»Womit? Mit diesem Schlüssel?« fragte Brandt.
»Ich denke, daß Sie wissen werden, zu welchem Schlosse er gehört, Herr Brandt!«
»Bei Gott, ich habe keine Ahnung davon!«
»Nun, schließen Sie nur auf!«
Er öffnete. Aller Augen waren dabei scharf auf ihn gerichtet. Er blickte in das Zimmer, und ein lauter, fürchterlicher Schrei entfuhr seinen Lippen. Das Entsetzen, welches auf seinem Gesichte lag, war ein wahres. Der Richter hätte jetzt auf die Unschuld des Angeklagten schwören mögen.
»Herr, mein Heiland!« rief Brandt. »Das ist ja der Baron! Todt, oder wohl gar ermordet!«
»Treten Sie ein!« gebot der Amtmann.
Jetzt erst, als er sich in dem Zimmer befand, sah Brandt den fürchterlichen Schnitt am Halse des Todten.
»Gott! Gott!« sagte er, zusammenschaudernd. »Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten! Ihm, meinem Wohlthäter, meinem zweiten Vater! Meine Herren, wer hat das gethan?«
»Das wissen Sie nicht?«
»Ich? Wie soll ich es wissen?«
»Sie waren ja zur Stunde seines Todes bei ihm!«
Brandt sah den Sprecher mit starren Blicken an.
»Mein Herr,« sagte er, »ich will nicht hoffen, daß Sie mich für den Mörder aller Welt halten! Herr Gerichtsarzt, Sie haben die Leiche jedenfalls untersucht. Seit wann ist der Baron todt?«
»Also seit kurz nach meinem Fortgange! Ich wollte ihn warnen, aber er glaubte mir nicht und wies mir die Thür. Nun haben sie ihn doch getödtet!«
»Sie meinen die beiden Schmuggler?«
»Ja.«
»Sie irren. Wie sollten diese Eingang gefunden haben?«
»Gibt es keine Spur hierüber?«
»Die brauchen wir nicht. Der Mörder ist bereits entdeckt.«
»Ah! Wer ist es?«
»Er nahm nach vollbrachter That den Zimmerschlüssel mit, um den Eintritt zu verwehren, damit die That nicht zu früh entdeckt werde. Dieser Schlüssel wurde in Ihrer Tasche gefunden.«
Brandt wußte nicht, was er antworten sollte. In seinem Kopfe wirbelte es wie von lauter Rädern.
»Meine Herren,« sagte er, »ich weiß von diesem Schlüssel nichts. Er muß mir heimlich in die Tasche gesteckt worden sein.«
»So! Eigenthümlich. Ahnen Sie vielleicht, mit was für einem Instrumente dieser gräßliche Schnitt vollbracht wurde?«
»Mit einem sehr scharfen, vielleicht mit einem Rasirmesser.«
»Richtig! Der Mörder hat die Unvorsichtigkeit begangen, das Rasirmesser hier liegen zu lassen. Hier ist es. Kennen Sie es?«
Er hielt ihm das Messer vor die Augen. Brandt taumelte förmlich zurück. Er schlug die Hände zusammen und rief:
»Das ist das meinige! Wie kommt es hierher?«
»Sie müssen das besser wissen als wir!«
Da sammelte er sich. Das war zu viel, zu viel. Er kniete neben dem Todten nieder, legte ihm die eine Hand auf das Herz, erhob die andere und sagte: »Meine Herren, ich schwöre, daß ich weder der Mörder des Hauptmannes von Hellenbach noch dieses edlen Mannes bin. Wenn ich hiermit die Unwahrheit sage, so mag Gott mich richten in diesem Augenblicke und für alle Ewigkeit. Der Schein ist gegen mich. Ich weiß nicht, wie der Schlüssel in meine Tasche und das Messer in dieses Zimmer kommt. Beurtheilen Sie den Fall nicht nach den jetzt vorliegenden Indizien, sondern helfen Sie mir suchen, den wirklichen Thäter zu entdecken. Ich beschwöre Sie bei Gott und Allem, was Ihnen lieb und heilig ist, mich nicht für den Schuldigen zu halten!«
Seine Worte hatten einen tiefen Eindruck gemacht.
»Ich möchte so gern glauben, was Sie sagen,« meinte der Amtmann, »aber es ist nicht mehr als Alles gegen Sie!«
»O nein; es ist nur Eins oder vielmehr nur Einer gegen mich! Und diesem Einen ist es gelungen, sich auf eine wahrhaft teuflisch raffinirte Weise dieser Beweise gegen mich zu bemächtigen.«
»Sagen Sie aufrichtig: meinen Sie Baron Franz?«
»Ja. Wenigstens wüßte ich keinen Anderen.«
»Wie käme er zu Ihrem Messer? Wie käme der Schlüssel in Ihre Tasche. Sie haben das Messer gestern mitgebracht, mit nach dem Forsthause genommen. Ist der Baron dort gewesen?«
»Nein. Aber halt! Da fällt mir ein, daß ich – – ah, ja, meine Herren, als ich den Baron und Alma belauschte, war mir mein Ränzchen hinderlich. Ich legte es hinter den Sträuchern ab. In ihm steckte mein Rasirzeug. Der Baron mußte fliehen. Wie aber, wenn er, um uns Beide zu belauschen, heimlich und leise zurückgekehrt wäre, das Ränzchen gesehen, es neugierig geöffnet und sich eines der beiden Messer bemächtigt hätte, um sich desselben auf die vorliegende Weise gegen mich zu bedienen!«
»Diese Complication scheint mir zu gewagt! Und selbst, die Möglichkeit derselben zugestanden, wie wollen Sie den Umstand mit dem Schlüssel erklären?«
»Auch diese Erklärung ist möglich. Alma nannte mich heut einen Mörder, das raubte mir die Ueberlegung. Sie war vor Entsetzen in Ohnmacht gefallen; ich kniete lange Zeit neben ihr, ohne etwas Anderes als sie zu beachten. Dabei war es leicht, im weichen Boden sich unhörbar heranzuschleichen und mir den Schlüssel in diese offene Seitentasche zu stecken.«
»Und das sollte der Baron gethan haben?«
»Ja.«
»Aus einfacher Eifersucht? Unglaublich!«
»Herr Amtmann, kann man wissen, welche weiteren Gründe mitgewirkt haben? Man sagt, die Verhältnisse des Barons Franz von Helfenstein seien außerordentlich derangirt. Ich weiß es aus dem Munde seines Cousins, der hier als Todter liegt, daß er öfters bedeutende Summen ausgegeben hat, um ihn zu retten und immer wieder zu retten. Haben Sie dieses Zimmer genau untersucht? Haben Sie die Kasse mit den Büchern verglichen?«
»Noch nicht; es wird aber geschehen. Wir haben uns jetzt das Material zu sammeln. Gegen Sie spricht der Schein am meisten; es kann gar nicht Schein genannt werden.«
»Aber bei Gott, es ist Schein, meine Herren! Welche Absicht sollte ich gehabt haben, den Baron und den Hauptmann zu ermorden?«
»Eifersucht. Sie sehen, ich gebe Ihnen ganz dieselbe Antwort, welche ich bekommen habe.«
»Eifersucht? Herr Richter, ich bin nicht so wahnsinnig zu glauben, daß ich meine Augen zu Baronesse Alma erheben darf. Und selbst in dem Falle, daß ich für diese Dame ein tieferes Gefühl im Herzen trüge, würde es mich nicht zum Mörder machen. Gegen den Hauptmann übrigens war Eifersucht unmöglich, denn Alma hatte ihm in meiner Gegenwart gesagt, daß seine Absicht auf ihre Hand eine völlig hoffnungslose sei.«
»Sie besitzen unsere vollste Theilnahme, Herr Brandt. Wir werden nichts versäumen, den rechten Thäter zu entdecken. Eigentlich haben wir Sie jetzt unten im Walde bei der Leiche des Hauptmannes zu vernehmen; damit Sie aber sehen, daß Ihre Versicherung nicht auf hartnäckigen Unglauben stößt, werden wir vorher erst einmal mit Baron Franz diese Stelle aufsuchen. Vielleicht entfällt ihm eine Äußerung, welche uns eine Handhabe gegen ihn bietet. Wir wollen Ihnen nicht übel, ersuchen Sie jedoch, sich geduldig in das Unvermeidliche zu fügen.«
Er wurde einstweilen wieder gebunden und eingeschlossen. Dann mußte der Baron den Herren der Commission nach dem Walde folgen. Er mußte sie ganz genau den Weg führen, welchen er gegangen war; natürlich that er dies auf falsche Weise. Er kannte überhaupt das Terrain so genau, überlegte ein jedes Wort, ehe er es sprach, so scharf, daß der Verdacht bei ihm nicht den mindesten Angriffspunkt fand.
Dann wurde Gustav Brandt geholt.
Eben als der Gensdarm ihn gefesselt die Treppe herunter brachte, fuhren im Hofe einige Equipagen vor. Der König kam mit mehreren Herren seines Hofstaates. Er war sehr oft hier zur Jagd gewesen; er hielt große Stücke auf den alten Förster und kannte auch dessen Sohn genau. Wie betreten mußte er also sein, als er diesen jetzt gefesselt und in der Gewalt eines Gensdarmen sah. Er sprang in mehr als gewöhnlicher Eile aus der Equipage, winkte die Beiden zu sich heran und fragte: »Brandt, was soll das bedeuten? Sie sind gefangen?«
Gustav erglühte vor Scham bis in den Nacken herab.
»Ja, Majestät,« antwortete er kaum hörbar.
»Weshalb?«
»Ich soll ein Mörder sein.«
»Wer wurde ermordet?«
»Der Herr Baron und der Hauptmann von Hellenbach.«
Der Monarch blickte dem jungen Mann scharf in die Augen.
»Das ist ein großes Unglück!« sagte er. »Mein treuer Helfenstein todt, gefallen unter Mörderhand. Wo starb er?«
»Er liegt in seinem Zimmer.«
»Da unten im Walde, unweit der Tannenschlucht.«
»Wohin bringt man Sie jetzt?«
»An den Thatort.«
»Ich gehe mit. Meine Herren, kommen Sie!«
Den Gefangenen, welcher vor Scham tief in die Erde hätte versinken mögen, voran, setzte sich der Zug in Bewegung. Die Herren der Commission staunten nicht wenig, als sie den Monarchen und sein hohes Gefolge erblickten. Der König schaute außerordentlich ernst, ja finster d’rein. Er befahl den Amtmann zu sich, trat mit diesem auf die Seite und ließ sich Bericht erstatten. Eben als der Amtmann zu Ende war, ließen sich nahende, fast stürmisch eilige Schritte hören. Der Förster nahte.
Er hatte im Walde zu thun gehabt und auf dem Heimwege im Dorfe erfahren, was geschehen war und daß sein Sohn des Doppelmordes angeklagt sei. Er war im Dauerlaufe herbeigekommen und drängte sich fast athemlos durch die Menge. Er sah seinen Sohn in Fesseln, er sah alle die Anderen, auch den König; aber er beachtete sie alle nicht, sondern er wendete sich direct an den Amtmann: »Herr Richter,« sagte er, »mein Sohn soll zwei Menschen ermordet haben, hinterrücks ermordet?«
»Regen Sie sich nicht auf, Herr Förster,« bat der Angeredete, »ich gebe Ihnen die Versicherung, daß –«
»Geben? Eine Versicherung geben? Ich brauche sie nicht. Ich will wissen, ob der Junge ein Mörder ist oder nicht!«
»Die Untersuchung wird das resultiren.«
»Die Untersuchung? Ja, die wollen wir sogleich beginnen!«
Er trat zur Leiche des Hauptmannes und untersuchte sie. Dann wendete er sich an seinen Sohn. Sein Gesicht war kalt, fast gefühllos zu nennen.
»Erzähle!« gebot er.
Da trat der Amtmann herbei und sagte:
»Mein lieber Herr Brandt, die Untersuchung zu führen, ist meines Amtes. Sie dürfen überzeugt sein, daß –«
Der Förster unterbrach ihn durch eine rasche Handbewegung und sagte, beinahe aufbrausend:
»Ueberzeugt? Wovon wollen Sie mich überzeugen? Ich kann mich schon selbst überzeugen!« Und sich direct an den Monarchen wendend, fragte er: »Königliche Majestät, ist es mir erlaubt, mit meinem Sohne zu sprechen?«
Es war ein sonderbarer Fall, ein Ausnahme-Fall; aber der Monarch kannte den alten Ehrenmann und nickte ihm Gewährung zu. Dann fragte der Förster seinen Sohn: »Hier an der Stelle, an welcher er liegt, hat ihn die Kugel getroffen?«
»Ja,« antwortete Gustav. »Zwei Kugeln sind es gewesen.«
»Pah! Dann wird mir das Herz leicht. Du bist der Mörder nicht, denn bei Dir hätte es eine Kugel gethan. Wo sind sie hergekommen?«
»Von hier heraus.«
»Wo warst Du?«
»Ich stand hier neben ihm. Er hatte mich gestern beleidigt. Wir trafen uns hier; er war zur Einsicht gekommen und bat mir die Beleidigung ab. Da kamen die Kugeln.«
»So hat Einer geschossen, dem an Eurer Aussöhnung nichts gelegen war, oder der gerade das, worüber Ihr Euch veruneinigt, auch gern haben wollte. Erzähle!«
Gustav erstattete so ausführlich Bericht, wie es ihm möglich war. Als er geendet hatte, blieb selbst dem Amtmanne nichts zu fragen übrig. Der alte Forstmann aber sagte: »Junge, tritt einmal her zu mir! So, gerade vor mich her! Nun guck’ mir in die Augen! Fest, ruhig und offen! Ah, Du kannst es ja noch! Du schlägst die Augen nicht nieder! Du bist unschuldig! Dein Vater kennt Dich! Hättest Du nur mit der Wimper gezuckt, so wärest Du der Mörder, und ich hätte selbst Gerechtigkeit geübt, hier und sofort. Siehst Du, da mit der Doppelbüchse: Eine Kugel für Dich und eine für mich. Dann war es schnell aus mit uns und mit der Schande. Da Du aber unschuldig bist, so gehe mit Gott. Sie führen Dich in das Gefängniß; aber das thut nichts! In unserem Lande giebt es einen guten König und gerechte Richter, und über uns wacht der liebe Gott, und Dein alter Vater und Deine alte Mutter werden für Dich beten!«
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Monate waren vergangen; der Winter war gekommen und hatte dem Frühlinge weichen müssen. Dennoch war Vieles nicht anders geworden. Der Gerichtsarzt hatte recht gehabt. Alma war einem sehr gefährlichen und langwierigen Fieber verfallen, und da sie in dem Processe gegen Brandt die Hauptzeugin war, so mußte die Untersuchung bis zu ihrer Genesung ruhen.
Die pflichteifrigen Beamten hielten es nicht für unmöglich, daß der Angeklagte schuldlos sei. Sie thaten Alles, was zu seiner Rettung in ihrer Macht stand, aber der Beweise gegen ihn waren zu viele und klare, und der Baron verhielt sich so schlau, daß es unmöglich war, gegen ihn vorzugehen.
Als die Voruntersuchung beendet war, hatte man Brandt nach der Residenz gebracht, wo so schwere Verbrechen abgeurtheilt zu werden pflegten. Endlich hatte man das Material zusammen; Beweise für oder gegen ihn schienen nicht mehr auffindbar zu sein, und so wurde der Termin zur öffentlichen Verhandlung festgesetzt.
Drei Tage vor diesem Termine schritten zwei Männer, in einem eifrigen Gespräche begriffen, auf der Vicinalstraße dahin, welche von Helfenstein aus in östlicher Richtung durch das Gebirge führt. Es war der Schmied mit seinem Sohne. Was sie besprachen, schien, nach den Gesten zu beurtheilen, mit denen sie ihre Reden begleiteten, für sie von großer Wichtigkeit zu sein.
»Nun sage mir aber auch, wohin wir gehen,« meinte der Sohn.
»Wohin? Kannst Du Dir das nicht denken?« fragte der Vater.
»O doch!«
»Nun, wohin?«
»Nach der Eisenbahn.«
»Hm! Du denkst, wir werden mit der Bahn fahren? Wohin denn?«
»Nach der Residenz.«
»Und was wollen wir dort?«
»Den Brandt retten. Weißt Du, erst war ich ihm ungeheuer bös, daß er damals der Gesellschaft solchen Schaden gemacht hat, aber er ist mein Schulkamerad und stets ein guter Kerl gewesen, obgleich der ermordete Baron gern einen großen Herrn aus ihm gemacht hätte. Nun werden sie ihn verurtheilen und aufknüpfen, unschuldig, wie wir Beide wissen. Das ist doch sehr traurig, und wir haben ihn auf dem Gewissen!«
»Du redest wahrhaftig wie ein Katechismus!«
»Nun, habe ich nicht Recht? Geht es nach der Residenz?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es hängt das ab von dem Manne, zu dem wir jetzt gehen.«
»Wer ist das?«
»Baron Franz von Helfenstein.«
»Ah! Zu dem willst Du? Was sollen wir bei ihm?«
»Närrischer Kerl, kannst Du Dir das nicht denken?«
»Nein.«
»So bist Du dümmer als Dein Vater.«
»Sage es; da brauche ich nicht zu rathen.«
»Das ist unnöthig. Du wirst hören, was ich mit ihm spreche, und brauchst dann nur immer das zu wollen, was ich will.«
Sie gelangten in ein Dörfchen, welches zu einer Herrschaft gehörte. Der Edelsitz sah eher einem alten Bauernhause als einem Schlosse ähnlich. Er war das einzige und sehr verschuldete Eigenthum des Barons Franz von Helfenstein. Der Sommer war noch nicht in das Land gekommen, die Zeit zu einer Villeggiatur war also noch nicht da; aber der Baron wohnte doch bereits seit einigen Wochen hier. Er war wieder einmal gezwungen gewesen, vor seinen Gläubigern in diese Einsamkeit zu entfliehen.
Er saß höchst mißmuthig in einer nichts weniger als fein möblirten Stube und rauchte eine Cigarre, welche im Tausend gewiß nicht über zwanzig Thaler zu stehen kam. Er hatte Unglück im Spiel gehabt und sich hierher zurückgezogen, um über einen neuen Plan, seine Lage zu verbessern, nachzudenken. Sogar seinen Bedienten hatte er verabschieden müssen, da er nicht im Stande gewesen war, ihm das rückständige Salair auszuzahlen.
Da klopfte es an seine Thür und auf sein mürrisches »Herrein!« sah er den Schmied mit seinem Sohne eintreten, zwei Helfensteiner, welche er recht gut kannte. Sie grüßten ziemlich höflich und blieben an der Thür stehen, um seine Anrede zu erwarten.
»Ihr, Wolf?« sagte er. »Was wollt denn Ihr von mir?«
»Wolf« war nämlich der Familienname der Beiden.
»Wir möchten uns gern einen guten Rath erbitten, Herr Baron,« sagte der Vater.
»Dazu habe ich keine Zeit. Dazu bin ich nicht da!« antwortete er zornig. »Glaubt Ihr denn, wir Freiherren und Barone seien nur da, um Euch Schmieden und Schänkwirthen gute Lehren zu geben!«
»Nicht?« fragte der Schmied gleichmüthig. »Nun, so habe ich es falsch gemacht und umgekehrt ist es richtig!«
»Was? Wie meint Ihr das?«
»Wir Schmiede sind da, um den Freiherren guten Rath zu geben.«
»Alle Teufel!« brauste der Baron auf. »Ich hoffe doch nicht etwa, daß Ihr gekommen seid, um Euch hier einen unzeitigen Spaß zu machen. Heraus mit dem, was Ihr wollt, und dann trollt Ihr Euch so schnell wie möglich davon!«
»Schön. Wir kommen nämlich von wegen dem Gustav Brandt.«
Er horchte auf. Das war ein Thema, welches ihn höchlichst interessirte. Doch wollte er sich dies nicht merken lassen. Er sagte daher im barschen Tone: »Was geht der mich an! Was habe ich mit dem zu schaffen!«
»Vielleicht wenig oder gar nichts, unter Umständen aber auch sehr viel. Darf ich dem Herrn Baron vielleicht eine kleine Geschichte erzählen?«
»Hole Euch der Teufel! Ich bin kein Freund von Euren Dorfgeschichten!«
»O, es ist keine Dorf-sondern eine Räuber-und Schloßgeschichte, die Ihnen sehr gefallen wird.«
Der Baron kannte die Art und Weise dieser Gebirgsleute. Sie wissen, was sie wollen, und sind dann schwer von ihrem Vorhaben abzubringen.
»Na, da erzählt meinetwegen Euer dummes Zeug,« sagte er. »Ich hatte grad so eine Art von Langeweile. Vielleicht vertreibt mir Eure Kloster-, ach so, Eure Räubergeschichte die schlimme Laune. Aber ich mache Euch darauf aufmerksam, daß ich kein Freund von allzu langen Geschichten bin.«
»O, gnädiger Herr, was ich erzählen will, das wird gewiß sehr kurzweilig werden. Sie wissen doch, daß die Verhandlung gegen den Brandt in drei Tagen ist?«
»Ja.«
»Sie müssen auch dabei sein?«
»Natürlich.«
»Denken Sie, daß er verurtheilt wird, daß er wirklich schuldig ist?«
»Hören Sie, Wolf, wie kommen Sie mir vor? Was wollen Sie mit Ihren Fragen? Welches ist überhaupt der Zweck Ihrer Gegenwart?«
»Nun, ich wollte Sie gern fragen, ob es nicht jetzt noch möglich ist, sich in dieser Geschichte als Zeuge zu melden.«
Er erhob rasch den Kopf, warf einen forschenden Blick zu dem Sprecher hinüber und antwortete:
»Das können Sie. Haben Sie vielleicht etwas Neues erfahren?«
»Nein; aber etwas Altes könnte ich erzählen.«
»Was?«
»Nun, Sie wissen, daß wir Schmiede zuweilen ein Stück Naturholz brauchen. Man geht da in den Wald und schneidet es sich ab, wo es nichts kostet; das hilft mir wirthschaften. Nun brauchte ich an dem Tage, an dem die beiden Mordthaten vorkamen, das Holz zu einem neuen Schiebkarren. Ich ging also mit meinem Sohne hier hinaus, um mir ein passendes Stämmchen auszusuchen.«
Das war dem Baron doch zuviel. Dieser Mensch kam, um ihn zum Vertrauten seiner Spitzbübereien zu machen!
»Kerl,« rief er zornig, »was fällt Dir ein, mir das zu erzählen! Soll ich Dich als Holzdieb arretiren lassen?«
»O nein, Herr Baron. Dazu sind Sie zu fein und nobel. Lassen Sie mich weiter erzählen! Wir kamen in die Nähe der Tannenschlucht. Da stand der Brandt mit Baronesse Alma. Sein Gewehr lehnte an einem Baume. War es nicht so?«
Der Baron war bleich geworden. Was wollte der Mann? Was wußte er?
»Sie träumen wohl?« stieß Helfenstein hervor.
»Nein. Damals war es mir allerdings vor Schreck, als ob ich träume. Die Baronesse ging, zu dem Brandt aber trat der Hauptmann von Hellenbach. Da kam noch Einer; der nahm das Gewehr, schoß dem Hellenbach zwei Kugeln in die Brust, warf das Gewehr weg und sprang davon. Nach einer Minute aber war er wieder da und trat als Kläger auf.«
»Mensch, halte den Mund!« rief der Baron, indem er aufsprang und dem Schmiede mit der Faust drohte.
»Oho!« antwortete dieser, »mit einer Schmiedefaust fangen Sie nichts an, Hauptmannsmörder!«
»Kerls! Ihr seid verrückt!«
»Mag sein. Aber ehrliche Leute sind wir doch, denn wir kommen, um Ihnen ganz aufrichtig zu sagen, daß wir im Begriff stehen, nach der Hauptstadt zu gehen, um zu bezeugen, daß der Brandt unschuldig ist.«
»Ihr irrt! Er ist der Mörder!«
»O nein. Wir haben Alles gesehen. Sie sind der Mörder!«
»Das ist nicht wahr. Es müßte Einer gewesen sein, der mir ähnlich ist.«
»O, für so dumm dürfen Sie uns nicht halten! Damit bringen Sie es bei uns nicht weit!«
Er ging einige Male im Zimmer auf und ab. Er sah ein, daß er verloren sei, wenn diese beiden Männer gegen ihn zeugten.
»Ihr könnt Euch gar nicht mehr melden!« meinte er.
»Warum nicht?«
»Weil Ihr dafür bestraft würdet, daß Ihr bisher geschwiegen habt.«
»Unsinn! Ein solcher Zeuge kommt immer noch zur rechten Zeit. Uebrigens könnten wir sagen, daß Sie gedroht hätten, Sie würden uns erschießen, wenn wir es verrathen.«
»Kerls, Ihr seid ja die richtigen, echten Bösewichter!«
»Aber doch keine Mörder!«
»Aber, warum kommt Ihr denn da zu mir, um mir zu sagen, was Ihr zu thun beabsichtigt?«
»Hm!« meinte der Schmied unter einem schlauen Lächeln. »Vielleicht gehen wir doch nicht nach der Residenz.«
»Ja, das wäre das Gescheiteste.«
»Für Sie allein! Aber dennoch, vielleicht sehen wir ruhig zu, daß der Brandt aufgeknüpft wird.«
»Macht, was Ihr wollt!«
»Schön! Komm, Junge! Hier sind wir fertig.«
Er machte Miene, zu gehen. Da aber stellte der Baron sich ihm schnell in den Weg und sagte:
»Mensch, bist Du toll! Was hast Du davon, wenn sie den Brandt frei lassen!«
»Ich habe meine Pflicht gethan!«
»Aber nichts dafür bekommen!«
»Bekomme ich für das Gegentheil etwas?«
»Natürlich! Ihr Schufte seid ja doch nur gekommen, um Euch für Euer Schweigen eine Bezahlung zu erpressen!«
»Das gebe ich freilich zu!« gestand der Schmied sehr aufrichtig.
»Nun gut! Wieviel verlangt Ihr?«
»Wieviel bieten Sie?«
Da sah ihn der Schmied an, als ob er ein Wunderthier anzustaunen habe, schlug ein schallendes Gelächter auf und rief: »Fünfzig Thaler? Hörst Du es, Junge? Fünfzig Thaler, lumpige fünfzig Thaler für die Ehre und das Leben eines Barons! Das hätte ich nicht gedacht!«
»Gut, ich gebe hundert!«
»Viel, viel zu wenig!«
»Wieviel wollt Ihr denn?«
»Grad heraus und kurz gesagt, zehntausend Thaler.«
Da fuhr der Baron zurück, als ob er von einer Natter gebissen worden sei. Er sagte:
»Zehntausend Thaler? Mensch, Du bist zehntausendmal verrückt. Das ist ja ein ganzes Vermögen!«
»Freilich!« antwortete der Schmied trocken. »Ich will nämlich reich werden.«
»Was geht das mich an! Wenn ich es auch geben wollte, ich könnte es doch nicht geben. Ich bin ja selbst arm!«
»Borgen Sie es sich!«
»Wer soll mir eine solche Summe borgen!«
»Hm! Ja, ja! Ich weiß gar wohl, daß es mit Ihrem Beutel nicht sehr gut bestellt ist. Aber vielleicht läßt sich da helfen. Geben Sie uns einen Wechsel!«
»Kerls, was versteht Ihr denn von einem Wechsel!«
»Ich meine nämlich einen Wechsel auf Sicht,« fuhr der Schmied ganz unbeirrt fort.
»Der würde Euch ja auch nichts nützen!«
»Warum nicht?«
»Ich könnte ihn ja gar nicht bezahlen!«
»O, wir würden Sie schon so weit bringen, daß Sie im Stande wären, so eine kleine Summe zu bezahlen!«
Er horchte auf und sagte:
»Ich verstehe Euch nicht. Erklärt Euch deutlicher!«
»Hm! Da giebt es doch nicht viel zu erklären! Sie heißen ja Baron Helfenstein!«
»Was nutzt mir das?«
»Helfenstein ist doch eine große, reiche Besitzung!«
»Aber sie gehört mir nicht.«
»Daran sind Sie selbst Schuld. Sie sind ja der Erbe!«
»Ja, wenn das Kind nicht wäre!«
Der Schmied schnipste mit den Fingern und meinte verächtlich:
»Das Kind! Hm, das Kind! Wem kann ein Kind im Wege sein!«
Der Baron trat an das Fenster und blickte eine Weile lang sinnend hinaus. Tausendmal schon hatte er daran gedacht, das Kind auf die Seite schaffen zu lassen. Er selbst wollte es nicht thun, und wo fand sich Einer, dem er vertrauen konnte? Hier nun boten sich gleich Zwei freiwillig an. Dazu kam, daß, wenn er ihnen das Geschäft übertrug, er sie auch in Beziehung auf die Ermordung des Hauptmannes zum Schweigen brachte. Und da waren zehntausend Thaler keine große Summe. Er drehte sich also zu ihnen um und sagte: »Wolf, ich glaube, Ihr habt mir einen Vorschlag zu machen?«
»Ja,« antwortete der Schmied schnell.
»Nun, welchen?«
»Sie geben mir heut einen Wechsel auf Sicht über die zehntausend Thaler.«
»Was habe ich dafür?«
»Erstens gehen wir nicht nach der Residenz, und zweitens sind Sie in kurzer Zeit Besitzer der ganzen Herrschaft Helfenstein. Sind Sie es zufrieden?«
»Wann wird der Wechsel präsentirt?«
»Sobald wir merken, daß Sie ihn ohne große Opfer einlösen können. Sie sehen, wir sind sehr gefällig.«
»Hole Euch der Teufel! Aber ich will Euch gestehen, daß ich Euch nicht für solche Spitzbuben, sondern für ganz und gar ehrliche Leute gehalten habe.«
»Hm! Wir zum Beispiel haben Sie stets für einen Spitzbuben gehalten, gnädiger Herr Baron!«
»Mensch! Schlingel! Was fällt Dir ein!«
»O, wenn ich unter Kameraden bin, nehme ich niemals ein Blatt vor den Mund. Sie müssen nämlich wissen, daß ich schon seit einer langen Reihe von Jahren bei den Schmugglern bin.«
»Ah! Wirklich?« fragte er rasch. »Bringt das viel ein?«
»Ungeheuer! Es ist sicherer als das Hazardspiel. Wäre ich ein vornehmer und reicher Herr, ich spielte niemals ein anderes Spiel, als den Schmuggel.«
»Sie mögen recht haben. Wollen später einmal sehen! Also, sind wir einig? Zehntausend Thaler?«
»Ja. Es gilt?«
»Ich bin dabei. Hier meine Hand!«
»Und hier die unserige!«
Die Drei schlugen ein. Der Freiherr hatte sich mit den beiden Schmugglern verbündet, um eine Baronie zu bekommen. Als sie von ihm fortgingen, den Wechsel in der Tasche, ahnte er nicht, welchen Einfluß diese unscheinbare Bekanntschaft für seine Zukunft haben werde.
Als sie das Dorf im Rücken hatten, meinte der Sohn:
»Zehntausend Thaler auf einen Schlag, das ist ungeheuer viel. Aber nun dauert mich doch der arme Brandt’s Gustav!«
»Warum denn?«
»Er wird jedenfalls hingerichtet!«
»Unsinn! Selbst wenn er zum Tode verurtheilt würde, ist vorauszusehen, daß ihn der König begnadigt.«
»Du meinst, er schenkt ihm die Strafe ganz?«
»O nein. Er bekommt lebenslänglich Zuchthaus.«
»Brrr! Das ist viel, viel schlimmer als der Tod!«
»Möglich! Aber er kommt ja auch gar nicht in das Zuchthaus!«
»Wohin sonst?«
»Er kann gehen, wohin er will!«
»Vater, Du redest wohl irre?«
»Das fällt mir nicht ein! Ich weiß, was ich sage. Oder denkst Du denn etwa, daß ich einen Unschuldigen bestrafen lasse, wenn ich schuld bin, daß er nicht freigesprochen wird? Ich bin ein Schmuggler; aber doch ein ehrlicher Kerl!«
»Aber das Kind, den kleinen Robert von Helfenstein, willst Du doch umbringen!«
»Wer hat denn das gesagt? Kerl, Du mußt noch viel, sehr viel wachsen, ehe Du ein solcher Pfiffikus wirst, wie Dein Vater ist! Der kleine Robert bleibt leben; der Baron aber muß denken, er sei todt. Dann habe ich ihn für alle Zeit in der Hand; denn wenn ich den Robert wiederbrächte, müßte er Alles wieder hergeben.«
»Aber die Sache hat dennoch einen sehr großen Haken!«
»Das sehe ich nun doch nicht ein.«
»Der Robert darf doch nicht verschwinden!«
»Nein, sondern er muß wirklich todt sein.«
»Aber dann kann er doch nicht wieder erscheinen. Oder soll da ein falscher Robert kommen?«
»Nein, sondern der richtige. Hast Du nicht gehört, daß der Botenfrau ihr Kleiner heute Nacht gestorben ist?«
»Ja.«
»Nun, wir holen den Robert und legen den todten Knaben dafür in das Bette.«
»Das kommt ja sofort heraus. Dadurch läßt sich Niemand betrügen. Baronesse Alma kennt ihr Brüderchen zu genau, als daß sie es mit dem Jungen der Botenfrau verwechseln könnte.«
»Das ist richtig! Aber, wenn man nun auf den Gedanken käme, ein Streichholz mit hinzuzulegen?«
»Ah, Du meinst das Bettchen verbrennen?«
»Ja. Sie denken dann, der kleine Robert sei verbrannt. Und an den verbrannten Ueberresten der Leiche können sie doch nicht sehen, daß eine Verwechselung stattgefunden hat.«
»Dieser Plan ist gut. Wann führen wir ihn aus?«
»In drei Tagen, wenn die Baronesse nach der Residenz ist, um in dem Prozesse als Zeugin zu dienen.«
So war dem Baron ein unerwarteter Zeuge seiner That erstanden. Er ahnte nicht im Mindesten, daß es noch einen Zweiten gebe; aber bereits am anderen Tage stellte sich ein solcher ein. Nämlich ein Wagen hielt vor seiner Thür, und aus demselben stieg zu seiner freudigsten Ueberraschung Ella, die Zofe seiner Cousine.
Was wollte dieses Mädchen? Einen solchen Besuch hätte er gar nicht für möglich gehalten. Das üppig schöne Mädchen war ihm im höchsten Grade willkommen, da er hoffen durfte, ein süßes Schäferstündchen mit ihr zu verleben. Er eilte ihr deshalb bis unter die Thür entgegen und breitete dort seine Arme aus, um sie an sein Herz zu drücken.
»Halt!« sagte sie lachend. »Nicht so sanguinisch, mein lieber Baron! Es giebt noch Mädchen, welche Grundsätze haben!«
»Ich finde das geradezu allerliebst, falls nämlich diese Grundsätze liebenswürdig sind.«
»Es gilt die Probe. Die meinigen scheinen es jedoch nicht zu sein.«
»Warum, schöne Ella?«
»Weil Sie mich selbst nicht liebenswürdig finden.«
»Sie irren sich. Sie irren sich sogar ganz gewaltig. Ich habe ja noch niemals ein so reizendes Mädchen gefunden, wie Sie es sind!«
»Und doch wird es Ihnen so leicht, ein vorher bestimmtes Rendezvous aufzuheben. Ist dies wirklich ein Zeichen, daß ich so reizend bin?«
»Wieso? Ah, ja, ich besinne mich! Damals! Aber da ging es nicht anders. Es kam da der so gewaltsame Tod meines lieben Cousin drein.«
Sie hatten mittlerweile das Zimmer erreicht. Sie nahm ohne alle Umstände auf dem Sopha Platz und er setzte sich neben sie.
»Ja,« sagte sie, fortfahrend. »Es war ein sehr gewaltsamer Tod, ein Verlust, der Sie jedenfalls sehr schmerzlich betroffen hat.«
»Ueber alle Maßen, meine süße Ella. Aber, wollen Sie denn nicht diesen neidischen Umhang ablegen, welcher mir grad den schösten Theil Ihrer Figur verhüllt?«
»Nehmen Sie ihn immerhin weg, mein Lieber. Sie wissen, ich bin nicht prüde, wenn ich mich bei Ihnen befinde.«
»Das ist es ja eben, was mich mit Glück erfüllt.«
Er entfernte den Umhang und zog das verführerische Mädchen zu sich heran und sagte:
»Sie glauben es doch, daß Ihre Anwesenheit mich glücklich macht?«
»Wie könnte ich es glauben? Aber prüfen möchte ich es einmal.«
»Prüfen Sie es,« sagte er, sie wiederholt küssend. »Sie werden finden, daß ich die Wahrheit sage.«
»Bleibt mir die Art und Weise der Prüfung überlassen?«
»Ja, gewiß. Aber ehe Sie beginnen, erlauben Sie mir erst, Ihre rosigen Lippen zu küssen.«
Er führte aus, was er gesagt hatte, und sie setzte ihm nur wenig Widerstand entgegen.
»So, ist es nun genug?« fragte sie nach einer Weile.
»Eigentlich noch nicht, noch lange, lange nicht! Man möchte den Mund gar nie von dieser Schönheit trennen.«
»So will ich meine Prüfung mit der Frage beginnen, warum Sie diese Schönheit, für welche Sie so begeistert zu sein scheinen, dennoch nicht für Ihr Eigenthum erklären?«
»Kann ich das? Weiß ich denn, ob Sie mein Eigenthum sein wollen, Ella?«
»Sie können das ja mittelst der einfachsten Fragen erfahren.«
Da drückte er sie mit dem Feuer der heißesten Liebesgluth an sich und sagte dann:
»So will ich ja nicht säumen, diese Frage auszusprechen. Wollen Sie mein sein, Ella? Mein unbestreitbares Eigenthum?«
»Auf wie lange, mein Herr?« lächelte sie schnippisch.
»Natürlich für immer und ewig!«
»Dann sage ich von ganzem Herzen ein Ja!«
»Ich danke Dir, Du süßes, entzückendes Wesen! Darf ich denn auch sogleich von meinen Eigenthume Besitz ergreifen?«
»Müßte man nicht vorher das Wort Eigenthum durch eine kleine Beifügung bestimmter bezeichnen?«
»Welche Beifügung meinen Sie?« fragte er neugierig.
»Die Beifügung ›privilegirt‹. Ihr privilegirtes Eigenthum werde ich gerne sein, Ihr unprivilegirtes aber niemals.«
Er machte eine etwas enttäuschte Miene. Sie bemerkte das sehr wohl, that aber so, als ob sie gar nicht darauf Acht gebe.
»Was nennen Sie privilegirt?« fragte er.
»Nur der Titel Frau gewährt ein Privilegium.«
Da stieß er ein kurzes, verlegenes Lachen aus und fragte:
»Wie? Sie wollen meine Frau werden? Die Frau eines Freiherrn, die Frau des Barons von Helfenstein?«
»Warum nicht? Sie sagen mir doch, daß Sie mich lieben, daß meine Gegenwart Sie glücklich mache, daß ich Sie prüfen soll.«
»Kind, das kann ja Alles auch ganz gut ohne diese nüchterne, prosaische Verheirathung geschehen.«
»Pah! Die Maitresse eines Mannes, selbst wenn er ein Freiherr ist, mag ich niemals werden!«
»Maitresse! Welch garstiger Name! Läßt sich denn keine andere, bessere Bezeichnung für ganz dasselbe Verhältniß finden?«
»Die Sache bleibt dieselbe trotz der anderen Bezeichnung. Ich habe Sie lieb und bin bereit, Sie glücklich zu machen, aber nur unter der Bedingung, daß ich Ihre Frau werden soll.«
»Sie kleiner, süßer Schäker! Sie sprechen doch nur im Scherze?«
»O, ich spreche im Gegentheile sehr im Ernste.«
»So thun Sie mir leid! Meine Frau können Sie nie werden. Aber ich hoffe, daß Sie so verständig sein werden, auf diese Dummheit zu verzichten. Wir können glücklich sein, ohne den Pfarrer erst um die Erlaubniß dazu zu fragen.«
»Ich verzichte auf ein unsanctionirtes Glück. Für wen ich so große und schwere Opfer bringe, dessen Person und Besitz muß mir sicher sein.«
»Opfer? Was meinen Sie? Ist ein Kuß, eine Umarmung ein Opfer? Was Einen glücklich macht, kann doch niemals ein Opfer sein.«
»Von Kuß und Umarmung spreche ich ja nicht. Ich habe Ihnen bisher den Frieden meiner Seele, die Ruhe meines Gewissens zum Opfer gebracht, das thut man nur für den Mann, dessen Weib man ist.«
»Frieden der Seele? Ruhe des Gewissens?« fragte er erstaunt. »Es ist mir unmöglich, Sie zu verstehen.«
»Das begreife ich nicht. Ist es nicht gegen alles Gewissen, einen Unschuldigen verurtheilen zu lassen, während der Schuldige in Ehren lebt?«
Er verfärbte sich. Was wollte dieses Mädchen? Hatte auch sie eine Ahnung von dem eigentlichen Sachverhalte?
»Sie sprechen wirklich in Räthseln!« sagte er. »Sie sprechen von einem Schuldigen und einem Unschuldigen. Wer ist damit gemeint?«
»Das begreifen Sie wieder nicht? Da muß ich Sie an jene Mordnacht erinnern. Sie wissen, daß Gustav Brandt eingestanden hat, bei dem Baron gewesen zu sein.«
»Allerdings. Da hat er ihn ermordet.«
»O nein. Ich weiß das sehr genau, denn ich bin darnach auf einen Augenblick im Zimmer des gnädigen Herrn gewesen, welcher in vollstem Wohlsein an seinem Tische saß.«
»Donnerwetter! Darüber schweigen Sie ja! Man könnte sonst denken, daß Sie ihn umgebracht haben!«
»Ich würde meine Unschuld beweisen können.«
»O, das bezweifle ich sehr! Wie wollten Sie das anfangen?«
»Wie nun, wenn auch nach mir noch Jemand beim Baron gewesen wäre?«
»So spät? Man würde es nicht glauben.«
»Höchst wahrscheinlich doch. Hätte ich den Baron getödtet, so wäre derselbe doch von diesem Jemand todt aufgefunden worden und es hätte sofortige Anzeige erfolgen müssen. Das ist aber nicht geschehen.«
Er warf einen forschenden Seitenblick auf sie und fragte, indem seine Stimme einen belegten Klang annahm: »So! Hm! Wollen Sie mir nicht eingestehen, daß dieser Jemand in das Reich der Fabel gehört?«
»Haben Sie vielleicht jemals bemerkt, daß ich gern fabulire?«
»Allerdings nicht. Sie sind mir im Gegentheil stets als realistisch, ja sogar als materiell oder substantiell vorgekommen. Aber heut will es mir scheinen, daß auch Sie es mit jenem berühmten Unbekannten zu thun haben, welcher in Untersuchungssachen eine so große Rolle zu spielen pflegt.«
»Sie wären zu dieser Vermuthung nur dann berechtigt, wenn mir Derjenige, von welchem ich behaupte, daß er nach mir beim Baron gewesen sei, nicht bekannt gewesen wäre. Ich habe ihn aber so genau recognoszirt, daß er der Strafe unmöglich entgehen kann. Ich weise nach, daß er der Mörder ist.«
»Donnerwetter!« rief er, sich von seinem Sitze erhebend. »Sie scheinen an jenem Abende ja ganz bedeutend spionirt zu haben!«
»Ich gebe das zu, füge aber die Bemerkung bei, daß ich Ursache dazu hatte. Ich war von einem Herrn, welcher vorgab, mich zu lieben, in den Garten bestellt worden. Er nahm diese Bestellung zurück. Dies erregte mein Mißtrauen und darum beobachtete ich ihn.«
Es begann ihm vor den Augen zu flimmern.
»Meinen Sie etwa mich?« fragte er. »Ich entsinne mich, an jenem Abende mit Ihnen ein Rendezvous für Mitternacht verabredet zu haben.«
»Ja, Sie sind es, welchen ich meine!«
»Sie irren! Sie haben einen Anderen für mich gehalten!«
»O nein!« lächelte sie. »Liebende pflegen einander genau zu erkennen. Ich ahnte allerdings nicht, was geschehen war; aber ich wollte gern wissen, was Sie zu so später Stunde noch bei dem Barone zu thun gehabt hatten. Darum wollte ich mich unter irgend einem plausiblen Vorwand zu diesem begeben, bemerkte aber, daß Sie den Schlüssel abgezogen hatten. Er fand sich in der Tasche Brandt’s. Sie haben im Walde Gelegenheit gefunden, ihn da hinein zu eskamotiren.«
»Weib! Mädchen!« rief er. »Was fällt Ihnen ein! Sie wollen sagen, daß ich der Mörder bin?«
»Ja,« antwortete sie ruhig und bestimmt.
»Sie sind nicht bei Sinnen! Sie leiden an Halluzination!«
»Ich habe diese Krankheit niemals gekannt. Sie wissen, daß neben den Anderen auch wir Beide, Sie und ich, in der Residenz zu erscheinen haben, um während der Verhandlung gegen Brandt als Zeuge zu dienen. Ich habe aus Rücksicht für Sie bisher gezögert; nun aber werde ich endlich die Wahrheit sagen müssen.«
»Warum haben Sie bisher geschwiegen?« fragte er beinahe höhnisch. »Man wird Ihnen nun nicht glauben!«
»Vielleicht doch. Ich hatte zwei sehr triftige Gründe, zu schweigen. Ihnen kann ich sagen, daß ich aus Rache gegen Brandt schwieg, da er die eigentliche Ursache vom Tode meines Bruders ist, und aus Liebe zu Ihnen, den ich nicht unglücklich machen wollte. Den Richtern aber werde ich sagen, daß mir die Verantwortlichkeit, welche ich auf mich zu laden habe, anfänglich zu schwer erschienen sei. Es handelt sich jedenfalls um ein Todesurtheil. Ich glaubte, daß man den Schuldigen auch ohne mich entdecken werde. Nun aber, da ich sehe, daß ein Unschuldiger verurtheilt werden soll, muß eine jede falsche Bedenklichkeit schwinden. Sie sehen ein, daß meine Aussage eine außerordentliche Wirkung hervorbringen wird.«
»Sie wird aber doch eine falsche sein!«
»O nein! Ich habe ganz genau erkannt und kann tausend Eide schwören, daß Sie es waren. Brandt behauptet, nicht geschossen zu haben, und Sie befanden sich unbemerkt in seiner unmittelbaren Nähe. Man wird diese Aussage mit der meinigen vergleichen; man wird weiter schließen und forschen; man wird zu Ergebnissen kommen. Mit einem Worte: man wird Sie an Brandt’s Stelle in die Untersuchungszelle sperren.«
Er mußte einsehen, daß die Perspektive, welche sie ihm hier stellte, eine große Wahrscheinlichkeit für sich habe; er starrte ihr eine ganze Weile lang wortlos in das Gesicht, wendete sich dann rasch ab, schritt einige Male im Zimmer auf und ab und sagte endlich, vor ihr stehenbleibend: »Wissen Sie, daß Sie ein Ungeheuer sind?«
»Ah! Wer ist ungeheuerlicher und abscheulicher, der Mörder oder die Zeugin, welche ihn seiner That überführt?«
»Aber ich bin ja gar nicht der Mörder!«
Da erhob sie sich von ihrem Sitze, legte die Hand auf seine Schulter und fragte ihn, indem sie ihren Blick flammend in sein Auge bohrte: »Baron, wollen Sie, daß ich Sie verachte?«
»Verachten? Wieso?«
»Der Mord ist durch das Gesetz verboten; aber der Mörder ist doch ein muthiger Mann, vor dem eine Frau Respect haben muß, ja, für den sie sogar Sympathie empfinden kann. Wer aber seine That leugnet, und zwar vor einem Wesen, welches es herzlich gut mit ihm meint, der ist feig, der ist geradezu verächtlich.«
Sie drehte sich stolz von ihm ab. Sie war in diesem Augenblicke sinnberückend schön. Sie stand am Fenster; er sah ihr zornig schönes Gesicht, ihren glänzenden Nacken, ihre vollen Schultern und Arme, ihren üppigen Busen, welcher sich lebhaft auf und nieder bewegte. Er war ein gott-und rücksichtsloser, ein sinnlicher Mensch; es riß ihn zu ihr hin; er ergriff ihre Hand und fragte: »Sie behaupten, daß Sie es herzlich gut mit mir meinen? Haben Sie da die Wahrheit gesagt, Ella?«
Sie drehte sich rasch zu ihm herum, warf ihm die Arme um den Nacken, drückte ihn fest und mit mehr als Innigkeit an sich und antwortete: »Kannst Du daran zweifeln, Franz?«
»Muß ich nicht zweifeln, da Du gegen mich als Anklägerin auftreten willst? Du willst mich also in den Tod treiben!«
»Kann ich anders? Frage Dich selbst und gieb mir dann Antwort!«
»Ich begreife Dich nicht! Meine Antwort kann doch nur so lauten, daß man Den, welchen man liebt, nicht in das Verderben stürzt.«
»Willst Du nicht die Frage nach der Gegenliebe auch mit in Rechnung ziehen? Wenn ich schweige und ein Unschuldiger wird dadurch zum Tode verurtheilt, so bin ich seine Mörderin. Dieser Mord fällt so schwer auf das Gewissen, daß die Last nur durch das Glück, wieder geliebt zu werden, ausgeglichen wird.«
»Du meinst, daß Du schweigen würdest, wenn Du meiner Gegenliebe sicher wärst?«
»Ja, das will ich damit sagen.«
»So kenne ich keinen Grund, an meiner Liebe zu zweifeln!«
»Du selbst hast ihn mir vorhin an die Hand gegeben, als ich davon sprach, daß nur die privilegirte Liebe ein wirkliches Glück gewähren kann. Um einen Mord verschweigen zu können, muß ich nicht die Geliebte, sondern die Frau des Mörders sein!«
Da wand er sich aus ihrer Umarmung los und sagte:
»Das soll heißen, Du wirst mich denunziren, wenn ich Dir nicht gestatte, Baronin von Helfenstein zu sein?«
»Genau so!«
»Das ist zuviel verlangt! Das kann ich unmöglich gewähren. Der Stammbaum der Helfenstein darf nicht durch eine Mesalliance be– be– be–«
»Besudelt werden!« fiel sie ein. »Gut, Herr Baron! Wir sind also miteinander fertig, und es wird sich zeigen, wodurch ein Stammbaum mehr befleckt wird, durch eine Ehe oder einen Mord. Sie hatten die Wahl zwischen mir und dem Schafotte; Sie haben gewählt, und ich kann gehen.«
Sie warf mit einer entschlossenen Miene den Kopf zurück, griff zu ihrem Umhang, den sie um die Schultern nahm und entfernte sich.
Er ließ sie bis zum Hausflur kommen, dann aber übermannte ihn die Angst. Er wußte, wie resolut sie war, und fühlte sich überzeugt, daß das Bewußtsein, von ihm verschmäht zu sein, sie zur rücksichtslosesten Rache antreiben werde. Er eilte ihr nach, ergriff sie beim Arme und sagte: »Bitte Ella, nicht so rasch entscheiden! Treten Sie wieder ein! Wir können ja sehr leicht ein Uebereinkommen treffen, welches Sie vollständig befriedigen wird.«
Sie schüttelte sehr ernst den Kopf und antwortete:
»Es giebt nur ein einziges solches Uebereinkommen, und das heißt nicht anders als ›Ehe‹. Ich lasse mir nichts abhandeln.«
Da zuckte es wie ein schneller Entschluß über sein Gesicht. Er sagte sich, daß es sich doch nur um eine augenblickliche Befriedigung handele. That sie jetzt noch eine falsche Aussage vor Gericht, so konnte sie später gar nichts erreichen, sie hätte sich dann ja selbst anklagen müssen. Darum ergriff er ihre Hand und sagte im freundlichen Tone: »Nun, wir werden wohl auch darüber einig zu werden wissen. Treten Sie nur ein, damit wir weiter verhandeln können.«
»Gut, ich will es noch einmal versuchen, sage es Ihnen aber ganz aufrichtig, daß ich nicht mit mir spielen lasse.«
Er führte sie in das Zimmer zurück und begann von Neuem:
»Würden Sie sich mit einer Geldbelohnung begnügen? Ich liebe Sie, ich liebe Sie sogar recht herzlich; aber ich kann doch unmöglich mit den Traditionen meiner Familie brechen!«
»Indem Sie Mörder wurden, haben Sie mit denselben gebrochen. Oder sind vielleicht die Helfensteins alle und stets Mörder gewesen?«
»Sie nehmen das zu streng!«
»O nein, mein Lieber! Uebrigens, wie wollen Sie mir eine Gratification in Geld bezahlen. Ich weiß ja sehr genau, daß Ihre Verhältnisse vollständig derangirt sind. Sie wären wohl kaum im Stande, mir heut lumpige hundert Thaler zu zahlen. Ich bin ja selbst reicher als Sie, denn da mein Bruder keine Kinder hinterließ, bin ich seine einzige Erbin gewesen. Sie werden niemals ein Vermögen wie das meinige besitzen, obgleich dies kein bedeutendes ist. Auch in dieser Beziehung muß es Ihnen willkommen sein, wenn ich Ihnen meine Hand anbiete.«
»Sie irren! Ich bin der festen Ueberzeugung, daß ich einmal sehr reich sein werde.«
Sie erhob die Hand und drohte warnend mit dem Zeigefinger.
»Herr Baron, ich weiß, woran Sie denken. Ihren Berechnungen vermag ich sehr gut zu folgen!«
»Wieso?«
»Am Abende wurde der Baron ermordet, am anderen Morgen sein projectirter Schwiegersohn; Der, welcher Alma liebte, wird als Mörder hingestellt. Dadurch sind drei Personen aus dem Wege geräumt. Glauben Sie etwa, die Hand Alma’s zu erhalten?«
»Nein.«
»Dies ist das einzige, ehrliche Wort, welches Sie mir heute gesagt haben. Alma wird überhaupt nicht die Herrschaft Helfenstein besitzen können; diese gehört ihrem Brüderchen, dem kleinen Robert. Leider aber bin ich überzeugt, daß der Knabe auch bald sterben wird.«
Der Baron erschrak. Ahnte dieses Mädchen seine Pläne wirklich so genau? Er versuchte in dem gleichgiltigsten Tone zu fragen: »Wie? Sterben? Leidet er denn seit Kurzem an einer Krankheit?«
»Ja, und zwar an einer ebenso lebensgefährlichen wie unheilbaren.«
Seine Augen leuchteten befriedigt auf. So war also der Knabe krank geworden! Welch’ ein Glück! Er fragte rasch: »Welche Krankheit wäre das?«
»Ein Vetter, welcher ihn beerben will.«
Bei diesen Worten richtete sie ihre Augen so überlegen forschend auf sein Gesicht, daß er sich nicht zu beherrschen verstand. Er erröthete bis hinter die Ohren, faßte sich aber schnell und sagte: »Sie sind boshaft, ganz verteufelt boshaft, Ella!«
»O nein, mein Lieber! Ich verstehe es nur, den Grund Ihrer Handlungen ausfindig zu machen. Doch, streiten wir uns darüber nicht! Sagen Sie mir einfach Antwort auf die Frage, welche ich an Sie richten muß!«
Er wiegte den Kopf hin und her und meinte endlich lächelnd:
»Ob ich mich von Ihnen heirathen lassen will?«
»Ja.«
»Nun, vielleicht finde ich mich d’rein!«
»Ich mag kein Vielleicht hören! Antworten Sie bestimmt!«
Da legte er den Arm um sie, zog sie an sich und flüsterte zärtlich:
»Mädchen, Mädchen! Wenn ich Dich nur nicht so lieb hätte!«
Dabei küßte er sie auf den Mund, und zwar in jener Weise, welche den frivolen Roué zu kennzeichnen pflegt. Sie durchschaute ihn; sie wußte, daß er daran dachte, sie zu betrügen; aber sie ließ sich das nicht merken. Sie schlang vielmehr auch ihre Arme um seinen Hals, erwiderte seine Küsse so glühend, als ob sie an seine Liebe glaube und antwortete, indem ihr Gesicht vom Glück zu strahlen schien: »Mehr als ich Dich liebe, liebst Du mich nicht. Also sag’, soll ich Dich für immer besitzen? Soll ich Dein Weib werden?«
»Ja, ja, Du süßes, reizendes Wesen. Mögen die Angehörigen meines Standes mich verurtheilen; ich lache über sie, denn ich bin überzeugt, daß wir endlos glücklich sein werden!«
»Wenigstens meine Aufgabe wird es sein, Dich diesen Schritt niemals bereuen zu lassen.«
»Die meinige auch. Aber nun darf ich wohl auch in Beziehung auf Brandt ruhig sein?«
»Ja, mein Lieber! Vorausgesetzt natürlich, daß Du mir Garantieen bietest, denen ich vertrauen kann.«
»Garantieen verlangst Du?« fragte er enttäuscht.
»Natürlich!«
»Aber warum denn nur?«
»Siehst Du das nicht ein?« meinte sie, ihm sehr zärtlich die Wangen streichelnd. »Ich weiß, was für ein kleiner, liebenswürdiger Schäker Du bist. Ich halte Dich sogar für ein Wenig sehr vergeßlich. Wie nun, wenn Du nach der Verhandlung, nach Brandt’s Verurtheilung nicht mehr an das dächtest, was Du mir versprochen hast?«
»Das ist ja ganz und gar nicht möglich!«
»O doch, o doch! Ich werde Dich vielmehr ersuchen, mir das Versprechen der Ehe schriftlich zu geben.«
»Alle Teufel! Wo denkst Du hin?«
»Du meinst, daß dies noch immer keine Sicherheit bietet? Ja, da hast Du Recht. Du wirst Dich also nachher mit mir zum Pfarrer bemühen, um ihm zu erklären, daß ich Deine Verlobte bin.«
»Verdammt! Das werde ich allerdings unterlassen!«
Ihr Gesicht nahm einen hoch ironischen Ausdruck an. Sie fuhr fort:
»Und sodann wirst Du mir das schriftliche Bekenntniß geben, daß Du den Baron Otto von Helfenstein ermordet hast.«
Da fuhr er empor, als ob er auf eine Schlange getreten sei.
»Was fällt Dir ein!« rief er. »Hältst Du mich für einen Dummkopf, für einen verrückten Menschen?«
»Nein, nein! Ich halte Dich für das, was Du bist: für einen Bösewicht, dem Alles zuzutrauen ist, dessen Frau ich aber dennoch werden will, weil ich sonst keinen Baron bekomme. Verstehst Du mich? Ich will Baronin von Helfenstein werden, oder Du gehst auf das Schafott. Dic Ella oder die Guillotine – Du hast die Wahl!«
»Mädchen, ich wähle ja Dich! Aber Deine Forderungen sind ja geradezu beleidigend!«
»Deine Weigerung ist ebenso beleidigend. Ich will doch nicht haben, daß Du denken sollst, eine Frau zu bekommen, welche so leicht zu übertölpeln ist. Nein, Du sollst vielmehr Respect vor mir haben. Du sollst diesen Respect bereits heute bekommen. Du sollst sehen, daß wir einander vollkommen werth sind. Darum sage ich Dir aufrichtig, daß ich Dir nicht das mindeste Vertrauen schenke. Also, erkläre Dich! Ich brenne mir hier eine Cigarette an; wenn ich den letzten Zug gethan habe, ist die Bedenkzeit, welche ich Dir gestatte, zu Ende; dann werde ich handeln.«
Sie langte wirklich nach dem auf dem Tische stehenden Etui, brannte sich eine Cigarette an und begann zu rauchen. Sie legte sich so zierlich in die Lehne des Sophas zurück, als ob es sich um nichts als eine freundschaftliche Unterredung handele. Er aber befand sich in einer Lage, wie in seinem ganzen Leben noch nie.
Er schritt in seinem Zimmer auf und ab und suchte nach Gründen, auszuweichen; aber er fand sie nicht. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er wußte, daß sie nicht ein Pünktchen von ihrer Forderung streichen werde, und sah doch keine Möglichkeit, sich ihrer Hand zu entwinden. Da, jetzt warf sie das nicht zu rauchende Endchen von sich und sagte: »Nun? Die Entscheidung! Ich gehe!«
Da blieb er vor ihr stehen und fragte in stockendem Tone:
»Was wirst Du machen, wenn ich nicht auf Deine Forderung eingehe?«
Sie zeigte ihm ein ruhiges, überlegenes Lächeln und antwortete:
»Etwas, woran Du gar nicht gedacht haben wirst.«
»Ach! Was könnte das sein?«
»Ich lasse Dich arretiren.«
Kaum hatte er diese Worte gehört, so war aus seinem Gesichte alle Farbe gewichen. Daß sie so etwas beabsichtigen könne, war ihm allerdings nicht in den Sinn gekommen; aber er kannte sie und wußte, daß sie dazu fähig sei.
»Arretiren?« fragte er. »Warum? Was fällt Dir ein?«
»Warum? Aus Vorsicht! Du könntest fliehen, ehe ich meine Aussage gethan habe. Oder Du könntest nun, da Du erfahren hast, was ich weiß, auf irgend eine Weise meinen Angaben zuvorkommen. Es ist daher allerdings am Besten, ich lasse Dich festnehmen.«
Sie stand vor ihm, als ob sie sein Richter sei.
»Weib,« sagte er, »Du bist wirklich ein Teufel!«
»O, nur eine Teufelin, Du aber ein Satan. Du siehst, wir passen sehr gut zusammen. Schade, daß Du es nicht willst!«
»Die Arretur würde Dir wohl nicht gelingen!« stotterte er.
»Warum nicht?«
»Weil es in diesem elenden Neste Niemand giebt, der sich an mir zu vergreifen wagen würde.«
»Das ist wahr; aber ich habe meine Vorkehrungen getroffen. Deine Person ist mir sicher, entweder als Gemahl oder als Gefangener.«
Da machte er einen letzten Versuch. Er wollte sehen, ob sie einzuschüchtern sei. Daher meinte er, die Achsel zuckend: »So sicher denn nun wohl nicht. Ich glaube vielmehr, daß ich Dich viel sicherer habe als Du mich.«
Sie zuckte ebenso die Achsel wie er und fragte lächelnd:
»Wieso?«
»Nun, ich habe Dich ja hier in meiner Behausung! Wie nun, wenn Du dieselbe nicht wieder verläßt, wenigstens nicht lebendig?«
Ihr Gesicht zeigte nicht eine Spur von Angst oder Schreck. Sie sagte:
»Du beurtheilst mich viel, viel zu falsch. Ich weiß, daß ein Mörder im Stande ist, eine zweite Person zu tödten, wenn er sich dadurch Sicherheit verschaffen kann. Daher habe ich meine Maßregeln getroffen. Ich bin nicht ohne Begleitung hier. Man hat mich bei Dir eintreten sehen; man wird mich, wenn meine Abwesenheit zu lange dauert, hier abholen und von Dir fordern. Uebrigens bin ich nicht unbewaffnet und würde mich zu wehren wissen. Also entscheide Dich! Ich brauche nur einen Wink durch das Fenster zu geben, so kommen meine Begleiter und Du bist Arrestant. Dein Unglück ist dann nicht mehr rückgängig zu machen.«
Was sie sagte, war keineswegs Alles wahr! Sie befand sich ganz allein hier und dachte gar nicht an seine Arretur. Aber als sie jetzt an das Fenster trat und dasselbe zu öffnen begann, überkam ihn eine entsetzliche Angst. Er sagte sich, daß er jetzt nicht in der Lage sei, es mit diesem Weibe aufzunehmen und daß ihm die nächsten Tage oder Wochen vielleicht bessere Chancen bieten würden, sie loszuwerden. Daher hielt er ihren Arm zurück und sagte: »Halt! Rufen Sie Niemand herbei! Sie sollen Ihren Willen haben!«
Sie wendete sich langsam zu ihm um und fragte:
»Das heißt, ich soll Baronin von Helfenstein werden?«
»Ja.«
»Sie geben mir die schriftliche Zusicherung nebst Siegel und Unterschrift?«
»Ja.«
»Gehen mit mir zum Pfarrer?«
»Zum Teuf – – ja, zum Pfarrer!«
»Und schreiben dann auch nieder, daß Sie der Mörder des Barons sind?«
»Ja. Ich gebe Ihnen Siegel und Unterschrift dazu.«
Da glitt ein überlegenes Lächeln über ihr Gesicht.
»Sie halten mich für dümmer, als ich bin,« sagte sie. »Auf diesem Documente würde mir Datum und Siegel nur schaden, auch die Unterschrift. Durch das Datum würde nachgewiesen, daß wir unser Uebereinkommen vor Brandt’s Verurtheilung getroffen haben; ich würde also Ihre Mitschuldige, eine Verbrecherin sein und könnte, ohne mich selbst in die größte Gefahr zu bringen, von diesem Documente gar keinen Gebrauch machen.«
»Verdammt raffinirt!« stieß er hervor.
»Allerdings! Das muß man sein, wenn man mit lachender Miene einen Mörder heirathet! Wie leicht können Sie auf den Gedanken kommen, auch mich aus der Welt zu schaffen, um wieder in den Besitz Ihrer Unterschrift zu kommen. Aber ich fürchte mich nicht. Ich werde meine Maßregeln so treffen, daß Sie mir nichts anhaben können, ohne sich selbst zu verderben. Ich werde Ihnen das, was Sie über den Mord niederschreiben, dictiren.«
»Ah! Warum?«
»Das werden Sie merken, ohne daß ich es Ihnen sage. Wir werden da mitten im Satze und ganz oben auf der ersten Seite eines Briefbogens beginnen, so daß das Document als Theil eines Briefes erscheint, den Sie fortschicken wollten, aber nicht fortgeschickt haben.«
»Mädchen! In Ihnen wohnt, weiß Gott, eine ganze Hölle!«
»Aber auch ein ganzer Himmel, lieber Franz!« lachte sie. Und indem sie ihn umarmte und küßte, fuhr sie fort: »Du wirst die Wahl zwischen dieser Hölle und diesem Himmel haben. Komm, sei gescheit, und wähle den Letzteren. Nimm Papier zur Hand und schreibe. Dann gehen wir zum Pfarrer, und die Sache ist abgemacht!«
Er konnte nicht anders. Halb gezwungen und halb ihren verführerischen Liebkosungen folgend, brachte er die nöthigen Schreibrequisiten zum Vorschein. – Eine Stunde später sah man sie Arm in Arm durch das Dörfchen gehen und hinter der Thür des Pfarrhauses verschwinden. – –Der Tag, an welchem die Untersuchung gegen Brandt verhandelt werden sollte, kam heran. Er war durch die Zeitungen verkündigt worden, und alle Welt nahm an dieser Angelegenheit den regsten Theil.
War er schuldig oder unschuldig? So fragte man sich. Die Stimmen waren getheilt; aber die große Hältte derselben fand sich auf seiner Seite. Es war nicht das Mindeste verschwiegen geblieben. Da der Untersuchungsrichter nichts Neues aufzufinden vermocht hatte, so befand sich das Publikum im vollsten Besitze aller Thatsachen, welche für oder gegen ihn sprachen. Mit dem lebhaftesten Bedauern sagte man sich, daß der Mensch Theil für ihn nehmen müsse, der Jurist ihn aber verurtheilen werde.
Da der Andrang zur Verhandlung voraussichtlich ein übermäßiger sein wurde, so waren Karten ausgegeben worden. Nur bevorzugte Persönlichkeiten hatten Zutritt erlangt. Aber draußen vor dem Gerichtspalaste hatte sich bereits am frühen Morgen eine ansehnliche Menschenmenge versammelt, um die Zeugen ankommen und aussteigen zu sehen.
Als dieselben ihre Plätze eingenommen hatten, wurde der Angeklagte in den Saal geführt. Die Monate lange Haft war nicht ohne Wirkung auf sein Äußeres geblieben; aber der Eindruck, welchen er machte, war ein durchaus guter.
Weder furchtsam und frech, sondern offen und muthig, mit dem Ausdrucke eines Mannes, welcher sich zwar in einer gravirenden Lage, aber schuldlos in derselben weiß, blickte er sich im Saale um. Sein Auge blieb nur an Zweien haften, auf Baronesse Alma und auf seinem Vater, welche Beide auch als Zeugen anwesend waren.
Die Erstere hielt die Augen niedergeschlagen; der Letztere aber sah seinen Sohn an und blickte dann wie triumphirend zu den Richtern hinüber, als wollte er ihnen sagen: »Seht ihn an, Ihr Herren! Hat er das Aussehen eines Mörders, eines Menschen, der sich schuldig fühlt! Hört, Ihr werdet ihn wohl freisprechen müssen!«
Er konnte nicht hinüber zur Anklagebank, aber er winkte Gustav einen freundlichen Gruß hinüber und machte dabei ein Gesicht, dem man es ansah, daß es nichts Anderes bedeuten solle als: »Kopf hoch, mein Junge! Sie werden Dir nichts anhaben können!«
Es wurde begonnen. Der Vorsitzende machte das Auditorium mit dem vorliegenden Falle bekannt; der Angeklagte wurde vernommen und dann die einzelnen Zeugen. Gustav antwortete ruhig und ernst; es war ihm keine Aufregung, weder diejenige der Angst, noch die des Zornes anzumerken. Er gab der Wahrheit die Ehre, und mehr konnte er nicht.
Unter den Zeugen wurde besonders Baronesse Alma scharf beobachtet. Es war ja von gewisser Seite die Behauptung aufgestellt worden, daß Brandt ihr heimlicher Geliebter gewesen sei und nur deshalb ihren Vater und Verlobten beseitigt habe, um desto ungehinderter in ihren Besitz zu gelangen. Sie wurde sogar über diesen Umstand vernommen, blieb aber bei der entschiedenen Behauptung, daß zwar ein brüderlich zärtliches, nicht aber ein sogenanntes Liebesverhältniß zwischen ihnen obgewaltet habe. Zuletzt noch befragt, ob sie den Angeklagten wirklich für des Mordes an dem Hauptmanne schuldig halte, erklärte sie, indem ihre Stimme zitterte und ihr schönes Angesicht die Bleiche des Todes angenommen hatte: »Ich weiß, welches Gewicht man auf meine Antwort legen wird. Mein Herz gebietet mir, Milde walten zu lassen; aber ich hörte den Wortwechsel zwischen ihm und dem Hauptmanne; ich sah den Todten liegen und die Flinte in der Hand des Angeklagten rauchen; ich bin überzeugt, daß er der Thäter ist. Ich darf nicht meinem Herzen, sondern ich muß meiner Pflicht und meinem Gewissen folgen. Gott wird mir verzeihen und gnädig sein, wenn ich mich irre!«
Nach diesen Worten brach sie kraftlos zusammen.
Eine tiefe, unheimliche Stille war eingetreten. Aller Augen hingen an Brandt, um zu sehen, welchen Eindruck diese Worte auf ihn gemacht hatten. Aber als dann der Vorsitzende fragte: »Was hat der Angeklagte dazu zu sagen?« da erhob sich Gustav und antwortete in festem aber mildem Tone: »Gott wird ihr verzeihen, denn sie spricht aus Ueberzeugung. Sie kann nicht wissen, was in der einen Minute, welche zwischen ihrem Gehen und ihrer erschrockenen Wiederkehr lag, geschehen ist. Ich zürne ihr nicht; ja, ich würde sie weniger achten können als jetzt, wenn sie anders gesprochen hätte.«
Der Eindruck dieser Antwort war ein günstiger. Es ging ein Flüstern durch den Zuhörerraum, aus dem man die Worte entnahm: »So kann nur ein Unschuldiger sprechen!«
Die Aussagen des Barons und der Zofe waren natürlich im höchsten Grade beschwerend. Sie warfen eine Last auf den Gefangenen, welche derselbe nicht abzuschütteln vermochte. So, wenn auch weniger, war es auch mit den Deponirungen der meisten anderen Zeugen.
Jetzt erhob sich der Staatsanwalt. Seine Rede war scharf und schneidig wie das Schwerdt, dem der Angeklagte verfallen sollte. Als er geendet hatte, sagte sich das Auditorium, daß Brandt verloren sei.
Dann begann der Verteidiger sein Plädoyer. Er erging sich nicht in kühnen Wortspielen, er appelirte nicht mit schön klingenden Worten an das Gefühl der Richter. Er sprach einfach und würdevoll. Der Hauptpunkt seiner Rede bestand in dem Versuche, nachzuweisen, daß sein Client nicht der Einzige sei, auf den der Verdacht zu fallen habe.
»Wer hat,« fragte er, »der Comtesse von Helfenstein erwiesener Maßen eine fruchtlose Liebeserklärung gemacht? Wer hat sich dahin geschlichen gehabt, wo die beiden Schüsse fielen? Wer befand sich im Schlosse als Gast, so daß der Zutritt zum Barone ihm an jedem Augenblicke möglich war? Was beweist das Rasirmesser und der Schlüssel? Das erstere ist dem Angeklagten gestohlen und der letztere ihm unbemerkt in die Tasche gesteckt worden.«
Bei dieser Auslassung richteten Aller Augen sich auf Baron Franz. Er war erbleicht, aber er schien gänzlich unberührt zu bleiben. Der Verteidiger fuhr fort: »Der, welchen ich meine, hatte Absicht auf die Baronesse. Um zu ihrer Hand zu gelangen, mußte er Diejenigen entfernen, welche ihm hinderlich waren – ich meine ihren Vater, ihren Verlobten und ihren Milchbruder, den er für ihren heimlich Geliebten hielt. Die Ersteren entfernte er, indem er sie tödtete, den Letzteren dadurch, daß er den Verdacht des Mordes auf ihn warf. Die Umstände kamen ihm dabei ganz trefflich zu statten, und er verstand es, sie mit teuflischer Schnelligkeit zu benutzen. Gegen ihn sprechen wenigstens ebenso viele Gründe und Beweise wie gegen den Angeklagten.«
Der brave Mann stand der Wahrheit wirklich so nahe, wie er überzeugt war; aber er wurde von dem Staatsanwalte zurückgewiesen, welcher den Grund, der Brandt noch so spät in das Schloß getrieben hatte, gradezu unsinnig nannte. Der Ruf, welchen die Pascher ausgesprochen haben sollten, der Ruf der Rache »an den Helfensteiner«, war seiner Ansicht nach so unglücklich ersonnen, daß diese offenbare Lüge dem Angeklagten mehr Schaden als Nutzen bringen müsse.
Nach diesem wurde das Resummee gezogen und dann der Angeklagte gefragt, ob er noch etwas zu bemerken habe. Er erhob sich und erklärte mit lauter, sicherer Stimme: »Meine Herren! Der Angriff gegen Denjenigen, welchen ich allein für schuldig halte, ist abgewiesen worden. Gott wird ihn richten. Ich stehe hier vor dem Allwissenden und Ihnen. Der Vater im Himmel, welcher die Gedanken seiner Kinder kennt, weiß, daß ich unschuldig bin. Sie, meine Herren, können dies nur ahnen und fühlen, aber Sie müssen nach dem Buchstaben des Gesetzes entscheiden. Dieses Gesetz steht über mir und Ihnen; aber wenn Sie mich zum Tode verurtheilen, begehen Sie einen Justizmord, so wahr ich hoffe, trotz eines durch das Schwert erlittenen Todes dennoch selig zu werden. Meine Herren, thun Sie jetzt Ihre Pflicht!«
Hundert Augen standen unter Thränen. Gustav Brandt wurde abgeführt und die Geschworenen traten in das Berathungszimmer. Sie nahmen es mit diesem Falle so genau und ernst, wie er es verdiente; ihre Abwesenheit währte über zwei Stunden. Während dieser Zeit hatte sich von der Zuhörerschaft kein Mensch und von den Zeugen nur ein Einziger entfernt: Alma von Helfenstein, welcher es natürlich unmöglich war, länger zu bleiben.
Endlich kehrten die Geschworenen zurück und der Angeklagte wurde wieder geholt. Er richtete sein Auge fest und forschend auf den Obmann der Ersteren, und dieser verkündigte, daß die Herren, obgleich sehr viel für den Angeklagten spreche, doch die überzeugendsten Gründe gegen ihn seien, ungern, aber nach bester Ueberzeugung ein »Schuldig« ausgesprochen hätten.
Ein lautes Summen ging durch den Saal. Das hatte man kaum erwartet. Man vergaß, daß die Geschworenen nur die Schuldfrage zu beantworten haben; sie hatten nicht anders gekonnt.
Brandt’s Angesicht war starr und ausdruckslos. Er hatte gewußt, was kommen werde, ja kommen müsse. Aber nun es gekommen war, mußte er seine ganze Selbstbeherrschung zusammen nehmen, um zu verbergen, mit welcher Gewalt ihn der erwartete Schlag getroffen hatte.
Auf Grund des Verdictes wurde verkündigt, daß er zum Tode durch das Schwerdt verurtheilt sei, daß man aber beschlossen habe, Seiner Majestät, dem Könige, ein Gesuch um Verwandlung der Todesstrafe zu unterbreiten.
Diese Entscheidung war kaum ausgesprochen, so sprang der alte Förster von seinem Platze auf. Er war von dem Urtheile ebenso schwer betroffen worden wie sein Sohn; er hatte sich wie zerschmettert gefühlt; aber das, was er jetzt hörte, war ihm zu viel. Diese Zumuthung war seiner Anschauung nach zu stark. Darum rief er mit lauter Stimme: »Junge, Du bist unschuldig! Gott und mein Herz sprechen Dich frei. Ein Unschuldiger bedarf der Gnade nicht. Wer um Gnade nachsucht, giebt seine Schuld zu. Darum laß’ Dich hinrichten, laß’ Dich hinrichten! Das ist mir keine Schande. Aber Dich lebenslang im Zuchthause zu wissen, weiß Gott, das giebt mir und Deiner Mutter den augenblicklichen Tod!«
Das war so schnell gekommen, daß der Vorsitzende gar keine Zeit gefunden hatte, ihm das Wort zu verbieten. Jetzt aber drehte sich der Alte selbst zum Gehen um und rief: »Leb wohl, Gustav! Vor Deinem Tode siehst Du mich und die Mutter noch einmal. Halte den Kopf hoch! Ich sterbe nicht eher, als bis ich den Schuldigen massacrirt habe!«
Damit war der brave Forstmann zur Thür hinaus. Daß er wegen dieses herzhaften Verhaltens bestraft werden könne, kam ihm gar nicht bei.
Der Verurtheilte wurde abgeführt, und die aufgeregte Zuhörerschaft verlief sich nur langsam aus dem Saale. Die vor dem Palaste versammelte Menge zerstreute sich lärmend, um das Urtheil in der Residenz zu verbreiten.
Alma war nach ihrem Hotel gegangen, um das Ergebniß dort zu erwarten. Was sie in letzter Zeit erlitten hatte, schien so schwer, daß sie sich wunderte, es ertragen zu haben.
Jetzt ging sie weinend und händeringend im Zimmer hin und her.
»Ich konnte nicht anders; ich konnte wahrhaftig nicht anders!« schluchzte sie. »Ich werde schuld sein, daß man ihn zum Tode verurtheilt; aber ich werde es wieder gut machen, indem ich sofort zum König eile und persönlich um Gnade für ihn bitte. Der Wagen wartet angespannt vor der Thür.«
Endlich, nach mehr als zwei langen, langen Stunden kam ihr Diener, den sie im Verhandlungssaale zurückgelassen hatte. Sie stürzte sich ihm förmlich entgegen, um zu fragen: »Nun? Schnell, schnell! Was für ein Urtheil ist gefallen!«
»Schuldig!« antwortete der Mann, welcher selbst sehr tief ergriffen war.
»Schuldig!« schrie sie auf. »O, mein Gott! So ist er zum Tode verurtheilt worden?«
»Ja! Und gnädiges Fräulein, jedermann schwört darauf, daß er unschuldig ist. Sie müssen ihn retten!«
»Sofort, sofort! Der Wagen steht doch unten?«
»Ja, wie verabredet war.«
»So komm! Ich muß augenblicklich in das königliche Schloß!« – –
Gegen den Abend desselben Tages ging es bei dem Todtengräber von Helfenstein sehr hoch her. Es war sein Geburtstag, und da hatte seine Alte einen mächtigen Napfkuchen gebacken. Es war zwar wenig Butter und gar kein Zucker zu demselben verwendet worden, dafür aber war er gewaltig angebrannt, so daß die Hausfrau den Napf hatte zerbrechen müssen, um zu dem Kuchen zu kommen.
Sie saßen Beide mit einander am Fenster und blickten sehnsüchtig den Berg hinab. Der Gottesacker lag nämlich oben auf der Höhe und stieß an den dichten Wald. Ein Weg führte hinab in das Dorf, und auf diesem Wege mußten die beiden Männer, welche sie geladen hatten, heraufkommen – der Schmied und sein Sohn.
Der Todtengräber hatte einen Sohn, bei welchem der Schmied Pathe gestanden hatte. Dieser Sohn war Soldat gewesen und dann in einem Gasthöfchen der Residenz Hausknecht geworden, hatte sich aber seit längerer Zeit nach einer anderen Stelle umgesehen. Er wäre für sein Leben gern in ›königliche Dienste‹ getreten, wie er sich ausdrückte, um ›Staatsdienste‹ zu bezeichnen. Er war gewohnt, den Eltern alljährlich am Geburtstage des Vaters einen Schreibebrief zu senden. Dieser Brief war heut auch pünklich angekommen, da aber der Schreiber desselben keineswegs zu den ›Helden der Feder‹ gehörte, und weder der Todtengräber noch seine Frau gelernt hatten, egyptische Hieroglyphen zu entziffern, so hatten sie sich hierbei stets auf fremde Hilfe verlassen müssen.
Der Schmied war also der Gevatter der beiden alten Leute, stand aber zu dem Todtengräber auch noch in einem anderen, freilich sehr geheimen Verhältnisse. Der Letztere gehörte nämlich grad so wie der Erstere, zu den Schmugglern. In einem alten Erbbegräbnisse, welches in der hinteren Ecke des Kirchhofes lag, befand sich nämlich eine verborgene Niederlage von Schmuggelwaaren, von deren Vorhandensein nicht einmal die Todtengräberin eine Ahnung hatte. Darum kam der Schmied mit seinem Sohne oft herauf, um den Gevatter zu besuchen, und hatte auch gestern die Einladung erhalten, den Napfkuchen mit verzehren zu helfen.
Er hatte freundlichst zugesagt und versprochen, außer seinem Sohne auch noch ein Fläschchen echten, guten Nordhäuser mitzubringen. Ein Spielchen verstand sich von selbst.
Jetzt stand der Napfkuchen bereit; die Karte lag dabei und der Brief ebenso. Der Schmied konnte lesen; das verstand sich ja ganz von selbst, da er zugleich Schänkwirth war, und ihm oder seinem Sohne fiel also die Aufgabe zu, die Epistel des Hausknechtes zu enträthseln.
Lange hatten die Beiden vergeblich gewartet. Endlich erblickten sie die so sehr Ersehnten, welche mit langsamen, weiten Schritten dahergestiegen kamen. Sie wurden freundlich empfangen, und als der Wirth die Flasche aus der Tasche zog, war die Freude eine doppelte. Man setzte sich. Der Napfkuchen wurde angeschnitten. Zwar wollten beim Kauen die Zähne zusammenkleben, aber der Nordhäuser biß sie wieder auseinander. Da sah der Wirth den Brief liegen.
»Aus der Residenz?« fragte er.
»Ja,« nickte die Alte ganz selig.
»Schon gelesen?«
»Nein. Er ist ja noch zu.«
»Warum lest Ihr ihn denn nicht?«
»Hm!« schmunzelte sie. »Mein Alter hat seine Brille verlegt, und in meiner Nasenquetsche ist ein Glas zerbrochen. Der Glaser hatte kein passendes. Wer soll da lesen!«
»Na, so will ich Euch helfen. Soll ich ihn aufmachen und vorlesen?«
»Ja, sei doch so gut, Gevatter!«
Der Brief steckte in keinem Couverte; er bestand in einem dicken Bogen Notenpapier, welches zusammengelegt und mit Mehl und Wasser zugeklebt war. Der Schmied versuchte, das wieder auseinander zu bringen. Es gelang, und dann las er unter vielen Mühen folgendes:
»Libber Vater und treue Mudter!
Ich ergreife die zwei Väter, die ich gekaubt hawe, um Eich zu Schreiwen, das Ihr gesund und wohl Ich Eich winsche; Graht so auch wie ich!!! Eier Geburzdach ißt zwaar nur dem Vater seiner, abber mein Hertze freiet sich doch könichlig, weil ich itzt entlich könichliger Diehner pin!!!!!!!! Ich habbe nähmlig 1ne Stehle bekomm alls Schliesßer beim könichligen Landesgerricht, wo itzt der Brandts Gußdav zum Dohte verurrdeilt wärden soll. Ich habbe es kut; abber Ich mechde dem Wagdmeißter 1 Sahk Kahrdoffeln schänken. Schiekt Mir 1en Sahk Kahrdoffeln!!!! Die Stiffelbahndoffln gönnt Ihr behallden, weil Ich stähts inn Uhnifform seun muhst. Habt Ihr viel Dohdte bei Euch? Grießt und kißt mir die Garliene und die Kußtel. Wellge von den 2 Ich heurade, daß weuß Ich noch niecht, denn Sieh möggens Ruig abwahrten!!!! Bleubt gedrei eiern guhten Soohn unt Krißtjan!!!!«
Der Inhalt dieses Briefes brachte bei den Eltern natürlich große Freude hervor. Ihr Sohn Schließer beim königlichen Landesgerichte! Das mußte natürlich so bald wie möglich das ganze Dorf erfahren, aber sie konnten doch unmöglich die beiden Gäste verlassen!
»Schließer beim Landesgerichte!« meinte der Todtengräber. »Das muß ein bedeutender Posten sein!«
»Natürlich!« antwortete der Schmied, indem er seinem Sohne einen heimlichen Blick zuwarf.
»Da hat er wohl auch Brandts Gustav gesehen?«
»Wahrscheinlich. Vielleicht ist er sogar in der Verhandlung gewesen, welche heut abgehalten wird.«
»Dabei hätte ich auch sein mögen! Wie wohl das Urtheil ausfallen wird?«
»Er wird jedenfalls zum Tode verurtheilt.«
»Herrgott!« meinte die Alte, indem sie die Hände zusammenschlug. »Ich will aber wetten, daß er unschuldig ist!«
»Ich auch,« meinte ihr Mann, indem er zur Bekräftigung seiner Meinung einen Nordhäuser tödtete.
»Ich ebenso!« fügte der Schmied bei. »Ein Trost ist es, daß man ihn nicht hinrichten wird. Der König muß ihn begnadigen.«
»So kommt er wieder frei?«
»Bewahre! Wer zum Tode verurtheilt ist, kann nur zu lebenslänglichem Zuchthause begnadigt werden.«
»Herr Jesus! Ist das nicht noch schlimmer als der Tod?«
»Freilich, freilich! Aber wer weiß, was geschieht! Der Brandt ist kein Dummkopf, der sich ruhig einstecken läßt.«
Dabei warf er abermals einen heimlichen Blick auf seinen Sohn, den dieser mit einem leisen Nicken beantwortete. Dann fuhr er fort: »Was hat denn da im Briefe Euer Christian mit den Stiefelpantoffeln gemeint?«
»Er hat sie hier gelassen, als er zum letzten Male auf Urlaub zu Hause war. Wir sollten sie ihm nachschicken. Aber weil er jetzt nun in großer Uniform geht – – hm, die Stiefelpantoffel müssen doch für einen königlichen Schließer nicht gut passen!«
»Das glaube ich auch. Und was meint er mit den Kartoffeln?«
»Hm! Das weiß ich selbst nicht. Er will sie dem Wachtmeister schenken. Vielleicht hat dieser ihm zu der Stelle verholfen.«
»So wird es sein. Wie aber wollt Ihr den Sack Kartoffeln nach der Residenz bringen?«
»Ja,« meinte der Alte, indem er sich hinter den Ohren kratzte. »Das ist ein schlimmes Ding! Mit der Eisenbahn oder mit der Post?«
»Vielleicht weiß ich Hilfe. Ich will übermorgen einen Verwandten besuchen, und da komme ich an der Residenz vorbei.«
»Ah! Willst Du so gut sein und die Kartoffeln mitnehmen?«
»Gern!«
»Abgemacht, Gevatter! Ich sacke sie morgen ein und bringe sie Dir hinunter. Aber, da, hm, ich muß hinaus. Da kommt ja schon das Begräbniß!«
Er hatte einen Blick durch das Fenster geworfen. Der Schmied wußte wohl, was er meinte, fragte aber doch:
»Weißt Du das nicht? Der Botenfrau ihr Kleiner ist am Scharlach gestorben; den bringen sie jetzt.«
»Wird es lange dauern?«
»O nein. Mit armer Leute Kind wird wenig Federlesen gemacht; das wißt Ihr ja.«
»Aber Du mußt ja das Grab zuwerfen! Und wir wollten doch gern ein Spielchen machen.«
»Das mit dem Zuwerfen hat Zeit. Ich mache es, wenn wir fertig sind; das macht keine große Mühe.«
»Gut! Wir helfen Dir dabei.«
Ein Mann brachte einen kleinen Sarg getragen. Hinter ihm kam die Leichenfrau und die Mutter des Kindes. Das war der ganze Begräbnißzug. Diese drei wurden vom Todtengräber empfangen und nach dem Grabe geführt. Man ließ den Sarg hinab und betete ein stilles Vaterunser. Damit war die Ceremonie zu Ende. Wenn ein Reicher, ein Vornehmer sich von seinem Kinde trennt, geschieht es mit größerem Pompe, und doch ist das Herz einer armen Mutter ebenso empfänglich für das Herzeleid wie dasjenige einer feinen Dame.
Der Leichenconduct verließ den Friedhof, und der Todtengräber kehrte in sein Stübchen zurück. Es begann, dunkel zu werden, und darum wurde eine Lampe angebrannt. Beim Scheine derselben begann das Spiel, nicht ein Spiel um Gold-oder Silberstücke, sondern um den zwanzigsten Theil eines Pfennigs.
Nach einiger Zeit stieß der Schmied seinen Sohn an.
»Lasse Niemand hinaus!« raunte er ihm zu.
Er erhob sich und verließ das Stübchen mit der unbefangenen Miene eines Mannes, der etwas ganz Gewöhnliches beabsichtigt. Hinter dem Häuschen angekommen, lauschte er einige Secunden lang. Es war Nacht geworden. Niemand konnte ihn sehen.
Mit schnellen aber vorsichtigen Schritten eilte er dem kleinen Grabe zu. Er hatte vorhin durch das Fenster geblickt und sich die Stelle ganz genau gemerkt. Es war offen. Er bückte sich und fühlte hinab. Auf dem kleinen Sarge lagen einige Feldblumen, welche die arme Mutter unterwegs gepflückt und dem Kinde in das Grab nachgeworfen hatte.
Der rauhe Mann legte die Blumen sorgfältig heraus, ehe er den Sarg emporzog. Er öffnete denselben, nahm das Kind heraus und legte es einstweilen zur Seite. Dann machte er den Deckel wieder zu, senkte den Sarg wieder hinab und legte die Blumen darauf. Jetzt nun zog er ein altes Tuch hervor, welches er unter der zugeknöpften Weste stecken gehabt hatte, wickelte die Leiche hinein und trug sie nach der Ecke des Friedhofes, wo er sie in einem dichten Gebüsch einstweilen versteckte.
Das beabsichtigte Werk war vollbracht, und er kehrte nun wieder in die Stube zurück. Es war so schnell geschehen, daß die Zeit, welche er gebraucht hatte, gar nicht auffiel.
»War’s finster draußen?« fragte sein Sohn.
»Na, es geht!« antwortete der Vater.
Das war das Zeichen, das Alles gelungen sei, und das Spiel begann von Neuem. Als es zu Ende war, schlug es eben Mitternacht.
»So lange?« fragte der Todtengräber erstaunt. »Wie ist uns die Zeit doch so kurz geworden. Nun werde ich das Grab doch offen lassen müssen.«
»Warum denn?« fragte der Wirth.
»Es ist zu spät! Morgen früh ist’s auch noch Zeit. Freilich darf es Niemand wissen, denn es soll kein Grab so lange offen stehen.«
»Gut! Wir helfen Dir!«
»Wirklich? Angenommen! Da sind wir in fünf Minuten fertig«
Sie nahmen Schaufeln und eine Laterne und begaben sich nach dem Grabe. Die Todtengräberin leuchtete.
»Das arme Wurm ist so rasch gestorben!« meinte sie. »Ich möchte die Leiche doch gern erst einmal sehen!«
»So wollen wir aufmachen!« antwortete ihr Mann.
»Unsinn! Was fällt Euch ein!« entgegnete der Wirth rasch. »Das wäre ja Leichenschänderei!«
»Ich bin Todtengräber! Da nimmt man es nicht so genau!«
»Das mag sein. Aber öffnet man denn einen Sarg, in dem eine Scharlachfieberleiche liegt?«
»Das ist wahr! Alte, wollen vorsichtig sein, daß wir in unseren alten Tagen nicht etwa an einer Kinderkrankheit sterben!«
Damit war die Gefahr vorüber. Das Grab wurde zugeworfen, und dann empfahlen der Schmied und sein Sohn sich den Gevattersleuten.
»Gute Nacht, Gevatter!« rief ihnen der Todtengräber nach. »Also morgen bringe ich die Kartoffeln!«
»Ja. Uebermorgen nehme ich sie mit.«
Als die Beiden eine kurze Strecke gegangen waren, blieben sie lauschend stehen, um zu horchen. Nach einer Weile meinte der Sohn: »Der Gevatter ist gleich zu Bett. Das Licht ist ausgelöscht. Wohin hast Du die Leiche getragen?«
»Warte hier; ich hole sie.«
»Wann geht es nach dem Schlosse?«
»Gleich. Dort ist man auch bereits schlafen gegangen. Das gnädige Fräulein ist ja nicht daheim.«
»So will ich einstweilen die Filzschuhe und die Schlüssel holen. Wo treffen wir uns?«
»Bei der Buche am Schloßwege.«
»Gut, Vater.«
Er stieg in das Dorf hinab, schlich sich zur Schänke hin und in den Garten derselben. In der Stube saßen noch einige Gäste. An den Garten stieß die Scheune, deren hinteres Thor offen gelassen war. In einer Ecke der Tenne steckten unter dem Stroh zwei Paar Filzschuhe und ein Bund Nachschlüssel. Diese Gegenstände nahm er zu sich und begab sich dann nach der Buche. Da er vorsichtig hatte sein müssen, so traf er den Vater bereits dort an.
»Hast Du Alles?« fragte dieser.
»Alles. Ziehen wir die Schuhe gleich hier an?«
»Ja; die Stiefel stecken wir in das Gebüsch.«
»Wie aber kommen wir in das Schloß?«
»Das wird sich finden. Jetzt weiß ich noch nicht, ob man noch munter ist. Vielleicht steht ein Fenster neben dem Blitzableiter offen.«
Sie wechselten die Stiefel mit den Filzschuhen. Letztere machten ihre Schritte unhörbar; erstere wurden im Gebüsch versteckt.
Beim Schlosse angekommen, umschlichen sie dasselbe. Der Sohn trug die Kindesleiche und der Vater die Nachschlüssel, welche er mit einem Tuche umwickelt hatte. An einem der hinteren Fenster war noch Licht. Der Schmied kannte das Innere des Schlosses sehr genau, da er alle in sein Fach einschlagenden Reparaturen hier besorgt hatte.
»Das ist das Stübchen neben der Küche,« meinte er. »Da wird das Weibsvolk sitzen und klatschen. Wenn die Herrin nicht da ist, so hat die Dienerschaft freie Zeit. Warte hier!«
Er ging. Als er nach kurzer Zeit zurückkam, flüsterte er:
»Es geht Alles gut. Dort das Eckfenster ist offen. Wir steigen ein. Sollte die Thür verschlossen sein, so öffne ich. Wir kommen in den Flur und von da nach der Treppe. Die Stube, in welcher der Kleine schläft, kenne ich ganz genau.«
»Aber die Bonne!«
»Sie sitzt mit da drin. Wie es scheint, haben sie sich eine Chocolade gekocht. Da lassen sie sich nicht stören.«
»Wie kommen wir wieder heraus?«
»Ganz auf demselben Wege.«
Sie stiegen durch das Fenster. Die Thür des Zimmers, in welchem sie sich nun befanden, war nicht verschlossen. In einigen Augenblicken befanden sich die Beiden oben auf dem Corridore.
»Hier! Leise herein!« flüsterte der Schmied.
Ein Streichholz flackerte auf. Beim Scheine desselben gewahrten sie den Knaben, welcher in seinem Bettchen schlummerte. Leise, leise nahm ihn der Schmied heraus, er drückte ihn an sich; er erwachte nicht.
»Schnell! Den anderen Balg hinein! Betten drauf und die Kleidungsstücke, welche dort an der Wand hängen. Findest Du Dich allein zurecht?«
»So gehe ich. An der Buche treffen wir uns wieder.«
»Aber wenn der Junge erwacht!«
»Schadet nichts. Hier hängt ein Mantel. Ich wickle ihn hinein. Was soll man da hören.«
Er nahm den Mantel, schlug den Knaben hinein und schlich sich davon. Es war ein Wunder zu nennen, daß das Kind nicht erwachte. Mit unhörbaren Schritten huschte der Schmied zur Treppe hinab und durch die Stube, welche sie offen gefunden hatten, in das Freie hinaus.
Da begann der Knabe sich zu regen. Der Schmied schaukelte ihn im Gehen leise hin und her. Das half. Das Kind glaubte sich in den Armen der Bonne und schlief wieder ein.
An der Buche angekommen, wartete er. Nach kaum zwei Minuten hörte er leise Schritte. Sein Sohn war es.
»Nun?« fragte er. »Ist’s gelungen?«
»Natürlich!«
»Man sieht aber doch nichts!«
»So schnell kann es nicht gehen. Das Fenster liegt ja auf der Seite, welche man hier nicht sieht.«
»Verdammt! Wenn es nicht gezündet hätte, würde man die Verwechslung bemerken!«
»Habe keine Sorge. Was ich mache, das mache ich gut.«
»So wollen wir das Weite suchen.«
»Ziehen wir die Stiefel an?«
»Dazu giebt es keine Zeit. Trage Du sie. Ich habe den Jungen. Ehe Lärm wird, müssen wir zu Hause sein.«
Sie eilten davon, erreichten glücklich ihren Garten und gelangten durch die Scheune in den Hof. Die Gäste saßen noch in der Stube.
»Gehe hinein und schicke die Mutter heraus,« befahl der Schmied.
Der Sohn ging, und in kurzer Zeit kam die Frau des Schmiedes.
»Endlich, endlich,« flüsterte sie. »Was ich für Angst ausgestanden habe. Ist es gelungen?«
»Ich hoffe es. Hier ist der Knabe. Ist das Versteck fertig?«
»Ja. Gieb ihn her, und gehe in die Stube.«
»Haben sie nach mir gefragt?«
»Ja; ich habe gesagt, daß Du beim Gevatter bist, aber bald kommen wirst.«
Sie nahm das Kind und verschwand im Dunkel des Hofes. Unter dem Hause befand sich ein verborgener Keller, welchen die Grenzer noch nie entdeckt hatten; dorthin trug sie einstweilen den geraubten Knaben, während der Schmied in die Gaststube trat.
Auch dort spielte man noch Karte. Es waren Bekannte aus dem Dorfe und Pascher von jenseits der Grenze herüber. Die Beiden, Vater und Sohn, mußten sich sofort zu ihnen setzen, um an dem Spiele theilzunehmen. Beide hatten allerdings nicht die rechte Lust dazu, da ein jeder Augenblick die Kunde bringen konnte von dem, was auf denn Schlosse geschehen war.
Es vergingen fünf Minuten, zehn Minuten – sollte der Streich nicht gelungen sein? Da, da ertönte draußen auf der Dorfstraße ein lauter Ruf: »Feuer! Feurio! Feurio!«
Der Nachtwächter stieß in das Horn. Alle Gäste sprangen auf und zur Thür hinaus. Der Nachtwächter erblickte sie und rief: »Feuer, Ihr Leute! Auf dem Schlosse brennt es!«
»Herr Jesus! Auf dem Schlosse!« ertönte es aus Aller Munde. »Rasch, zur Spritze, ehe es gefährlich wird!«
Es war bereits gefährlich genug, denn als man endlich mit der Spritze anlangte, stand der eine Flügel des Gebäudes vollständig in Flammen. Eine Feuerwehr gab es nicht in der Nähe, und ehe diejenige der Amtsstadt herbeikam, oder ehe die nachbarlichen Spritzen herbeigeschleppt werden konnten, mußte das ganze Schloß bereits brennen.
Die Bewohner desselben schleppten heraus, was ihnen das Liebste war. Die Dörfler halfen. Ihre Spritze war überflüssig, denn es fehlte an Wasser.
Der Ortsvorsteher übernahm es, die möglichen Rettungsarbeiten zu überwachen. Erst nach langer Zeit, als die Bewohner der benachbarten Ortschaften bereits angekommen waren, aber auch einsehen mußten, daß das Gebäude nicht zu retten sei, kam es ihm in den Sinn, daß ja auch Menschen in Gefahr gewesen sein könnten.
Er eilte nach der Stelle, an welcher die Bediensteten des Schlosses standen und jammernd der Zerstörungswuth des Elementes zuschauten.
»Es sind doch Alle da beisammen?« fragte er.
»Alle,« antwortete die Zofe Ella, welche noch die meiste Fassung behalten hatte.
»Es fehlt keine Person?«
»Nein.«
Aber da ließ sich ein lauter, gräßlicher Schrei hören. Die Bonne hatte ihn ausgestoßen.
»Was ist’s? Was giebt’s?« fragte er.
»Der Knabe! Der Knabe! Der kleine Herr!« rief sie.
»Herrgott! Fehlt er vielleicht?«
»Ja, ja, er schlief! O Gott! Wir waren unten, als es oben bereits lichterloh brannte. Wir wurden es erst gewahr, als kein Mensch mehr hinauf konnte!«
Das gab nun allerdings eine fürchterliche Aufregung. Man suchte, man gab hunderterlei Rathschläge – vergebens! Da hinauf, wo der Knabe gelegen war, konnte längst kein Mensch mehr. Selbst als die freiwillige Feuerwehr der Amtsstadt anlangte und deren Anführer das Geschehene erfuhr, zuckte er die Achsel und sagte: »Muß längst verbrannt sein! Da hinauf sich zu wagen, würde mehr als Wahnsinn sein. Vielleicht aber retten wir die Ueberreste des Kindes. Noch halten die Mauern und Balken.«
Die Spritzen begannen zu arbeiten, denn jetzt gab es Wasserzubringer. Beide Elemente trafen zusammen; eins suchte das andere zu zerstören; ein dunkelleuchtender Schwalch stieg aus dichtem, stinkendem Rauche himmelan.
Da kam auf schäumendem Pferde ein Reiter herangesprengt. Baron Franz von Helfenstein war es. Am Abende aus der Residenz zurückgekehrt, hatte er nach dem Aufregenden, was er dort mit zu erleben gehabt hatte, keine Ruhe gefunden. Da war nach Mitternacht ein eigenthümlicher Schein in seine Stube gedrungen. Er erhob sich vom Lager, blickte durch das Fenster und sah, daß in der Richtung nach Schloß Hirschenau ein bedeutendes Feuer sein müsse. Sollte Hirschenau selbst brennen? Er zog sich eiligst an, zog sein Pferd hervor und ritt, ohne erst zu satteln, davon.
Jetzt erfuhr er, daß seine Cousine noch nicht aus der Residenz zurückgekehrt, sein kleiner Cousin aber verbrannt sei. Er that, als ob dieser Schlag ein entsetzlicher für ihn sei. Er sprengte wie ein Wüthender um das brennende Schloß herum. Da, als er grad an einer Stelle hielt, an welcher sich wenig Menschen befanden, hörte er sich angerufen: »Ein böses Unglück, Herr Baron!«
Er blickte sich um und erkannte den Schmied.
»Ah, Sie sind es!« meinte er. »Wann ist es ausgebrochen?«
»Kurz nach Mitternacht. Wir saßen bei mir bei der Karte.«
»Alles, Alles verloren!«
»Viel, sehr viel gewonnen!«
Das erregte die Aufmerksamkeit des Barons.
»Was denn gewonnen?« fragte er.
»Die ganze Freiherrschaft Helfenstein. Der junge Baron ist ja verunglückt.«
»Kommen Sie einmal näher!«
Der Schmied trat ganz nahe zu dem Pferde heran. Der Baron sagte in gedämpftem Tone:
»Das ist ein Zufall! Nun ist das Verabredete nicht nöthig.«
»Wieso?«
»Na, Sie wissen ja! Wie steht es mit dem Wechsel?«
»Den habe ich.«
»Nun brauche ich ihn aber nicht einzulösen, da Sie nichts gethan haben, um die Summe zu verdienen.«
Da legte der Schmied die Hand an den Hals des Pferdes und fragte:
»Wieso? Nichts gethan? Habe ich mich nicht verpflichtet, zu schweigen? Habe ich nicht versprochen, den Knaben – – –«
»Pst! Pst! Nicht so laut! Vorsichtiger! Für Beides habe ich Ihnen den Wechsel gegeben. Sie haben aber nur zu schweigen gebraucht; das Andere hat der Zufall gethan; folglich haben Sie nur die Hälfte verdient.«
»Der Zufall? Kennen Sie diesen Zufall vielleicht?«
»Nun?«
»Er steht hier vor Ihnen. Ich war dieser Zufall!«
»Was! Mensch, Sie haben das Schloß in Brand gsteckt?«
»Ja.«
»Warum? Weshalb?«
»Um den Knaben spurlos verschwinden zu lassen.«
»Konnten Sie das nicht auf andere Weise thun? Sehen Sie nicht ein, welche Verluste ich erleide, welcher Theil des Erbes mir verloren geht. Ich kann Sie zur Bestrafung bringen!«
Der Baron war wirklich im höchsten Grade zornig; der Schmied aber bewahrte seine Ruhe und antwortete:
»Wie es scheint, wissen Sie nicht, daß Alles, das Bewegliche und das Unbewegliche, versichert ist. Sie werden sich das neue Schloß ganz nach Ihrem Geschmacke aufbauen können. Was aber mich betrifft, so unternehmen Sie es um Gotteswillen nicht, mir zu drohen. Das würde nur zu Ihrem Unglücke sein.«
Nach diesen Worten verschwand er unter den flackernden Schatten, welche das Feuer warf.
Der Baron stieg jetzt von seinem Pferde, um sich in Ruhe zu orientiren. Er fand die Bewohner des Schlosses an einer Stelle versammelt. Auch Ella war da, welche zu gleicher Zeit mit ihm zurückgekehrt war, da ihre Herrin ihrer nicht bedurft hatte. Als sie ihn erblickte, kam sie ihm sofort entgegen.
»Welch ein Glück, mein Lieber, Dich zu sehen!« meinte sie halblaut. »Kennst Du schon den glänzenden Zufall, welcher sich ereignet hat?«
»Welchen Zufall meinst Du?«
»Den Tod des Knaben. Er ist verunglückt.«
»Ich weiß es!«
»Wirklich? Was denkst Du davon?«
»Was soll ich denken?«
»Dasselbe, was ich denke!« antwortete sie mit Betonung.
»So? Nun, was denkst denn Du?«
»Du sagst, daß Du es weißt, daß der Knabe verunglückt ist?«
»Du hast dies aber bereits früher gewußt!«
Es war ihm, als ob er eine Ohrfeige erhalten habe.
»Ich möchte doch wissen, wie Du das meinst!« sagte er rauh.
»Das will ich Dir ganz aufrichtig sagen: Dieses Feuer ist Dein Werk; nicht anders ist es.«
»Mädchen! Bist Du toll?«
»Nein, mein Herz! Ich verstehe nur außerordentlich gut, in Deiner Seele zu lesen. Der Knabe mußte weg sein!«
»Aber ich war ja gar nicht hier!«
»Das ist allerdings sehr richtig; doch Derjenige war hier, der von Dir den Auftrag erhielt, den er so ›feurig‹ ausgeführt hat.«
»Schweig! Du redest mich ja in das Verderben!«
»O nein! Du bist der Satan, und ich bin Deine Teufelin. Ich freue mich dieses Feuers, denn ich werde nun nicht bloß eine Baronin, sondern sogar eine sehr reiche Baronin sein. Hätten wir nicht Zeugen zu fürchten, so wurde ich Dich küssen!«
»Das möchte ich mir verbitten! Ich ersuche Dich überhaupt, jetzt noch Niemand wissen zu lassen, was zwischen uns vorgekommen ist. Darf ich übrigens fragen, wie hoch sich Deine Verluste belaufen?«
»Viel, sehr viel ist mir verbrannt?«
»Was?«
»Weiter nichts? Weiter nichts?« fragte er dringlich.
Sie stieß ein scharfes Lachen aus und antwortete:
»O, noch manches Andere. Aber die beiden Documente, welche ich von Dir erhielt, habe ich gerettet. Sie sind es doch ganz allein, welche Dir am Herzen liegen.«
»Zeige sie her!«
»Das ist nicht nöthig!«
»Ich will, ich muß sie aber sehen!«
Da machte sie eine sehr geringschätzende Bewegung der Achsel und sagte:
»Deine Dringlichkeit beweist mir deutlich, wie sehr Du mich fürchtest, wie sehr ich Deine Herrin bin. Selbst wenn mir die Papiere verbrannt wären, könnte ich Dich durch die Behauptung, sie noch zu besitzen, in Schach halten. Aber ich habe sie in Wirklichkeit gerettet; denn ich trage sie stets bei mir. Hier, siehe!«
Sie zog zwei zusammengefaltete Papiere hervor, welche sie emporhielt, ohne sie ihm aber näher zu zeigen.
»Zeige her! Ich will sie lesen.«
»Ah, lesen und zerreißen, nicht wahr! Ein jeder Andre soll sie eher in die Hand bekommen als Du, wenigstens bis ich wirklich Baronin von Helfenstein bin. Aber Du hast jetzt mehr zu thun. Bekümmere Dich um Dein brennendes Erbe!«
Er folgte diesem Rathe, obgleich es zu nichts mehr führen konnte.
Der Schloßflügel, an welchem das Feuer ausgebrochen war, wurde leidlich erhalten; die anderen Theile brannten vollständig nieder. Dies hatte seinen Grund darin, daß man fast das ganze vorräthige Wasser in der Hoffnung, wenigstens die Ueberreste des Kindes zu erhalten, nach diesem Flügel gerichtet hatte.
Mlt Anbruch des Tages konnte man die Nachforschung beginnen. Man legte Leitern an die wohlerhaltene Außenmauer und versuchte, in das Zimmer zu gelangen, in welchem der Knabe gelegen hatte. Wunderbar! Es war fast das einzige, in welchem die Diele leidlich erhalten war!
Das Feuer hatte seinen Heerd geschont, um sich desto schneller verbreiten zu können.
Ein kühner Feuerwehrmann stieg zur ausgebrannten Fensteröffnung ein, mußte aber sofort wieder umkehren, da er bemerkte, daß die verkohlte Diele ihn nicht tragen werde. Der Baron war bei diesem Versuche gegenwärtig gewesen.
»Nun, was haben Sie gesehen?« fragte er.
»Ich glaube, daß die Ueberreste des kleinen Barons noch vorhanden sind. Ich glaube, zwischen anderen Resten, welche zum Bette gehört haben, etwas wie halb verkohlte Knochen liegen gesehen zu haben.«
»So muß man abwarten, bis das Feuer völlig nieder ist und die Brandruine sich abgekühlt hat. Dann werden wir sehen, ob Sie recht vermuthen!«
Baronesse Alma von Helfenstein war im königlichen Schlosse beschieden worden, daß die Majestät jetzt Vortrag entgegen nehme und erst in einigen Stunden zu sprechen sei. Sie hatte diese Zeit wie im Fieber zugebracht und war dann wieder vorgefahren. Jetzt wurde ihr der Zutritt nicht verweigert.
Sie fand den König im Audienzsaale. Er stand am Fenster und schaute ernst, sehr ernst durch dasselbe hinaus. Sie blieb an der Thür stehen und wagte kaum, zu athmen. Was war es, was ihr das Herz heute so zusammenpreßte? Sie hatte doch früher vor dem Monarchen keine solche Angst gehabt!
Da wendete er sich zu ihr herum. Augenblicklich sank sie in die Kniee und erhob flehend die Hände. Er trat langsam näher. Er gebot ihr nicht, sich zu erheben. Er blickte ihr fast streng in das Angesicht und sagte dann: »Ich weiß, um was Sie bitten wollen, Baronesse!«
»O Gnade, Gnade! Majestät!« schluchzte sie.
»Sie wollen, ich solle Gnade für ihn haben, für den Sie selbst keine gehabt haben! Ich soll ein Urtheil mildern, welches nur Ihretwegen so hart ausgefallen ist. Man hat mir den ganzen Verlauf der Untersuchung, auch den Verlauf der heutigen Verhandlung berichtet. Ich weiß, daß es vor allen Dingen Ihre Aussage ist, welche am Schwersten in die Wagschaale fiel – und doch war er Ihr Bruder! Liebe und Milde ist die Pflicht eines Weibes, auch der Schwester!«
Jedes dieser Worte traf wie ein Pfeil, welcher sich in das Leben bohrt. Aus einem solchen Munde war seine Spitze doppelt scharf.
»O, Majestät« schluchzte sie. »Konnte ich anders?«
»Ich will das nicht untersuchen. Auch will ich ihn weder für schuldig, noch für unschuldig halten. Ich bemitleide Sie und ihn.«
»Dank, Dank für dieses Wort! Darum aber auch Gnade für ihn, Gnade, Majestät!«
»Glauben Sie, daß er um Gnade nachsuchen werde? Haben Sie die Worte seines Vaters vernommen, dieses braven, biedern Mannes, welcher seinen Sohn lieber unter dem Schwerte sehen, als unter dem Joche der Gnade sich beugen lassen will?«
»Kann er den Tod erzwingen? Steht die Milde Eurer Majestät nicht über der Strenge des Gesetzes?«
Der Monarch schüttelte langsam den Kopf und antwortete:
»Ein Ehrenmann wird tausendmal lieber sterben, als Züchtling sein wollen. Aber gehen Sie, Ihre Bitte soll und darf keine vergebliche sein. Sie sind es nicht allein, welche Sympathie für den Verurtheilten hegt. Sein Blut wird nicht vergossen werden!«
Er wendete sich ab und verließ den Saal. Sie erhob sich und wankte fort nach ihrem Wagen. Das Verhalten des Königs hatte sie hart getroffen, vielleicht ebenso hart wie die Ereignisse der letzten Zeit. Er, der sonst so Gnädige, hatte sie knieen lassen und, wenn auch ihr Verhalten nicht geradezu getadelt, so doch sich über dasselbe verstimmt gezeigt. Und dann war er ohne Abschied von ihr gegangen! Hatte sie das wirklich verdient? War nicht gerade der Umstand, daß sie, von der Verhandlung weg, um die Gnade des Königs nachgesucht hate, der beste und sicherste Beweis, welche Sympathie sie trotz Allem für den Milchbruder fühlte? Hätte sie wirklich gegen ihr Gewissen sprechen können?
Solche Fragen legte sie sich vor, als sie in ihrem Hotel angekommen war. Sie mußte die Nacht über hier bleiben, da sie mit dem Abendzuge nicht bis zur Heimath gelangen konnte. Die anderen Zeugen hatten einen Zug benutzen können, welchen sie infolge ihrer Audienz beim Könige versäumen mußte.
Sie verbrachte eine außerordentlich unruhige Nacht. Der Schlaf floh ihre Augen, und Vorwürfe tauchten gespensterhaft vor ihr auf. Wie gut, wie edel war Gustav stets gewesen! Wie muthig hatte er noch am letzten Tage vor dem Doppelmorde gehandelt, und mit welcher Nachsicht und Selbstbeherrschung war er ihrem Vater entgegengetreten. Konnte er wirklich so rachsüchtig, so gottlos sein? Tausend Stimmen in ihrem Innern antworteten mit Nein. Diese Stimmen hatten bisher geschwiegen, weil sie nicht gefragt worden waren. Ja, sie war schuld an Allem! Sie hatte ihn einen Mörder genannt und war feig in Ohnmacht gefallen. Anstatt dessen hätte sie sich an seine Seite stellen sollen, um ihn muthig zu vertheidigen. Sie hätte sich sagen sollen, daß während der Zeit, als sie von ihm ging und wiederkehrte, sich wirklich ein Anderer seines Gewehres bemächtigen konnte, um den Hauptmann niederzuschießen und ihn dann als Mörder zu bezeichnen. Jetzt traten alle Argumente des Vertheidigers vor ihre Seele; es war ihr, als ob sie plötzlich hellsehend geworden sei. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und rief in jammerndem Tone: »Ja, Gustav, Du bist unschuldig! Und ich bin es, ich, die Dich in das Elend gestürzt hat! Kein Gott kann mir verzeihen!«
Sie beschloß, mit dem ersten Morgenzuge nach Helfenstein zurückzukehren, um dem Förster ihre Schuld zu bekennen und mit ihm zu berathen, wie sein Sohn noch gerettet werden könne. Sie telegraphirte nach Hause nach einem Geschirr, welches sie vom Bahnhofe der Amtsstadt abholen sollte, und stieg dann in das Coupee.
Sie hatte erste Classe genommen; sie saß ganz allein. Sie blickte nicht hinaus nach den Landschaften, welche der Zug durcheilte, sie hörte nicht auf das, was man sich auf den Bahnhöfen und Anhaltestellen zurief. Allüberall war von dem Brande von Schloß Hirschenau die Rede. Sie war aber so sehr in ihr eigenes Innere versunken, daß sie für alles außer ihr Liegende kein Ohr, kein Hören und Verstehen hatte.
Endlich war sie angelangt. Halb wie im Traume hörte sie den Namen der Station nennen. Ihr Diener war aus seiner zweiten Classe herbeigeeilt, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Er hatte mehr gehört als sie; er wußte, was geschehen war, und blickte sie mit sichtbarer Besorgniß an. Sie bemerkte dies.
»Was ist’s!« fragte sie. »Was hast Du?«
»Gnädiges Fräulein, haben Sie denn noch nichts gehört?« antwortete er.
»Gehört? Nein. Wovon? Was meinst Du denn?«
Er wurde sehr verlegen, zögerte eine Weile und sagte dann:
»Es ist etwas Unerwartetes geschehen, etwas, was man sogar unangenehm, sehr unangenehm nennen – – ah, da kommt Einer, der es Ihnen jedenfalls besser sagen kann, als ich.«
Er trat ehrerbietig zurück. Alma drehte sich um und erblickte – ihren Cousin Franz von Helfenstein.
Dieser hatte am abgebrannten Schlosse ihre Depesche entgegen genommen und es sich nicht versagen wollen, ihr den Schlag, der sie erwartete, selbst zu übermitteln. Er war also nach dem Bahnhofe gefahren, um sie dort zu empfangen.
Als sie ihn erblickte, erbleichte sie. Das war der Mörder! Was wollte er hier? Sie nahm sich vor, ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn verachte und fragte im stolzesten Tone: »Sie hier? Sie fuhren mit demselben Zuge? Ich glaubte, Sie seien bereits gestern zurück gekehrt.«
Sie nannte ihn Sie; sie blickte ihn mit Augen an, in denen ebenso viel Verachtung wie Abscheu lag. Er schien dies gar nicht zu bemerken, er zuckte leicht die Achseln und sagte: »Vielleicht konnten Sie nicht auch sogleich zurückkehren, weil Sie sich mit dem Mörder Ihres Vaters ein Rendezvous in der Zelle gaben. Ich vermuthe das. Besser wäre es allerdings gewesen, wenn Sie das unterlassen hätten. Sind Sie von dem unterrichtet, was unterdessen in Helfenstein und Schloß Hirschenau geschehen ist?«
Sie hatte seine freche Beleidigung mit aller Entschiedenheit zurückweisen wollen, aber bei seiner letzteren Frage war sein Auge mit so triumphirendem Hohne auf sie gerichtet, daß ihr das Blut in den Adern stockte. Es durchschauderte sie, als ob er mit gezücktem Degen vor ihr stehe, um ihr einen tödtlichen Hieb zu versetzen.
»Nein,« antwortete sie leise und zagend.
»Nicht? So geben Sie mir Ihren Arm. Wir müssen hier ein Zimmer aufsuchen.«
»Warum soll ich es nicht hier, sondern im Zimmer vernehmen?«
Er stieß ein kurzes, cynisches Lachen aus und antwortete:
»Weil Sie in Ohnmacht fallen werden, wie ich im Voraus weiß.«
Damit zog er sie fort. Sie nahm sich vor, nun grad ihm zum Trotze stark, sehr stark zu sein und nicht in Ohnmacht zu fallen, möge auch kommen, was da wolle. Im Wartezimmer erster Classe angekommen, wo nur wenige Gäste anwesend waren, zog sie ihren Arm aus dem seinigen und sagte: »Nun, darf ich um Ihre Mittheilung ersuchen?«
»Bitte, halten Sie sich an diesem Stuhle fest!« antwortete er höhnisch. »Was ich Ihnen zu melden habe, ist nichts weniger als angenehm. Wünschen Sie, daß ich Ihnen eine vorsichtige Einleitung mache?«
»Sprechen Sie!« gebot sie ihm stolz und kalt.
»Gut. Heute Nacht ist Schloß Hirschenau bis auf die Mauern niedergebrannt.«
Sie erbleichte, doch zeigte sie keine Schwäche.
»War das Feuer angelegt?« fragte sie.
»Nein; es war eine Folge der Vernachlässigung, wie man vermuthet. Die Herrin war ja nicht daheim.«
»Man wird das streng zu untersuchen haben. Der Verlust ist übrigens zu überwinden, da Alles versichert war. Natürlich setze ich da voraus, daß kein Menschenleben dabei beschädigt worden ist.«
»Das ist leider grad der Fall.«
Jetzt griff sie wirklich nach der Lehne des Stuhles.
»Ist Jemand verletzt worden?« fragte sie.
»Verletzt nicht, aber todt,« meinte er kalt und gleichgiltig.
»Himmel, wer ist es, wer?«
»Ihr Bruder ist mit verbrannt.«
Da fuhr sie auf ihn zu. Ihre Augen wurden starr und gläsern.
»Das ist nicht wahr! Das ist eine Lüge!« rief sie.
»Ich sehe, daß Sie unzurechnungsfähig sind; darum verzeihe ich Ihnen. Gehen Sie hinaus! Man hat seine Ueberreste gerettet. Die verkohlten Knochen und der verbrannte Schädel liegen zur Besichtigung bereit.«
Sie fuhr mit den Händen in die Luft, stieß einen unarticulirten Schrei aus und rief laut und jammernd:
»Gott! Herrgott, Dein Strafgericht beginnt!«
Dann sank sie leblos auf den Boden nieder.
Der Baron wendete sich kalt an ihren Diener, welcher unter der Thür stehen geblieben war:
»Lassen Sie sich hier ein Zimmer geben, und holen Sie einen Arzt. Ich glaube kaum, daß sie transportabel sein wird, und auf Hirschenau ist leider kein Platz für sie.«
Damit ging er von dannen, als ob ihre Person ihm ganz und gar fremd und gleichgiltig sei. –Am nächsten Morgen kam der Schmied mit seinem Sohne auf seinem Wägelchen nach dem Bahnhofe gefahren. Nachdem er einen Sack Kartoffeln abgeladen und als Passagiergut aufgegeben hatte, fuhr sein Sohn nach Helfenstein zurück, er aber stieg in den Zug, welcher nach der Residenz abging. Dort angekommen, begab er sich sofort nach dem Landesgericht und fragte nach dem neuen Schließer Christian. Dieser kam herbei und erkannte sofort den Gevattersmann seines Vaters. Er freute sich sehr, von demselben besucht zu werden, und fragte ihn, ob seine Eltern den langen Brief erhalten hätten.
»Ja,« antwortete der Schmied. »Ich habe ihn selbst gelesen.«
»Wirklich?« fragte Christian. »Nicht wahr, er war sehr schön abgefaßt?«
»Ja. Besonders das von der Karline und Gustel hat mich gerührt.«
»Das glaube ich. Im Liebesbriefschreiben habe ich etwas los. Wie aber steht es mit den Kartoffeln?«
»Die habe ich mit.«
»Sapperlot! Das ist gut. Ich will sie dem Wachtmeister schenken. Er sagt immer, daß die Kartoffeln, die man hier kauft, nichts taugen, und da will ich ihm einmal zeigen, was die richtigen Kartoffelstückchen mit Majoran oder Gottverthymian zu bedeuten haben. Aber ist es denn auch ein ganzer Sack?«
»Und wo ist er?«
»Er liegt draußen auf dem Bahnhofe als Passagiergut. Hier ist der Zettel, gegen welchen Du ihn bekommst. Das Uebergewicht habe ich bereits bezahlt. Du erhältst ihn also ganz umsonst.«
Das freute den guten Christian um so mehr. Er taute auf; die Beiden kamen in eine animirte Unterhaltung, und da der Schließer grad eine Viertelstunde Muse hatte, so gingen sie in eine nahe liegende Restauration, um ein Glas Bier zu trinken. Dort kam die Rede auch auf Gustav Brandt.
»Warst Du mit bei der Verhandlung?« fragte der Schmied.
»Nein. Ich hatte bei den Gefangenen zu thun. Ich habe überhaupt nicht zu ihm gedurft, weil wir aus einem Orte stammen. Er dauert mich, denn Alle sagen, daß er unschuldig sei.«
»Jedenfalls wird er begnadigt!«
»Natürlich!« nickte Christian, indem er ein überaus pfiffiges Gesicht machte. »Aber es hat einen Haken.«
»Welchen denn?«
»Er will kein Gnadengesuch machen. Er will sich hinrichten lassen, wie sein Vater es verlangt hat. Er sagt, wer unschuldig ist, der könne wohl Gerechtigkeit verlangen, aber keine Gnade.«
»Sakkerment, so wird er um einen Kopf kürzer gemacht! Und er hat nur diesen einen!«
Das Gesicht Christians wurde noch pfiffiger.
»Hm,« brummte er. »Ich glaube nicht daran!«
»Warum?«
»Wir königlichen Beamten kennen das am Besten, aber es ist ein Geheimniß, welches man nicht ausplaudern darf.«
»Christian! Ausplaudern! Wo denkst Du hin! Ueber Amtsgeheimnisse darf man kein Wort sagen. Aber ich denke mir, daß Du gar nichts davon wissen wirst.«
»Ah! Wieso?«
»Du bist noch jung im Amte. Solchen Leuten vertraut man nicht sogleich wichtige Geheimnisse an.«
»Oho! Was gilt die Wette?«
»Papperlapapp! Freilich, wer die königliche Uniform trägt und seinen Eltern ein Paar Stiefelpantoffeln schenkt, die noch fast ganz nagelneu sind, der kann dann schon so thun, als ob man ihm Alles anvertraut. Aber wahr ist es nicht!«
Ein solcher Mangel an Vertrauen war dem Christian unerhört. Das durfte er nicht auf sich sitzen lassen! Was sollten seine Eltern denken, wenn der Schmied, nach Hause zurückgekehrt, ihnen sagte, daß ihr Sohn gar nichts erfahre und wisse! Er setzte sich in Positur und sagte: »Es bleibt dabei: Wollen wir wetten?«
»Ja, sogleich, ich weiß doch, daß ich gewinne!«
»Wie hoch?«
»Wie Du willst!«
»Zwei Glas Bier?«
»Ja. Topp! Also beweise mir, daß Dir das Geheimniß bekannt ist, welches sich auf Gustav Brandt bezieht! Weißt Du es?«
Er blickte den Schließer triumphirend an, als ob er wirklich überzeugt sei, die Wette zu gewinnen. Dieser aber machte eine ganz ebenso siegessichere Miene, bog sich zu ihm herüber und flüsterte ihm so leise, daß die anderen Gäste nichts davon hören konnten, die Worte zu: »Er ist bereits begnadigt!«
Der Schmied schüttelte zweifelnd den Kopf und sagte:
»Unsinn, das hat man Dir nur aufgebunden! Du weißt doch nichts! Er hat ja gar nicht um Begnadigung angehalten!«
»Ja, aber gerade darum hat ihn der König aus eigenem Antriebe begnadigt.«
»Er wird es nicht annehmen!«
»Das wissen wir. Darum darf er auch nicht erfahren, was mit ihm vorgenommen werden soll.«
»Was wäre das denn?«
»Uebermorgen früh erhält er um fünf Uhr seinen Kaffee, um halb sechs Uhr wird er nach dem Bahnhofe gebracht, ohne daß er weiß, was eigentlich los ist.«
»So, so!« nickte der Schmied. »Wer es glaubt, wird selig! Wohin soll er denn geschafft werden?«
»Wo anders hin, als nach dem Zuchthause!«
»Donnerwetter! In’s Zuchthaus also!«
»Ja. Er wird das erst dann merken, wenn er drin ist. Und dann ist alles Sträuben zu spät.«
»Das ist allerdings ein sehr gescheidter Streich!«
»Nicht wahr? Er würde bereits morgen abgeführt werden, aber die Einlieferungsacten werden bis dahin nicht fertig. Habe ich nun die Wette gewonnen?«
»Ja, wenn es wahr ist, was Du gesagt hast.«
»Natürlich ist es wahr, Wort für Wort.«
»Nun, wenn man Dir so großes Vertrauen schenkt, Dir solche Geheimnisse mitzutheilen, so wirst Du ihn wohl transportiren?«
»Ich? Nein, daran denken sie allerdings nicht. So einen Gefangenen vertrauen sie nur dem Wachtmeister selbst an.«
»Diesem allein?«
»Natürlich! Mehrere sind dazu nicht nöthig, denn der Brandt ist doch kein Räuberhauptmann. Uebrigens denke ich, daß er nicht sehr lange im Zuchthause sein wird. Vielleicht zwanzig Jahre. Nach den ersten fünfzehn Jahren darf er um Entlassung anhalten, wenn er sich gut geführt hat und nicht bestraft worden ist.«
»Christian,« sagt der Schmied erstaunt, »ich bin ganz perplex über Deine Kenntnisse! So kurze Zeit erst im Dienst, kennst Du doch Alles schon so genau, wie ein Justizminister!«
»Nicht wahr? Ja, ich will auch schnell steigen!« meinte der gute Junge. »In zehn Jahren kann ich Oberschließer sein. Vielleicht gehe ich gar zu der Steuer über und werde Grenzaufseher. Dann lasse ich mich nach Helfenstein versetzen und heirathe die Gustel oder die Karline, wenn sie mir bis dahin nicht zu alt und dumpfig geworden sind. Also, wie steht es mit den zwei Glas Bier?«
»Die hast Du gewonnen!«
»Aber trinken darf ich sie leider nicht. Meine Zeit ist vorbei. Ich muß zur Fütterung.«
»So? Wen füttert Ihr denn?«
»Die Gefangenen!«
»Ach so! Ich dachte, andere Kreaturen! Na, füttern werdet Ihr sie wohl, aber nudeln nicht! Da Du das Bier jetzt nicht trinken kannst, so will ich Dir lieber das Geld geben. Hier hast Du einen Gulden.«
»Sapperlot! Das ist zu viel!«
»Nimm es nur! Vom Gevatter Deines Vaters, also von Deinem Pathen kannst Du es schon annehmen! Nicht?«
»Ja, das denke ich auch. Also einen Gruß an die Eltern! Sie mögen immerhin erfahren, welche Geheimnisse man mir anvertraut und welche Kenntnisse ich schon besitze. Adieu.«
»Adieu, Christian! Laß es Dir wohl ergehen im königlichen Dienste!«
Sie trennten sich. Der Schmied hatte das, was er wissen wollte, viel, viel leichter erfahren, als er es für möglich gehalten hatte. Er kehrte mit dem nächsten Zuge nach der Heimath zurück. Auf dem Bahnhofe kaufte er sich eine Eisenbahnkarte, welche er mit nach Hause nahm.
Dort angekommen, begab er sich mit seinem Sohne nach einem Kämmerchen, in welchem sie nicht belauscht werden konnten.
»Ich bringe gute Botschaft,« sagte er. »Uebermorgen früh halb sechs Uhr fährt der Brandt in Begleitung des Wachtmeisters nach dem Zuchthause. Er ist zu lebenslänglichem Kerker begnadigt, ohne es zu wissen. Er wird es erst dort erfahren.«
Der Sohn kratzte sich hinter den Ohren.
»Daran sind wir schuld, Vater,« meinte er. »Wir müssen ihn unbedingt retten!«
»Natürlich!«
»Aber wie? Es wird wohl nur unterwegs gehen!«
»Sonst nicht. Mein Plan ist fertig.«
»Aber gefährlich wird es sein. Wir wagen das Leben und riskiren noch obendrein selbst das Zuchthaus!«
»Das haben wir schon hundert Mal gethan! Zwei erfahrene Pascher, wie wir sind, werden es wohl fertigbringen, einen Menschen aus dem Coupee zu holen!«
»Wie willst Du das anfangen? Das Abspringen während des Fahrens ist gefährlich. Ihr könnt Hals und Beine brechen, und dann steht die Sache noch schlimmer als vorher.«
»So springen wir eben nicht im Fahren ab!«
»Also während des Haltens auf einem Bahnhofe? Bist Du toll?«
»Hat Dein Vater schon einmal etwas wirklich Tolles, Unsinniges unternommen? Ich dachte, Du würdest mich besser kennen! Höre mich einmal an! Die Strecke, welche Brandt fährt, hast Du stellenweise öfters auch schon benutzt?«
»Sogar sehr oft!«
»Kennst Du die Strecke zwischen Brandenau und Liebenstein?«
»O, so gut wie meine Tasche! Hinter Brandenau geht es durch einen langen Tunnel und dann eine weite Strecke durch den Wald.«
»Gut! Hinter dem Tunnel macht die Bahn eine ziemlich weite Curve, und dann geht sie schnurgerade über eine halbe Stunde lang durch den Wald. Hinter dieser Curve hast Du Dich rechtzeitig einzufinden.«
»Ich? Was habe ich da zu thun?«
»Ich weiß, daß dort im Walde viele große, einzelne Steine liegen. Ehe der Zug kommt, begeht der Bahnwärter die Strecke. Er darf Dich nicht sehen. Sobald Du den Zug kommen hörst, legst Du einen solchen Stein auf die Schienen.«
»Donnerwetter! Soll der Zug verunglücken?«
»Bei Leibe nicht! Die Bahn ist hinter der Curve so schnurgerade, daß der Maschinist den Stein zur rechten Zeit sehen wird und also halten kann. Das ist es grad, was ich will.«
»Ah so! Ich verstehe! Du willst mitten im Walde mit ihm abspringen?«
»Ja. Habe ich ihn einmal zwischen den Bäumen, dann soll ihn kein Mensch ergreifen. Dafür stehe ich ein.«
»Wie ist meine Instruction weiter?«
»Ich mache Dir ein Packet zusammen. Das nimmst Du mit und verbirgst es am Dachsberge, welcher nur eine halbe Stunde weit von jener Curve entfernt liegt. An der Seite des Dachsberges steht eine riesige Eiche, welche Du kennen wirst?«
»Oh, sehr gut!«
»Bei ihr treffen wir zusammen. Das Packet enthält Kleidungsstücke und allerlei Anderes für Brandt, wodurch wir ihn unkenntlich machen werden.«
»Und dann?«