Zweites Kapitel

Das Opfer des Wüstlings

Der gewaltigste der Dichter und Schriftsteller ist – – das Leben. Es ist weder von Shakespeare, Milton und Scott, von Dante, Tasso und Ariost, noch von Göthe, Schiller und Anderen erreicht oder gar übertroffen worden. Das Leben schreibt mir diamantenem Griffel; seine Schrift ist unvergänglich, seine Logik unbestechlich, seine Charakteristik von unveränderbarer Treue, seine Schilderung hinreißend und von herzergreifender Wahrheit. Was es darstellt, ist wirklich geschehen; die Personen, welche es handelnd aufführt, haben wirklich gelebt oder leben noch. Es giebt keinen Redacteur, keinen Kritiker, keine Censur, überhaupt keine irdische Feder, welcher es erlaubt wäre, von dem Manuscripte der wirklichen Thatsachen auch nur einen Buchstaben zu streichen.

Das Leben arbeitet in unendlicher Rastlosigkeit, und nur, wenn der Blick des Sterblichen, von der Colossalität des Allgemeinen überwältigt, sich auf das Besondere und Einzelne richtet, kann es zuweilen scheinen, als ob die Geschichtsschreiberin der Welt-und Erdenentwicklung einmal die Feder ermüdet aus der Hand gelegt habe. Pausen scheinen eingetreten und Gedankenstriche gemacht worden zu sein. Personen sind verschwunden und Ereignisse in Stillstand versunken. –

Dem ist aber nicht so! Ueber eine kleine Weile – und solche kurze Pausen können im Zeitengange Jahrzehnte und Jahrhunderte bedeuten – entwickeln sich aus den scheinbaren Gedankenstrichen Buchstaben und Worte, welche in deutlicher Lesbarkeit beweisen, daß im Uebergange des Geschehenen zum Gegenwärtigen und Zukünftigen unmöglich eine auch nur sekundenlange Pause eintreten kann.

Die Gegenwart schlägt ihre Wurzel stets in die Vergangenheit. Wer die Erstere begreifen will, muß unbedingt die Letztere kennen. – So ist es auch bei der ebenso großartigen wie räthselhaften Erscheinung, welche der »Fürst des Elendes« bietet. Sie kann nur Dem erklärlich sein, welchem die Erlaubniß zu Theil wird, einen Blick in die Vergangenheit dieses außerordentlichen Characters zu thun. Dieser Blick ist durch das bisher Erzählte ermöglicht worden, und nun kann das rastlos schaffende Leben seinen Griffel zur Fortsetzung auf die eherne Tafel der Geschichte richten.

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Ungefähr zwanzig Jahre waren vergangen. Am heutigen Tage, an welchem man den letzten November schrieb, war ein tiefer Schnee gefallen; dann hatte sich das Wetter aufgeklärt, und jetzt, am Abende, gab es eine Kälte, welche die Glieder zu durchschneiden schien.

Es war der erste Tag des Weihnachtsmarktes. Die Läden waren doppelt hell erleuchtet als sonst; auf den Straßen und Plätzen standen zahlreiche Buden, in welchen Alles zu haben war, worauf sich die weihnachtlichen Wünsche nur immer erstrecken konnten. Die Käufer, reich oder armselig bekleidet, durchstampften den Schnee, um sich die Waaren anzusehen, und die Verkäufer gaben sich die erdenklichste Mühe, ihre Auslagen an den Mann zu bringen.

Eigentlich hätte man sagen können, daß Reich und Arm geschieden sei. Es gab Plätze, wo nur der von dem Glück Bevorzugte kaufen konnte, während in den abgelegeneren und düstereren Winkeln und Gassen Diejenigen sich zurückgezogen hatten, deren Waaren mehr für die Mittel Derjenigen geeignet waren, welche mit den Sorgen des Lebens zu kämpfen haben und doch den Ihrigen gern eine Festfreude machen wollen.

In einem dieser Winkel saß eine Obsthökerin vor ihrem Stande, welcher durch zwei Laternen erleuchtet war. Sie saß auf einem Schemel, unter welchem ein Becken mit glühenden Holzkohlen stand. Ihren weiten, dicken, altmodischen Mantel hatte sie so um sich geschlagen, daß er rund um den Schemel herum den Boden erreichte. Auf diese Weise ging von der Wärme der Kohlengluth gar nichts verloren.

Ihr zur Rechten stand ein kleines, wackeliges Tischchen, auf dem ein Häufchen aus Binsenmark geflochtene Vogel-oder vielmehr Taubengestalten zu sehen war. Man sieht solche Figuren oft an den Zimmerdecken armer Leute hängen und nennt sie ›heilige Geister‹.

Ihr zur Linken war der Schnee in einem kleinem Vierecke gleich mit den Händen entfernt worden, und auf diesem Fleckchen Erde stand ein Dutzend kleiner Holzfiguren, roh mit der Hand geschnitzt, mit Wasserfarben bemalt und mit beweglichen Armen und Beinen versehen.

Vor dem Tischchen zur Rechten stand ein Knabe, welcher ungefähr dreizehn Jahre alt sein mochte. Er strampelte mit den Beinen und schlug die Arme übereinander, denn es fror ihn gewaltig.

Vor den Holzfiguren kauerte ein vielleicht elfjähriges Mädchen. Sie war nur mit einem dünnen Röckchen und einem eben solchen Kopftuch bekleidet und hatte einen alten, zerrissenen Frauenspenser um sich hängen, welcher ihrer Mutter oder Großmutter gehören mochte. Weil er ihr im Stehen nicht bis auf die Füße reichte, hatte sie sich in den Schnee gekauert, um ganz bedeckt zu sein. Doch zeigte das Schütteln, welches ihre kleine Gestalt immer öfterer überlief, daß ihr die Kälte gar sehr zu schaffen machte.

In der Ferne sah man Droschken oder reiche Equipagenschlitten mit gallonirten Kutschern und Bedienten vorüberfliegen; die Strahlen der Ladenlichter glänzten verlockend herüber; hierher aber kamen gewiß nur Personen, welche kaum jemals in einem Schlitten gesessen hatten oder in einem solchen Laden gewesen waren.

Und näherte sich ja Jemand, so begann sogleich der Concurrenzstreit:

»Äpfel, schöne Weihnachtsäpfel, meine Herrschaften!« rief die Obstfrau. »Die Birne blank, süß und saftig; der reine Zucker und Honig!«

»Heilige Geister, schöne heilige Geister; ganz neu!« rief der Junge, vor Kälte strampelnd. »Seien Sie doch so gut, und kaufen Sie mir einen ab! Sie halten einen ganzen Winter lang und noch darüber hinaus!«

Und das kleine Mädchen zur Linken erhob ihr zaghaftes Stimmchen:

»Hampelmänner und Strampelmänner! Die Arme und Beine wackeln so schön, wenn man am Bindfaden zieht!«

Hier und da kaufte sich Jemand einiges Obst; aber die beiden Kinder nahmen keinen Pfennig ein. Das Mädchen weinte endlich vor Frost und Kummer leise vor sich hin.

Zwischen den nahe liegenden Buden ging ein Mann auf und ab, welcher sein Augenmerk auf diese Gruppe gerichtet zu haben schien.

Da nahte eine Dame, hinter welcher ein Diener mit einem großen Korbe ging.

»Äpfel! Heilige Geister! Hampelmänner!« wurde ihr entgegen gerufen.

Sie trat zu dem Knaben und besah sich dessen Waaren.

»Was ist Dein Vater, mein Kind?« fragte sie mit sanfter Stimme.

»Ich habe keinen Vater. Meine Mutter hat diese heiligen Geister gemacht. Es kostet einer fünfzehn Pfennige.«

»Ich kann keinen gebrauchen; aber weil Du so frierst, werde ich Dir Etwas schenken.«

Sie reichte ihm ein Geldstück hin. Er nahm es, besah es und bedankte sich dann in einem Tone, welcher bewies, daß er ein so reiches Geschenk gar nicht erwartet hatte.

Das leise weinende Mädchen hatte das gesehen. Sie erhob sich aus dem Schnee und sagte in bittendem Tone, welchem das Weinen anzuhören war:

»O, Madame, schenken Sie mir doch auch Etwas!«

Die Angeredete näherte sich ihr und fragte mild:

»Du weinst, meine Kleine? Dich friert wohl sehr?«

»Mich friert, und mich hungert. Es kauft mir Niemand Etwas ab, und wir haben nichts zu essen.«

»Was ist Dein Vater?«

»Holzspalter. Er hat sich mit der Axt in das Bein gehackt, und nun kann er nicht arbeiten.«

»Hast Du eine Mutter?«

»Ja; sie ist Waschfrau. Sie hat sich erkältet; da bekam sie die Gicht, und nun kann sie die Hände und die Füße nicht mehr bewegen.«

»Hast Du auch noch Geschwister?«

»Noch fünf. Ich bin die Große.«

»Welches Elend! Ich brauche keine Hampelmänner, aber ich werde auch Dir Etwas schenken. Hier hast Du Geld und diese Karte; da steht mein Name und meine Wohnung drauf. Gehe jetzt nach Hause, und bringe das Deinem Vater. Er mag zu mir kommen oder schicken, wenn er mehr braucht. Du sollst nicht wieder Hampelmänner feil halten und so frieren wie heute.«

Ihre Stimme hatte so einen süßen, sympathischen Ton. Diese Dame mußte ein tiefes, herzensgutes Gemüth besitzen!

Sie hatte sich kaum entfernt, so trat der Mann herbei, welcher während dieser Szene näher getreten war, um zu hören, was gesprochen wurde.

»Was hat sie Dir gegeben?« fragte er das Mädchen. »Zeig her!«

Er sagte dies in einem so befehlenden Tone, daß sie es nicht wagte, sich zu sträuben. Sie hatte drei Thaler erhalten, und auf der Karte stand eine Freiherrenkrone und darunter der Name »Alma von Helfenstein«.

»Du hast gebettelt!« sagte der Mann.

»Nein; ich habe verkauft!« entschuldigte sich das Kind.

»Schweig! Ich habe gehört, daß Du sagtest, sie solle Dir auch Etwas geben. Gebettelt darf nicht werden. Deine Hampelmänner sind nur als Deckmantel dieses Unfuges da! Nimm sie und komm mit!«

Er trat zu der Höckerin, zeigte ihr seine Marke und sagte:

»Hier! Damit Sie sehen, daß ich Polizist bin. Vorwärts, Mädchen!«

Sie begann jetzt laut zu weinen, viel lauter als vorher. Sie machte sogar den Versuch, eine Bitte auszusprechen. Es half ihr nichts; sie mußte ihm folgen; das arme Kind, vor einigen Minuten noch so glücklich über die drei blanken Thaler, wurde arretirt. –

Ganz um dieselbe Zeit schritt ein Mann, der in einen warmen Ueberzieher gehüllt war, über den Hauptmarkt und trat in eines der schönsten Gebäude dieses Platzes. Ein Portier in Livree empfing ihn und that ihm durch ein freundliches, halb respectvolles Kopfnicken kund, daß er passiren könne.

Der Fußboden bestand aus Marmor, ebenso die Treppe. Warme Lüfte wehten hier, denn der ganze Palast wurde durch Luftheizung gegen die Kälte des Winters geschützt.

Droben wurde der Mann von einem Diener empfangen, der ihn zu kennen schien und ihm den Ueberzieher abnahm.

»Guten Abend, Herr Seidelmann« grüßte er.

»Guten Abend, lieber Friedrich! Ist der Herr Baron noch zu sprechen?«

»Ja, ich werde Sie sogleich melden!«

Der Diener ging, um dieses Versprechen zu erfüllen. Herr Seidelmann trat an einen Spiegel, strich sich sein weniges Haar auf dem kahlen, glänzenden Scheitel zurecht, zupfte an seinem weißen Halstuche herum, gab seinem Gesichte einen möglichst ehrwürdigen Ausdruck und trat sodann durch die Thür, welche der Diener ihm soeben öffnete.

Aus der gegenüber liegenden Thür trat – Baron Franz von Helfenstein. Er war in den zwanzig Jahren magerer geworden, viel älter eigentlich nicht; aber sein Gesicht hatte jenes eigenthümliche Etwas an sich, welches den Roué kennzeichnet und den Menschen, welcher nur durch künstliche Mittel den Schein zu bewahren vermag, daß er sich noch im Besitze der körperlichen Frische befinde.

Herr Seidelmann machte eine tiefe Verneigung und sagte:

»Verzeihung, daß ich störe, Herr Baron! Ich komme, mir meine Instructionen zu holen.«

»Allgemeine oder besondere?« fragte Helfenstein, während er sein Monocle in die Augenhöhle befestigte.

»Beides!«

»Dazu habe ich leider jetzt keine Zeit. Man hat mir die Ehre erwiesen, mich zum Dirigenten des hiesigen Armenwesens zu ernennen. Es war mir das nicht lieb, ja, einigermaßen fatal, da es meine Zeit, welche ich anderweit so nothwendig brauche, fast ganz absorbirt. Sie, mein Ehrwürdigster, nehmen mir zwar ein gut Theil der Arbeit ab; aber es bleibt mir dennoch genug übrig, um mich öfters geradezu zu verstimmen. Nächstens haben wir ja wieder Sitzung. Bis dahin wollen wir das Allgemeine aufheben. Und das Besondere – ah, was haben Sie in Beziehung darauf?«

»Da will ich kurz sein und nur das Haus in der Wasserstraße erwähnen. Es ist Ihr Eigenthum, und daher liegen die Verhältnisse desselben mir doppelt am Herzen. Heut ist der letzte November – –!«

»Ah, da ist morgen der Zins wieder fällig! Wie gut, wenn man nur monatlich vermietet! Dieses Pack würde sonst niemals zahlen!«

»Haben sie Jemandem zu kündigen?«

»Hm! Wäre das nicht bereits zu spät?«

»Sechs Uhr ist die gesetzliche Frist, allerdings vorüber, aber mit diesem Volke macht man ja kein Federlesens.«

»Nun, wie steht es mit dem Holzhacker im Parterre?«

»Er wird bezahlen können.«

»So? Hat er denn endlich einmal Geld?«

»Er wird jedenfalls morgen welches einnehmen.«

Dabei hatte das Gesicht des Herrn Seidelmann einen Ausdruck angenommen, ähnlich demjenigen des Fuchses in der Fabel, welcher sich ehrbar der Henne nähert, um ihr die Küchlein wegzufressen.

»Gut, so mag er bleiben!« meinte der Baron. »Und der Schneider-Musikant im dritten Stockwerke?«

»Mit dem steht es sehr schlecht. Er wird es nicht mehr lange machen. Die Auszehrung bringt ihn um.«

»Hm! Ich werde mit diesem unglücklichen Manne doch noch einige Zeit Nachsicht haben. Man ist leider nicht ganz ohne Herz und Gemüth!«

»Der gnädige Herr haben Recht. Ihr Herz ist warm und empfänglich für alles Gute und Edle.«

Dabei aber machte er das Gesicht eines Mannes, dem ein Betrunkener sagt, daß er noch niemals ein Glas Schnaps oder Wein getrunken habe.

»Und die Andern?« fragte der Baron.

»O, die weiß ich zu nehmen! Sie müssen bezahlen außer –«

»Ja,« fiel ihm Helfenstein in die Rede, »Sie sind der beste Cassirer und kennen den Werth des Mammons. Also mit dem Schneider wollen wir noch einige Zeit Geduld haben; aber besuchen können Sie ihn, um ihm in das Gewissen zu reden.«

»Und der Graveur und der Mechanikus, welche ich noch erwähnen wollte, grad als ich die Ehre hatte, unterbrochen zu werden?«

»Das sind zwei junge, strebsame Burschen, welche wir nicht drängen wollen. Doch, apropos, da fällt mir eben ein: Ist der älteste Sohn des Schneiders sein leibliches Kind?«

»Nein, er ist nur der Pflegesohn, trägt aber den Namen seines Pflegevaters, da man den seinigen nicht kennt.«

»Wie kommt der Schneider bei seiner Armuth dazu, einen Pflegesohn zu haben?«

»Vor zwanzig Jahren war er wohlhabend und einer der besten Uniformkünstler der Residenz. Er war zugleich ein ausgezeichneter Waldhornist; diese Fertigkeit aber hat ihm die Auszehrung an den Hals gebracht. Das Waldhorn kam in Wegfall, es wurde durch das Cornet und die Trompete verdrängt. Mit der Musik, welche ihm Geld eingebracht hatte, war es aus. Sein Brustleiden hinderte ihn am Schneidern; er kam herunter. In seinen guten Tagen war er kinderlos. Er sowohl wie seine Frau sehnten sich nach einem Kinde. Sie gingen in das Findelhaus und suchten sich einen Knaben aus, den sie gut erzogen. Ich glaube, sie würgten ihn bis zur Prima im Gymnasium empor, dann aber war es aus. Es ging nicht mehr. Der Junge sitzt jetzt daheim und macht den Privatschreiber. Was er dabei verdient, kann nur eine Wenigkeit sein.«

»Die anderen Kinder sind also nachgeboren?«

»Ja.«

»Hm! Haben Sie nicht bemerkt, ob dieser Pflegesohn vielleicht ein Liebesverhältniß mit der ältesten Tochter unterhält?«

»Das glaube ich nicht, obgleich ich zugebe, daß die Geschwisterliebe leicht in ein gefährlicheres Stadium treten kann. Ich werde diese Beiden beobachten. Das Mädchen ist wirklich allerliebst, sogar schön, sehr schön.«

»Beobachten Sie. Ließ sich zwischen Geschwistern ein so unnatürliches Verhältniß constatiren, so würde ich meine Hand abziehen. Nachsicht wäre dann der größte Fehler. Haben Sie noch etwas?«

»Ich glaube zu Ende zu sein.«

»So lassen Sie uns abbrechen. Ich bin sehr beschäftigt.«

Herr Seidelmann entfernte sich, nachdem er eine sehr tiefe und ergebene Verbeugung gemacht hatte. Der Baron blickte nach der Thür, hinter welcher er verschwunden war, und murmelte:

»Dieser Schlaukopf ahnt, daß ich in das Mädchen verliebt bin bis über die Ohren. Ich muß sie haben, obgleich sie mich wiederholt zurückgewiesen hat! Meine Frau – ah pah! Die Umarmung eines tugendhaften Mädchens ist doch etwas ganz Anderes!«

Er schritt durch mehrere Zimmer und klopfte dann an eine Thür.

»Du, Franz?« fragte eine weibliche Stimme von innen.

»Ja,« antwortete er.

»Tritt herein!«

Er öffnete die Thür und zog sie hinter sich wieder zu.

»Ah!« sagte er überrascht. »Ich störe!«

»O nein, obgleich Du mich jetzt im Bade findest,« lachte sie. »Vor dem Manne darf die Frau selbst in dieser Beziehung kein Geheimniß haben.«

Das Boudoir, in welchem sie sich befanden, war mit einem wahrhaft raffinirten Luxus ausgestattet. Es besaß die bequeme Einrichtung, daß man nur an einen Knopf zu drücken brauchte, so öffnete sich die eine Wand, um den vollständigen Badeapparat einzulassen.

Die Baronin, das einstige Bauermädchen, die frühere Zofe, saß in einer Badewanne, welche aus cararischem Marmor gefertigt war. Wer sie hier erblickte, mußte sich sagen, daß sie ein üppiges und noch immer schönes Weib sei, obgleich sie bereits über vierzig Jahre zählte. Sie saß aufrecht. Ihr aufgelöstes Haar, welches noch ebenso voll und glänzend war wie damals, als sie das Seidenkleid ihrer Herrin anprobierte, umfloß ihren Oberkörper und fiel dann wie eine dunkle, weiche Fluth in das Wasser nieder. Ihr allerdings zu üppiger Körper zeigte nicht das leiseste Fleckchen, er war glänzend wie Alabaster und von einer so glänzenden Weiße, als sei er aus demselben Marmor gemeißelt, wie die Wanne, in welcher sie sich befand.

Und trotz dieses mehr als verführerischen Anblickes stand der Baron kalt und unbewegt vor ihr, als ob der Urstoff seines Körpers eben auch nichts anderes als Marmor sei.

»Kommst Du aus Liebe oder aus – Geschäftsabsichten?« fragte ihn die Baronin.

Er zuckte die Achsel, zog sein Cigarrenetui hervor, steckte sich, ohne Rücksicht darauf, daß er sich in einem Damenboudoir befand, eine Havannah an und antwortete leichthin:

»Aus Liebe? Wie kommst Du mir heut vor?«

Sie zog die Mundwinkel scheinbar schmollend empor und antwortete:

»Ach ja! Die Zeiten der ersten Liebe sind längst vorüber!«

»Der ersten? Mache keine Witze! Meine erste Liebe warst Du nie, das habe ich Dir tausendmal in aller Aufrichtigkeit gesagt. Und ich etwa die Deinige? Meinst Du, daß ich daran glaube?«

»Nein, Du glaubst nicht daran. Auch habe ich Dir ja mit eben solcher Aufrichtigkeit gesagt, daß mein Herz früher bereits einmal engagirt gewesen war.«

»Allerdings. Aber Denjenigen, der es engagirt hatte, den hast Du mir nicht genannt.«

»Das würde zu nichts führen!«

»Aber es wäre interessant. Du bist zur Courtisane geboren, schön, üppig und glühend, aber ebenso berechnend und habgierig. Du bist ja eigentlich auch Courtisane, seit wir uns gegenseitig die Erlaubniß gegeben haben, ungestört lieben und genießen zu können, wen wir wollen. Du hast Dich aus reiner Berechnung in den Besitz meiner Person gesetzt. Ich glaube, daß Du für einen Augenblick wünschen kannst, von Jemand umarmt zu werden, aber ein wirkliches Verliebtsein, eine tiefere Liebe traue ich Dir nicht zu. Daher möchte ich wissen, wer Derjenige ist, von dem Du sagen kannst, daß er Dein Herz ernstlich engagirt habe.«

»Und das ist bloße Neu-oder sagen wir Wißbegierde?«

»Weiter nichts!«

»Keine Eifersucht?«

Er hatte sich bequem auf einen Sessel niedergelassen. Jetzt lachte er, daß dieser Stuhl wackelte. Als er sich beruhigt hatte, antwortete er:

»Ich eifersüchtig auf Dich? Welch ein Blödsinn! Ich sage Dir: Wäre ich jetzt hier eingetreten und hätte irgend einen Anbeter neben Dir im Bade gefunden, so würde ich ganz höflich um Entschuldigung gebeten haben.«

»Du hättest wirklich weiter nichts gethan?«

»O doch!«

»Was?«

»Ich wär schleunigst fortgegangen.«

»Natürlich um Polizei oder einen Secundanten zu holen!«

»Fällt mir gar nicht ein. Ich hätte mich ruhig in das Casino begeben, um eine Parthie Billard oder Tarock zu spielen.«

Sie schien sich über diese Gleichgiltigkeit, an der sie im Grunde genommen gar nicht zweifelte, zu ärgern. Selbst wenn eine Frau ihren Mann nicht liebt, will sie doch von ihm beachtet sein. Sie sagte daher, ein wenig ärgerlich:

»Ich darf also wirklich machen, was ich will?«

»Gewiß! Ganz dasselbe fordere ich aber auch für mich. Nun kannst Du mir wohl sagen, wer damals Deine Liebe besaß?«

»Du würdest Dich wundern!«

»Schön! Desto besser! Ich wundere mich gern.«

Sie blickte ihm fest in das Gesicht und sagte langsam und mit Nachdruck:

»Nun gut! Gustav Brandt war es.«

Er fuhr empor, als hätte ihn eine Natter gestochen.

»Brandt?« rief er. »Bist Du von Sinnen!«

»Ja, ich war damals kaum bei Sinnen, als ich bemerkte, daß er mich gar nicht beachtete, sondern diese Alma vorzog. Oder willst Du etwa sagen, daß er nicht liebenswerth, daß er kein schöner Mann gewesen sei?«

»Mann? Ein Knabe war er!«

»In meinen Augen nicht. Ich habe ihm zehn und hundert Male Gelegenheit gegeben, sich von mir verführen zu lassen; ich habe diese Gelegenheiten förmlich gewaltsam herbeigezogen – vergebens; er wich mir aus! Ahnte er meine Absicht? Ich kann es heute noch nicht sagen; aber ich schwur ihm dafür Rache. Wird ein Weib verschmäht, so ist ihr Grimm dann größer, gewaltiger und – gefährlicher als ihre Liebe.«

»Ja, das glaube ich! Und gerächt hast Du Dich ja!«

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich Dir meine Verschwiegenheit angeboten hätte, wenn diese verschmähte Liebe nicht gewesen wäre. Wo mag er jetzt sein?«

»Pah! Verschollen, verschwunden, verdorben!«

»Meinst Du? Mir ist, als ob wir ihn noch immer zu fürchten hätten!«

»Diesen Gedanken verlache ich geradezu. Es sind zwanzig Jahre vergangen; er ist als verurtheilter Mörder entflohen und darf niemals zurückkehren. Selbst wenn er zurückkehrte, welche Spur will er noch finden, was will er uns noch anhaben?«

»Du magst recht haben. Brechen wir also ab! Ich bin heute zu Hellenbach’s geladen. Gehst Du mit?«

»Nein.«

»Warum denn nun nicht?«

»Ich habe keine Zeit; ich bin beschäftigt.«

»Das mache mir nicht weiß! Du scheust Dich vor dem Obersten von Hellenbach, weil Du damals – wollte sagen, weil damals sein Bruder, der Hauptmann, in Helfenstein ermordet wurde!«

»Auch hier bist Du auf der unrechten Fährte. Von einer Scheu ist keine Rede; aber alle diese Hellenbach’s, der Vater, die Mutter, die Tochter, das musikalische Ding, sind mir unsympathisch.«

»Und doch halten sie solche Freundschaft, weil der alte verstorbene Hellenbach so außerordentlich mit Deinem, leider von Gustav Brandt ermordeten Cousin sympathisirte.«

»Mag sein. Ich ginge wohl öfters hin, aber diese – diese verdammte Cousine, diese Alma! Sie kommt auch zuweilen, und sie mag ich nun gar nicht sehen!«

»Ich ebenso wenig! Sie sieht mich nicht; sie hört mich nicht. Und sind wir ja gezwungen, ein Wort zu wechseln, so thut sie das ganz in einer Weise, als ob ich noch immer ihre Zofe sei. Denke Dir! Kürzlich beim Regierungsrath erzähle ich etwas aus früherer Zeit. Die Affaire erschien einigen Damen unbegreiflich, und daher wendete ich mich an Alma.«

»Baronesse,« sagte ich, »wollen Sie nicht die Güte haben, mir die Wahrheit meiner Worte zu bezeugen?«

»Jawohl, sehr gern, Ella,« antwortete sie. »Ich war dabei, denn Du hattest grad kurz vorher meinen Befehl erhalten, mir meinen Fächer zu holen, den ich vergessen hatte.«

»Denke Dir die Blamage, lieber Franz!«

Die Augen des Barons glühten wild auf.

»Das hat sie gethan? Wirklich gethan?« fragte er.

»Ja, wirklich!«

»Sie hat Dich Du genannt und von Deinem untergebenen Verhältnisse gesprochen?«

»Ja, und mit welcher Frechheit!«

»Bei Gott, das soll sie nicht wieder thun!«

»Hm! Was kann man da machen!«

»Viel, sehr viel kann man da machen! Du wirst es erfahren, und zwar morgen früh! Das ist eben das Geschäft, welches mich abhält, Dir heute Gesellschaft zu leisten.«

»Ah, wieder ein geheimer Coup?«

»Ja.«

»In der Stadt?«

»Natürlich! Im anderen Falle wäre ich ja heute vereist.«

»Ein Coup gegen die Alma?«

»Ja. Ich habe erfahren, daß sie sich von ihrem Banquier hat fünfzigtausend Thaler auszahlen lassen.«

»Welch eine Unvorsichtigkeit! Legt man eine solche Summe denn bei sich hin! Die läßt man in der Bank!«

»Sie wird ihrem bisherigen Banquier nicht mehr trauen und sich einen anderen engagirt haben.«

»Und ist es blos auf das Geld abgesehen?«

»Nein, auch auf sie. Diese vier Kerls, welche ich mir auserwählt habe, sind wahre Teufel. Sie werden diese gute, stolze Cousine erst der Reihe nach umarmen und dann – hm, sprechen wir lieber nicht davon!«

Da erhob sie sich in der Wanne, streckte die Arme aus und rief:

»Das ist eine Rache! Endlich, endlich! Was gäbe ich darum, dabei sein zu können, wenn sie in den Armen dieser Menschen erwacht. Und dann – ich glaube, wir werden sie beerben, da man noch nichts gehört hat, daß sie ein Testament gemacht habe.«

»Natürlich werden wir sie beerben. Darum habe ich ja auch auf mein Antheil verzichtet. Diese Vier werden sich in die fünfzigtausend Thaler theilen. Sie sprangen vor Freude auf, als ich ihnen das sagte.«

»Und in das Andere auch, was sie außerdem mitnehmen?«

»Nein. Sie dürfen keine Stecknadel mitnehmen. Ich habe ihnen die angegebene Summe und die Persönlichkeit der Cousine versprochen, mehr nicht. Und sie wissen, das ich selbst den kleinsten Ungehorsam mit dem Tode bestrafe.«

»Mensch! Mann! Franz! Ich möchte Dich umarmen und küssen, wenn das Küssen zwischen uns noch in Gebrauch wäre! Sollte sie heute ja bei Hellenbach’s sein, so werde ich sie lebendig also das letzte Mal sehen?«

»Das letzte Mal.«

»Und Du kannst wirklich nicht mit mir? Das ist jammerschade! Wir könnten uns in Gemeinschaft an ihrem Anblicke weiden! Uebrigens entgeht Dir ein höchst interessanter Genuß.«

»Will die junge Hellenbach etwa wieder ein selbst komponirtes Clavierstück vortragen?«

»Ich weiß nichts davon, halte übrigens ihre Musikliebe wirklich nicht für so ein Unding wie Du. Sie hat Talent, sogar viel Talent, wie selbst große Kenner versichern. Und außerdem ist sie eine Schönheit ganz eigener Art.«

»Das mag sein, rührt mich aber nicht. Also was ist es denn sonst für ein so interessanter Genuß, der Dich erwartet?«

»Der berühmteste Mann der hiesigen Gegenwart ist geladen. Ob er aber erscheinen wird, daß weiß man nicht.«

»Der berühmteste – – –? Du meinst doch nicht etwa diesen geheimnißvollen Fürsten von Befour?«

»Gerade diesen!«

»Nun, so verzichte nur! Er lebt bereits seit sechs Monaten hier, aber in so tiefer Einsamkeit, daß ihn höchstens erst sechs Augen erblickt haben. Gesprochen hat ihn noch Niemand.«

»O doch! Hellenbach hat ihn im Coupee getroffen.«

»Auf der Bahn? Und auch mit ihm gesprochen?«

»Ja. Er versichert, daß der Fürst ein außerordentlich liebenswürdiger Gesellschafter sei, ein Weltmann von seltener Vollendung sogar. Darauf hin hat er es gewagt, ihn für heute einzuladen.«

»Das ist allerdings geradezu ein Ereigniß für unsere Aristokratie. Erscheint der Fürst bei Hellenbach, so wird er sich auch weiteren Bekanntschaften nicht länger entziehen können. Daher glaube ich, daß er abgelehnt haben wird.«

»Du wirst es noch heute erfahren, wenn Du mich besuchst.«

»Bleibst Du wach, bis ich komme?«

»Wenn Du es wünschest, ja. Wann kommst Du nach Hause?«

»Spät nach Mitternacht erst.«

»Ich werde dennoch warten, denn ich hoffe dann auch zu erfahren, wie das Unternehmen gegen die Cousine abgelaufen ist.«

»Das kann ich Dir allerdings mittheilen. Jetzt adieu!«

Er ging. Sie erhob sich aus dem Bade und klingelte dem Mädchen, um große Gesellschaftstoilette zu machen. –

Herr Seidelmann hatte vorhin seinen Ueberzieher mit Hilfe des Dieners wieder angezogen und begab sich dann an diejenige Stelle des Marktes, an welcher Droschken zu halten pflegen. Er ließ sich von einer solchen nach einer jener engen, traurigen Gassen bringen, in welchen das Elend, die Armuth und die Noth ihre Heimstätten aufgeschlagen haben. Und doch lag diese Gasse, Wasserstraße genannt, weil sie nach dem Flusse führte, nicht etwa am Ende der Stadt, sondern im regsten Innern derselben.

Der Kutscher hielt vor dem bezeichneten Hause, wurde abgelohnt und fuhr zurück. Herr Seidelmann trat ein.

Das Gebäude machte keinen freundlichen Eindruck. Es war schmal, hatte drei Stock und ein Mansardendach. In dem Flur brannte ein Gasflämmchen, welches ein elendes Irrlichtleben fristete, da man den Hahn der Leitung aus Sparsamkeitsrücksichten nur halb geöffnet hatte.

Ebenso war es auf den schmalen Treppen, welche viel eher Stiegen genannt werden sollten. Herr Seidelmann arbeitete sich bis in das dritte Stockwerk empor. Dort stand an einer Thür, auf ein angeklebtes Papier in kalligraphisch schönem Canzlei geschrieben: ›Robert Bertram, Privatsecretär‹. Ein elender, abgegriffener Klingelzug hing daneben. Herr Seidelmann klingelte. Im Innern erscholl ein trockener, fürchterlicher Husten; dann wurde die Thüre von einem kleinen Mädchen geöffnet. Herr Seidelmann trat ein.

Das, was er sah, bot einen Anblick der bittersten Armuth, ja des Elends. Ein Tisch war an die Wand geschoben, weil er nur drei Beine hatte, das vierte war abgebrochen. Zwei Stühle, welche einst gepolstert gewesen waren, eine Waschwanne, einiges Geschirr auf der Ofenbank, ein verblichener Spiegel und in der einen und der anderen Ecke je ein Strohsack – das war das ganze Ameublement des sonst ziemlich großen Zimmers.

Im Ofen brannte kein Feuer; die Fenster waren fingerdick mit Eis belegt, und die Kälte dieser Wohnung erreichte fast diejenige, welche auf der Straße herrschte.

Und doch war alles blank und sauber. Dieses Elend wurde verklärt durch jene Reinlichkeit, welche selbst den ärmlichsten Gegenstand noch besitzenswerth erscheinen läßt.

Das Mädchen, welches geöffnet hatte, war, sobald es den Herrn Seidelmann erblickte, in eine Ecke geflohen, in welcher die anderen Kinder auf dem Strohsacke saßen, eng aneinander gedrückt, wie Sperlinge des Winters in einer Dachrinne, um sich wenigstens einigermaßen anzuwärmen.

An dem Tische, auf welchem ein kleines Rüböllämpchen qualmte, saß auf einem der beiden Stühle ein Mann, ein wahres jammervolles Bild des Todes. Er schien außer einer alten Hose gar kein Kleidungsstück zu tragen und war in ein Laken gehüllt, welches einst vielleicht ein Tafeltuch gewesen war. Man sah seine Vorderarme; es waren diejenigen eines Skelettes. Wangen schien er gar nicht zu haben, und die Augen lagen so tief in ihren Höhlen, daß sie kaum noch zu sehen waren.

Als dieser Mann den Herrn erblickte, stieß er einen Ruf aus, welcher fast ein Schreckensschrei genannt werden konnte. Er wollte sich von seinem Platze erheben, fiel aber wieder auf denselben zurück. War das vor Schwäche oder vor Angst? Das ließ sich nicht unterscheiden.

»Guten Abend, lieber Bertram! Guten Abend, ihr lieben Kinderchen!« grüßte der Eingetretene in salbungsvollem Tone. »Erschreckt nicht! Der Vorsteher der Schwestern-und Brüdergemeinde ›die Seligkeit‹ ist bei seinem Kommen die aufflammende Leuchte an einem dunklen Orte.«

Ein lang andauerndes Husten des Kranken verhinderte den Sprecher, seiner Rede eine größere Länge zu geben. Dann fragte er: »Darf ich erfahren wie es Ihnen geht, lieber Bertram?«

»Schlecht, wie immer, Herr Seidelmann!« hustete der Mann.

»Das dürfen Sie nicht sagen! Wen Gott lieb hat, den züchtigt er; er stäupet aber einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt. Wenn Sie wirklich Noth leiden, so ist diese Ermahnung zur Buße ein Zeichen, daß der Allbarmherzige Euch vergeben will.«

»Vergeben?« stieß der Kranke hervor. »Was habe ich gesündigt?«

»Wir sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir haben sollen. Wer seine Sünden nicht erkennt, der ist noch in des Teufels Krallen!«

»Ja, darin stecken wir!« hustete Bertram. »Herr Seidelmann, diese armen Würmer haben seit gestern früh keinen Bissen in den Mund gebracht; wir Anderen aber seit noch längerer Zeit. Geben Sie uns ein Brod, ein einziges trockenes Brod und dann predigen Sie, so lang Sie wollen!«

Da streckte der Herr Seidelmann beide Hände abwehrend aus und sagte:

»Das hieße, Gott vorgreifen! Gott thut noch Zeichen und Wunder. Er wird Ihnen helfen, sobald die Zeit gekommen ist. Wollte aber ich Euch helfen, so würde ich mich gegen den Rathschluß des Allbarmherzigen versündigen! wissen Sie, was für einen Tag wir heute haben?«

»Freitag.«

»Ich meine Datum!«

»Wenn ich mich nicht irre, so ist es der letzte November.«

»Sie haben recht, lieber Bertram. Morgen ist also der erste December, an welchem die Miethe zu bezahlen ist. Haben Sie das Geld beisammen?«

»Herr Seidelmann, wenn ich nur einen Pfennig hätte, so würde ich eine Semmel kaufen und sie unter diese Kinder vertheilen!«

»Semmel? Sehen Sie, wie hochmüthig und genußsüchtig Sie sind! Fleischeslust! Ich an Ihrer Stelle würde froh sein, wenn ich Brod hätte!«

Da raffte sich der Schwindsüchtige empor, wankte einen Schritt näher und antwortete:

»Fleischeslust? Herr Seidelmann, kann ich für einen einzigen Pfennig ein Brod bekommen? Mit einer Semmel würden diese Kleinen wenigstens ihren Magen täuschen können. Sie könnten sie in Wasser erweichen und dann dieses Wasser trinken. Sie sprechen von Gott und Gottes Wort. Hören Sie aber das Wort eines Vaters, der seine Kinder hungern sieht! Sehen Sie hier meine Arme! Befände sich nur noch eine Spur von Fleisch daran, so würde ich es mir abschneiden, um den Hunger der Meinigen damit zu stillen! Geben Sie Brod, ein Brod, und ich will Sie verehren, als ob Sie der Heiland selber wären!«

Diese Anstrengung war zu groß für ihn. Er sank unter einem lang andauernden Hustenanfall auf den Stuhl zurück. Herr Seidelmann wartete, bis dieser vorüber war, und rief dann im Tone des allerhöchsten Schreckens:

»Herrgott, vergieb dem Manne diese Todsünde! Er will seine Familie mit Menschenfleisch füttern und mich als den Heiland Jesus Christus anbeten! Diese Gottlosigkeit –«

»Schweigen Sie!«

Diese zwei Worte ertönten von der Seitenthüre her, welche sich geöffnet hatte. Unter derselben erschien ein junger Mann, welcher vielleicht einundzwanzig Jahre zählen mochte, aber seine blassen, ausgehöhlten Wangen, seine fast fieberhaft glänzenden Augen, sein wirres Haar ließen ihn älter erscheinen.

Seine Züge waren edel; sie erinnerten an die Porträts, welche uns aus dem alten Griechenland überliefert worden sind. Er stand da in der Haltung eines Menschen, welcher bereit ist, einem Anderen den Degen durch den Leib zu rennen.

»Ah, der Herr Privatsecretär!« meinte Herr Seidelmann. »Sie haben gehört, was wir gesprochen haben?«

»Leider! Sie wollen Geld?«

»Leider!« antwortete der Vorsteher, den Frager nachahmend.

»Bitte, treten Sie mit hier herein!«

Er kehrte in die Nebenstube zurück, und Herr Seidelmann folgte ihm, während der Kranke an einem Hustenanfalle bald erstickte.

Hier stand ein Tisch nebst zwei Stühlen und ein alter Koffer, auf dem Tische eine kleine Petroleumlampe. Einiges Stroh lag in der Ecke. Das war Alles, was man erblickte. Aber inmitten dieser Armseligkeit gab es einen Edelstein, wie er werthvoller gar nicht hätte sein können.

Auf einem der Stühle saß nämlich ein junges Mädchen. Sie mochte achtzehn Jahre zählen. Ihre Wangen waren bleich und hohl, der Blick ihrer Augen matt, todtesmüde und ihre Kleidung kaum hinreichend, ihre Blöße zu decken. Aber das war die Folge der bittersten Armuth und des Hungers. Ein einziger Lichtblick des Glückes hätte diese Wangen erglühen und diese Augen wonnig aufleuchten lassen. Und dann hätte dieses Kind des Elendes der größten Schönheit des königlichen Hofes an die Seite gestellt werden können.

Sie saß bei einer feinen Stickerei. Der Stoff, welchen sie bearbeitete, war reich, sehr reich; das Material bestand aus Perlen, Gold-und Silberfäden. Wie lange mochte sie über dieser Arbeit gesessen haben, vielleicht viele Monate lang! Jetzt schien sie beinahe fertig zu sein. Sie erhob sich, und ein leises, aber ganz leises Roth trat in ihr Gesicht. Nur die Scham konnte die Kraft haben, das dünne Blut in die hohlen Wangen zu treiben.

»Ah, da ist auch Jungfer Mariechen!« sagte Seidelmann. »So traulich beisammen!«

»Bei der Arbeit,« antwortete Robert, indem er auf einen Stoß Notenblätter zeigte, welche auf dem Tische lagen. »Ich schreibe Noten, Herr Vorsteher.«

»Das ist ein einträgliches Geschäft. Wie kann man dabei hungern und die Miethe schuldig bleiben!«

»Das ist leicht erklärlich. Ich habe zweihundertvierzig Bogen zu schreiben, ehe die Sammlung beendet ist; dann erst erhalte ich Bezahlung. Morgen Nachmittag werde ich fertig. Marie wird um dieselbe Zeit fertig. Sie hat an dieser Stickerei gegen zehn Monate gearbeitet, Tag und Nacht, möchte ich sagen. Morgen Abend erhalten wir Beide Geld.«

»Warum nicht eher, da Sie doch bereits am Nachmittage fertig werden?«

»Sehen Sie sich unsere Kleidung an. Können wir am Tage so ausgehen?«

»Wo haben Sie die besseren Sachen?«

»Beim Trödler und Pfandleiher. Wir mußten leben. Seit einer Woche haben wir nichts zu verkaufen. So lange Zeit haben wir gehungert.«

»Aber über Ihren Noten haben Sie doch nicht Monate lang zugebracht!«

»Nein. Als ich den vorigen Auftrag beendet hatte, war der Herr, welcher ihn mir ertheilte, verreist. Er ist noch nicht zurückgekehrt, daher erhielt ich keine Bezahlung. Zuweilen hatte ich einen Brief zu schreiben oder eine kleine Abschrift zu machen. Das bringt nur Groschens ein und reicht für so viele Personen und einen Todtkranken nur auf Stunden.«

»Sie müssen mehr arbeiten!«

Da färbten sich auch die Wangen des jungen Mannes, aber nicht vor Scham, sondern vor Zorn. Doch Marie kam ihm mit der Antwort zuvor.

»Herr Seidelmann,« sagte sie. »Robert hat Tag und Nacht gearbeitet und uns ernährt. Morgen nehmen wir Geld ein, und dann werden wir die Miethe bezahlen!«

»Schön! Wenn morgen die Bezahlung unterbleibt, wird der Herr Baron Sie vor die Thür setzen. Was für Noten schreiben Sie denn ab?«

Er langte hin und ergriff das Blatt. Fast erschrocken warf er es wieder hin und rief:

»Liebeslieder! Liebeslieder! Und da reden Sie von Elend, von Arbeit und Hunger?«

»Liebeslieder?« sagte Robert. »Ich will Ihnen zeigen, daß dies kein Liebeslied ist.«

Er nahm das Blatt auf und las:

 

»O lieb, so lang Du lieben kannst!

O lieb, so lang Du lieben magst!

Die Stunde kommt, die Stunde kommt,

Wo Du an Gräbern stehst und klagst!«

 

Er warf das Blatt zornig wieder auf den Tisch und fragte:

»Nennen Sie das ein Liebeslied, Herr Seidelmann?«

»Was sonst, mein Lieber, was sonst?«

»Nein und tausendmal nein! Ferdinand Freiligrath ist der Dichter. Er meint hier die göttliche Liebe, welche sich durch den Menschen am Mitmenschen offenbaren soll. Wollte Gott, daß seine Diener sich auch dieser Liebe befleißigten, anstatt für freiherrliche Hausbesitzer die Cassirer des Miethzinses zu sein!«

Der Vorsteher machte eine Gebärde des Abscheus.

»Freiligrath, der Revolutionär, der Gottesleugner! Und auf die Diener Gottes schimpfen Sie. Ich sehe, daß Sie keine Milde verdienen. Was ist das für ein Buch?«

Ohne erst um Erlaubniß zu fragen, ergriff er ein auf dem Koffer liegendes Buch. Es war fein in Saffian gebunden und auf der Vorderseite des Einbandes war in goldenen Lettern zu lesen: »Heimats-, Tropen-und Wüstenbilder. Gedichte von Hadschi Omanah.« Er schlug das Buch auf und las den Vers, den er zuerst erblickte:

 

»Ich will Dich auf den Händen tragen

Und Dir mein ganzes Leben weih’n.

Der verlorne Sohn
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