Das sind Rolands Erinnerungen. Ich dachte mir, du willst sie vielleicht lesen.«

»Wunderbar.« Sie befühlte das alte Notizbuch. »Ich glaube, ich hatte noch nie etwas in der Hand, was ihm gehört hat.«

»Es ist kein Tagebuch, sondern eher eine Art Zusammenfassung seiner Kriegserlebnisse. Für die Veröffentlichung war es nie bestimmt. Viele Männer, die im Krieg waren, haben eine Art Bericht über ihre damaligen Erfahrungen geschrieben«, erklärte Shane. »Bei manchen war es wohl die spannendste Zeit ihres Lebens. Was unseren Großvater betrifft, so verlief sein ganzes Leben ziemlich ereignisreich. Aber wenn man das liest, merkt man, dass er die Jahre, in denen er bei Sondereinsätzen hinter den Linien gekämpft hat, besonders genossen hat.«

»Ich bin schon sehr gespannt.« Julie warf einen Blick auf den handgeschriebenen, mit roter Tinte säuberlich unterstrichenen Titel, und nachdem Shane sie allein gelassen hatte, begann sie mit der Lektüre.


Hinter dem grünen Vorhang. Erinnerungen. Von Roland Elliott.


Rückblickend betrachtet, ist es erstaunlich, dass nicht mehr Menschen es kommen sahen. Krieg. Invasion. Aufstieg des Kommunismus. Späte Einsicht ist gewiss etwas Wunderbares. Wir dachten, wir seien wichtig für England, mussten uns aber eines Besseren belehren lassen. Für Whitehall gab es vordringlichere Angelegenheiten in Europa, und so wurden wir verraten. Als dann der Krieg gegen Japan endlich vorbei war, brach eine neue Zeit an, und nun herrscht keine entspannte Atmosphäre mehr in unserem Winkel der Erde. Das Leben auf der Plantage scheint seinen normalen Gang zu gehen, aber die Narben sind noch frisch. Jetzt wird mir klar, dass die friedlichen Tage der Vorkriegszeit unwiederbringlich dahin sind, und ob Malaya je wieder vereint werden kann, erscheint mir fraglich. Zu viele Rassen, Kulturen und Glaubensrichtungen und zu viel Verrat. Doch wie mein lieber Vater zu sagen pflegte: So ist’s von jeher schon gewesen.

Vor dem Krieg verbrachten wir unsere Tage ohne Sorgen. Dem Wort des weißen Mannes wurde ohne Widerrede gehorcht, wir hatten ein herrliches Leben und das Beste von allem, was es im In- und Ausland zu kaufen gab. Zu dem Gefühl, viele Privilegien zu genießen, kam auch die Freiheit, tun und lassen zu können, was wir wollten. In den Dörfern behandelte man uns als Ehrengäste und servierte uns Gerichte, die eine Familie einen Tag harte Arbeit oder sogar noch mehr kosteten. Und wir nahmen es an als etwas, das uns rechtmäßig zustand. Doch als der Krieg kam, als wir in den Augen der Eindringlinge nichts Besseres mehr waren als Kulis, als uns die Treue derer, auf die wir herabgeblickt hatten, zu Hilfe kam, uns Schutz oder Flucht ermöglichte, da ließen wir sie letzten Endes im Stich.

Natürlich hatte kaum jemand damit gerechnet, dass der Krieg gegen Japan uns in Malaya oder Borneo jemals tangieren würde. Das Leben ging weiter seinen gemächlichen Gang, mit Festen, Tänzen, Jagden und Tennis, mit Liebeleien und Heiratsanträgen, und Geld musste ja auch noch verdient werden. Wer vermögend, einflussreich und gebildet war, der gehörte zu uns, egal, welche Hautfarbe er hatte. Zuweilen gab mein Vater den Spruch zum Besten, wonach Malaya von den Briten zum Wohl der Chinesen regiert werde oder, je nach Sichtweise, von den Chinesen zum Wohl der Briten. Die malaiische Elite hatte eine gewisse Anspruchshaltung, was wohl wenig überrascht, denn schließlich handelte es sich um ihr Land, und die anderen Rassen waren nur eingewandert. Wenn man Geld, Macht und gesellschaftlichen Status besitzt, stehen einem in Malaya selbstverständlich alle Türen offen. Die Armen jedoch, die chinesischen Tagelöhner, die indischen Plantagenarbeiter und die einheimischen Malaien, die weder über Reichtum noch Einfluss verfügten, wurden von den Herrschern übersehen oder ignoriert. In diesem Malaya lebte ich vor dem Krieg, durch den alles anders werden sollte.

Als 1939 der Krieg in Europa ausgebrochen war, ging man insbesondere in England davon aus, dass dieser europäische Konflikt sich niemals auf den pazifischen Raum erstrecken würde. In London glaubte man gar, die strategische Verteidigung von Malaya auf ein Minimum beschränken zu können. Stets bekamen wir die Parole zu hören, Singapur, die uneinnehmbare Inselfestung, werde gehalten werden. Und wer sollte uns schon angreifen? Die Japaner waren bereits in der Mandschurei und in China einmarschiert, und man wusste sehr wohl, dass sie es auf die Ölfelder von Niederländisch-Indien abgesehen hatten. Aber Vater hielt es für höchst unwahrscheinlich, dass sie uns angreifen würden. Also ging das Leben seinen geregelten Gang, man tat, als sei alles in Ordnung, und sorgte sich höchstens um die Angehörigen in der Alten Welt. Meine Mutter kümmerte sich ja dort um ihre betagten Eltern, und mein Vater fürchtete um ihre Sicherheit.

Doch einige von uns – und auch ich – sahen die Entwicklungen mit Sorge. Man wusste ja, dass die japanische Gemeinde in Malaya seit Jahren sehr aktiv war und in der Nähe der Plantagen im Dschungel herumschnüffelte. Zudem besaßen sie Stützpunkte an wichtigen Straßen- und Schienenknotenpunkten in den Bergbaugebieten. Es ließ sich kaum übersehen, welch große Mengen Erz in jenen Jahren nach Japan verschifft wurden, zweifellos für die Rüstungsproduktion. Später fanden wir heraus, dass ihre Unternehmen nicht nur bedeutsame Informationen an ihre Regierung weitergaben, sondern auch Spionage und andere illegale Machenschaften betrieben. An strategisch günstigen Orten wurden kleine Firmen gegründet, wo man das Geschehen auf Flugplätzen, in Häfen, in den Buchten und an den Küsten, im Dschungel und in den Sümpfen ausspähen konnte. Man hatte unser Land seit den dreißiger Jahren gründlich ausspioniert und vermessen. Zu spät erfuhren wir von geheimen Waffenlagern und Bunkern, die in von Japanern betriebenen Kautschukplantagen versteckt waren. Unsere Selbstgefälligkeit kam uns teuer zu stehen.

Die Schuld an dieser Ignoranz trifft so manchen. Denn die Einheimischen hatten durchaus Informationen gesammelt und den Plantagenbesitzern von den Umtrieben der Japaner im Dschungel, an abgelegenen Küstenstrichen und auf den Inseln berichtet, was wiederum von Fischern, Waldhütern und Minenarbeitern bestätigt wurde. Als man aber die Behörden in Singapur davon unterrichtete, schlugen diese alle Warnungen in den Wind. Und auch als ich anderen Plantagenbesitzern gegenüber diese Gerüchte zur Sprache brachte, die überall in Malaya kursierten, tat man sie als Panikmache ab.

Allerdings wussten wir kaum etwas über die Beschlüsse der Mächtigen in Whitehall, unsere Truppenstärke in Malaya zu verringern. Man betrachtete den Krieg in Europa als viel zu ernste Sache, als dass man auch nur einen Gedanken daran verschwendet hätte, was irgendwo an der östlichen Peripherie des Empire passierte. Doch wir in Malaya ließen uns nicht beirren und nahmen Benzinrationierungen, gestiegene Preise und die leidigen Verdunkelungsübungen in Kauf. Selbst als die Japaner in Indochina einmarschierten, fühlte sich unsere Regierung nicht zum Handeln bemüßigt. Man hielt vielmehr an dem Glauben fest: »Das werden die Japsen niemals wagen! Und wenn doch, dann schlagen wir sofort zurück.«

Wie konnte man nur zu dieser irrigen Annahme gelangen? Die Schlagkraft unserer Streitmacht war gering und zudem war sie strategisch ungünstig aufgestellt, wie wir später erfuhren. Doch wer unbequeme Fragen stellte, wurde nicht ernst genommen. Alle führenden Leute waren derart eingenommen von der eigenen Wichtigkeit, so verbohrt und bürokratisch, dass unsere angeblichen Kriegsanstrengungen völlig lachhaft wirkten. Manchmal glaubte ich ernstlich, unsere Gesellschaft würde zu einem Spiegelbild der Theaterstücke von Noel Coward oder der Romane dieses unsäglichen Somerset Maugham verkommen. Dennoch hatte ich das Gefühl, etwas Konkretes tun zu müssen, und so schloss ich mich den Perak Volunteers an, dem örtlichen Freiwilligenwiderstand. Mein Vater wollte ebenfalls seinen Teil beitragen, aber das konnte ich ihm ausreden. Mir schien es am vernünftigsten, wenn er zu Hause die Stellung hielt.

Am 8. Dezember 1941 hörten wir zu unserem Erstaunen, dass die Japaner nicht nur die amerikanische Flotte in Pearl Harbor zerstört hatten, sondern auch bei Kota Bharu im Norden von Malaya gelandet waren. Sie bombardierten außerdem die größeren Flugplätze im nordwestlichen Teil des Landes und hatten bereits die Hälfte der dort stationierten alliierten Maschinen zerstört. Drei Tage später erhielten wir eine noch viel schlimmere Nachricht: Das Schlachtschiff Prince of Wales und der Kreuzer Repulse, erst vor wenigen Tagen zur Verstärkung der britischen Truppen entsandt, waren versenkt worden, was zahlreiche Menschenleben kostete. Die Moral sank.

Der japanische Angriff hatte fatale Folgen. Während die Katastrophe ihren Lauf nahm, saßen mein Vater und ich am Ende eines weiteren milden Tages auf der Veranda und genossen einen Stengah. Sachte fielen Blütenblätter vor uns ins Gras, während meine Frau und ihre auf Besuch weilende Schwester sich leise unterhielten und Wollkleidung für unsere Soldaten strickten. Der Krieg, der einst so fern schien, rückte unübersehbar näher.

Dann ging alles ganz schnell.

Dass der Krieg sich nicht mehr aufhalten ließ, wurde uns einige Tage später bewusst, als die Winchesters, eine befreundete Familie aus Penang, mit einigen wenigen Koffern auf Utopia ankamen. Da Penang massiven Bombenangriffen ausgesetzt war, waren sie aus der Stadt geflohen und hatten fast all ihr Hab und Gut zurücklassen müssen.

»Mein Lieber«, sagte die verstörte Mrs. Winchester, »wir konnten nichts mitnehmen. Ich möchte nur noch nach Singapur, wo wir in Sicherheit sind. Hoffentlich bekommen wir dort eine Überfahrt nach Südafrika. Ich kann es immer noch nicht fassen. Die Flugzeuge erschienen ohne jegliche Vorwarnung über Penang und warfen ihre Bomben ab. Es muss Tausende von Toten gegeben haben. Wir hatten noch Glück, weil wir auf dem Hügel wohnten und die Japsen es anscheinend nur auf die Stadt und den Hafen abgesehen hatten. So konnten wir fliehen, aber es ist einfach eine Katastrophe.«

Die Winchesters sollten nie zurückkehren. Während der darauffolgenden Kampfhandlungen verloren sie ihr Zuhause und ihren gesamten Besitz.

Meine Frau Margaret und ihre Schwester Bette versuchten Mrs. Winchester zu trösten, aber die Tatsache, dass diese Menschen vor den vorrückenden japanischen Truppen flüchten mussten, zerrte an Margarets Nerven.

»Herrgott, Roland«, sagte sie, »wir können doch nicht einfach nur dasitzen und Däumchen drehen, bis die Japsen nach Utopia kommen. Wir müssen etwas unternehmen.«

Also entschied ich unverzüglich, dass meine Frau, mein gerade dreijähriger Sohn Philip und meine Schwägerin ebenfalls versuchen sollten, aus Malaya herauszukommen.

»Du hast recht, Margaret. Ihr müsst versuchen, ein Schiff nach Australien zu bekommen. Ich bin mir sicher, dass die Behörden in Singapur Evakuierungen organisieren werden, und dort seid ihr wohl zunächst sicher. Ich sollte mich jetzt sofort bei meiner Einheit melden, deshalb musst du zusehen, dass du mit Bette, Philip und Vater nach Singapur gelangst. Hamid fährt euch nach Kuala Lumpur, von dort aus könnt ihr den Zug nehmen.«

Meine Frau starrte mich an. »Das ist nicht dein Ernst? Du kannst uns doch nicht einfach allein lassen und so einem Risiko aussetzen!«

»Ich habe keine andere Wahl«, bemühte ich mich zu erklären. »Ich muss hierbleiben und gegen die Japaner kämpfen.«

»Margaret, wir schaffen das schon«, ermutigte sie ihre Schwester Bette. »Wir haben ja Eugene dabei, der das Land wie seine Westentasche kennt. Und in Singapur erwartet uns Gilbert, der für sein Unternehmen den Kautschukexport organisiert. Er wird etwas für uns arrangieren, wenn wir da sind.«

Mein Vater hatte jedoch andere Pläne.

»Ich verlasse die Plantage nicht«, verkündete er. »Ich habe sie aus dem Nichts aufgebaut. Sie ist mein Lebenswerk. Außerdem lasse ich meine Leute nicht im Stich. Sie waren immer loyal, und jetzt muss ich zu ihnen stehen. Diese Menschen bauen auf mich. Was würden sie denn denken, wenn ihr Tuan Besar, ihr großer Herr, fliehen und sie schutzlos den Japanern überlassen würde? Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage.«

Margaret, die nun wusste, dass weder mein Vater noch ich mit in den Süden reisen würden, begann hektisch ihre Koffer zu packen. Ich redete ihr gut zu, sie solle möglichst wenig Gepäck mitnehmen, weil die Zeit drängte und das Benzin knapp werden könnte, doch vergeblich. Ihre Schwester Bette, eine eher praktisch denkende junge Frau, überredete Margaret schließlich, einen Koffer mit ihren Wertsachen und persönlichen Erinnerungsstücken zu packen. Diesen vergrub ich unauffällig im Garten und hoffte, er würde dort vor dem, was immer da kommen mochte, sicher sein.

Ehe die drei mit Hamid aufbrechen konnten, trafen spätabends zwei weitere Besucher ein, die ebenfalls aus Penang geflüchtet waren. Sie wussten noch mehr über die Bombardierung und die Evakuierung zu berichten.

»Es war ein einziges Chaos«, erzählte Ethel Bourke, eine alte Freundin. »Man sagte uns, wir müssten in aller Stille aufbrechen. An unser asiatisches Personal, das nun allein mit den Japsen fertig werden muss, verschwendeten wir keinen Gedanken. Ich schäme mich so dafür. Es hätte doch irgendeine Möglichkeit geben müssen, ihnen zu helfen. Jedenfalls gelangten wir auf einem alten Küstendampfer zur Hauptinsel und sollten uns anschließend in einen Zug Richtung Süden quetschen. Aber der war hoffnungslos überfüllt, und ich hatte Angst, dass er von Tieffliegern angegriffen werden könnte. Zufälligerweise wusste meine Freundin Mildred hier, wo man einen Firmenwagen auftreiben konnte, und so verließen wir den Zug und fuhren auf eigene Faust hierher.«

Dieser neue Stand der Dinge veranlasste mich, meinen ursprünglichen Plan zu überdenken. Schließlich nahm ich Hamid beiseite und trug ihm auf, die beiden Frauen und meinen Sohn den ganzen Weg bis Singapur zu fahren. Dann legte ihm mein Vater die Hand auf die Schulter und sagte, da Hamid ihm so viele Jahre als treuer Chauffeur gedient habe, vertraue er ihm auch das Leben der Mems und des Tuan Kecil, des kleinen Herrn, an.

Philip wollte nicht fort, er klammerte sich an mich, als ich ihn zum Wagen trug. Ich ermahnte ihn, tapfer zu sein und seiner Mutter und seiner Tante immer schön zu gehorchen. Bis der Krieg vorbei sei und wir alle wieder zu Hause in Utopia seien, müsse er ein großer Junge sein. Meine Frau umarmte mich.

»Gib auf dich acht, Roland. Ich weiß nicht, wie ich zurechtkommen soll, wenn dir irgendetwas zustößt.«

Mir schien es am sichersten, wenn Hamid nur nachts fuhr, und bei Gefahr sollte er den Wagen in die Kautschukwälder lenken. Hamid meinte, er habe Freunde, die ihm helfen würden, und sobald die Frauen wohlbehalten in Singapur angekommen seien, würde er gleich nach Utopia zurückfahren. Ich verließ mich auf ihn, und es war mir ein Trost zu wissen, dass er hier bei meinem Vater sein würde.

Am nächsten Morgen erleichterte mich der Gedanke, dass die Frauen zu einem sicheren Zufluchtsort unterwegs waren. Als ich von Bill Dickson, einem der Freiwilligen, abgeholt wurde, verabschiedete ich mich von Vater, und wir fuhren zusammen zu unserer Einheit. Bill, ein paar Jahre jünger als ich, war ein rechtschaffener junger Mann und Beamtenanwärter bei der Kolonialverwaltung. Ich fand ihn ausgesprochen sympathisch.

Die Fahrt war ziemlich abenteuerlich. Wir wechselten uns am Steuer ab. Wahrscheinlich war ein rasanter und unvorsichtiger Fahrstil nicht unbedingt angeraten. Zwar war uns die Straße durchaus vertraut, doch meist hatten uns unsere Chauffeure gefahren, die jeden Zentimeter dieses Wegenetzes kannten. Deshalb holperten wir durch so manches Schlagloch. Plötzlich sahen wir, wie vor uns der Staub aufwirbelte. Ein japanisches Kampfflugzeug kam uns im Tiefflug entgegen, nur wenige Meter über der Straße. Sofort riss Bill das Steuer herum und schlitterte in eine Pflanzung hinein. Wir sprangen mit einer Hechtrolle aus dem Wagen und suchten Zuflucht im Unterholz. Während wir zwischen den Kautschukbäumen herumkrochen, hörten wir die Einschüsse an unserem Auto. Sekunden später war der Kampfflieger verschwunden. Wir warteten und hofften, dass nicht noch mehr Flugzeuge auftauchten. Dann stellten wir überrascht fest, dass unser Wagen nicht in Flammen aufgegangen war.

»Das war knapp«, sagte Bill in einem Ton, der verriet, dass er solche Situationen nicht zum ersten Mal erlebte. »Wie sollen wir den Wagen hier rausbekommen?« Und es erwies sich in der Tat als schwierig, das Auto auf die Straße zurückzuschieben, denn obwohl es relativ unversehrt aussah, blockierte ein eingedrückter Kotflügel ein Rad.

Während wir den Kotflügel auszubeulen versuchten, hörten wir aus der Pflanzung ein zaghaftes Flüstern. Ein schüchternes indisches Mädchen mit einem Säugling in den Armen kam auf uns zu. In gebrochenem Englisch berichtete sie uns, nachdem ein japanisches Flugzeug ihr Dorf unter MG-Beschuss genommen habe, seien alle geflüchtet und fürchteten sich nun zurückzukehren. Sie selbst hatte sich in einem Reisfeld versteckt, doch jetzt war sie ganz auf sich allein gestellt. Also boten wir ihr an, sie und ihr Kind zum nächsten Dorf mitzunehmen, sobald wir den Wagen wieder in Gang gebracht hatten. Während wir auf den verbeulten Kotflügel einschlugen, verschwand die Frau zwischen den Bäumen und kehrte kurz darauf mit einem Kautschukzapfermesser und einer Handaxt zurück. Damit gelang es uns, das Rad freizubekommen.

Zitternd und weinend, saß sie mit dem Kind an der Brust auf dem Rücksitz, bis wir sie in einem nahe gelegenen Kampong absetzten.

Als unser Ziel nicht mehr weit war, bemerkte ich: »Wenn wir auf den Nebenstraßen und den Plantagenwegen fahren können, was hindert dann die Japaner daran, es ebenfalls zu tun? Warum sollten sie nur auf den Hauptstraßen vorrücken? Sie könnten uns umrunden und uns in den Rücken fallen.«

»Ich vermute, das ist ihr Plan«, erwiderte Bill.

Bei unserer Einheit angekommen, brannten wir darauf, den Vormarsch der Japaner zu stoppen. Doch wir mussten enttäuscht feststellen, dass die Offiziere der regulären Truppe nicht auf unsere Beobachtungen und Vorschläge eingingen. Die Perak Volunteers wurden als ahnungslose Amateure abgetan.

»Die regulären Truppen sind einfach bescheuert«, schimpfte Bill. »Wir kommen von hier, kennen die Gegend und sämtliche Nebenstraßen – da könnten wir doch mit unseren Kontakten ein prima Nachrichtennetzwerk aufbauen. Wir wissen, wo man die Japsen am besten packen kann.«

»Ich glaube, die regulären Soldaten sind zwar ziemlich gut im Kämpfen, aber ihre Kommandeure haben keinen blassen Schimmer«, erwiderte ich. »Ich frage mich sogar, ob sie nicht völlig unfähig sind.«

»Ich würde unseren britischen Truppen niemals Hasenfüßigkeit vorwerfen«, sagte Bill. »Aber mir scheint, sobald unsere Soldaten auch nur in Reichweite der Japsen kommen, wird ein strategischer Rückzug angeordnet.«

Dem konnte ich nicht widersprechen. »Das Problem ist auch, dass wir keine militärische Rückendeckung haben, keine Unterstützung aus der Luft, keine Artillerie. Und mir scheint, wir verlieren viel Boden, ohne ihnen etwas Nennenswertes entgegenzusetzen.«

»Weißt du, es gibt noch ein Problem«, sagte Bill. »Es ist, als würden die Japaner einen anderen Krieg führen als wir. Unsere Männer schleppen sich mit schwerer Montur und Ausrüstung ab, während sich die Japsen grün anmalen, Blätter auf die Helme kleben und uns mit gummibesohlten Schuhen und kleinkalibrigen Waffen auflauern. Es ist einfach unfair.«

Ein weiterer Fehler der Behörden war es gewesen, sich nicht der Unterstützung der loyalen Chinesen zu versichern.

»In Malaya leben gut und gern eine Viertelmillion Chinesen aller Klassen und Kulturen, aber was sie verbindet, ist ihre Abneigung gegen Japan, insbesondere nach dem japanischen Einmarsch in China. Ich wette, sie würden es ihrem Feind nur zu gern heimzahlen«, bemerkte ich.

»Ich fürchte, da rümpfen unsere hohen Tiere bloß die Nase, weil es eben nur Chinesen sind, die man nicht für vertrauenswürdig genug hält, um das große britische Empire von ihnen verteidigen zu lassen«, meinte Bill.

»Möglicherweise steckt noch etwas anderes dahinter. Chinesische Arbeiter stehen teilweise im Verdacht, Kommunisten zu sein. Und die setzen sich für ein unabhängiges Malaya ein. Natürlich wird es nie dazu kommen, aber es macht die Behörden nervös. Und das ist ein weiterer Grund, weshalb sie sich nicht mit ihnen zusammentun wollen.«

»Stimmt«, sagte Bill. »Aber die britische Regierung vergisst, dass die Chinesen die Japaner viel mehr hassen als uns, vor allem nach dem fürchterlichen Massaker von Nanking.«

Wir waren also beide ziemlich unzufrieden und kamen zu dem Schluss, dass wir als Freiwillige immerhin die Wahl hatten, wie wir kämpfen wollten. Auch in den folgenden Tagen zogen sich die Briten nur immer weiter zurück, und wir befürchteten, dass bald die ganze malaiische Halbinsel verloren sein würde. Also beratschlagten wir, was nun zu tun war.

»Meiner Meinung nach kommen wir so nicht weiter«, meinte Bill. »Die hirnlosen Tommys haben doch keine Ahnung, was sie hier überhaupt sollen.«

»Ich glaube, wenn wir uns nicht bald absetzen, schnappen uns die Japsen, und was können wir dann noch ausrichten?«

Bill begeisterte sich für die Idee, auf eigene Faust etwas zu unternehmen. »Hör mal, ich hab da so ein kleines Segelboot unten an der Küste. Damit könnten wir nach Colombo abhauen.«

Also beschlossen wir, uns zur Küste aufzumachen, Bills Boot zu holen und nach Ceylon zu segeln. Das Glück war auf unserer Seite, und wir legten die etwa dreißig Kilometer zu Bills Boot an der Küste ohne nennenswerte Probleme zurück. Mit unserem als Fischerboot getarnten Segler brachen wir in der Nacht auf und erreichten bald das offene Meer. Schließlich landeten wir auf den Nikobaren, wo wir glücklicherweise auf einem kleinen Frachter eine Passage nach Colombo bekamen. Wie viel Dusel wir hatten, wurde uns erst im Nachhinein klar, denn wenige Wochen darauf eroberten die Japaner die Nikobaren.

In Colombo stießen wir auf Landsleute und erfuhren, dass Malaya mittlerweile kapituliert hatte. Ein paar Tage später hörten wir, dass die Japaner auch Singapur erobert hatten und Tausende alliierter Soldaten als »Gäste des Kaisers« in Kriegsgefangenschaft geraten waren. Wir waren beide heilfroh, dass wir rechtzeitig den Absprung geschafft hatten. Zwar hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts von meiner Frau und meiner Familie gehört, aber ich war zuversichtlich, dass sie das Land noch rechtzeitig hatten verlassen können, und betete inbrünstig, sie mögen in Sicherheit sein. Außerdem quälte mich die Sorge um meine Eltern, und ich hoffte, dass auch sie wohlauf waren.

Am Anfang plagte uns in Colombo das Gefühl, dass wir keinen ausreichenden Beitrag zu diesem Krieg leisten konnten. Wir waren zu weit weg vom Geschehen, auch wenn die Japaner allmählich in Richtung Indien vorrückten. Es gelang uns beiden, Schreibtischjobs bei der Armee zu ergattern, wo wir mit der Truppenlogistik und anderen banalen, aber notwendigen Aufgaben betraut waren. Nach etlichen Monaten wurden wir nach Neu-Delhi verlegt und dem Südostasien-Hauptquartier zugeteilt.

Dass hinter den feindlichen Linien rege spioniert wurde, wussten wir bereits. Als wir aber von der Force 136 hörten, waren Bill und ich fest entschlossen, uns dieser Einheit anzuschließen, um uns richtig nützlich zu machen.

»Die Force 136 bildet Männer aus und schickt sie ins japanisch besetzte Hinterland. Gebraucht werden Ortsansässige wie wir, die das Land, den Dschungel und die entlegeneren Gebiete kennen und Kontakte zu den Einheimischen haben«, erklärte ich Bill.

»Hört sich nicht schlecht an«, meinte Bill. »Sonst weiß ja niemand unsere Vor-Ort-Kenntnisse zu schätzen.«

Also beschlossen wir, unseren Vorgesetzten so lange auf die Nerven zu gehen, bis sie uns schließlich zu dieser Spezialeinheit des Nachrichtendienstes abschoben. Und die Begrüßung dort schmeichelte uns sehr.

»Leute wie euch braucht diese Einheit«, erklärte der Kommandeur. »Ihr kennt die Einheimischen und sprecht ihre Sprachen.«

»Was sollen wir tun?«, fragte ich.

»Wie Sie beide sicherlich wissen«, begann der Offizier, »wurden vor Kriegsausbruch mehrere kommunistische Zellen in Malaya gegründet, deren erklärtes Ziel die Vertreibung der Briten war. Nun, inzwischen hat sich die Lage geändert. Die meisten Roten sind Chinesen, und viele sind zu dem Schluss gekommen, dass die Japaner ein schlimmerer Feind als die Briten sind. Daher haben sie uns einen Waffenstillstand angeboten.«

»Dieser Stimmungsumschwung erstaunt mich nicht, Sir«, entgegnete ich. »Wie können wir ihn zu unserem Vorteil nutzen?«

»Indem wir sie zur fünften Kolonne machen. Sie können auf dem Landweg die feindlichen Linien durchdringen. Dort könnten sie Sabotageakte verüben, aber das darf nicht ihre Hauptaufgabe sein, denn wir wissen, dass die Japaner auf solche Aktionen mit fürchterlichen Vergeltungsmaßnahmen reagieren. Deshalb setzen wir die Kommunisten vor allem zur Beschaffung von Informationen ein, um eine alliierte Invasion vorzubereiten.«

»Was sollen wir tun? Als Mittelsmänner fungieren?«, fragte Bill.

»Mehr oder weniger. Wir haben mehrere Agenten, die mit kommunistischen Einheiten zusammenarbeiten, aber wir wollen, dass Sie zu einem ganz bestimmten Mann Kontakt aufnehmen. Sein Einsatzort liegt im Zentralgebirge, er lebt in einem der Dörfer der Orang Asli, doch wir haben schon eine ganze Weile nichts mehr von ihm gehört. Die kommunistische Einheit, mit der er arbeitete, war außerordentlich effektiv. Wir würden gerne wieder mit ihr in Verbindung treten und außerdem herausfinden, was mit unserem Mann passiert ist. Er heißt Roger Burrows.«

»Wie finden wir dieses Dorf und die kommunistische Einheit, und warum meinen Sie, dass die Leute uns vertrauen werden?«, wollte ich wissen.

»Ich denke, da wird es kein Problem geben. Kommen Sie, ich zeige Ihnen auf der Karte, wo Rogers Dorf liegt.«

Als der Offizier auf die Stelle wies, rief Bill: »Den Ort kenne ich! Ich war dort ein paarmal im Auftrag der Bezirksverwaltung, habe die Einwohner gezählt und so. Ich spreche sogar ein bisschen ihre Sprache.«

»Ausgezeichnet. Wir werden versuchen, Sie so bald wie möglich dorthin zu bringen.«

Unsere Ausbildung war kurz, und ehe wir es uns versahen, fanden wir uns bereits mit bescheidenem Proviant und einem Funkgerät hinter den feindlichen Linien wieder, in jenem Land, das einst das unsere gewesen war. Leider setzte man uns aber nicht in den Bergen, sondern in Küstennähe ab. Ein unverhoffter Wetterumschwung erschwerte dem Piloten die Landung, doch für uns war es günstig, weil die tiefhängenden Wolken und die dunkle Nacht uns Schutz bei der Landung boten.

Es war seltsam, hier, wo wir einst die Herren gewesen waren, auf allen vieren durchs Unterholz zu kriechen, sich den Weg durch Mangrovenwälder freizuhauen, im Morast zu versinken, Kampongs zu umgehen und durch Plantagen zu schleichen. Wir wussten, dass der Feind niemals weit war.

»Auch wenn wir ihn nicht sehen können«, meinte Bill.

Einmal machten wir auf einer kleinen Lichtung Rast und aßen etwas von unserem Proviant. In der Ferne sahen wir einen aus Bambus errichteten Wachturm der Japaner, von dem aus man die Hauptstraße gut im Blick hatte. Aber wir konnten ihn problemlos umgehen, indem wir uns in den Wäldern hielten. Nachts war es feucht und kühl und ziemlich ungemütlich, da wir kein Feuer machen konnten.

»Wirklich hart finde ich, dass wir den Einheimischen nicht mehr trauen können«, meinte Bill. »Jeder vorbeiradelnde Inder, jede Wasser tragende Frau, jeder Kuli, der Feuerholz sammelt – sie alle könnten uns verraten.«

Und da wir ein Funkgerät dabeihatten, war uns klar, dass die Japaner nicht lange fackeln und uns auf der Stelle erschießen würden.

»Es ist ein weiter Weg in die Berge«, meinte Bill. »Und ich frage mich, wie lange wir uns noch auf unser Glück verlassen können.«

»Wir sind ganz in der Nähe von Teluk Anson«, sagte ich, »und das bringt mich auf eine Idee. Dort lebt ein singhalesischer Freund meines Vaters. Ich glaube, er würde uns helfen, wenn wir es schaffen, mit ihm Kontakt aufzunehmen.«

Bill stimmte mit mir darin überein, dass das auch nicht riskanter war als der Versuch, auf eigene Faust das von den Japanern kontrollierte Küstengebiet zu durchqueren. »Gehen wir es an.«

Einige strapaziöse Tage später, in denen wir uns von Ananas, Bananen und unseren Armeerationen ernährt und Kampongs und andere Siedlungen weiträumig umgangen hatten, gelangten wir zum Außenbezirk von Teluk Anson, einer kleinen Stadt unweit von Slim River, wo die japanische Flagge wehte und es von Soldaten nur so wimmelte.

»Es dürfte schwierig werden, reinzukommen, ohne entdeckt zu werden«, stellte Bill fest.

»Ich würde sagen, es ist unmöglich. Halten wir uns einfach eine Weile hier draußen verborgen und warten wir ab, was passiert«, erwiderte ich.

Die Einwohner der Stadt schienen ihren normalen Geschäften nachzugehen, aber wir hielten es für sicherer, im Sumpfgebiet in der Nähe eines Ghats, eines Waschplatzes, zu bleiben. Eine Zeitlang beobachteten wir, wie hier ein Dhobi Walla, ein indischer Wäscher, seiner Arbeit nachging. Anscheinend wuschen er und seine Familie Wäsche für die Japaner. Ich war mir ziemlich sicher, dass er als Inder den singhalesischen Freund meines Vaters, Mr. Gupta, kannte, denn dieser hatte sich als Ingenieur wie auch als Philanthrop einen Namen gemacht. Wir konnten nur hoffen, dass die Japaner ihn nicht verhaftet oder umgebracht hatten.

Als an diesem Abend der Dhobi zu den alten eingelassenen Betonbecken ging, die zum Einweichen von Schmutzwäsche benutzt wurden, beschlossen wir, unser Glück zu versuchen, und sprachen ihn an. Erschrocken fuhr er zusammen, als plötzlich zwei weiße Gesichter vor ihm auftauchten, die Finger an den Lippen.

Leise unterhielt sich Bill auf Tamil mit dem Mann. Dieser begriff unsere Notlage, hatte aber offensichtlich große Angst, denn er zitterte wie Espenlaub.

Bill fragte ihn, ob er Mr. Gupta eine Nachricht zukommen lassen könnte. Der Wäscher erklärte sich dazu bereit, denn Mr. Gupta hatte einmal seinem Sohn geholfen. Allerdings drängte er darauf, dass wir uns in einem der leeren Becken versteckt hielten, denn wenn uns die Japaner entdeckten, würden sie nicht nur uns, sondern auch ihn und seine Familie erschießen.

»Frag ihn, ob er uns Reis und Sambal verkaufen kann«, schlug ich vor.

Kurz darauf kam eine Frau mit einem Packen Wäsche zum Ghat. Aus dem Stoffballen zog sie einen mit Reis, sauren Gurken und Huhn gefüllten Henkelmann hervor und ließ ihn ins Becken hinab, wo wir kauerten. Wir bedankten uns, gaben ihr Geld und ließen es uns schmecken, ehe wir uns auf der Schmutzwäsche, die sie dagelassen hatte, schlafen legten.

Bei Tagesanbruch erschien ein kleiner Junge und brachte uns lange indische Hemden, weite Hosen und Turbane, die wir uns eng um den Kopf wickelten. Dann bedeutete er uns, ihm zu folgen. Wer uns aus der Nähe betrachtete, würde erkennen, dass wir keine Sikhs waren, doch wir beteten darum, dass sich auf eine gewisse Entfernung der Schein aufrechterhalten ließ.

Mit gesenkten Köpfen umrundeten wir das Zentrum der Stadt, bis wir zu einem besseren Wohnviertel gelangten. Der Junge führte uns in eine Seitengasse neben einem größeren Grundstück und zum Hintereingang eines gediegen wirkenden Hauses. Drinnen erwartete uns ein Diener, der uns zum Besitzer des Hauses brachte.

Ein großer stämmiger Singhalese hieß uns willkommen und war höchst erstaunt, meinen Namen zu hören. »Mr. Elliott! Was für eine Überraschung!«, sagte Mr. Gupta. »Wie geht es Ihrem lieben Vater, und was kann ich für Sie tun?«

Ich antwortete, dass ich seit fast eineinhalb Jahren nichts von meinem Vater gehört hatte, und berichtete ihm dann von unserem Auftrag. Er sicherte uns sogleich seine Hilfe zu.

»Eventuell könnte ich Sie in die Cameron Highlands fahren, von dort aus kommen Sie zu Fuß weiter zu dem Dschungeldorf.«

»Darf ich fragen, wie Sie das anstellen wollen?«, fragte ich verwundert.

»Als sich die Briten aus der Stadt zurückzogen, zerstörten sie die Filteranlage der hiesigen Wasserversorgung. Das brachte für die Stadtbewohner nicht nur Unannehmlichkeiten mit sich, sondern auch die Gefahr einer Trinkwasserverseuchung. Es gelang mir, die Japaner davon zu überzeugen, dass ich das Wassersystem reparieren konnte. So blieben nicht nur die Einheimischen, sondern auch die Japaner von Krankheiten verschont. Deshalb erlaubte man mir, weiterhin in meinem Haus zu wohnen und sogar mein Auto zu behalten.«

»Wir wissen Ihre Hilfsbereitschaft zu schätzen, aber wir wollen Sie nicht in Gefahr bringen«, sagte Bill.

»Ich bitte Sie, es sind doch Menschen wie Sie, die uns helfen, die Japaner loszuwerden. Deshalb werde ich gleich alle Vorbereitungen treffen, um Sie in die Berge zu bringen. In der Zwischenzeit fühlen Sie sich hier bitte wie zu Hause. Nehmen Sie erst einmal ein heißes Bad, und meine Frau wird Ihnen etwas zu essen kochen. Die Dienstboten sollten besser nichts von Ihrer Anwesenheit erfahren. Viele Inder sehnen den Tag herbei, an dem die Briten zurückkehren, andere hingegen glauben den Japanern, die behaupten, die Tage der Briten seien unwiederbringlich vorbei. Ich für meinen Teil glaube das nicht, aber andere sind womöglich so naiv und würden sich nicht scheuen, Sie bei den Japanern zu denunzieren.«


Am nächsten Tag verließen wir, noch immer in Sikh-Gewändern, Guptas Haus, um ins Hochland zu fahren.

»Hören Sie, Gupta«, hatte Bill davor zu bedenken gegeben, »unsere Verkleidung ist nicht besonders gut. Wir haben keine Bärte, unsere Haut ist zu hell, meine Augen sind blau. Wenn die Japaner uns anhalten und gründlicher mustern, gehen wir sicher nicht als Inder durch.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, erwiderte Gupta. »Ich gebe Sie als meinen Chauffeur aus, und Sie können auch eine alte Sonnenbrille von mir tragen. Allerdings bezweifle ich, dass sie genauer hinschauen werden. Dienstboten werden von ihnen nicht sonderlich beachtet. Mr. Elliott ist mein Kuli und sitzt vorne neben Ihnen. Ich werde den Japanern sagen, dass ich umgehend die Quellen für die städtische Wasserversorgung inspizieren muss, weil sonst eine Cholerainfektion droht. Sie haben große Angst vor Cholera und werden uns deshalb passieren lassen.«

Es kam im Großen und Ganzen so, wie Gupta es vorausgesagt hatte. Die Japaner hielten uns zwar an, doch Gupta spielte seine Rolle großartig, und die Erwähnung einer Choleragefahr genügte, dass wir durchgewunken wurden. Auf der Straße in die Cameron Highlands herrschte wenig Verkehr, und so kamen wir rasch voran. Als wir den Punkt erreichten, an dem die Weiterfahrt nicht mehr möglich war, ließ Gupta uns aussteigen, gab uns etwas Proviant für unterwegs mit und wünschte uns viel Glück. Dann wendete er und kehrte unverzüglich zurück, während wir am Straßenrand standen und daran dachten, welch ein langer Weg durch den Regenwald uns noch bevorstand.

Der Dschungel war dicht und schier undurchdringlich, aber Bill war in der Gegend schon gewesen und fand scheinbar mühelos Trampelpfade. Nach einigen Tagen stießen wir auf das Dorf, in dem wir Roger Burrows und den lokalen Kommunistenführer vermuteten.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Bill, während wir aus dem schützenden Wald zu dem kleinen Kampong und den mit Palmblättern gedeckten Hütten hinüberspähten. »Sollen wir einfach reingehen und auf das Beste hoffen?«

»Warum nicht? Ich bin mir sicher, dass die Dorfbewohner unsere Anwesenheit sowieso schon bemerkt haben. Und du beherrschst doch die Sprache der Orang Asli so weit, dass du dich verständigen kannst, nicht?«

Als wir mit möglichst herrschaftlicher Haltung ins Dorf schritten, trat uns der Stammesführer entgegen, den Bill höflich begrüßte. Nachdem der Alte ihn forschend gemustert hatte, verzog sich sein Mund zu einem zahnlosen Grinsen, und er erwiderte Bills Gruß.

»Er kennt mich noch von meinem Besuch vor fünf Jahren. Wir haben uns damals prächtig verstanden, also denke ich, dass wir hier keine Probleme haben werden.«

»Frag ihn nach Roger«, sagte ich.

Bill sprach wieder mit dem Alten, worauf dieser nickte und uns bedeutete mitzukommen. Wir betraten eine Hütte und sahen auf einer Matte am Boden einen Mann liegen.

»Roger?«, fragte ich.

»Ich fürchte, alter Junge. Wer zum Teufel seid ihr?«

Ich stellte Bill und mich vor und erklärte, dass uns das Hauptquartier zu ihm geschickt hatte.

»Tja, hier bin ich. Das Funkgerät hat vor ungefähr neun Monaten den Geist aufgegeben, und ich habe nicht die richtigen Ersatzteile auftreiben können, um es zu reparieren. Deshalb konnte ich niemanden darüber informieren, was in dieser Gegend hier los ist.«

»Und wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Bill.

»So lala. Momentan habe ich einen Malariaanfall und bin lichtempfindlich, also bleibe ich lieber hier drinnen im Dunkeln. Aber abgesehen davon, geht es mir den Umständen entsprechend gut. Der Kommunistenführer, mit dem ich zusammenarbeite, ist ein brillanter Bursche. Er beschafft mir Medikamente, wann immer es geht, und berichtet mir, was die Japaner treiben. Aber das bringt natürlich nichts ohne ein Funkgerät, mit dem ich die Informationen weitergeben kann.«

Als wir ihm sagten, dass wir ein Funkgerät dabeihatten, war er begeistert.

»Was meint ihr, wie lange ihr braucht, um es aufzubauen? Ich habe dem Hauptquartier eine ganze Menge mitzuteilen. Aber vorher würde mich noch interessieren: Was macht der Krieg?«

Bei einem Tee aus unserem Proviantsack erzählten wir Roger vom Fortgang des Krieges, vor allem vom Burmafeldzug, der für diese Region eine ganz besondere Bedeutung hatte. Wir mussten einräumen, dass es schon seit einer ganzen Weile nicht sonderlich gut für uns lief und dass die japanischen Truppen schon bis an die indische Grenze vorgestoßen waren.

»Aber seit General Slim das Oberkommando hat, hat sich das Blatt gewendet«, berichtete Bill. »Er drängt die Japsen allmählich zurück. Dass Malaya befreit wird, ist allerdings noch nicht so bald zu erwarten.«

Während wir auf den Matten in der Hütte saßen und uns unterhielten, erschien eine Gestalt an der Tür.

»Da ist ja mein junger Kommunistenführer«, rief Roger. »Schön, dass ihr ihn schon jetzt kennenlernen könnt, er ist ein wahrer Fels in der Brandung und ein großartiger Guerillakämpfer. Wenn wir mehr von seiner Sorte hätten, wären die Japaner alle längst aus Malaya verschwunden.«

Als der junge Chinese näher kam, traute ich meinen Augen kaum.

»Ah Kit, ich möchte dir Captain Elliott und Lieutenant Dickson vorstellen. Sie sind geschickt worden, um nach mir zu suchen, und haben ein Funkgerät dabei.«

»Guten Abend, Captain Elliott«, begrüßte mich mein einstiger Bediensteter.

»Ah Kit, das ist ja eine Überraschung! Kein Wunder, dass man im Hauptquartier meinte, mit dem hiesigen Kommunistenführer würde ich problemlos zusammenarbeiten können. Bill, Ah Kit war mein Hausdiener auf Utopia.«

Bill schüttelte Ah Kit die Hand. »Roger spricht in den höchsten Tönen von Ihnen und Ihren Aktionen. Es ist mir ein Vergnügen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«

»Danke, Lieutenant.«

»Sagen Sie, Ah Kit, haben Sie irgendetwas von Utopia oder meinem Vater gehört?«

Ah Kit setzte sich zu uns auf den Boden und begann zögerlich zu sprechen. »Captain, es sieht nicht gut aus. Utopia ist jetzt das Hauptquartier der Japaner in der Region um Slim River. Sie haben das große Herrenhaus beschlagnahmt und wohnen darin.«

»Mein Vater … wo ist er, Ah Kit? Wurde er gefangen genommen?«

Ah Kit blickte zu Boden, schüttelte den Kopf und brauchte einen Moment, um zu antworten. »Captain, es ist schrecklich. Tuan Besar, Tuan Elliott … Er ist nicht mehr, Sir.«

»Was soll das heißen? Wo ist mein Vater, Ah Kit?« Ich merkte, dass ich lauter wurde.

Er senkte den Kopf. »Tot, Captain. Sie haben ihn umgebracht.«

»Nein! Wie ist das geschehen?«, fragte ich fassungslos.

»Tuan Elliott wollte die Plantage nicht verlassen. Er schickte alle fort, aber viele seiner Leute wollten nicht gehen. Es war ja auch ihr Zuhause. Einige Tage nachdem Sie und die Mems fortgegangen waren, tauchten japanische Soldaten auf. Tuan Elliott trat ihnen auf der Treppe des Herrenhauses entgegen und sagte ihnen, sie sollten die Plantagenarbeiter schonen, denn diese führten keinen Krieg gegen Japan. Doch die Soldaten lachten nur, und einer erschoss ihn. Sie hängten den Leichnam des Tuan an einen Baum im Hof und sagten, wer es wagte, ihn anzurühren, werde ebenfalls erschossen. Dann gingen die Soldaten in den Kampong, vergewaltigten viele Frauen und töteten einige der dort ansässigen Kautschukzapfer. Ho und ich hatten zunächst Angst, den Leichnam des Tuan herunterzunehmen, aber zwei oder drei Nächte später wagten wir es doch. Denn die Japaner hatten die alkoholischen Getränke entdeckt, die der Tuan immer im Haus aufbewahrt hatte, und die meisten von ihnen waren betrunken. Also schlichen wir leise in den Garten, schnitten den Toten vom Baum und begruben ihn im Kampong, wo ihn niemand finden wird. Die Japaner unternahmen nichts am nächsten Morgen, wahrscheinlich weil sie vor ihren Offizieren nicht zugeben wollten, dass sie getrunken hatten.«

Ich wollte aufspringen, doch ich wusste, dass meine Beine mich nicht tragen würden. »Diese Soldaten sind also immer noch in meinem Haus?«

»Ja, Captain.«

»Die Arbeiter?«

»Alle fort.«

»Die Plantage? Die Bäume?«

»Ich weiß nicht. Ich bin ja auch fortgegangen.«

»Es ist niemand mehr da, der sich um irgendetwas kümmert. Ach, was für eine fürchterliche Nachricht!«

»Es tut mir leid, Roland«, sagte Bill. »Dein Vater war ein wirklich guter Mensch.«

»Wie lange sind Sie schon Kommunist?«, fragte ich Ah Kit.

»Schon sehr lange, Captain. Dass Tuan Elliott auf Utopia ein guter Mann war, das wusste ich. Er hat sich um seine Arbeiter gekümmert. Doch er hat uns nicht als seinesgleichen behandelt, sondern nur als billige Arbeitskräfte. Wir haben viele Stunden für wenig Geld geschuftet, damit Ihre Familie sich bereichern kann. Das halte ich für ungerecht. Meiner Meinung nach beuten uns die Briten aus. Ich finde, die Briten sollten aus Malaya verschwinden.«

Mein Leben lang hatte ich diesen Mann gekannt, doch nun musste ich feststellen, dass ich im Grunde nichts von ihm wusste. Ich hatte Ah Kit in der Nähe des Kampongs spielen sehen, als wir beide noch klein waren, aber später war er für mich nur noch ein Dienstbote gewesen. Jetzt erfuhr ich, dass er politische Ansichten vertrat, die sich sehr von den meinen unterschieden, dass er aber auch ein tapferer Soldat war.

»Ah Kit«, sagte ich, »erst müssen Sie uns helfen, die Japaner zu vertreiben.«

So rasch wie möglich bauten wir das Funkgerät zusammen und ließen das Hauptquartier in Delhi wissen, dass Roger am Leben und in einigermaßen guter Verfassung war. Man befahl uns, vor Ort zu bleiben und weiterhin Aufklärungsarbeit zu leisten. So begannen für mich viele Monate im Regenwald, in denen ich manchmal allein, manchmal im Team mit Bill, Roger und Ah Kit arbeitete.

Ah Kit stellte uns Stammesangehörigen der Orang Asli vor, die gewillt schienen, mit uns zusammenzuarbeiten. Sie waren geschickt darin, japanische Patrouillen ausfindig zu machen. Diese versetzten sie in Angst und Schrecken, indem sie sich immer den letzten Mann schnappten und ihn umbrachten, und das völlig geräuschlos. Deshalb wagten sich die Japaner kaum noch in den Dschungel, was bedeutete, dass wir in unserem Kampong recht sicher waren, solange wir in Deckung blieben. Die Chinesen versorgten uns mit Informationen über Munitionslager, Wachtürme und Truppenbewegungen der Japaner, und wir setzten per Funk das Hauptquartier davon in Kenntnis.

Da wir dieses Netzwerk aus chinesischen Kommunisten hatten und zudem glaubten, uns auf die Dorfbewohner verlassen zu können, bewegten wir uns freier im Dschungel und in anderen Gegenden. Dabei kam es aber auch hin und wieder zu gefährlichen Begegnungen mit Japanern, weil jemand allzu geschwätzig gewesen war oder ein Dorfbewohner auf eine Belohnung der Japaner spekulierte.

Ein besonders dramatischer Zwischenfall ereignete sich eines Abends, als ich allein unterwegs war und auf ein japanisches Lager mit acht Soldaten stieß. Bevor ich mich ihnen näherte, traf ich eine Entscheidung, die mich fast das Leben kostete. Um ihr Lager genauer in Augenschein zu nehmen, wagte ich es, meine Deckung im Dschungel zu verlassen und einen kleinen Fluss zu überqueren, der zwischen mir und den Japsen lag.

Zu meinem Glück hielt nur ein Mann Wache, so dass ich nicht von der ganzen Patrouille entdeckt wurde. Ein Schuss traf mich an der Schulter, ein jäher brennender Schmerz, und die Wucht des Aufpralls ließ mich nach vorne kippen. Ich suchte Schutz in den Untiefen des Flusses, tauchte mit angehaltenem Atem unter und versuchte mich stromabwärts treiben zu lassen. Dort grenzte der Dschungel an den Fluss, und als mir die Luft ausging und ich den Kopf aus dem Wasser streckte, fand ich mich in Ufernähe wieder, zwischen langen Gräsern, Wurzeln und Gestrüpp. Reglos lag ich im Wasser und merkte, wie ich schwächer wurde und Blut verlor.

Was nun?, fragte ich mich. Da erblickte ich einen Baum mit ausladenden Zweigen und dickem Stamm. Ich schaffte es, dorthin zu gelangen und mich zu sichern, indem ich ein Ende meines Sarongs um einen starken Ast schlang. Sollte ich bewusstlos werden, würde ich zumindest nicht ins Wasser zurückrutschen. Nun konnte ich bloß noch hoffen, dass mich jemand fand, wusste allerdings nicht, wie lange ich durchhalten würde.

Das Letzte, woran ich mich erinnere, war das Kreischen der Affen.

Später sagte man mir, dass ich beinahe verblutet wäre und fast achtundvierzig Stunden vergangen waren, bis ich von Ah Kit und einem der einheimischen Spurenleser, die den Fluss nach mir abgesucht hatten, gefunden wurde. Mehrere Tage lang schleppten sie mich durch den Dschungel zurück zu einem der sicheren Dörfer. Immer wieder wachte ich kurz auf und verlor dann erneut das Bewusstsein. Mir ist schleierhaft, wie sie es anstellten, mich so weit auf der grob gezimmerten Trage zu transportieren. Wir waren noch lange nicht in Sicherheit, als wir fast einer anderen japanischen Patrouille in die Arme liefen. Der Eingeborene erkannte plötzlich, dass er erschossen werden würde, wenn man ihn mit mir zusammen erwischte, und nahm Reißaus. Doch Ah Kit befahl mir, mich nicht zu rühren, und deckte mich mit Laub und Gestrüpp zu. So blieben wir unentdeckt. Ah Kit versprach, Hilfe zu holen. Ich verlor jedes Zeitgefühl, aber als ich die Augen wieder aufschlug, blickte ich in Bills Gesicht.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich von diesem Abenteuer erholt hatte. Ah Kit konnte mir Bandagen und Kaliumpermanganat besorgen, so dass sich die Wunde erstaunlicherweise nicht entzündete. Kein Zweifel, Ah Kit hatte mir das Leben gerettet. Als ich ihm aber dafür danken wollte, erwiderte er nur, er brauche mich lebend, damit ich ihm im Kampf gegen die Japaner beistand.

In der Zeit, die wir in den Dörfern der Orang Asli verbrachten, konnte ich feststellen, dass Ah Kit von den anderen Kommunisten und sogar von den Orang Asli höchst respektvoll behandelt wurde. Wenn sich die Gelegenheit ergab, saß ich gerne mit ihm zusammen und unterhielt mich mit ihm, auch wenn wir außer unserer Abneigung gegen die Japaner nur noch wenig Gemeinsamkeiten hatten.

»Wenn dieser Krieg vorbei ist, alter Junge, musst du etwas für Ah Kit tun«, sagte Bill.

»Gewiss. Er kann ja schlecht wieder mein Hausdiener werden. Wogegen ich gar nichts einzuwenden hätte, aber das will er wohl nicht mehr.«

Einige Monate lang setzten wir unsere Aufklärungsarbeit fort, doch Rogers Malariaanfälle traten immer häufiger und mit zunehmender Heftigkeit auf, und Ah Kit konnte ihn nicht mehr ohne weiteres mit Chinin versorgen. Dann ging das Funkgerät kaputt, was zweifellos an der hohen Luftfeuchtigkeit lag. Ah Kit gelang es zwar, Ersatzteile zu besorgen, die er zu uns schmuggeln ließ. Aber bis das organisiert war und wir das Gerät repariert hatten, waren sämtliche Passwörter des Hauptquartiers geändert worden, und wir konnten unserem Kontaktmann kaum noch glaubhaft machen, wer wir waren und dass wir uns nicht in Feindeshand befanden.

Schließlich entschied das Hauptquartier, es sei an der Zeit, uns alle rauszuholen. Laut Plan sollten wir uns über die Berge und durch den Dschungel zur Westküste durchschlagen, wo uns bei einer der vorgelagerten Inseln ein U-Boot erwarten würde. Zu diesem Zeitpunkt waren wir alle ziemlich angeschlagen. Jeder von uns hatte diverse Tropenkrankheiten durchgemacht, vor allem Bill, den neben der üblichen, allgegenwärtigen Malaria ein schlimmes Schwarzwasserfieber erwischt hatte. Uns graute vor dem langen Marsch zur Küste.

Während wir die Karte studierten, meinte Bill: »Wenn wir von hier aus genau Richtung Westen gehen, kommen wir schneller aus den Bergen heraus als auf der nordwestlichen Route.«

Roger nickte zustimmend. »Das wäre sicherlich einfacher, aber auf der langen Strecke entlang der Küste finden wir kaum Deckung und werden garantiert von den Japsen geschnappt.«

»Nicht wenn wir uns verkleiden. Wir sind als Sikhs hergekommen, könnten wir das nicht noch mal versuchen?«, schlug ich vor.

»Aber keiner von uns dreien kann die Sprache, alter Junge. Sie würden uns enttarnen, sobald wir den Mund aufmachen«, wandte Roger ein.

Ah Kit hatte bislang nur still zugehört. »Es gibt viele chinesische Kulis an der Westküste«, meinte er nun. »Vielleicht solltet ihr euch als Chinesen ausgeben.«

»Das ändert nichts an dem Problem. Sobald wir etwas sagen, merken die Japsen, dass wir Briten sind«, sagte ich.

»Ich komme mit und übernehme das Sprechen für euch«, erklärte Ah Kit.

Offenbar fiel es Ah Kit nicht sonderlich schwer, uns die richtigen Kleider zu besorgen. Und so bedankten wir uns ein paar Wochen später bei den Dorfbewohnern für ihre Hilfe und brachen, als Kulis verkleidet und mit großen, aber nicht sehr schweren Lasten auf dem Rücken, zum vereinbarten Treffpunkt an der Küste auf.

Als wir uns dem Meer näherten, staunten wir darüber, wie allgegenwärtig die Japaner hier waren. Ah Kit übernahm es, für uns zu sprechen, und wir hielten uns möglichst abseits am Straßenrand oder innerhalb von Pflanzungen auf.

Eines Abends schlugen wir unter Kautschukbäumen unser Nachtlager auf, nachdem wir den ganzen Tag bei tropischer Hitze und in sehr unbequemen Sandalen marschiert waren. Ah Kit verschwand und kehrte kurz darauf mit ein paar Kokosnüssen zurück, die unsere Stimmung hoben, denn die Kokosmilch war sehr erfrischend.

»Es ist schade, Captain Elliott, dass wir keine Kokosnüsse hatten, als Sie verletzt waren. Die Milch ist sehr rein und wird gern zum Säubern von Wunden verwendet«, sagte Ah Kit.

»Ja«, bestätigte ich, »und sie schmeckt köstlich. Ist schon was anderes als Kaliumpermanganat.«

Das Glück blieb uns weiterhin gewogen. Ah Kit verstand es ausgezeichnet, mit den Japanern umzugehen. Zwar brüllten sie uns an und wollten wissen, wohin wir unterwegs seien, aber Ah Kits Antworten genügten stets, um sie uns so weit vom Leib zu halten, dass sie unsere Tarnung nicht durchschauten. Allerdings sahen wir auch derart heruntergekommen und kränklich aus, dass sie wahrscheinlich ganz gern Abstand zu uns hielten.

Da uns das U-Boot vor einer der küstennahen Inseln abholen sollte, mussten wir jemanden finden, der uns dorthin brachte. Das war der gefährlichste Teil der Reise, denn wer immer uns in seinem Boot beförderte, würde zwangsläufig erkennen, dass wir keine Chinesen waren. Ah Kit hielt dieses Problem jedoch für lösbar.

»Ich habe mir von chinesischen Freunden sagen lassen, wer von den malaiischen Schiffern an der Küste sich am leichtesten bestechen lässt. Und meine Freunde haben mir genug Geld gegeben, um dafür zu sorgen, dass keine Fragen gestellt werden und ihr sicher zum Treffpunkt gelangt.«

»Kommen Sie nicht mit?«, fragte ich.

»Nein, Captain Elliott, mich brauchen Sie dort nicht mehr.«

»Ich weiß nicht, wie wir Ihnen danken können«, sagte ich. »Ich verdanke Ihnen mein Leben. Und meine Kameraden wahrscheinlich auch.«

Ah Kit lächelte. »Wenn der Krieg vorbei ist und wir beide eine unterschiedliche Zukunft für Malaya anstreben, werden Sie sich hoffentlich daran erinnern.«

Roger und Bill schüttelten Ah Kit die Hand und bedankten sich ebenfalls.

»Ein großartiger Bursche«, meinte Roger, als Ah Kit gegangen war. »Ich frage mich, was er nach dem Krieg machen wird. Sie sind in Ordnung, diese chinesischen Kommunisten, und auch gute Kämpfer. Aber wenn der Krieg erst vorbei ist, werden es die Briten nicht leicht mit ihnen haben.«

Es war eine mondlose Nacht, als uns der Schiffer zu der Insel brachte. Während der Überfahrt stellten wir eine Funkverbindung zum Hauptquartier her und erfuhren, dass uns das U-Boot in der darauffolgenden Nacht abholen konnte. Und so geschah es dann auch. Wir fuhren zurück nach Ceylon und dann weiter nach Neu-Delhi, wo leider nur öde Schreibtischjobs auf uns warteten, da man uns nichts Aufregenderes mehr zumuten wollte.

»Ziemlich deprimierend, aber ich denke, wir haben unseren Teil geleistet«, meinte Bill.

Während wir noch in Neu-Delhi lebten, wurden die Atombomben auf Japan abgeworfen, und der Krieg ging zu Ende.

Bei meiner Rückkehr nach Utopia war ich nicht auf das Ausmaß der Zerstörung gefasst, das mich erwartete. Man hatte die Bäume gefällt und den Kampong mit den Hütten der Arbeiter niedergebrannt. Das Herrenhaus war in einem überraschend guten Zustand, weil es den Japanern als Verwaltungssitz gedient hatte, doch Margarets und meinen Bungalow hatte man weniger pfleglich behandelt. Die Möbel waren schwer beschädigt, der Garten verwüstet.

Einige Monate später kam auch meine Frau zurück, die das Kriegsende in Australien abgewartet hatte, und ich sah meinen Sohn Philip wieder, der während der Kriegsjahre zusammen mit meiner Schwägerin Bette in einem japanischen Lager in Sarawak interniert gewesen war.

Allmählich kehrten auch die Hausangestellten und die Plantagenarbeiter mit ihren Familien zurück, und ich konnte neue Kautschukbäume pflanzen. Ho, der den Krieg überlebt hatte, zeigte mir, wo er und Ah Kit meinen Vater begraben hatten. Ich bettete ihn auf den Kirchhof bei unserer kleinen Familienkapelle um.

»Es wird nie mehr so wie früher sein«, sagte Margaret eines Abends kurz nach unserer Rückkehr. »Die Partys, die Freunde, die Diener, der Lebensstil, der Luxus, den wir genossen haben. Dieses Leben ist endgültig vorbei.«

»Nicht unbedingt«, entgegnete ich. »Es mag ein anderes Leben sein, aber es kann noch besser werden. Und das wird es eines Tages auch.«


Hier endeten Rolands Lebenserinnerungen. Julie klappte das Heft ihres Großvaters zu und legte es beiseite. Völlig benommen saß sie da. Am liebsten hätte sie gleich ihre Mutter angerufen und gesagt: »Mein Gott, Großtante Bette und dein Bruder Philip waren während des Krieges in einem japanischen Kriegsgefangenenlager, und wir haben nichts davon gewusst! Warum hat Großmutter nie etwas davon erwähnt?« Es schien ihr völlig unbegreiflich.

Wie sie feststellte, waren ihre beiden Cousins noch auf, tranken Brandy und sahen sich ein Fußballspiel im Satellitenfernsehen an.

»Hallo, wir dachten, du wärst schon schlafen gegangen«, sagte Shane.

»Stimmt was nicht?«, fragte Peter. »Möchtest du auch was trinken?«

»Sehr gern. Danke. Ich hab gerade Großvaters Erinnerungen gelesen und kann es einfach nicht fassen.«

»Mach doch bitte mal leiser, Shane«, sagte Peter und stand auf, um Julie einen Gin Tonic zu holen.

»Was hat dich denn so geschockt?«, wollte Shane wissen.

»Am Ende seiner Erinnerungen erzählt Großvater, dass euer Vater und Großtante Bette in einem Internierungslager waren. Meine Mutter und ich hatten davon nicht die leiseste Ahnung. Wie ist das gekommen? Was war passiert? Ich kapiere einfach nicht, warum meine Großmutter nie ein Sterbenswörtchen davon gesagt hat.«

Die beiden jungen Männer starrten sie verblüfft an. »Du meinst allen Ernstes, ihr wusstet nichts von dem, was damals geschehen ist? Dad hat uns durchaus davon erzählt, aber er sagte immer, er sei damals noch ein kleines Kind gewesen und könne sich nur an weniges erinnern«, sagte Shane.

»Im Grunde hat er auch nicht gern darüber geredet«, fügte Peter hinzu.

»Aber er war dort mit seiner Tante, nicht mit seiner Mutter. Wie kam das? Das scheint mir doch ziemlich merkwürdig. Und wie lang waren sie inhaftiert? Bestimmt Jahre! Unsere Großmutter hat erzählt, dass sie die Kriegszeit in Brisbane verbracht hat … während ihr Sohn und ihre Schwester in Gefangenschaft waren!« Julie schüttelte den Kopf. »Und wisst ihr, ich glaube, auch meine Mutter hat keine Ahnung von alldem. Warum nur? Warum hat unsere Großmutter das so lange geheim gehalten?«

»Ich denke, im Krieg ergab sich manches einfach so«, meinte Shane. »Großvater hat erzählt, wie er sich im Dschungel verstecken musste und wie verrückt diese Jahre unter der japanischen Besatzung gewesen waren. Nein, wenn ich es mir recht überlege, hat er eigentlich gar nichts über den Krieg erzählt. Das meiste haben wir aus seinen Erinnerungen erfahren.«

»Großvater war ein sehr beherrschter und bescheidener Mensch«, erinnerte sich Peter.

»Wenn wir genauer wissen wollten, was er im Krieg gemacht hatte, hat er immer nur Unverfängliches erzählt«, sagte Shane.

»Etwa, wie er und sein Freund Bill sich als Kulis verkleideten – solche Sachen. In seiner Rückschau klang es wie ein Abenteuer für große Jungs. Wir waren schon erwachsen, als uns klarwurde, wie mutig er in Wirklichkeit gewesen sein muss«, ergänzte Peter.

»Bei Großvaters Beerdigung traten viele Leute vor und lobten ihn für seine Tapferkeit. Aber er selbst hat seinen Beitrag im Krieg immer heruntergespielt«, meinte Shane. »Es war Bill, der die Grabrede hielt und sagte, Roland hätte viel mehr Anerkennung verdient für das, was er hinter den feindlichen Linien geleistet hatte.«

»Da es sich um Spionageaktionen handelte, wurden sie größtenteils geheim gehalten und erst Jahre später öffentlich gemacht«, wusste Peter. »Und Großvater war sehr zurückhaltend. Er brüstete sich niemals mit diesen Kriegsgeschichten.«

»Wir haben Großvater beide bewundert, aber wir fanden ihn auch ein bisschen unnahbar und spießig in seiner altmodischen britischen Art«, erklärte Shane.

»Ich hätte ihn gerne kennengelernt«, meinte Julie. »Meine – unsere – Großmutter Margaret hat nie viel Persönliches über ihn erzählt. Und auch nicht, warum sie sich getrennt hatten. Mir kommt das alles ziemlich rätselhaft vor.«

»Na ja, wahrscheinlich war auch sie einfach nur ein Kind ihrer Zeit«, überlegte Peter. »Vielleicht konnte oder wollte Margaret ihre Gefühle ebenso wenig zeigen wie unser Großvater.«

»Und Großvater sagt in seinen Erinnerungen auch nichts darüber, wie und warum unser Vater in Gefangenschaft geraten ist«, fuhr Peter fort. »Er erklärt auch nirgendwo, wie Philip von seiner Mutter getrennt wurde. Allerdings muss ich gestehen, dass mich dieser Teil der Geschichte auch nicht sonderlich interessiert hat. Unser Vater war ja noch klein, und er sagte immer nur, er erinnere sich an kaum etwas und wir sollten Leuten wie Großvater einfach dankbar dafür sein, dass sie uns von den Japanern befreit haben.«

»Das ist ja alles schön und gut, aber ich bin trotzdem neugierig. Gibt es denn sonst keine Aufzeichnungen? Tagebücher? Habt ihr hier nichts mehr von unserer Großmutter?«, wollte Julie wissen.

Shane zuckte bedauernd die Achseln. »Nein, gar nichts.«

»Für einen kleinen Jungen muss es eine traumatische Zeit gewesen sein. Deshalb wollte euer Vater nicht darüber sprechen«, mutmaßte Julie. »Wie alt war er damals?«

»Drei oder so. Aber ich glaube, er ist dem Vorbild unseres Großvaters gefolgt und wollte nicht über den Krieg reden«, meinte Peter und blickte zu Shane, während sie beide grübelten, was ihnen ihr Vater sonst noch über den Krieg erzählt hatte.

»Stimmt. Aber er hatte doch diese Spielkameradin, Marjorie …«

»Mrs. Carter, genau!«, fiel Shane ein. »Sie waren damals zusammen in dem Lager. Er hat immer gesagt, sie sei für ihn wie eine große Schwester gewesen, die sich um ihn gekümmert hat – seine Kriegs-Amah.«

»Und sie war mit ihm im Lager?«, rief Julie aus. »Habt ihr sie gekannt?«

»Zu der Zeit hieß sie Marjorie Potts. Ihr Vater war in der Kolonialverwaltung tätig, glaube ich«, antwortete Shane.

»Lebt sie noch?«

»Klar doch«, sagte Peter, »sie ist putzmunter. Eine ganz reizende alte Dame.«

»Kann ich sie anrufen?« Begeistert sprang Julie auf.

»He, es ist mitten in der Nacht«, lachte Peter.

»Dann erzählt mir alles, was ihr von dieser Frau wisst«, bat Julie.

»Na ja, wie gesagt, sie waren Spielkameraden im Lager. Allerdings war sie etwa zehn Jahre älter als Dad«, begann Shane. »Nach dem Krieg hielten sie Kontakt, auch als sie in Großbritannien lebte.«

»Hat Dad sie nicht manchmal in den Schulferien besucht?«, unterbrach Peter seinen Bruder.

»Ja, ich glaube schon«, bestätigte Shane. »Später, als sie in Schottland lebte, kam sie im Winter immer nach Malaysia und wohnte in einem Ferienhaus auf Pulau Langkawi, das Dad gehörte. Wir haben es vor ein paar Jahren verkauft, aber sie verbrachte ihre Urlaube weiterhin auf der Insel. Dann hat sie sich in Penang eine Wohnung gekauft, auf dem Penang Hill. Erst neulich haben wir mit ihr im Eastern & Oriental Hotel zu Mittag gegessen. Irgendwo müssten wir auch ihre Telefonnummer haben. Sie ist wirklich nett, auch wenn sie schon über achtzig ist.«

»Ich würde mich gern mal mit ihr unterhalten. Wenn sie mit Onkel Philip befreundet war, erinnert sie sich bestimmt auch an Großtante Bette. Ach, ist das großartig!«, freute sich Julie.

»Ja, vielleicht können wir da morgen was arrangieren«, meinte Shane. »Ähm, könnten wir jetzt den Ton wieder laut machen und das Spiel weiter ansehen?«

Julie lachte. »Ich weiß, das bedeutet euch nicht so viel wie mir, also lasst euch bitte nicht abhalten und schaut weiter Fußball. Ich lese inzwischen noch mal das Notizbuch meines Großvaters. Und vielen Dank, dass ihr es mir gezeigt habt.«


Am nächsten Tag rief Julie ihre Mutter an.

»Mein Schatz, schön, deine Stimme zu hören«, sagte Caroline. »Alles in Ordnung? Oder ist etwas passiert?«

»Ich habe etwas ganz Verblüffendes über Bette herausgefunden – und über deinen Bruder. Es ist echt erstaunlich. Du hast deinem Bruder nicht so nahegestanden, oder? Ich meine, hat dir Onkel Philip jemals etwas vom Krieg erzählt?«

»Nein, gar nichts. Warum sollte er?« Caroline hielt inne und dachte nach. »Wie du weißt, war ich zehn Jahre jünger als Philip, und er wurde auf ein Internat in Großbritannien geschickt. Dann gingen Mutter und ich nach Australien zurück und ließen uns hier nieder. Eigentlich habe ich Philip nie wirklich gekannt. Und über den Krieg haben wir eigentlich nie geredet. Aber was gab es da schon groß zu erzählen?«

»Und Bette? Wo war sie während des Krieges?«

»Auch hier, nehme ich an. Warum fragst du? Was hast du herausgefunden? Jetzt bin ich aber wirklich gespannt. Und geht’s dir gut? Sind die Jungs nett?«

»Ganz großartig. Ich fühle mich hier wunderbar. Wart nur ab, bis ich dir von den Orang-Utans und den Iban erzähle. Das war richtig abenteuerlich. Aber deshalb rufe ich nicht an. Ich habe gerade ein Notizbuch mit den Erinnerungen von Großvater Roland gelesen, und was er über das Schicksal unserer Familie während des Krieges in Malaya schreibt, unterscheidet sich erheblich von dem, was wir immer gedacht haben.«

»Herrje, was willst du denn damit sagen? Ich weiß nicht so recht, was wir über den Krieg in Malaya gedacht haben, weil meine Mutter nie darüber gesprochen hat. Wenn sie von Malaya erzählt hat, dann immer nur über die guten alten Zeiten, bevor die Japaner kamen.«

»Hmm, ich kann mir denken, warum.« Julie atmete tief durch. »Großtante Bette und Philip sind nicht mit dem Schiff aus Singapur geflohen. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber Großmutter hat es aufs Schiff geschafft und Bette und Philip nicht.«

»Was sagst du da? Wie sind sie dann von Malaya weggekommen?«

»Gar nicht, Mama. Sie wurden in ein Kriegsgefangenenlager in Sarawak gebracht.«

Caroline verschlug es hörbar den Atem. »Was? Das ist jetzt kein Witz, oder? Mutter hat also hier in Brisbane gelebt, während ihre Schwester mit Philip in einem Lager interniert waren? Wie schrecklich für die beiden! Und wie fürchterlich für Mutter!«

»Allerdings. Das war wohl kaum beabsichtigt, aber warum hat Großmutter nie davon gesprochen?«

»Ich weiß es nicht. Möglicherweise aus schlechtem Gewissen, weil sie glaubte, sie hätte ihren Sohn im Stich gelassen. Das würde immerhin erklären, warum sie nur über die Vorkriegszeit reden wollte. Ach, wenn ich das doch gewusst hätte, dann hätte ich ihr schon die richtigen Fragen gestellt! Arme Mutter, arme Bette. Und der arme Philip. Wie entsetzlich.« Caroline seufzte. »Hatten die Jungs noch mehr Informationen?«

»Nein, aber im Lager haben sich Bette und Philip mit einem Mädchen angefreundet. Sie blieben auch danach noch in Kontakt.«

»Oh, wie schön. Aber ich nehme an, seit Philips Tod gibt es keine Verbindung mehr, oder?«, fragte Caroline.

»Doch, offenbar schon. Shane und Peter betrachten sie als alte Freundin der Familie, zumal sie auch regelmäßig von Schottland nach Malaysia kommt. Sie mag die kalten Winter nicht. Peter und Shane meinten, ich sollte sie mal anrufen.«

»Na, es wäre doch bestimmt interessant, noch mehr herauszufinden«, pflichtete Caroline ihrer Tochter bei.

»Ich halte dich auf dem Laufenden. Jetzt fliege ich erst mal mit den Jungs und Martine und ein paar von ihren Freunden auf die Insel Langkawi.«

»Wundervoll. Ist David auch dabei?«

»Nein, Mama, er hat zu tun. Mit seiner Forschungsarbeit und so. Bestimmt meldet er sich bei dir, wenn er wieder in Australien ist. Wie ist bei euch der Stand der Dinge?«

»Gut. Die Bezirksverwaltung hat ein Moratorium beschlossen. Mach dir keine Sorgen, Schätzchen, das Haus bleibt schon noch stehen, bis du zurückkommst.«

»Das beruhigt mich.«

»Dieses Telefonat kostet dich doch bestimmt ein Vermögen. Es ist aber auch alles so schrecklich aufregend. Schick mir eine E-Mail, wenn du mehr weißt.«

»Ich wollte dich nur anrufen und es dir sagen. Ich war ja völlig fassungslos«, sagte Julie.

»Das bin ich auch. Jetzt muss ich mich erst einmal zu deinem Vater setzen und das alles verdauen. Pass auf dich auf, Julie.«

»Alles Liebe, Mama.«

»Dir auch alles Liebe. Ich bin wirklich froh, dass du diese Reise gemacht hast.«

»Ich auch.«

Julie legte auf. Ihr wurde klar, dass es noch eine Menge zu sehen gab – und zweifellos gab es auch noch einige Familiengeheimnisse zu entdecken.