»Das wird sich erst finden, wenn wir wissen, was Brandt zu thun beschließt.«
»Ich denke, daß er vor allen Dingen seine Eltern sehen will, um von ihnen Abschied zu nehmen.«
»Das befürchte ich auch. Wir müssen uns also vorsehen. Die Hauptsache bei Allem ist, daß Du, nachdem Du die Kleider versteckt hast, auf Deinem Posten bist. Fehlst Du zur geeigneten Zeit, so kann Alles verloren sein, und der arme Teufel muß in das Zuchthaus.«
»Natürlich werde ich da sein, und wenn es mir das Leben kosten soll. Natürlich tragen auch wir Beide falsches Haar und falschen Bart?«
»Das versteht sich ganz von selbst. Ich ziehe mich als Viehhändler an, mit der Geldkatze um den Leib und der Peitsche über der Achsel.«
»Wie aber willst Du in sein Coupee kommen?«
»Das laß nur meine Sorge sein. Ich sitze bereits von der Residenz aus in dem Zuge. Ich muß wissen, in welchem Coupee er sitzt, und wenn ich erst unterwegs einsteige, ist es fast unmöglich, dies zu erfahren, ohne daß es auffällt. Diese Karte der Bahn steckst Du zu Dir, damit Du Dich orientiren kannst.« – –
Am andern Abende trat ein Herr in das Gastzimmer eines Fremdenhauses der Residenz. Er war nicht nobel aber auch nicht schlecht gekleidet, hatte eine dicke Geldkatze um die Hüften geschnallt und eine biegsame Peitsche quer über die Achsel nach unten gebunden. Er verlangte eine Flasche Wein, aß gut und viel, bezahlte mit einem Ducaten, gab ein gutes Trinkgeld und fragte dann, ob er für diese Nacht ein Zimmer bekommen könne.
Solche Gäste pflegen die Wirthe sehr gern zu sehen. Seine Frage wurde also sofort bejahend beantwortet. Er vertiefte sich einige Zeit lang in die Zeitung und ging dann schlafen, nachdem er seinen Namen und seinen Stand eingetragen hatte. Der Letztere lautete: Viehhändler. Droben im Zimmer ordnete er an, daß man ihn früh wecken solle, weil er bereits kurz nach fünf Uhr auf dem Bahnhofe sein müsse.
Am anderen Morgen lag das Zellenhaus des Gerichtspalastes in schwarzer Finsterniß. Nur im Mitteltheile des Gebäudes brannte eine Lampe. Kaum aber hatte es fünf Uhr geschlagen, so wurde es in den langen, schmalen Corridoren licht und lebendig. Die Wärter und Schließer eilten von Zelle zu Zelle, um die Thüren zu öffnen, den Kaffee oder die magere Morgensuppe zu vertheilen und dann die Riegel wieder vorzuschieben.
Die Zellen blieben von jetzt an wieder verschlossen. Nur eine einzige wurde bereits nach fünf Minuten wieder geöffnet. Der Wachtmeister selbst war es, welcher dies that. Es war finster im Innern, und nur der Schein, welcher von außen hineinfiel, erlaubte, eine männliche Gestalt zu erkennen, welche auf der Bank saß und den dünnen Kaffee aus einer niedrigen Blechschüssel trank.
»Guten Morgen, Herr Brandt!« grüßte der Beamte.
Das war eine sehr seltene Bevorzugung.
»Guten Morgen, Herr Wachtmeister,« lautete die Antwort.
Der Gefangene gab dieselbe, indem er sich höflich erhob und der Thüre näherte.
»Wann werden Sie mit dem Kaffee fertig sein?«
»Nur noch einen Schluck.«
»Na, so eilig ist es nicht. Aber halten Sie sich bereit, in einer Viertelstunde in meine Expedition zu kommen!«
»So früh? Liegt vielleicht etwas Neues, Unerwartetes vor?«
»Allerdings!«
»Was meiner Angelegenheit eine andere Wendung geben wird?«
»Ja.«
»Eine bessere?«
»Ich freue mich, Ihnen das bestätigen zu können.«
»Gott sei Dank! Endlich, nachdem bereits das Todesurtheil gefällt ist, scheint die Vorsehung sich meiner erbarmen zu wollen. Ich darf wohl nicht fragen, welcher Natur dies unerwartete Ereigniß ist?«
»Sie wissen, daß Schweigen leider allzu sehr meine Pflicht ist. Nur das kann ich Ihnen sagen, daß wir eine kleine Reise unternehmen werden.«
»Nach meiner Heimath? Nach dem Orte des Verbrechens?«
»Auch hierüber muß ich schweigen.«
»Ah, ich ahne dennoch, daß es sich um eine Recognition handelt, vielleicht um eine Wiederaufnahme der Untersuchung. – Gott sei gelobt!«
Der Wachtmeister ging. Er war ein harter Mann, aber die Täuschung, welcher sich der Gefangene hingab, flößte ihm doch einiges Mitleid ein. Als der Gefangene nach der angegebenen Zeit zu ihm gebracht wurde, stand er, ihn reisefertig erwartend, in seiner Expedition.
»Herr Brandt,« sagte er. »Sie wissen, daß Sie zum Tode verurtheilt sind –«
»Leider weiß ich das nur allzu gut!« antwortete der Unglückliche.
»Sie kennen wohl auch die Strenge meiner Verpflichtung. Sehen Sie her! Es thut mir leid, aber ich kann es nicht ändern!«
Er brachte ein Paar Handschellen zum Vorschein. Ueber das Gesicht Brandt’s flog eine schnelle Röthe. Seine Augen leuchteten zornig auf, doch mäßigte er sich und sagte in höflichem Tone:
»Können Sie mir diese Demüthigung wirklich nicht erlassen?«
»Nein. Ich bin instruirt, sie zu fesseln.«
»Aber ich werde Ihnen nicht entschlüpfen!«
»Ich habe mich auf alle Fälle sicher zu stellen!«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, mein heiliges Ehrenwort, daß ich Ihnen nachlaufen werde wie ein Hund.«
»Ich kann nicht; ich darf nicht!«
»Herr Wachtmeister, Sie wissen, daß ich hier in der Residenz angestellt war, daß Viele, sehr Viele mich kennen. Welch eine Demüthigung für mich, wenn man auf dem Bahnhofe mit Fingern auf mich zeigt.«
»Wir werden uns so setzen oder stellen, daß man uns gar nicht bemerken wird.«
»Und diejenigen, welche mit in dem Coupee sitzen!«
»Als Transporteur eines Gefangenen habe ich nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, ein Einzelcoupee zu verlangen!«
»Also ist es Ihnen auf alle Fälle unmöglich, mich von den Fesseln zu dispensiren?«
»Ja. Selbst wenn meine Extrainstruction nicht so lautete, würde ich Sie fesseln; ich bin es so gewöhnt; ich bin stets vorsichtig!«
»Dann haben Sie weder ein Herz noch ein Gefühl für Ehre und Ehrenwort! Die Freundlichkeit, die Sie mir bisher gezeigt haben, ist nur Schein gewesen. Sie haben, um sich und Ihren Schergen den Dienst zu erleichtern, mich, den Mörder, den gefährlichen Menschen, bei guter Stimmung erhalten wollen –!«
»Oho!« fiel da der Wachtmeister ein. »Sind Sie der Vorgesetzte hier, oder bin ich es?«
»Keiner von uns Beiden ist es. Sie stehen nicht über mir, und ich nicht unter Ihnen. Ich befinde mich nur in Ihrer Obhut, und Sie haben mich zu bewachen. So ist unser Verhältniß.«
»Ja, so ist es allerdings! Und ich werde Sie streng, sehr streng bewachen, darauf können Sie sich verlassen. Her mit den Händen!«
Brandt streckte ihm, im höchsten Grade aufgebracht, die Hände entgegen und sagte:
»Hier sind sie! Nun ich sehe, daß alle Ihre Freundlichkeit nur Falschheit war, daher glaube ich auch nicht, was Sie mir heute oben in meiner Zelle sagten. Die Veränderung, welche meine Lage erleiden soll, ist jedenfalls keine gute. Entweder werde ich jetzt auf das Schafott geführt, oder nach dem Zuchthause, zu welchem man mich ohne meine Einwilligung begnadigt haben mag. In beiden Fällen erhebe ich Ein-und Widerspruch. In beiden Fällen werde ich den äußersten Widerstand leisten!«
»Versuchen Sie es!« meinte der Beamte höhnisch, indem er die Hände des Gefangenen mit den Eisenringen umschloß.
Brandt warf den Kopf empor wie ein Löwe, welcher gereizt wird, und sagte mit erhobener Stimme:
»Ich gab Ihnen mein Ehrenwort, Ihnen zu folgen wie ein Hund seinem Herm. Nun Sie mein Ehrenwort zurückgewiesen haben und mich wie ein wildes Thier der Bewegung berauben, sage ich Ihnen mit aller Aufrichtigkeit, daß ich Ihnen entspringen werde wo und sobald sich mir die Gelegenheit dazu bietet!«
»Sie werden damit nichts Anderes erreichen als nur eine Verschlimmerung Ihrer Lage. Wir sind fertig. Kommen Sie!«
Sie traten den Weg nach dem Bahnhofe an. Dort angekommen, löste der Wachtmeister die Billets mit so leiser Stimme, daß der Gefangene das Ziel der Reise unmöglich verstehen konnte.
Der Beamte zog es vor, sich mit seinem Manne an einer weniger erleuchteten Stelle des Bahnhofes aufzustellen. Er wollte nicht in das Wartezimmer treten. Er hatte, um Brandt’s ganz und gar sicher zu sein, diesem eine starke Schnur um den Leib gebunden und hielt die Enden derselben in der Hand. Aber trotz dieser doppelten Fesselung überkam es ihn doch wie eine nicht ganz leichte Sorge. Der Gefangene hatte im höchsten Zorne gesagt, daß er den äußersten Widerstand leisten und jede Gelegenheit zur Flucht ergreifen werde. Er trug zwar die Handschellen und war an die Schnur befestigt; aber was konnte nicht unterwegs im stillen, einsamen Coupee passiren. Brandt konnte wenigstens einen Angriff, einen Fluchtversuch wagen, und wenn derselbe auch nicht gelang, so war es für den Wachtmeister doch leicht möglich, eine Verletzung davon zu tragen.
Und wer ist allwissend? Wie viele und wie ungeahnte Fälle konnten eintreten, welche dem Gefangenen günstig waren, während der Beamte ihnen ungerüstet gegenüberstand!
Ja, wenn ein starker und zuverlässiger Mann zu finden wäre, welcher sich erbitten ließ, die Reise in solcher Gesellschaft zu machen!
Kam dieser Gedanke in Folge der vorherigen Ueberlegungen? Kam er unwillkürlich? Oder war er eine indirecte Folge des Umstandes, daß ein starker Herr langsam auf dem Perron hin-und herschriitt und zuweilen, scheinbar ohne sie nur zu bemerken, an den Beiden vorüberging? Der Wachtmeister konnte sich diese Frage nicht beantworten; aber als der Fremde wieder ganz nahe gekommen war, trat er mehr instinctiv als infolge eines klaren Entschlusses einen Schritt auf ihn zu und sagte:
»Entschuldigung, mein Herr! Wohin fahren Sie?«
»Nach Blankenwerda,« lautete die rasche, kurz entschlossene Antwort.
»Ah, das ist auch meine Richtung! Dritter Classe, wenn ich fragen darf?«
»Dritter!«
»Nein.«
»Erlauben Sie, mich Ihnen vorzustellen! Ich bin Wachtmeister beim königlichen Landesgericht.«
»Ich bin Viehhändler, mein Herr, habe aber auch als Wachtmeister gedient, nämlich bei den Kürassiren.«
»So sind wir ja, so zu sagen, Collegen. Wollen wir uns nicht während dcr Fahrt einander anschließen?«
»Warum nicht! Wer ist der andere Herr?«
»O, der zählt jetzt nicht mit! Ich habe ihn in einer Strafproceßsache zu transportiren.«
»Donnerwetter! Also ein Gefangener! Schöne Gesellschaft!«
»Ich hoffe, daß Sie Ihre Einwilligung nicht zurücknehmen.«
»Eigentlich sollte ich! Aber weil ich stets gern ein Mann von Wort bin, so mag es dabei bleihen. Aber Sie nehmen wohl ein geschlossenes Coupee?«
»Ich muß!«
»Na, mir auch recht. Wer einmal A gesagt hat, muß auch B sagen; das ist so der Welt Lauf.«
Als sie später im Coupee beisammen saßen, wünschte sich der Schmied im Stillen Glück. Er hatte erst den Plan gehabt, ein nahes Coupee zu nehmen und während der Fahrt durch das Tunnel mittelst des Trittbrettes in das gegenwärtige zu gelangen. Im Finstern, hatte er gehofft, war der Wachtmeister ja sehr leicht zu übermannen. Jetzt war es ihm leichter gemacht. Er ahnte, daß der Wachtmeister eine heimliche Furcht vor dem Gefangenen habe und daher auf den Gedanken gekommen sei, einen kräftigen Passagier zu sich herein zu laden.
»Das heißt den Bock zum Gärtner gemacht!« brummte er vergnügt in sich hinein.
Da der Tag noch nicht angebrochen war, befand sich eine Lampe in dem Wagen, welche einen matten Schimmer um sich warf. Bei diesem unzulänglichen Scheine betrachtete Brandt den Fremden. Die Stimme desselben war ihm so bekannt, so heimathlich vorgekommen, aber er mochte sinnen, wie er wollte, er kam nicht auf die richtige Spur.
Erst als es Tag geworden war und auch Kleinigkeiten besser gesehen werden konnten, betrachteten sich die drei Passagiere genauer. Der Schmied hatte sich kluger Weise neben den Wachtmeister gesetzt, dessen Auge also nicht für stets auf ihn gerichtet sein konnte. Er sah, daß das Auge des Gefangenen nachdenklich und immer nachdenklicher wurde. Er ahnte, daß er ihm bekannt vorkomme, und beschloß, ihm einen Wink zu geben. Er wartete einen Augenblick ab, an welchem der Wachtmeister sich abgewendet hatte, um zum Fenster hinauszublicken, und sagte, allerdings unhörbar, aber so, daß ihm die langsam construirten Worte von den Lippen gelesen werden konnten:
Brandt hatte ihn scharf angesehen und die Worte deutlich von dem Munde des Sprechers weggenommen. War es möglich? Wolf, der Schmied aus Helfenstein? Was für eine Absicht hatte ihn herbei geführt? Der obere Theil des Gesichtes war allerdings demjenigen des Schmiedes ähnlich, aber die andere Hälfte wurde von einem langen, starken Vollbarte verdeckt, während Wolf keinen Bart trug. Auch das Haar dieses Viehhändlers war lang, während der Schmied das seinige ganz kurz abgeschoren zu tragen pflegte.
Ein Kennzeichen aber gab es doch. Brandt erinnerte sich aus seiner Jugendzeit, daß der Schmied sich einst mit dem großen Schlaghammer auf den Daumen getroffen habe. Der Finger war so verstümmelt gewesen, daß der Nagel verloren ging, ohne durch einen Neuwuchs ersetzt zu werden. Er blickte nach der Hand des Viehhändlers. Ja, dort am rechten Daumen fehlte der Nagel – er war es!
Warum aber diese Verkleidung? Wollte er ihn retten? Seine Seele jauchzte auf. Er machte einen Versuch, es zu erfahren, indem er an einem unbeobachteten Augenblicke mit dem Kopfe nach dem Fenster nickte. Der Schmied nickte zustimmend und ballte die Faust. Das war genug gesagt.
Was aber hatte ihn veranlaßt, ein solches Abenteuer zu unternehmen? So fragte sich Brandt. Er hatte wohl öfters davon sprechen hören, daß Wolf vielleicht ein Schmuggler sei. Das aber konnte doch nicht die Veranlassung dazu sein, grad Denjenigen zu befreien, welcher damals die großartige Pascherei gestört und so werthvolle Güter confiscirt hatte.
Da fuhr der Zug in Brandenau ein. Als er diese Station verließ, setzte sich der Wachtmeister zu Brandt auf die gegenüberliegende Bank.
»Warum dorthin?« fragte der Schmied.
»Ich muß neben meinem Gefangenen sitzen, um ihn an der Hand zu haben. Er will entweichen, und wir werden sogleich an das Tunnel kommen. Wollen Sie mir nicht die Gefälligkeit erweisen, sich an seine andere Seite zu setzen?«
Da stieß der Schmied ein lustiges Lachen aus und antwortete:
»Haben Sie mich zum Gesellschafter gewählt, damit ich Ihnen helfen soll, den Gefangenen zu bewachen?«
»Ja. Ich will es eingestehen.«
»Hm! Aber haben Sie denn für den Fall der Noth gar keine Waffe bei sich?«
»Nein.«
»Welch eine Unvorsichtigkeit, dies zu unterlassen und es auch einzugestehen. Sehen Sie, da bin ich vorsichtiger!«
Er griff in die Tasche und zog ein geladenes Doppelterzerol hervor.
»Das ist gut! Nun kann er nichts anfangen!« meinte erfreut der Wachtmeister.
»Ja, das ist wahr! So ein Terzerol ist nicht nur vortrefflich zum Schießen, sondern auch vortrefflich zum Schlagen. Sehen Sie, ungefähr so!«
Er nahm die Läufe in die Hand und schlug den Kolben dem Beamten, ehe dieser es sich versah, in der Weise gegen die Schläfe, daß der Getroffene sofort besinnungslos in die Ecke des Sitzes sank.
»So!« sagte er. »Dem ist einstweilen geholfen. Aber vor allen Dingen, bitte, mein Lieber, keinen Namen nennen. Das Erste, was zu thun ist, wir müssen Ihnen diese verdammten Handschellen abnehmen. Der Kerl wird den Schlüssel dazu wohl in der Tasche haben. Suchen wir!«
Er durchsuchte die Taschen des Besinnungslosen und fand den Schlüssel, der sehr klein war, im Portemonnai. Er nahm den Ersteren und steckte das Letztere unversehrt wieder in die Tasche zurück.
»Zunächst auch weg mit der Leine! So!« sagte er. »Und nun geben Sie Ihre Hände her!«
Brandt folgte der Aufforderung und war in einigen Secunden wieder im freien Besitze seiner Arme und Hände. Er wollte sprechen, aber die innere Aufregung machte ihm jedes Wort zur Unmöglichkeit. Der Schmied aber befand sich ganz in seinem Elemente.
»Kommen Sie!« lachte er. »Jetzt wollen wir diesem guten Manne die Handschellen anlegen, damit er auch einmal merkt, wie hübsch ein solcher Schmuck ist. Helfen Sie!«
Brandt gehorchte ihm. Dann zog der Schmied das Taschentuch des Gefesselten hervor, steckte es ihm als Knebel in den Mund und band ihm dann auch die Ellenbogen nach hinten und die Kniee und die Fußknöchel mit der Leine zusammen.
»So!« sagte er darauf. »Gerade zur rechten Zeit, denn da kommt das Tunnel!«
Sie brausten in die Finsterniß hinein. Als sie wieder an das Tageslicht kamen, hatte Brandt endlich Worte gefunden.
»Aber sagen Sie mir um Gottes willen,« fragte er. »Was veranlaßt Sie denn, sich meiner in dieser Weise anzunehmen?«
»Still! Darüber jetzt kein Wort! In fünf Minuten wird der Zug anhalten, dann müssen wir ausspringen. Wir rennen gerade in den Wald hinein, Sie immer scharf hinter mir her. Aber nehmen Sie sich in Acht, daß sie nicht stürzen oder gar noch ergriffen werden!«
»Warum sollte der Zug mitten im Walde halten?«
»Ich habe dafür gesorgt. Ich bin nämlich nicht allein hier, sondern wir haben noch einen Kameraden, welcher den Zug anhalten wird. Ah, hören Sie! Jetzt!«
Die Dampfpfeife stieß das bekannte, schrille, markerschütternde Warnungssignal aus. Sofort kreischten die Bremsen und Räder, und der Zug kam nach und nach zum Stehen. Der Maschinist hatte den Stein keinen Augenblick zu früh gesehen, denn er lag kaum drei Fuß von den Vorderrädern der Locomotive entfernt auf der Schiene.
»Was ist’s? Was giebt’s? Was ist geschehen?« schrie, rief und fragte es aus den Fenstern, welche alle geöffnet wurden. Die Schaffner konnten es nicht verhindern, daß sich die Passagiere die Thüren selbst öffneten und aus den Wagen sprangen. Der Zug hatte sich in der Zeit von einer halben Minute entleert.
Alles eilte nach vorn. Niemand gab Acht auf die beiden Männer, die zunächst ganz dieselbe Richtung einschlugen.
Der Schmied hatte gedacht, daß sie eine förmliche Flucht zu ergreifen haben müßten, da aber der Wachtmeister noch immer nicht erwachte und Alles nach vorn drängte, so stieg er ganz gemächlich aus und sagte zu dem ihm ebenso langsam folgenden Brandt:
»Ah, das giebt einen Hauptspaß. Kommen Sie! Wir werden verfolgen, anstatt verfolgt zu werden!«
Er schritt rasch zur Locomotive. Dort angekommen, erblickte er den Stein, blickte suchend zwischen die Bäume und rief sodann mit seiner Stentorstimme, welche die anderen übertönte:
»Einen Stein auf die Schienen gelegt? Donnerwetter! Wir konnten da Alle capores sein! Wer hat das gethan? Ah, Donnerwetter, steht dort nicht ein Kerl zwischen den Bäumen? Wart, Bursche, Du sollst herkommen!«
Er sprang vorwärts, mit dem Eifer eines Menschen, welcher einen anderen fangen will.
»Ja, dort steht er! Jetzt reißt er aus!«
Mit diesen Worten eilte Brandt hinter ihm her. Alles, was Beine hatte, folgte ihnen; nur die Beamten blieben bei ihren Posten zurück. Der Stein wurde auf die Seite geschafft, und da kehrten auch die begeisterten Verfolger zurück, zunächst die Frauen und Kinder und sodann auch die männlichen Passagiere. Einer nach dem Anderen. Keiner aber hatte den Thäter gesehen.
Der Zugführer fluchte und wetterte; es war weit über eine Viertelstunde Zeit versäumt worden. Das mußte schleunigst wieder eingeholt werden, um die fahrplanmäßigen Minuten einhalten zu können.
»Einsteigen, schnell einsteigen!« ertönte es aus den Kehlen der Schaffner, denen auch nichts an einer Verspätung lag.
Die Wagen füllten sich wieder, kein Passagier war mehr außerhalb derselben zu sehen. Die Thüren wurden zugeschlagen, ohne daß man sich genau überzeugte, ob ein jeder in sein richtiges Coupee zurückgekehrt sei. Der Pfiff der Locomotive erscholl, der Zugführer antwortete.
»Fertig!« ertönte das Commando.
Die Räder setzten sich langsam wieder in Bewegung, drehten sich schneller und schneller um ihre Achsen, und bald hatte der Zug eine gesteigertere Geschwindigkeit als vorher, ehe er zum Halten gezwungen wurde. Der Stein des Anstoßes war überwunden.
An den nächsten Stationen kamen und gingen die Passagiere. Als der Zug den letzten Anhaltepunkt vor Felsenberg hinter sich hatte, kletterte der Schaffner am Trittbrete daher, öffnete eins der Fenster und rief hinein:
»Billets nach Felsenberg!«
Er wußte genau, daß ein Beamter mit einem Gefangenen hier Billets nach der Zuchthausstadt gehabt hatte und daß bei Beiden ein Herr gesessen hatte, welcher noch weiter, nach Blankenwerda wollte. Aber keine Antwort ertönte. Er steckte den Kopf zum Fenster hinein und sah – einen gefesselten und geknebelten Menschen auf der Bank liegen. Er wollte während des Fahrens die Thür öffnen, aber da ertönte bereits der Signalpfiff. Der Zug hatte Felsenberg erreicht. Als er anhielt, machte der Schaffner sofortige Meldung. Alles eilte herbei. Man fand – einen Beamten, welcher einen Gefangenen nach dem Zuchthause hatte bringen sollen, jetzt aber selbst gefesselt, aus dem Coupee gehoben wurde. –
Als der Schmied und Gustav Brandt den Wald erreichten, waren ihnen die Anderen gefolgt, aber nicht mit der gleichen Schnelligkeit. Bereits nach drei Minuten blieb Wolf stehen, stemmte die kräftigen Fäuste in die Seiten und stieß ein lautes Lachen aus.
»Donnerwetter!« rief er aus. »War das nicht ein wahrer Geniestreich, mein Lieber? Den macht uns nicht sogleich ein Anderer nach! Sind Sie außer Athem?«
»Ganz und gar nicht.«
»Nun, wir haben allerdings auch keine Eile. Ehe man uns findet, muß man den Wald so studiren, wie ich ihn studirt habe.«
Da hielt Brandt den Sprecher fest und sagte:
»Hier meine Hand! Vor allen Dingen meinen Dank für das Wagniß, dem ich meine Freiheit verdanke!«
»Schon gut, schon gut! Es ist nicht so sehr schlimm. Man wagt oft noch ganz andere Dinge! Der beste Dank ist der, daß Sie jetzt und in alle Ewigkeit verschweigen, wer es eigentlich ist, der Sie aus der Tinte geholt hat.«
»Aber was hat Sie denn eigentlich veranlaßt, mich zu befreien?«
Da nickte ihm der Schmied treuherzig ehrlich zu und antwortete:
»Das will ich Ihnen sagen. Ihr Vater ist ein Ehrenmann und Sie sind unschuldig. Das ist Grund genug!«
»Woher wissen Sie denn, daß ich unschuldig bin?« fragte Gustav, aufmerksam werdend.
»O, das wissen wir ja Alle! Nur eine Verkettung der unglückseligsten Umstände konnte Sie auf die Anklagebank bringen.«
»Sie sind ein braver Mann! Woher aber wußten Sie, daß Sie mich auf dem Bahnhofe treffen würden?«
»Vom Sohne unseres Todtengräbers, welcher Schließer ist.«
»Ah, so haben Sie vielleicht auch erfahren, wohin man mich heut bringen wollte?«
»Natürlich weiß ich das! Ins Zuchthaus sollte es gehen. Der König hat Sie aus eigenem Antriebe zu lebenslänglichem Kerker begnadigt.«
»Mein Gott, was stand mir da bevor! Ich hätte mich getödtet! Ich habe Ihnen nicht nur die Freiheit, sondern auch das Leben zu verdanken! Aber, Sie sprachen ja von einem Zweiten, welcher bei meiner Rettung mit geholfen hat?«
»Ja. Sie sollen ihn sehen. Kommen Sie!«
Er verdoppelte seine Schritte, so daß Brandt ihm kaum zu folgen vermochte. Als sie bei der Eiche am Dachsberge ankamen, sahen sie den Sohn des Schmiedes aus dem Busch gekrochen kommen. Er sowohl wie sein Vater legten ihre Umhüllungen ab, wuschen sich in einem nahen Wasser und legten dann ihre gewöhnliche Kleidung an.
Natürlich gab es unterdessen ein Fragen und Erkundigen, Antworten und Erklären, welches kein Ende nehmen wollte. Dem machte der Schmied einen Beschluß durch die Frage:
»Die Hauptsache ist, was gedenken Sie nun zu thun?«
»Natürlich muß ich schleunigst außer Landes!«
»Gut. Verkleidung haben wir mitgebracht, einen Paß auf den Namen meines Sohnes hier auch, und Geld – hm, es ist nicht viel, aber zweihundert Thaler habe ich beisammen.«
Da streckte Gustav ihm die beiden Hände entgegen und sagte:
»Ihr braven Leute! Wie soll ich Euch danken! Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich zu solcher Freundschaft und zu solchen Opfern komme! Das erstere nehme ich an, die Verkleidung und den Paß, das letztere aber weise ich zurück. Für Geld wird mein Vater sorgen.«
»Sie wollen zum Förster?«
»Ja, natürlich!«
»Heut? Sogleich?«
»Ja. Und wenn es mein Leben gelten sollte, ich gehe nicht eher fort, als bis ich von den Eltern Abschied genommen habe.«
»Dachte ich es mir doch! Wissen Sie auch, was Sie wagen?«
»Ja. Sobald es ruchbar wird, daß ich entflohen bin, wird man telegraphiren, das Forsthaus zu bewachen. Aber ich werde es gar nicht betreten. Sie werden die Güte haben, Vater und Mutter heut Abend an einen Ort zu bestellen, wo man mich nicht vermuthen kann.«
»Nein, das werde ich nicht,« meinte der Schmied.
»Warum nicht? Wollen Sie Ihr Werk nicht krönen?«
»Das ist gar nicht nöthig. Wer wird denn Versteckens spielen, wenn man gar kein Versteck braucht? Sie werden frei und offen zu Ihren Eltern gehen, meinetwegen durch ein ganzes Heer von Gensdarmen hindurch, und Niemand soll Sie erkennen.«
»Wird die Verkleidung so gut sein?«
»Das will ich meinen. Gieb einmal her.«
Sein Sohn brachte ein Bündel aus den Büschen heraus. Es enthielt einen Anzug, welcher ganz vortrefflich für Gustav paßte. Eine hellblonde Perrücke, ein eben solcher Schnurr-und Backenbart, Tusche, Schminke und Puder – kurz und gut, als der Schmied ihn eine halbe Stunde unter den Händen gehabt hatte, hielt er ihm einen kleinen Taschenspiegel vor und fragte:
»Hier! Sehen Sie hinein! Kennen Sie den Kerl?«
Gustav fuhr erstaunt zurück und antwortete:
»Bei Gott, das bin ich nicht! Erstaunlich! Sie leisten mehr als der beste Friseur der Residenz!«
»Muß ich auch,« lachte der Schmied.
»Müssen? Wieso?«
»Hm! Man hat es zuweilen nöthig, seinem äußeren Menschen einen anderen Anstrich zu geben.«
»Wolf, Wolf! Wie es scheint, ist es wahr, was man von Ihnen munkelt!«
»Was denn?«
»Daß Sie Pascher sind!«
»Na, Sie können mir nichts mehr schaden, und da will ich es ja gestehen. Ein Wenig herüber und hinüber mache ich, aber nicht von Bedeutung. Ihnen kommt dies heut zu statten. Wir haben es nämlich weg, uns zu verändern, so daß uns Niemand kennt. Das ist aber auch sehr nöthig, sonst stäken wir schon längst da, wohin man Sie heut bringen wollte. Aber hier sind wir nun fertig. Jetzt geht es nach Annendorf.«
»Warum dorthin?«
»Weil ich da einen Vetter habe, welcher mir Pferd und Wagen borgen wird. Wir fahren nach Hause. Vielleicht kommen wir auf diese Weise dort eher an als die Gensdarmerie.« –
Es war gegen Mittag desselben Tages, da saß Alma von Helfenstein bei der Frau des Bahnhofsinspectors. Diese Dame hatte sich ihrer angenommen, als sie in Ohnmacht gefallen war, und ihr ein Zimmer angewiesen, in welchem sie sich ausruhen und erholen konnte.
Sie fühlte sich zum Sterben matt. Die Nachricht von dem gräßlichen Tode ihres Bruders war fast ein Todesschlag für sie gewesen. Jetzt nun hatte sie das Bett verlassen, um zu sehen, ob es ihr möglich sei, ihre Schwäche zu beherrschen.
Sie dachte nicht an die Zukunft; sie dachte nur an Vergangenes. Sie schloß der bürgerlichen, aber herzensguten und gebildeten Frau ihr Herz auf und erzählte ihr Alles, was in letzter Zeit auf sie hereingestürmt sei. So erfuhr die Inspectorin, daß sie sich die Schuld an dem Schicksale Brandt’s beilegte. Sie versuchte, sie zu trösten und aufzurichten.
Sie waren so mit diesem Thema beschäftigt, daß sie gar nicht bemerkten, daß der Inspector unter der Thür stand und die letzten Sätze ihres Gespräches gehört hatte. Er machte eine Bewegung der Ueberraschung, trat zurück, schloß die Thür und öffnete sie dann mit größerem Geräusch.
Die beiden Damen wendeten sich zu ihm um. Seine Frau kannte seine Eigenthümlichkeiten sehr genau. Kaum hatte sie einen Blick auf ihn geworfen, so sagte sie:
»Was ist geschehen? Du bist entweder erschrocken oder irgendwie ergriffen. Bringst Du eine Nachricht?«
»Vielleicht!« antwortete er, Alma fixirend.
»Sie betrifft mich?« fragte Diese sofort.
»Ja, gnädiges Fräulein.«
»So reden Sie, Herr Inspector!«
Er wurde ein Wenig verlegen und sagte dann:
»Wollen Sie mir sagen, ob Sie Herrn Brandt noch immer für schuldig halten?«
»Ich habe an ihm schwer gefehlt und gesündigt; heute kann ich es beschwören, daß er unschuldig ist!«
»Auch ich habe nicht an ihm gezweifelt. Sie müssen wissen, daß wir Freunde sind. Wir kannten uns, als ich noch in der Residenz angestellt war. Ihn betrifft die Nachricht, welche ich bringe.«
»Ihn? Gott, ist es etwas Gutes oder Schlimmes?«
»Zunächst muß ich bemerken, daß ich um die allerstrengste Verschwiegenheit bitte. Was ich Ihnen mittheile ist, streng genommen, eine Verletzung des Dienstgeheimnisses. Nämlich soeben ist eine Depesche angelangt, welche Brandt betrifft.«
»Was ist’s? Was ist’s?« fragte Alma, aufspringend.
»Geduld, gnädiges Fräulein! Die Majestät hat ihm die Todestrafe erlassen und – –«
»Ich weiß das bereits!« fiel sie ungeduldig ein.
»Und sie in lebenslängliches Zuchthaus verwandelt,« fuhr der Berichterstatter fort.
»Er wird sich lieber tödten, als in’s Zuchthaus gehen.«
»Das sagte man sich auch. Daher hat man ihn heute früh mit dem ersten Zuge in das Coupee gebracht, ohne ihm von der Begnadigung ein Wort zu sagen!«
»Nein, mein Fräulein, er wird sich nicht tödten!« lächelte der Inspector. »Denn als der erste Zug in Felsenberg anlangte und der Schaffner das Coupee öffnete, da – –«
»Gott, mein Gott, was werde ich hören!« unterbrach sie ihn angstvoll.
»Nichts Schlimmes!« beruhigte er sie. »Also, als der Schaffner das Coupee öffnete, da lag in demselben – – der Amtswachtmeister, welcher ihn transportirt hatte, mit angelegten Handschellen, gefesselt und geknebelt.«
»Jesus Christus! Und der Gefangene?«
»War verschwunden.«
»Gott sei tausend Dank!« rief Alma, die Hände jubelnd zusammenschlagend. »Er ist frei! Er ist entkommen! Er ist kein Zuchthäusler! Meine Last wird leichter, denn er wird nun Mittel und Wege finden, seine Unschuld zu beweisen und den wirklichen Thäter zu entdecken«
»Ich hoffe das auch,« meinte der Inspector ernst. »Für den Augenblick aber befindet er sich in großer Gefahr. Man sucht ihn bereits im ganzen Lande; man wird die Grenze eng besetzen, und das Telegramm, von welchem ich sprach, und welches ich hier in der Hand habe, ist nicht an mich, sondern an den Gensdarmeriewachtmeister gerichtet. Es enthält den Befehl – –«
»Welchen Befehl?« fragte Alma, schnell auf ihn zutretend.
»Comtesse!« sagte er. »Mein Dienstgeheimniß!«
»O bitte, bitte!« flehte sie. »Sie sind ja auch sein Freund!«
Er zauderte noch, als er aber auch in den Augen seines Weibes eine stille Bitte las, sagte er:
»Nun wohl, ich will es wagen! Er ist ja unschuldig, und Ihr werdet mich nicht verrathen. Die Gensdarmerie erhält den Befehl, schleunigst das Forsthaus zu Helfenstein zu besetzen, da man meint, daß er zunächst seine Eltern besuchen wird.«
»Mein Gott, mein Gott!« rief Alma. »Man muß den Förster warnen!«
»Ich darf das nicht thun.«
»So thue ich es!«
»Sie sind zu schwach! Sie können unmöglich gehen!«
»So fahre ich! Uebrigens bin ich stark, so stark wie ein Riese, wenn es sich darum handelt, ihn zu retten! Wann bekommt der Gensdarmeriewachtmeister das Telegramm?«
»Sofort!«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
»Welch ein Unglück! Könnte das Telegramm nicht erst in einer Viertelstunde expedirt werden?«
Er sann einen Augenblick nach und sagte dann:
»Das ist unmöglich! Das ist zuviel verlangt, gnädige Baronesse! Wer auch soll den Förster warnen? Ich? Das wäre Wahnsinn. Ein Dritter? Man darf sich Niemand anvertrauen!«
»Ich doch, ich selbst!«
»Das wäre das Einzige. Aber Ihre Schwäche!«
»Ich bin stark, ich bin gesund! Nur einen Wagen, einen Wagen her, Herr Inspector!«
»Unten hält ein Lohnkutscher, welcher auf die Passagiere des nächsten Zuges wartet. Sie dürfen ihm aber nicht sagen, daß Sie nach Helfenstein und dem dortigen Forsthause wollen. Sie müssen sich erst unterwegs darauf besinnen.«
»Sie sind ein kluger und vorsichtiger Mann. Ich werde Ihnen gehorchen. Aber die Depesche!«
»Hm!« lächelte der herzensgute Mann. »Ich finde, daß ich da einen fatalen orthographischen Schnitzer gemacht habe. Ich habe mich in der Eile verschrieben, gerade wie ein Schulknabe. Ich sehe, daß ich die Depesche noch einmal abschreiben muß, und ich hoffe, daß ich nicht durch etwas noch Anderes dabei gestört werde. Wie gut, daß ich das heute selbst besorgen muß, weil der Thelegraphist seinen freien Tag hat. Soll ich den Lohnkutscher schicken?«
»Ja! Sogleich! Bitte!« antwortete sie.
Sie fühlte sich so stark, so wohl, so unternehmend, wie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Sie umarmte die Inspectorin und sagte:
»Ihr Gemahl ist ein Engel! Adieu! Ich muß eilen! Aber wir sehen uns bald wieder!«
Ihr Diener war auf kurze Zeit nach Schloß Hirschenau gegangen, um sich die Brandstelle zu besehen; sie brauchte sich mit ihm nicht zu befassen. Sie fand den Kutscher bereits ihrer wartend und sagte ihm den Namen eines benachbarten Dorfes. Erst unterwegs, als die Wege auseinander gingen, bemerkte sie ihm, daß sie sich anders besonnen habe und zunächst nach der Helfensteiner Försterei müsse.
Der Weg führte durch den Wald und war so schmal, daß sich stellenweise nicht zwei Wagen ausweichen konnten. Gerade an einer solchen Stelle begegnete ihr ein Reiter. Er drängte sein Pferd ganz an den Rand des Hohlweges, und ihr Geschirr kam so nahe an ihn heran, daß die beiden Pferde in einen kurzen Zwist gerieten. Der Kutscher hielt an.
Der Reiter mochte etwas über dreißig zählen, war zwar nicht elegant, aber doch sehr anständig gekleidet und hatte etwas Fremdländisches. Er griff an seinen Hut und sagte:
»Entschuldigung, mein Fräulein, daß ich Ihre Reise unterbreche. Ich habe mich im Walde verirrt. Wo komme ich nach der nächsten Bahnstation?«
»Sie liegt da, woher ich komme,« antwortete sie, den eigenthümlichen Wohlklang seines Dialectes bewundernd. Er sprach das Deutsche wie ein Italiener.
»Und wohin führt der Weg, den ich komme? Ich stieß von der Seite her auf ihn.«
»Nach einem einsamen Forsthause.«
»Nach welchem Orte gehört dasselbe?«
»Nach Helfenstein.«
»Ah, ist der Förster ein alter Herr mit grauem Schnurrbart?«
»Ja.«
»Ich traf ihn heute früh im Walde und vergaß, ihn um Etwas zu fragen. Würden Sie mir erlauben, Ihrem Kutscher – aber Sie fahren wohl gar nicht nach dem Forsthause?«
»O doch! Ich fahre direct hin. Wenn ich Ihnen einen Dienst erweisen kann, so bin ich gern bereit dazu.«
»O bitte, nur eine Zeile im Couvert dem Förster durch den Kutscher hier übergeben zu lassen!«
»Ich selbst werde es ihm übermitteln, mein Herr!«
»Dann erlauben Sie!«
Er zog ein Täschchen hervor, schrieb einige Worte auf eine der darin enthaltenen Karten, steckte dieselbe in ein dazu passendes, kleines Couvert, welches sich bei den Karten befand, verschloß dasselbe und gab es ihr.
»So, meine Dame! Darf ich danken?«
Er ergriff das Händchen, welches sein Couvert an sich genommen hatte, bog sich so weit wie möglich zum Wagen nieder und zog es an seine Lippen. Er küßte die Hand ein, zwei, drei Male, drängte dann sein Pferd vorüber und trabte davon.
Ihr war gar eigenthümlich zu Muthe geworden. Wie konnte dieser Fremdling es wagen, dreimal zu küssen?
Der Kutscher hatte jetzt Platz und fuhr weiter. Als das Geschirr bei dem Forsthause anhielt, trat der Förster aus der Thür. Er sah gar nicht so aus wie ein Mann, der so Schlimmes erlebt hat und dem ein neues Unheil droht, so heiter sah er aus. Er half ihr beim Aussteigen. Sie gab ihm ihre beiden Hände und sah ihm bittend in die Augen, indem in die ihrigen die Tränen traten.
Er nickte ihr gütig zu und sagte:
»Ich weiß; ich weiß. Kommen Sie nur herein, Baronesse!«
Drin kam ihr auch die Försterin entgegen, um ihr die Hand zu geben. Wie oft war sie in diesem Hause, in diesem Stübchen gewesen, und welches Glück hatte – aber zu solchen Reflexionen gab es jetzt keine Zeit! Sie wendete sich an die beiden Alten und sagte:
»Papa und Mama Brandt, ich komme, um Ihnen eine Nachricht zu bringen, welche zugleich gut und auch schlimm ist. Nämlich Gustav ist entflohen, und man wird kommen, ihn hier zu suchen!«
Das Ehepaar that gar nicht so erschrocken, wie sie es erwartet hatte. Der Förster antwortete einfach:
»Sie mögen nur immer kommen!«
»So haben Sie wohl gar keine Angst? Ich bin erst vor Schreck halb todt gewesen, und dann aber sogleich herbei geeilt, um Sie zu warnen, damit er nicht hier ergriffen wird!«
»Mein Kind, wie können Sie erschrecken! Sie haben ihn ja für schuldig gehalten, und ein Schuldiger verdient kein Mitleid!«
Da warf sie sich der Försterin um den Hals und schluchzte:
»Vergieb mir! Oh, ich war betört; ich war bös, sehr bös! Aber ich sehe ein, daß ich unrecht gehandelt habe. Ich habe eingesehen, daß er unschuldig ist und daß ich ihn in das Verderben stürzte.«
»Nun, so schlimm ist es denn doch wohl nicht!«
»O, der König sagte es auch!«
»Er wird wohl seine Absicht dabei gehabt haben. Sicher ist, daß der Verdacht auch ohne Sie auf Gustav gefallen wäre.«
»O, ich war so froh, als ich hörte, daß es ihm gelungen ist, zu entkommen. Er wird sicherlich zuerst die Eltern aufsuchen, und dann, ja dann ist er verloren!«
»Das wollen wir abwarten! Aber was ist das in Ihrer Hand?«
»Ich begegnete einem Reiter, einem Fremden, welcher mich bat, dieses Couvert dem Förster von Helfenstein zu geben. Der Mensch wagte es, mir dreimal die Hand zu küssen!«
Die beiden Leute lächelten einander an. Der Förster nahm das Couvert, öffnete es, warf einen Blick auf die Karte und gab sie ihr dann zurück.
»Lesen Sie selbst!« sagte er.
Sie las. Auf ihrem Gesichte wechselte die Röthe mit der Blässe. Sie umarmte die Försterin abermals und rief jubelnd:
»Er war es, er? Oh, so werden sie ihn nicht erkennen! Er wird entkommen. Und er hat mir verziehen, verziehen, verziehen!«
Nun ging es an ein Erklären. Auf der Karte hatte gestanden:
»Verzeiht ihr so wie ich ihr verzeihe! Sie war und bleibt mein einziger, mein lieber, süßer Sonnenstrahl!«