Von tropfenden Karfunkelsteinen
Und trägt ihn liebend himmelwärts,
Im Aether dort sich auszuweinen!« –
Also Marie, seine Pflegeschwester, war eine Treppe abwärts gegangen. Sie hatte von der Mahlzeit, welche Robert mitgebracht hatte, einen Theil zurückgelegt, um Andere, welche auch litten, damit zu beglücken. Sie wußte, wie willkommen diese Gabe war.
Da unten stand nämlich an einer Thür zu lesen: »Wilhelm Fels, Mechanikus«. Oeffnete man diese Thür, so trat man in ein ärmliches Stübchen, auf dessen Ofenbank eine ewig strickende, leidend aussehende, blinde Frau saß. Sie war des Tages stets allein, denn ihr Sohn arbeitete im Atelier seines Principales. Des Abends aber kam er, und anstatt sich auszuruhen, arbeitete er an der Herstellung eines Mechanismus, welcher ihm von einem reichen Engländer zur Aufgabe gemacht worden war.
Er war der Lieblingsgehilfe seines Meisters. Er verdiente einen schönen Lohn; aber er war leider ein ehrlicher Junge. Sein Vater hatte Ehrenschulden hinterlassen, die von ihm übernommen worden waren. Er wollte das Andenken des Todten rein erhalten und sah sich gezwungen, diesem Vorhaben über die Hälfte seines wöchentlichen Verdienstes zu opfern.
Auch heut, als Marie eintrat, saß er am Tische und sann und feilte, feilte und sann, daß ihm trotz der im Stübchen herrschenden Kälte der Schweiß von der Stirn tropfte.
Marie theilte ihre Gaben aus. Sie sollten nicht angenommen werden, aber sie besiegte jeden Widerstand mit der Versicherung, daß Robert einen Speisenvorrath für mehrere Tage mitgebracht habe. Man sah es dann der Blinden an, daß sie wohl schon seit Tagen sich nicht vollständig satt gegessen habe.
Sie ging dann schlafen, und nun befanden sich die beiden jungen Leute allein. Er blickte zu ihr herüber und legte die Feile weg. Sie blickte zu ihm hinüber und legte die Seide fort, aus welcher sie sich einen Vorrath von Stickfäden gezogen hatte.
»Marie?« sagte er halblaut.
»Wilhelm?« antwortete sie ebenso.
»Liebe Marie!«
»Lieber Wilhelm!«
»Die Mutter ist schlafen!«
»Ja.«
»Ob sie wohl schon eingeschlafen ist?«
»Vielleicht,« antwortete sie erröthend.
»Oder ob Sie noch einmal zurückkehren wird?«
»Auch das ist möglich.«
»Aber, liebe Marie, sie kann doch nicht sehen!«
»Leider, lieber Wilhelm.«
»Darf ich also kommen?«
Sie antwortete nicht mit Worten, aber sie nickte mit dem hübschen Köpfchen. Das war genug. Er stand von seinem Stuhle auf und kam zu ihr. An der Wand stand ein Sopha, ein Kanapee, oder doch Etwas, dem man diesen Namen beilegen konnte, wenn man es nicht gar zu sehr genau nahm. Vier hölzerne Beine, drei Bretter darauf genagelt, hüben und drüben eine hohle Rolle aus starker Pappe und darüber ein Ueberzug von groß geblümtem Zitz, die Elle für fünfzehn Pfennige; das war das Kanapee, oder das Sopha, oder der Divan, welchen Wilhelm vor zwei Jahren seiner Mutter als Christgeschenk gegeben hatte. Er hatte damals das Möbel selbst zusammengenagelt und Marie hatte den Ueberzug besorgt und eingesäumt.
Darauf saß sie jetzt und er setzte sich zu ihr.
»Weißt Du, daß Du recht angegriffen aussiehst?« fragte er, indem er ihr kleines, arbeitsames Händchen ergriff.
»Und weißt Du, daß Du heut wieder blässer bist als gestern?« antwortete sie, indem sie ihr Händchen nicht aus seiner fleißigen Hand zurückzog.
»Du solltest Dich viel, viel mehr schonen!«
»Du nicht minder!«
»Ja, ja,« lächelte er. »Wir geben einander nur immer guten Rath; aber weißt Du, was wir ganz und gar vergessen, uns zu geben, liebe Marie?«
»Nun, was?« fragte sie sehr neugierig.
»Einen Kuß.«
Da schlug sie ihm mit der Hand auf den Mund, aber so, daß es ihm ja nicht wehe thun konnte, und dann antwortete sie: »Was hat man vom Küssen! Geh doch!«
»Was man vom Küssen hat? Hm! Den guten Geschmack und dazu dann das Vergnügen!«
»Ah! Du denkst wohl, Du schmeckst sehr gut?«
»Etwa nicht?«
»Hm! Ich weiß es nicht.«
»So probire doch einmal, Mariechen!«
»Ich bin nicht neugierig.«
»Aber ich desto mehr!«
»Worauf?«
»Wie Du schmeckst. Darf ich probiren?«
»Nein.«
»Auch nicht ein aller-, aller-, allereinziges Mal?«
»Hm! Wenn Du mir versprichst, daß es dabei bleiben soll.«
»Ganz gewiß, ganz gewiß! Aber nun gieb auch rasch Dein liebes, kleines, süßes Mäulchen her!«
»Da hast Du es! Aber blos geborgt!«
»Schön! Ja! Na, komm!«
Es ließ sich ein eigenthümliches Geräusch vernehmen, ganz so, wie man es in gewissen Jahren, an gewissen Orten und bei gewissen Personen zu lieben und zu üben pflegt, und dann – fuhr Marie auf einmal sehr rasch mit dem Köpfchen zurück und rief schmollend: »Geh, Ungehorsamer! War das denn nur Einer?«
»Ja freilich! Wie viele denn sonst?«
»Fünf oder sechs. Es können sogar auch acht gewesen sein.«
»Welch ein Irrthum! Wie zählst Du nur heut wieder einmal! Komm! Ich will Dir ganz genau zeigen, wie es gewesen ist, und dann sollst Du mir sagen, ob es wirklich nur sechs oder acht waren. Ich denke nämlich, es müssen zwölf oder sechzehn gewesen sein.«
Und nun thaten sie, als ob sie zählen wollten, aber es fiel ihnen ganz und gar nicht ein. Wer die Küsse zählt, der ist noch viel schlimmer dran als Derjenige, welcher die Kirschen zählt, welche er ißt; der eigentliche Haut goût, das Mousseux geht ganz und gar dabei verloren. Und wer es ohne Zahlen und Ziffern nicht vermag, der thut am klügsten, gleich zu multipliciren, da kommt doch zuletzt ein artiges Sümmchen heraus.
So hielten sich die beiden jungen Leutchens also fest umschlungen. Ihre Herzen waren so froh und voller Blumen wie der Zitzüberzug, auf dem sie saßen, und dabei hatten sie sich einander Tausenderlei zu sagen und zu fragen, obgleich sie täglich um ganz dieselbe Zeit ein Stündchen zusammen kamen.
Daß dann die gute, blinde Mutter stets schlafen ging, war natürlich der reine Zufall. Aber eine Mutter kennt das Menschenherz nur allzu gut und gar eine blinde Mutter weiß ganz genau, daß in all das Elend der Arbeit und des Hungers zuweilen ein Sonnenstrahl gehört, und den wärmsten, hellsten Strahl versendet doch eigentlich nicht die Sonne, sondern die Liebe, welche die Sonne aller Sonnen ist. Und kommt nun so ein Sonnenstrahl, so geht die Blinde schlafen, da er ihr ja doch nichts nützen kann.
»Wann wirst Du fertig mit Deiner Stickerei?« fragte Wilhelm.
»Morgen.«
»Gott sei Dank. Dann kannst Du doch einmal ausruhen.«
»Aber ich bekomme auch ein schauderhaft vieles Geld.«
»Wieviel?«
»Das weiß ich selbst noch nicht. Wie geht es mit Deiner Maschine.«
»Immer langsam, aber sicher. Man hat so viel zu berechnen.«
»Das ist sehr wahr,« nickte sie verständnißinnig, obgleich sie von der Sache gar nicht viel verstand. Aber wer einen Mechanikus liebt, muß doch wenigstens wissen, daß er sehr viel zu berechnen hat. »Wann wirst Du fertig?«
»Noch vor Weihnacht.«
»Wie schön! Dann kannst auch Du zu den Feiertagen ruhen.«
»Wieviel?«
»Vierhundert Thaler, oder gar noch mehr.«
Sie schlug vor Bewunderung die Hände zusammen und sagte:
»Vierhundert Thaler. Diese Engländer müssen doch schrecklich reiche Leute sein. Oder gar noch mehr. Was thust Du mit dem vielen Gelde?«
»Komm her. Ich will Dir’s sagen.«
Er zog ihr Köpfchen wieder zu sich heran, küßte sie auf die Lippen und flüsterte ihr dann in das Ohr:
»Heirathen.«
»Wen denn?«
»Meinst Du etwa, Dich?«
»Hm. Hübsch wäre es.«
»Na, so müssen wir es einmal für kurze Zeit versuchen.«
»Für kurze Zeit? Geh, Du Böser. Du wirst es bald soweit bringen, daß Dir kein Mensch mehr gut sein kann.«
»Das wird Dir sehr lieb sein.«
»Warum?«
»Nun, hast Du es vielleicht so sehr gern, daß mir alle Menschen, besonders aber alle Mädchen, gut sein sollten?«
»Das wollte ich mir stark verbitten. Aber, laß uns doch einmal ernsthaft sein. Wird Dein Engländer Dich denn auch gewiß und ehrlich bezahlen?«
»Gewiß. Wir haben ja Contract gemacht.«
»Wo wohnt er denn?«
»In Leeds. Aber er kommt ja alle Weihnachten nach hier.«
»Ich wünsche Dir sehr, daß Du Dich nicht täuschen mögest. Der Schmerz wäre doch gar zu groß.«
Sein Gesicht war plötzlich recht ernst geworden. Er blickte nachdenklich vor sich nieder, nickte mit dem Kopfe und sagte, wie zu sich selbst: »Der Schmerz, die Enttäuschung und – noch etwas Anderes.«
»Noch etwas Anderes? Was könnte das wohl sein?«
»Laß das. Das ist nichts für Dich.«
»Aber dennoch möchte ich es sehr gern wissen. Magst Du es mir denn nicht mittheilen?«
»Es bringt Dir keinen Nutzen.«
Er sprach das so kurz. Sie blickte ihm in das Angesicht. Die Liebe hat scharfe, sehr scharfe Augen.
»Wilhelm, Du hast Sorgen?« fragte sie.
»Ja,« nickte er.
Da schlang sie ihre Arme um seinen Hals, legte ihre Wange an die seinige und schmeichelte mit bittender Stimme: »Bitte, bitte, theile sie mir mit. Ich trage sie mit.«
»Dann sind sie ja doppelt.«
»Nein, nein. Ich muß meinen Theil davon haben, wenn es wahr ist, daß Du mich liebst!«
»Pst! Nicht so laut. Mutter darf nichts davon wissen.«
»So rede. Sonst schrei ich noch viel, viel lauter.«
»Wenn Du es partout nicht anders haben willst, so soll es sein. Also, sieh mich einmal richtig an, Marie. So! Grad in’s Gesicht. Nun sage mir einmal, ob Du mich für einen ehrlichen Kerl hältst!«
»Natürlich! Natürlich!« antwortete sie im Tone innigster Ueberzeugung.
Er schüttelte den Kopf und sagte bei einem trüben Lächeln:
»Und doch bin ich es nicht.«
»Nicht?« fragte sie, beinahe erschrocken. »Nicht? Was denn?«
»Ein Spitzbube.«
»Herrgott! Was redest Du nur heute. Oder ist’s nur Spaß?«
»Nein, kein Spaß. Du hast gewollt, daß ich reden soll, und so mag diese Last einmal vom Herzen herab.«
Da schlang sie die Arme noch fester um ihn, drückte ihn noch inniger an sich und sagte:
»Nein, nein und tausendmal nein. Du bist ein ehrlicher Mensch. Darauf schwöre ich tausend und hunderttausend Eide.«
»Höre mich erst an, und dann magst Du urtheilen.«
»Nun, so erzähle.«
»Als der Engländer die Maschine bei mir bestellte, war ich leider zu stolz, mir einen Vorschuß von ihm zu erbitten – –«
»Hätte er Dir einen gegeben?« fiel sie ein.
»Ich denke es; aber leider unterblieb es. Ich brauchte viel, sehr viel Material und hatte doch nicht die Mittel, es zu bezahlen. Mein Prinzipal hätte mir ausgeholfen, aber er darf ja von dieser Maschine gar nichts wissen. Darum habe ich mir unter diesem oder jenem Vorwand zuweilen ein Stück Stahl oder Messing von ihm erbeten, doch reichte das nicht zu. Ich sah mich also gezwungen, mir einstweilen ohne sein Wissen Das zu nehmen, was ich brauche.«
»Du wirst es ihm aber natürlich bezahlen.«
»Das versteht sich ganz von selbst. Aber wie nennst Du es denn, wenn Einer dem Anderen Etwas nimmt, ohne ihn vorher zu fragen?«
»Das ist doch nicht immer Diebstahl.«
»O doch!«
»Du hast es Dir ja nur geborgt.«
»Aber ohne Erlaubniß. Und wenn der Engländer mich nun nicht bezahlte. Das wäre schrecklich.«
»Käme es denn da sehr bald heraus?«
»Ja, bei der Jahresinventur. Was fehlt, muß ich haben. Außer dem Prinzipal kann Niemand zu den Vorräthen als ich allein.«
»So hast Du allerdings eine große, schwere Sorge, Du armer Wilhelm. Aber ich werde sie Dir tragen helfen. Ich denke doch gewiß, daß der Engländer Dir die Maschine bezahlen wird.«
»Wenn aber nicht?«
»So mußt Du ehrlich sein und Deinem Prinzipal den Sachverhalt, wie er ist, mittheilen.«
»Du hast Recht. Verzeihe mir, daß ich Dich mit so trüben Gedanken behelligt habe, da Du doch so schon genug Sorgen hast.«
»Ich habe nicht Dir zu verzeihen, sondern Dir zu danken, lieber Wilhelm. Ich freue mich sehr, daß Du Vertrauen zu mir gehabt hast, und werde darüber nachdenken, wie dieser Verlegenheit zu begegnen ist. Jetzt aber ist die Stunde vorüber. Ich muß wieder mit der Arbeit beginnen, wenn ich bis morgen fertig sein will.«
Sie erhob sich, und er that dasselbe. Da kam ihm ein Gedanke.
»Wann bist Du zum letzten Male ausgegangen, liebe Marie?« fragte er.
»Heut am Vormittage.«
»Lange Zeit?«
»Nur auf fünf Minuten.«
»Hast Du ihn gesehen?«
»Ihn? Wen meinst Du?«
»Nun, den vornehmen Herrn, welcher Dir so oft begegnet.«
»Ah, diesen. Nein, ich habe ihn nicht gesehen, aber vorgestern –«
»Vorgestern? Wo war er da?«
»Am Markte. Und da – da kam er mir nach.«
»Bis wohin?«
»Bis – bis – hm, Wilhelm, Du wirst mir vielleicht zürnen, aber ich kann wirklich nicht dafür.«
»Ich glaube das. Also bis wohin kam er Dir nach?«
»Bis in unser Haus.«
»Weiter nicht?«
»O, sogar bis an die Treppe!«
»Der Hallunke! Hast Du da mit ihm sprechen müssen?«
»Ja, denn er hielt mich am Arme fest.«
»Was sagte er?«
»Er sagte – sagte – – Wilhelm, es wird mir wirklich recht sehr schwer, es Dir genau zu sagen!«
»Und doch mußt Du grad das so genau wie möglich sagen! Also er kam Dir nach bis an die Treppe, und was sagte er?«
»Er bat mich um einen Kuß.«
»Zunächst sagte ich nichts, sondern ich wollte entfliehen.«
»Ah! Er hielt Dich wohl gar fest?«
»Ja, allerdings.«
»Nein.«
»Um die Taille?«
»Nein; blos am Arme. Ich konnte mich gar nicht losreißen. Er wollte – wollte – er wollte mir einen – – hm!«
»Marie, mach’s kurz! Spanne mich nicht auf die Folter! Was wollte er?«
»Er wollte mir einen Dukaten für diesen Kuß geben.«
»Und Du?«
»Da gelang es mir, mich loszureißen. Ich eilte in größter Schnelligkeit zur Treppe herauf.«
»Und er?«
»Nun, er ist unten geblieben!«
»Hm, weißt Du, Marie, daß diese immerwährenden Nachstellungen mir eine sehr schwere Sorge bereiten.«
»Das ist Eifersucht!«
»Nein, nicht im Geringsten. Wie sollte ich eifersüchtig sein, da ich doch weiß, daß Du mich lieb hast. Aber er ist ein vornehmer Herr!«
»Was thut das!«
»Sehr viel, sehr viel! Der Kerl ist in Dich verliebt. Küssest Du ihn nicht freiwillig, so wird er Dich zu zwingen wissen.«
»Kein Mensch kann mich zwingen, ihn zu küssen, wenn ich es nicht freiwillig thue!«
»Das denkst Du jetzt; aber gezwungen werden kann man auf verschiedene Arten, und grad diese Herren sind die gefährlichsten. Sie haben weder Gewissen noch Ehre. Sie halten es für einen rühmlichen Sport, brave Mädchen zu verführen. Wer mag er sein?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wir werden es noch erfahren; dann aber ist ihm sein Brod gebacken und wenn er der Minister wäre!«
Sie lachte fröhlich auf und fragte:
»Hast Du mich wirklich so lieb, daß Du um meinetwillen sogar mit dem Minister anbinden würdest?«
»Mit aller Welt!«
»Da kann ich sehr zufrieden sein! Gute Nacht, lieber Wilhelm!«
»Gute Nacht, liebe Marie! Na, na! Ohne Kuß?«
»Geht es denn nicht einmal ohne?«
»Niemals! Komm! Sei folgsam! Es ist ja Deine Pflicht, Dich bereits jetzt schon an mich zu gewöhnen!«
»Ah! Warum denn?«
»Damit ich Dir später nicht gar so unbekannt vorkomme.«
»Deine Gründe sind gut. Also hier! Gute Nacht!«
»Gute Nacht!«
Ein letzter Kuß, und sie flog die Treppe hinauf, um sich droben wieder an ihre Stickerei zu setzen. –
Als der Fürst von Befour die Familie des früheren Wachtmeisters verlassen und die Straße erreicht hatte, wendete er sich der Gegend zu, in welcher das Palais der Baronesse von Helfenstein lag. Er kam dabei an einen Neubau, dessen Thüröffnung nicht zu gesperrt war. Er blieb stehen und lauschte.
»Pst!« hörte er es im Innern.
»Wer?« fragte er halb laut.
»Der Schlosser.«
Im Nu stand auch er innerhalb der unvollendeten Thür.
»Ist die Sitzung geschlossen?« fragte er.
»Bereits seit längerer Zeit,« lautete die Antwort.
»Wurde Etwas am gestrigen Plane geändert?«
»Ja.«
»Was?«
»Das kann ich nicht sagen. Sie wissen, der Schwur, welchen ich geleistet habe, gestattet mir nicht, Ihnen Alles mitzutheilen.«
»Sobald Sie einen solchen Schwur für bindend halten, kann ich Ihnen nicht Unrecht geben, obgleich eine größere Offenheit mir lieber wäre. Worauf bezieht sich diese Änderung?«
»Es ist eine neue Person eingetreten.«
»Die beim Ueberfalle der Baronesse mitwirken soll?«
»Ja, also eine Änderung ohne Bedeutung für Sie.«
»Gut. Hat der ›Hauptmann‹ die Schlüssel von Ihnen erhalten?«
»Ja. Die Ihrigen habe ich auch mit. Hier sind sie.«
Er gab dem Fürsten eine Anzahl von Schlüsseln, welche dieser einsteckte. Es war ganz derselbe Mann, welcher bei der geheimen Versammlung dem ›Hauptmann‹ die Schlüssel übergeben hatte. Er war von dem Fürsten hierher bestellt worden und fragte jetzt: »Was haben Sie beschlossen, Herr? Werden Diejenigen, welche in Ihre Hände fallen, gefangen genommen und abgeliefert?«
»Ist der ›Hauptmann‹ in eigener Person dabei?«
»Nein.«
»Ich vertraue Ihnen und habe Ihnen daher bereits aufrichtig gesagt, daß mir vor allen Dingen daran liegt, zu erfahren, wer dieser Hauptmann ist.«
»Das weiß nicht einmal Einer von uns.«
»Ich will das glauben. Da mir also nur daran liegt, den Hauptmann kennen zu lernen, so liegt mir nichts am Ergreifen seiner Leute. Ich gestehe Ihnen, daß ich die Ansicht habe, meine Intentionen besser zu befördern, wenn ich mich seinen Leuten gegenüber nicht als Feind bethätige. Ob ich also Einen von ihnen heut’ gefangen nehmen werde, das kommt auf das Verhalten dieser Männer selbst an. Wie hat der Hauptmann erfahren, daß die Baronesse eine solche Summe Geldes daliegen hat?«
»Er muß ein Mann sein, der entweder zur Haute-volée oder zur Haute-finance gehört?«
»Möglich.«
»Wer wird das gestohlene Geld erhalten?«
»Ausnahmsweise wir, nicht er.«
»So scheint eine persönliche Rache zu Grunde zu liegen.«
»Ich habe darüber kein Urtheil.«
»Aber Sie werden mir Stoff für mein Urtheil geben, wenn Sie mir sagen wollen, welche Instruction Sie für die Person der Baronesse haben.«
»Sie soll sterben.«
»Alle Teufel! Was für eines Todes?«
»Das ist in unser Belieben gestellt. Es wurde uns befohlen, dafür zu sorgen, daß sie morgen früh eine Leiche sei. Vorher aber soll sie ein Jeder von uns als sein persönliches Eigenthum betrachten.«
»Das ist höllisch, das ist geradezu teuflisch! Und was für Befehle haben Sie in Beziehung der Dienerschaft?«
»Keine. Die Zofe sollen wir leben lassen, doch soll auch sie uns gehören dürfen.«
»Haben Sie bei anderen, ähnlichen Gelegenheiten auch bereits solche Concessionen erhalten?«
»Nein.«
»Nun, so ist es klar, daß persönliche Gründe vorliegen. Man wird den ›Hauptmann‹ also unter den Feinden der Baronesse zu suchen haben. Warum soll die Zofe nicht sterben?«
»Weil sie als Zeugin dienen soll.«
»In welcher Weise?«
»Sie soll Einen von uns sehen und also im Stande sein, seine Person recognosciren zu können.«
»Eine Art umgekehrtes Alibi?« wiederholte der Fürst nachdenklich. »Ein Alibi ist der Beweis, daß eine Person nicht am Thatorte gewesen sein kann. Ein umgekehrtes Alibi also würde in dem Nachweise bestehen, daß eine Person dagewesen ist, natürlich eine andere, als der Angeklagte. Hm! Das sind Verwicklungen. Handelt es sich um diejenige Person, von welcher erst heut’ bestimmt wurde, daß sie mit arbeiten solle?«
»Ja.«
»Wer ist sie?«
»Das darf ich nicht sagen.«
»Und die Zofe soll diese Person sehen, um nachweisen zu können, daß sie dabei gewesen ist? Interessant! Ein schwieriges Räthsel; aber ich bin auf Lösung von Räthseln passionirt. Wo werden Sie sich versammeln?«
»Unter den Bäumen unweit der Frohnveste.«
»Ah! Soll diese Person, von welcher wir sprachen, dort etwa erst zu Ihnen stoßen?«
»Ich bin nicht im Stande, Auskunft zu ertheilen.«
»Wann werden Sie beginnen?«
»Zwischen Zwölf und Eins treten wir an. Beginnen werden wir natürlich erst dann, wenn sämmtliche Lichter erloschen sind.«
»Es ist jetzt halb zwölf. Sie werden Ihrer heutigen Beute verlustig werden. Kommen Sie morgen Vormittag nach meiner Wohnung in der Palaststraße, natürlich aber verkleidet! Man wird Ihnen eine Gratification auszahlen. Haben Sie noch irgend etwas zu berichten, zu sagen oder zu fragen!«
»Nein.«
»Und über die Person des ›Hauptmannes‹ wollen oder können Sie mir wirklich keine Auskunft erteilen?«
»Ich könnte nicht, selbst wenn ich wollte.«
»Auch keine Andeutung?«
»Nein.«
»Was hat er für eine Gestalt, für eine Figur!«
»Verschieden! Bald klein, bald groß, bald dick, bald dünn.«
»Augen?«
»Ebenso verschieden. Bald hell und bald dunkel.«
»Hm. Haben Sie diesen Unterschied genau beobachtet?«
»Ja. Ich komme als einer der Bevorzugten oft in seine unmittelbare Nähe.«
»Stets verhüllt.«
»Sie können also nicht bemerken, ob er bebartet oder bartlos ist?«
»Nein.«
»Die Stimme?«
»Die Stimmen von tausend Maskirten werden sich ähnlich sein.«
»Ah, auf diese Weise erfahre ich, daß Ihre Zusammenkünfte maskirt stattfinden. Mir scheint, daß Sie nicht nur einen Hauptmann haben.«
»Ganz sicher nur Einen!«
»So läßt er sich wenigstens zuweilen durch ein Mitglied vertreten, wie die verschiedenen Augenfärbungen beweisen.«
»Das ist möglich.«
»Wie oft haben Sie Zusammenkünfte?«
»Je nach Bedarf.«
»Nur des Abends?«
»Ja.«
»Auf welche Weise erfahren Sie den Tag und die Stunde?«
»Auf einer jeden wird die nächste bestimmt.«
»Und wo finden diese Versammlungen statt?«
»Das zu sagen, ist mir nicht erlaubt!«
»Im Innern der Stadt?«
»Hm!«
»Hm! Ich bitte dringend, keine Fragen zu stellen, deren Beantwortung eine Verletzung meines Eides bedeuten würde! Im Uebrigen will ich Ihnen herzlich gern zur Verfügung stehen.«
»Noch Eins! Wer ist bei diesen Versammlungen eher da, der Hauptmann oder seine Untergebenen?«
»Die Letzteren. Sie sitzen, bis er kommt, mit den Rücken nach seinem Platz gerichtet. Dann drehen sie sich um.«
»Ah, wie vorsichtig! Man soll nicht sehen woher und in welcher Weise er erscheint. Ich sehe ein, daß es nicht leicht sein wird, ihm auf die Fährte zu kommen.«
»Da Sie mir auf alle Fälle Straflosigkeit versprochen haben, so wünsche ich Ihnen das Gelingen, kann aber nur so viel dazu beitragen, als sich mit meinem Eide in Einklang bringen läßt.«
»Ich muß mich damit begnügen. Für jetzt also sind wir fertig, doch wissen wir, daß wir uns wiedersehen. Adieu!«
Er trat aus dem Hause heraus und blickte beim Scheine der nächsten Laterne auf seine Uhr. Er hatte noch eine Minute Zeit, seinen Diener zu treffen, und richtete seine Schritte darnach ein. Gerade als er die Thür der Baronesse erreichte, traf er auf den Erwarteten; so pünktlich waren Beide gewesen.
»Nichts. Aber droben unter den Bäumen an der Frohnveste scheinen einige Leute zu stehen.«
»Kann man hinan, ohne von ihnen gesehen zu werden?«
»Von der hinteren Seite her vielleicht.«
»Warte, und gehe einstweilen hier auf und ab. Aber hüte Dich, bemerkt zu werden.«
Er ging fort und machte einen Umweg. Die kleine Baumpflanzung bestand aus Laub-und Nadelhölzern. Die Ersteren waren jetzt blätterlos; die Letzteren aber boten, zumal da ihre untersten Äste beinahe bis zum Boden reichten, eine Art von Deckung.
Da hier nicht viel Schnee vorhanden war, konnte er sich ohne Schwierigkeit und Geräusch vorwärts schleichen. Er that dies in niedergeduckter Stellung. Er fand seinen Versuch von Erfolg gekrönt. Unter einer Weymouthskiefer standen vier Personen, welche leise mit einander sprachen. Der Eine von ihnen, welcher in der Mitte stand und eine gebieterische Haltung zeigte, hielt die eine Hand mit dem Taschentuche continuirlich an das Auge. Der Fürst erkannte an der Kleidung in ihm – jenen Menschen, dem er im Casino einen Faustschlag in’s Auge versetzt hatte.
Näher durfte er sich nicht wagen; er kehrte also zurück. Als er mit dem Diener zusammentraf, legte er dieselben Oberkleider wieder an, welche er heute Abend beim Oberst von Hellenbach getragen hatte, wischte sich mit einem Tuche einige Male das Gesicht, legte einen Gegenstand quer über die Stirn herab, den man in der Dunkelheit für eine starke Schnur oder für ein schmales Band halten konnte, und fragte dann: »Hast Du mein Lahialaki mit?«
Lahialaki ist ein arabisches Wort und bedeutet eigentlich »Bartfarbe«. Die indischen Gaukler und Zauberer aber bezeichnen damit jene fast augenblicklich wirkenden Färbe-und Toilettenmittel, mit denen sie im Stande sind, binnen einigen Secunden sich vollständig zu verändern und völlig unkenntlich zu machen.
»Hier,« antwortete der Diener.
Er reichte ihm ein brieftaschenähnliches Etui, welches der Fürst zu sich steckte und fragte dann:
»Die chemische Laterne.«
»Ja. Hier! Wo soll ich warten?«
»Nirgends. Du kannst nach Hause gehen. Ich bedarf Deiner voraussichtlich heute nicht mehr.«
»Aber wenn Ihnen ein Unfall zustößt, gnädiger Herr!«
»Laß’ nur mich sorgen! Gute Nacht!«
Der Diener entfernte sich. Der Graf warf einen Blick nach der Façade des Hauses empor. Ein einziges Fenster war noch erleuchtet. Er zog die Schlüssel, welche er von dem Gauner erhalten hatte, hervor, wählte nach Gefühl denjenigen, welcher in das Schloß paßte, und probirte leise. Es gelang. Die Thür öffnete sich, ohne das mindeste Geräusch zu verursachen.
Er trat ein und verschloß dann wieder. Dann zog er seine chemische Laterne hervor. Dieselbe bestand einfach aus einem Krystallfläschchen, in welchem sich eine Mischung von Oel und Phosphor befand. Diese Mischung giebt einen Schein, welcher demjenigen eines kleinen Oellämpchens gleicht. Mit Hilfe desselben fand er die Treppe und stieg empor. Droben an einer Flügelthür, welche jedenfalls den Vorsaal verschloß, stand zu lesen: »La Baronesse Alma de Helfenstein«.
Auch hier probirte er einen Schlüssel, und es gelang ihm, Eintritt zu finden, ohne Geräusch zu verursachen. Hier strömte ihm jener eigenthümliche, undefinirbare Duft entgegen, welcher das Vorhandensein von vornehmen Damen anzuzeigen pflegt.
Baronesse Alma war zeitig von der Soiree zurückgekehrt. Sie hatte dann einige Zeit einsam in ihrem Boudoir gesessen, um über den heutigen Abend nachzudenken. Sie war gewöhnt, sich öfters ohne Hilfe ihres Mädchens zu entkleiden, und so hatte die Zofe die Erlaubniß erhalten, sich zurückziehen zu dürfen. Die Herrin wollte träumen.
Sie dachte an Fanny von Hellenbach, welche ihr so lieb und sympathisch war, ferner an – an, nun ja, an diesen räthselhaften Fremdling, den Fürsten von Befour. Was an ihm war es doch nur, was ihr Herz hatte lauter klopfen lassen, so oft ihre Augen sich auf ihn richteten? War es sein Auge, seine Stimme, sein Gang oder was sonst? Sie wußte es selbst nicht, aber sie fühlte, daß dieser Mann einen Eindruck auf sie gemacht hatte, von welchem sie sich selbst keine Rechnung abzulegen vermochte.
So saß sie da, nicht in geordnete Gedanken versunken, sondern halb sinnend und halb träumend, bis ihr Blick auf die Uhr fiel. Es fehlten nur noch wenige Minuten an Mitternacht.
Sie erhob sich, um Schlaftoilette zu machen. Sie legte ihr jetziges Gewand ab und ein dünnes, blütenweißes Negligée an. Dann löste sie ihr herrliches, blondes Haar auf, um es unter ein Häubchen zu bringen. Indem sie mit dem silbernen Kamme durch die langen, reichen Wogen strich, erinnerte sie an jene feenhafte Loreley, welche ein junger Maler fertigte, um dann, in den Anblick seines Bildes versunken, infolge der Schönheit desselben wahnsinnig zu werden.
Alma war eigentlich nicht älter geworden, obgleich gegen zwanzig Jahre zwischen jetzt und früher lagen. Sie gehörte zu denjenigen Damen, welche der Zeit bis in das späteste Alter Widerstand leisten. Ihre Taille war ein ganz, ganz klein Wenig stärker, ihre Figur vollkommener geworden, aber trotz ihrer achtunddreißig Jahre hätte man sie noch gut für in den Zwanzigern stehend halten können.
Ihr Gesicht mit dem kindlich frommen Ausdrucke hatte einen Zug von Schwermuth angenommen, welcher nur anziehen konnte. Ihre Stirn war ohne Falten und von einer vollständig reinen Weiße. Ihre Wangen zeigten einen Anflug von Incarnat, welchen selbst die Schwermuth nicht auszulöschen vermocht hatte. Das Blau ihrer Augen glich noch immer demjenigen des Himmels. Ihr Nacken, ihre Schultern und ihre vollen, schönen Arme, jetzt bei dem leichten Nachtkleide entblößt, hatten einen gedämpften, schneeigen Glanz, und ihre Taille, von keinem Mieder gehalten, zeigte noch immer jene Plastik, welche man an Perserinnen und den Mädchen der Hindu bewundern kann.
So stand sie da, rein, keusch und hell, umflossen von der Fluth ihres goldig glänzenden Haares. Hätte Gustav Brandt, ihr Milchbruder und Jugendgespiele sie gesehen, er hätte ausgerufen: »Mein Sonnenstrahl, mein lieber, süßer Sonnenstrahl!«
Noch glitten ihre rosigen Finger durch das leuchtende Haar, noch stand sie da vor dem Spiegel in der ganzen Pracht ihrer fast unverhüllten Schönheit, da klopfte es erst leise und dann etwas lauter an die Thür.
Sie glaubte, die Zofe sei es. Aber als nun die Thür sich öffnete, da flog sie einige Schritte zurück; sie wurde erst blaß, dann glühend roth; sie streckte die Arme abwehrend von sich; sie öffnete den Mund, um zu sprechen, vielleicht einen Hilferuf auszustoßen, aber die Stimme versagte ihr. Sie hatte vor Schreck und Scham sogar für Augenblicke die Bewegung verloren.
Der Fürst von Befour stand unter der Thür.
Er zog dieselbe langsam hinter sich zu, verbeugte sich in ehrerbietigster Weise tief vor ihr, ergriff einen nahe liegenden Pudermantel, hing ihn ihr um die herrlichen, eine fast fühlbare Wärme ausstrahlenden Schultern und sagte dann lächelnd: »Sie sehen, verehrte Baronesse, wir Indier kommen und gehen, ohne um Erlaubniß zu fragen. Keine Mauer ist uns zu dick und kein Schloß zu fest. Wir sind imponderabil.«
Erst jetzt fand sie die Sprache und Bewegung wieder. Sie hüllte sich dicht in den Mantel, zog die Stirn krauß und antwortete: »Das scheint in Indien gebräuchlich zu sein, Durchlaucht; doch bitte ich, zu bedenken, daß Sie sich gegenwärtig nicht mehr im Oriente befinden.«
Er verbeugte sich abermals und antwortete dann:
»Ich habe das bedacht, Baronesse. Sie können sich denken, daß mich nur eine ganz außergewöhnliche Veranlassung zu einem so ungewöhnlichen Schritte getrieben haben kann. Ich komme, Ihnen meinen Schutz anzubieten.«
»Ihren Schutz?« fragte sie erstaunt.
»Ja, Baronesse, meinen Schutz. Ich hoffe, er wird ausreichen.«
»Durchlaucht, ich begreife nicht. Ich kenne keine Gefahr, in welcher ich mich befinden könnte.«
»Ich weiß, daß Sie keine Ahnung haben, ich aber habe das Glück gehabt, diese Gefahr bereits in ihrem Entstehen zu erkennen und dann zu verfolgen.«
»Dann bitte, sprechen Sie.«
»Man hat Nachschlüssel zu allen Schlössern Ihrer Wohnung angefertigt, um –«
»Nachschlüssel?« unterbrach sie ihn. »Gott, will man einbrechen? Will man mich bestehlen?«
»Ja. Man hat in Erfahrung gebracht, daß Sie gegenwärtig eine bedeutende Summe Geldes bei sich liegen haben.«
»Das ist wahr. Aber wie hat man dies erfahren können?«
»Ich weiß es nicht, doch ist sicher, daß der ›Hauptmann‹ seine Spione in allen Kreisen der Gesellschaft hat.«
War sie bereits vorhin auf das Tiefste erschrocken, so fühlte sie jetzt eine ganz entsetzliche Angst.
»Der Hauptmann,« hauchte sie mit fast ersterbender Stimme.
»Ja. Seine Leute stehen bereits unten vor dem Hause. Sie warten nur, bis Sie Ihr Licht verlöscht haben, um dann ihre Arbeit zu beginnen.«
»Einbrechen! Einbrechen! Vielleicht gar noch mehr, noch mehr.«
»Allerdings, Baronesse. Sie sollen ermordet werden.«
»Ermordet? Gott, mein Gott!«
Es wurde ihr schwarz vor den Augen, und vor ihren Ohren summte es. Sie begann zu wanken. Er trat rasch hinzu und nahm sie in seine Arme. Einige Augenblicke lang lag ihr Kopf mit all’ der Herrlichkeit der goldenen Haareswogen an seiner Schulter; einige Augenblicke lang fühlte er ihren Busen an seinem Herzen, dann aber übermannte er die auf ihn einstürmenden Gefühle und ließ sie in die Kissen des nahen Sophas gleiten.
Sie war nicht ohnmächtig, es war nur eine vorübergehende Schwäche, in Folge des Schreckes über das plötzliche, räthselhafte Erscheinen dieses Mannes und über seine Unglücksbotschaft.
»Ich danke,« hauchte sie. »Ist es wahr, was Sie mir mittheilen?«
»Ja,« antwortete er, auf einem Stuhle Platz nehmend. »Aber ich bitte Sie, nichts zu besorgen. Zunächst sind Sie jetzt noch vollständig sicher. So lange diese Flammen noch brennen, wird keiner der Räuber es wagen, das Haus zu betreten.«
Das wirkte augenblicklich. Sie bat:
»Bitte, geben Sie mir dort von dem Wasser.«
Er goß aus einer Karaffe Wasser in ein Glas, zog aus seiner Tasche eine kleine Phiole, ließ einen kleinen Tropfen hineinfallen und reichte ihr das Glas. Ein wunderbar feiner und ebenso wunderbar lieblicher Duft durchzog das Gemach. Sie nahm einen Schluck und fühlte sich augenblicklich gestärkt und erquickt.
»Was ist das für ein Odeur?« fragte sie.
»Der Orientale nennt ihn Nefs et tschisek, das heißt auf deutsch Blumenseele.«
»Er ist herrlich. Ich danke Ihnen! Aber ich habe nicht an die Seele der Blume, sondern an meine eigene zu denken! Sie wissen wirklich genau, daß man mich überfallen will?«
»Unzweifelhaft! Ich habe diese Menschen sogar gesehen.«
»Haben Sie nach Polizei gesandt?«
»Nein.«
»Mein Gott, das war doch das Allernächste! Bedarf man im Orient in solchen Fällen nicht der Polizei?«
»In grad einem solchen Falle allerdings nicht.«
»Sie meinen, daß es meiner Dienerschaft gelingen werde, den Anschlag zu verhüten?«
»Ja. Sie brauchen nur einen Einzigen hinter das Hausthor zu stellen. Er vermag mit einem Revolver sie alle abzuwehren.«
»Gott sei Dank! Ich werde sofort meine Befehle geben.«
Sie wollte sich schnell erheben; er aber machte eine bittende Handbewegung und sagte:
»Warten Sie noch, gnädige Baronesse! Ich komme in einer ganz besonderen Absicht zu Ihnen. In dieser Absicht liegt es, die Banditen ungehindert in das Haus und sogar bis in Ihr Schlafzimmer gelangen zu lassen.«
Sie erschrak von Neuem.
»Mein Gott! Warum denn das?« fragte sie.
»Muß ich Ihnen das sofort erklären, oder haben Sie das Vertrauen, mit meiner Erklärung zu warten, bis der Angriff vorüber ist?«
Sie blickte ihm zweifelhaft in das Gesicht.
»Durchlaucht,« antwortete sie, »ich vertraue Ihnen. Aber Ihr Eintritt bei mir ist ein so räthselhafter, daß – daß –«
»Nun wohl,« meinte er lächelnd. »So muß ich mich legitimiren. Ich werde Ihnen einen Namen nennen, dessen Klang Sie bewegen wird, sich mir ohne Rückhalt anzuvertrauen.«
»Welcher Name wäre das?« fragte sie mit Spannung.
Sie fuhr empor. Sie starrte ihn an, als ob sie mit diesem einen Blick nicht nur sein Gesicht, sondern auch seinen Leib und seine Seele durchdringen wolle. Eine tiefe, tiefe Röthe bedeckte ihr Gesicht, ihren Hals und ihren Nacken, so stieg ihr das Blut vom Herzen.
»Gustav Brandt!« rief sie. »Gott, mein Gott! Dieser Name! Kennen Sie Gustav? Haben Sie ihn gesehen und gesprochen? Wo befindet er sich? Wie geht es ihm?«
»Ich traf ihn in Indien; wir wurden Freunde.«
»Freunde! Dank, tausend Dank, Durchlaucht! Er lebt also noch?« jauchzte sie.
»Ja. Er ist gesund und wohl.«
»Als was?«
»Als Verwalter meiner Besitzungen.«
»Welch eine Nachricht! Welch eine Freude!« rief sie, ganz die drohende Gefahr vergessend. »Fast zwanzig Jahre habe ich nichts von ihm vernommen. Hat er von mir gesprochen?«
»Tausend, nein, Millionen Male!«
»Ah, er hat meiner gedacht! Hat er Ihnen erzählt, aus welchem Grunde er gezwungen war, die Heimath zu verlassen?«
»Alles.«
»Und wie mißtrauisch und bös ich damals gegen ihn war?«
»Auch das. Es hat einen langen und düsteren Schatten auf sein Flüchtlingsleben geworfen.«
»Ich habe es schwer, schwer und bitter bereut. Doch, weiter! Wie lebt er? Ist er – ist – ist er – verheirathet?«
Es wurde ihr schwer, dieses Wort auszusprechen.
»Ja,« antwortete der Fürst.
Sie bemerkte nicht, welch scharfen, forschenden Blick er dabei auf sie warf. Sie fuhr sich mit beiden Händen nach dem Herzen, als ob man ihr da einen Dolchstoß versetzt habe. Die Röthe wich aus ihren Wangen; ihr Gesicht wurde blaß, fast fahl; sie schien zu wanken. Aber sie mußte sich fassen; sie durfte diesem Fremden nicht merken lassen, welcher fürchterliche Schlag sie in diesem Augenblicke getroffen und fast niedergeschmettert habe. Und gerade ihrer Schwäche zum Trotze fragte sie: »Hat er Kinder?«
»Ja, vier liebe Kinder, zwei Jungens und zwei Mädchens.«
»Welcher Nation ist seine Frau?«
»Eine Engländerin, Baronesse.«
»Ich freue mich seines Glückes, vorausgesetzt, daß er glücklich ist.«
Sein Auge hatte einen unbeschreiblich milden, tiefen, feuchten Glanz; er antwortete mit weichem Tone:
»O, ich bin überzeugt, daß er augenblicklich sehr, sehr glücklich ist!«
»Wie kamen Sie mit ihm zusammen?«
»Meine Gnädige, erlassen Sie mir das für jetzt, da unten Mörder stehen. Ich wollte mich durch den Namen legitimiren. Habe ich das erreicht?«
»Vollständig, vollständig! Ich vertraue Ihnen!«
»So bitte ich Sie, gar keine Vorbereitungen zu treffen, sondern sich ruhig schlafen zu legen.«
»Gott, wie ist das möglich!«
Er lächelte zuversichtlich und antwortete:
»Ich bin bei Ihnen.«
»Oh, ich glaube, daß Sie tapfer sind; aber Einer gegen so Viele!«
»Gut! Lassen Sie mich Ihre Räumlichkeiten kennen lernen! Ich kam durch den Vorsaal und das Vorzimmer in dieses Boudoir. Wohin führt die Thür links?«
»Nach dem Schlafzimmer der Zofe.«
»Und dann weiter?«
»In mein Schlafzimmer.«
»Weiter?«
»Weiter nicht. Mein Schlafzimmer ist ein Eckzimmer.«
»Gehen aus den beiden Schlafzimmern auch Thüren nach dem Corridor?«
»Nur aus demjenigen der Zofe.«
»Es mag von innen verriegelt werden.«
»O kommen Sie, Durchlaucht! Sie müssen diese Arrangements selbst treffen! Die Zofe ist zwar bereits zur Ruhe gegangen, aber sie wird sich nicht zu scheuen brauchen.«
Sie nahm ein Licht und führte ihn in die beiden angegebenen Zimmer. Die Zofe steckte ihr Köpfchen unter die Decke, als sie zu ihrem riesenhaften Erstaunen bemerkte, daß ihre Herrin einen wildfremden Menschen zur Mitternachtsstunde und in einem solchen Negligée in ihr Heiligthum einführte. Sie erschrak aber noch mehr, als die Baronesse zu ihr sagte: »Bertha, Du kannst nicht schlafen. Dieser Herr, Durchlaucht Fürst von Befour, meldet mir soeben, daß man bei uns einbrechen will.«
Das hübsche Kammerkätzchen fuhr vor Entsetzen in die Höhe, so daß man Kopf, Hals, Schultern und die unbedeckten Arme sehen konnte, und rief: »Herr Jessus! Einbrechen? Bei Ihnen oder bei mir?«
Sie erhielt keine Antwort. Der Fürst hatte sich überzeugt, daß es unmöglich sei, hier einzudringen, sobald man die Thür von Innen verriegelte.
»Bei Ihnen Beiden nicht,« antwortete er dann lächelnd.
»Bei wem denn?« fragte das vor Angst ein Wenig voreilige Mädchen, indem sie den oberen Theil ihres Hemdes zu ordnen versuchte.
»Bei mir,« antwortete er. »Bitte, gnädige Baronesse, kommen Sie zurück zum Boudoir. Wieviel Dienerschaft haben Sie im Hause?«
»Sechs Personen mit der Zofe.«
»So mag die Letztere sich schnell ankleiden, um den Anderen zu sagen, daß sie sich fest einschließen sollen, damit sie nicht in Gefahr kommen.«
Sie gab den Befehl und fragte dann:
»Und wie soll ich mich verhalten?«
»Sie bleiben angekleidet mit der Zofe in deren Zimmer, dessen Thür wir auch verriegeln. Ich werde diese Menschen hier im Boudoir empfangen.«
»Das geht nicht, Durchlaucht!« sagte sie ängstlich.
»Warum nicht?«
»Sie setzen sich da einer fürchterlichen Gefahr aus!«
»Glauben Sie das nicht. Ich verstehe, mit solchen Leuten umzugehen.«
»Aber sie werden bewaffnet sein.«
»Ich auch.«
Er zog seine beiden Revolver vor.
»Eine Kugel kann Sie doch während des Kampfes treffen.«
»Man wird gar nicht daran denken, auf mich zu schießen. Ich bitte dringend, zu thun, was ich Ihnen vorschlage.«
»Aber was werden Sie mit diesen Leuten beginnen?«
»Das kommt ganz darauf an, was sie selbst beginnen werden. Bitte, treten Sie ein! Es gilt, keine Zeit zu verlieren.«
Die Zofe war von ihrem Gange zurückgekehrt, und die Baronesse schloß sich mit ihr ein. Jetzt nun zog der Fürst jenes Etui hervor, welches er sich von dem Diener hatte geben lassen. Auf demselben befand sich in arabischer Schrift und Golddruck das Wort »Lahialaki« eingegraben. Er öffnete. Es zeigte eine ganze Menge von Fächern, welche mit verschiedenen Gegenständen und Ingredienzien angefüllt waren. Er zog ein Läppchen hervor und trat an den Spiegel. Ein rascher Strich entfernte – die schmale, rothe Narbe, welche sich über sein Gesicht zog. Er wischte sich mit dem Läppchen das letztere und sofort nahm dieses eine weit dunklere Färbung an. Mit einem anderen Läppchen sich über die Haare des Scheitels und des Bartes gestrichen, gab denselben eine graue Farbe. Dazu eine blaue Brille, und der Greis von achtzig Jahren war fertig.
Das Feuer des Kamins war ausgebrannt. Der Fürst setzte ein Licht hinein und verschloß die Thür. Dann löschte er die andern Lichter aus und nun war es finster im Boudoir.
Der Kamin trat sehr weit vor, hinter demselben stand ein Stuhl, auf welchem der Fürst sich niederließ. Er brauchte nicht zu befürchten, sofort gesehen zu werden, und zudem war es ihm von hier aus ein Leichtes, den nahen Gascandelaber anzuzünden.
Jetzt wartete er, zwar mit Spannung, aber ohne Sorge der Dinge, die da kommen sollten. Fünf Minuten, zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten vergingen – eine halbe Stunde war vorüber; da endlich vernahm der Fürst ein leises, leises Knarren.
»Ah! Sie kommen!« murmelte er. »Sie werden ebenso leer wieder gehen müssen und dürfen Gott danken, wenn ihnen überhaupt das Fortgehen erlaubt ist.«
Man kam näher. Es wurde an der Thür probirt, ob dieselbe verschlossen sei. Dies war nicht der Fall.
»Es ist offen!« flüsterte eine leise Stimme.
»Wohin kommen wir?«
»In das Boudoir.«
»Ist das wahr?«
»Ja.«
»Und dann?«
»Erst in’s Schlafzimmer der Zofe und nachher in dasjenige der Herrin. Der Hauptmann hat es gesagt. Er muß selbst dagewesen sein.«
»Vorwärts also! Leuchte einmal, ob Jemand hier ist!«
Einer von ihnen zog eine Diebeslaterne hervor und ließ einen Lichtstrahl langsam umhergleiten.
»Also die Thür auf!«
Der diese Worte sprach, war ein entsetzlich langer und starker Mensch. Er schien den Anführer zu spielen. Der Fürst hatte beim Scheine der Diebeslaterne sein Gesicht und seine Gestalt gesehen.
»Alle Teufel! Der Riese Bormann!« dachte er. »Dieser ist ja gefangen! Wie kommt er heraus? Hm. Jetzt geht mir ein Licht auf. Auf ihn bezieht sich das umgedrehte Alibi. Das werde ich enträthseln.«
Ein Schlüssel klirrte leise, ganz leise im Schlosse. Jetzt mußten die beiden Frauen merken, daß die Einbrecher angekommen seien.
»Donnerwetter!« murmelte der Probirende.
»Paßt der Schlüssel nicht?«
»Esel! Meine Schlüssel passen stets! Aber die Thür ist nicht nur verschlossen, sondern auch von innen verriegelt.«
»Pest!« meinte der Riese. »Da ist es am besten, ich trete sie ein.«
»Nein, das macht zuviel Lärm. Wir müssen eine List anwenden.«
»Welche denn?«
»Ich klopfe und thue, als ob ich ein Diener bin. Da wird das Kätzchen jedenfalls aufmachen.«
»Möglich. Wollen’s versuchen.«
»Meinetwegen. Aber wir sind ja bereits Herren des Hauses,« meinte der Riese; »wir wollen uns also immerhin das Gas anzünden.«
Er trat zu dem Candelaber und steckte die Flammen desselben an. Der Fürst hatte sich so hinter den Kaminvorhang zurückgezogen, daß man ihn gar nicht sehen konnte.
»So, gut. Jetzt ist’s hell,« flüsterte Bormann. »Nun versuche es einmal mit dem Anklopfen.«
Der Schlosser, nämlich der heimlich Verbündete des Fürsten, trat zur Thür und klopfte leise. Erst beim wiederholten Klopfen ließ sich drin die Stimme des Mädchens vernehmen. Sie hatte jedenfalls den Befehl erhalten, zu antworten.
»Wer ist es?« fragte sie.
»Ich.«
»Wer denn?«
»Der Diener.«
»Welcher denn?«
»Donnerwetter!« flüsterte der Einbrecher. »Jetzt weiß ich nicht, wie die Kerls hier heißen!«
»Welcher denn?« wurde drinnen wiederholt.
»Sage Friedrich oder Anton. So heißen die meisten,« gebot der Riese.
»Friedrich!« sagte er.
»Was ist’s?«
»Eine Depesche.«
»An wen?«
»An Dich natürlich nicht. An die gnädige Baronesse.«
»Ich darf sie nicht stören. Sie mag sie morgen lesen.«
»Sie ist nothwendig.«
»Das hat bis morgen Zeit. Gute Nacht!«
»Verdammt! Abgeblitzt!« brummte der Einbrecher.
»Dachte ich es nicht!« meinte der Riese. »Geht weg! Ich werde diese Thür sofort öffnen!«
Er schob die Anderen bei Seite und erhob den Fuß.
»Welch eine Unvorsicht. An der Thür sind Selbstschüsse befestigt!« klang es hinter ihnen.
Sie fuhren herum und erschraken. Hinter ihnen stand, vom Gas hell beschienen, der Fürst, in jeder Hand einen gezogenen Revolver haltend.
»Himmeldonnerwetter! Drauf auf den Kerl!« rief der Riese.
Er that wirklich einen Schritt vorwärts, hielt aber erschrocken inne, denn der Fürst donnerte ihm entgegen:
»Halt! Zurück, wenn Euch Euer Leben lieb ist! Kennt mich Keiner von Euch?«
Diese Worte waren in einem solchen Tone gesprochen worden, daß Alle wie angenagelt stehen blieben.
»Donnerwetter!« murmelte Einer. »Der Fürst des Elends!«
»Der Fürst des Elends! Ist’s wahr?« fragte der Riese.
»Ja, ich bin es,« antwortete der Fürst.
»Alle Teufel! Mit dem können wir nichts anfangen!«
»Das denke ich auch. Zwölf Schüsse habe ich. Wer sich bewegt, erhält eine Kugel. Uebrigens seht Ihr, daß ich gewußt habe, daß Ihr kommen werdet. Ihr könnt Euch denken, daß man Vorkehrungen getroffen hat, Euch zu empfangen.«
»Gefangen etwa?« fragte der Riese, indem er sein Messer zog. »Da wehre ich mich doch lieber meiner Haut!«
»Ehe Du das Messer erhebst, bist Du tot, Bormann!« drohte der Fürst, indem er den Lauf des rechten Revolvers auf ihn richtete.
»Kreuz und Bomben! Er kennt mich!«
»Ich kenne Euch alle! Setzt Euch hier auf die Stühle. Ich will mit Euch reden. Und wenn Ihr verständig seid, so sollt Ihr ungestraft dahin gehen, wo Ihr hergekommen seid.«
»Ihr Wort darauf!«
»Ich gebe es.«
»Das laß ich mir gefallen! Setzt Euch!«
Sie folgten diesem Gebote Bormanns und setzten sich. Sie hatten von dem Fürsten des Elends gehört, sie kannten ihn und wußten, daß sie nun sicher waren. Sie saßen da, wie zu einer fröhlichen Unterhaltung zusammengekommen. Der Fürst begann: »Zunächst will ich Euch beweisen, daß ich Eure Pläne kenne. Der Riese mag antworten. Ihr sollt hier einbrechen?«
»Das sieht jedes Kind!« brummte Bormann.
»Um die fünfzigtausend Thaler zu holen, welche die Baronesse jetzt hier liegen hat?«
»Es ist so. Wir werden aber freilich nun verzichten müssen.«
»Ihr sollt ferner die Baronesse töten?«
»Ein Wenig, ja.«
»Und vorher sollte sie Euer Aller Weib werden?«
»Darauf hatten wir uns verdammt gefreut. Der Braten ist uns aber nun verdorben!«
»Die Zofe solltet Ihr leben lassen, Euch aber auch mit ihr nach Belieben unterhalten.«
»Auch das ist so. Ich hörte, daß sie sehr hübsch ist.«
»Das Geld solltet Ihr nicht an den Hauptmann geben, sondern unter Euch theilen.«
»Tod und Teufel! Sie wissen Alles genau? Wer hat es Ihnen verrathen? Ohne Verrath können Sie es nicht wissen!«
»Muß es denn gerade Verrath sein? Giebt es nicht andere Wege, zur Kenntniß zu gelangen? Euer Hauptmann taugt nichts! Kann er Euch heute beschützen? Kann er Euch befreien, wenn ich Anzeige machen wollte? Wäre es nicht besser, Ihr hieltet es mit mir, anstatt mit ihm? Ich will Euch nicht zur Untreue bewegen, aber Eure Treue ist ein Verbrechen, und jeder Schritt, den Ihr thut, ist Sünde. Ich würde Euch Gelegenheit und Mittel geben, ehrliche Kerls zu werden. Man würde vergessen, was Ihr gewesen seid, und Ihr könntet Euch mit den Eurigen des Lebens freuen, und im Alter wäre es Euch dann möglich, Euer Haupt in Frieden zur Ruhe zu legen. Ueberlegt Euch das! Ihr habt keinen besseren Freund, als den Fürsten des Elendes. Auch Ihr lebt im Elende; auch Ihr seid also meine Kinder, die ich retten möchte. Daß ich es gut mit Euch meine, beweise ich, indem ich Euch erlaube, ungestraft von hier zu gehen. Ich verspreche Euch, daß kein Mensch erfahren soll, was hier geschehen ist. Aber sagt Eurem Hauptmann, daß ich ihn zertreten werde wie einen Wurm, wenn er es noch ein einziges Mal wagt, den kleinsten Finger gegen dieses Haus und seine Besitzerin zu erheben. Sagt ihm das ja, vergeßt es nicht! Dieses Mal mag es ihm noch verziehen sein; ein zweites Mal ist er verloren, und Die mit ihm, welche es wagen, gegen meinen Willen zu handeln. Ich werde Euch zeigen, wer mächtiger ist, er oder ich. Und ebenso werdet Ihr erfahren, wer mehr auf Euer wahres Glück bedacht ist, er oder ich. Das ist es, was ich Euch sagen wollte. Indem ich Euch gehen lasse, schenke ich einem Jeden von Euch wenigstens zehn Jahre Zuchthaus. Bedenkt das recht, und handelt danach. Jetzt geht! Gute Nacht!«
Diese einfachen, kernigen Worte hatten einen tiefen Eindruck hervorgebracht. Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis sich endlich der Riese erhob und sagte: »Millionendonnerwetter, der Fürst hat im Grunde Recht! Kommt, Jungens; wir wollen verschwinden wie Schulbuben, welche die Ruthe bekommen haben! In dieses Haus treten wir nicht wieder!«
Sie schritten im Gänsemarsch, Einer hinter dem Anderen, zur Thüre hinaus. Im Nu zog der Fürst sein Etui wieder hervor und hatte in Zeit von einer Minute sein vorheriges Aussehen wieder hergestellt. Dann nahm er das Licht aus dem Kamine, welches er gar nicht gebraucht hatte, und folgte ihnen vorsichtig. Er hörte unten die Thür öffnen und dann wieder verschließen und wußte nun, daß die Gefahr vollständig vorüber sei.
Als er wieder oben in das Boudoir trat, hatte die Baronesse eben auch ihre Thür geöffnet, um bei der herrschenden Stille zu probiren, ob die Verbrecher wirklich verschwunden seien.
»Sind sie fort, wirklich fort?« fragte sie, ihm entgegentretend.
»Ja, Alle, gnädige Baronesse. Haben Sie Alles vernommen, was gesprochen worden ist?«
»Alles, jedes Wort! Herr, mein Gott, was habe ich erfahren! In welcher Gefahr habe ich mich befunden! Und die Rettung danke ich Ihnen, nur Ihnen allein!«
Sie streckte ihm beide Hände entgegen; er ergriff dieselben, drückte seine Lippen auf ihre Rechte und sagte in tiefer Bewegung: »Ich würde Sie mit meinem Leben vertheidigt haben, wenn es nothwendig gewesen wäre!«
»Ich danke, danke! Aber warum haben Sie diese Menschen denn entkommen lassen?«
»Ich habe dabei eine besondere Absicht, welche ich Ihnen vielleicht noch erklären werde.«
»Ach ja! Ich hörte zu meinem Erstaunen, daß Sie der berühmte Fürst des Elendes sind, welchem so Viele ihr Glück und ihre Rettung verdanken. Dies war eine Stunde der Gefahr und der Entdeckungen. Ich werde sie im Leben nie vergessen!«
»Aber eine Bitte darf ich aussprechen?«
»Ich werde Alles thun, was ich kann! Sprechen Sie!«
»Sie haben gehört, was ich den Einbrechern versprochen habe?«
»Was meinen Sie?«
»Daß von diesem Einbruche nicht gesprochen werden soll. Wollen Sie mir erlauben und beistehen, mein Wort zu halten?«
»Wie müßte ich das wohl anfangen?«
»Sie dürften selbst nicht darüber sprechen.«
»Wenn es Ihr Wunsch ist, werde ich schweigen.«
»Und bitte auch die Zofe und die andere Dienerschaft zum Schweigen veranlassen!«
»Ich werde mein Möglichstes thun, kann aber leider keine vollständige Garantie übernehmen,« erklärte sie lächelnd.
»Und noch eine Bitte, welche mir sehr, sehr am Herzen liegt: Es soll und darf Niemand erfahren, daß ich es bin, den man den Fürsten des Elendes nennt!«
»Das weiß nur ich und die Zofe. Wir werden schweigen«
»So bin ich darüber beruhigt und darf wohl jetzt um meine Entlassung ersuchen!«
Sie erschrak beinahe.
»Sie wollen mich verlassen?« fragte sie. »Ist das unbedingt nothwendig. Durchlaucht?«
»Nicht unbedingt, aber doch wünschenswerth.«
»Warum wünschenswerth?«
»Aus zwei Gründen. Erstens möchte ich beobachten, was die fortgegangenen Leute thun, und zweitens befinden Sie sich außer aller Gefahr, und ich darf nicht wagen, Sie länger zu incommodiren.«
Sie warf, ein Wenig erröthend, allerdings einen Blick auf ihr mehr als reizendes Nachtgewand, sagte aber in bittendem Tone: »Diesen Leuten zu folgen, wird unmöglich sein, denn sie sind wohl schon längst verschwunden. Was aber mich betrifft, so fühle ich mich noch nicht im Mindesten sicher. Sie selbst haben mich in Ihren mächtigen Schutz genommen, und ich bitte Sie jetzt dringend, noch einige Zeit unter demselben bleiben zu dürfen!«
Ueber sein ernstes Gesicht glitt ein Zug herzlicher Freude.
»Ich stehe zur Verfügung, gnädige Baronesse, wenn ich nur weiß, daß es Ihr Wille ist, den ich befolge.«
»Mein Wille? Befolgen? O nein; es ist nur meine Bitte, welche Sie mir erfüllen. Haben Sie nur die Güte, mir eine einzige Minute zu gestatten!«
Sie entfernte sich und kehrte in der angegebenen Zeit wieder zurück. Sie hatte das Negliggée abgeworfen und eine andere Gewandung angelegt. Diese Letztere aber war fast ebenso verrätherisch, als das Erstere. Und das Häubchen, unter welchem sie die Fülle ihres Haares hatte bergen wollen, saß so kokett auf dem Köpfchen, daß nicht einmal die Locken gehorsam waren, sondern sich hinten und zur Seite niederstahlen, um den glänzenden Nacken und die zart gerötheten Wangen zu liebkosen und zu küssen.
Sie hatte der Zofe Befehl gegeben, und diese brachte Wein und Dessertgebäck nebst Früchten. Die schöne Baronesse schenkte selbst ein und nippte auch ein Wenig mit von ihrem Glase.
»Wissen Sie, warum ich Sie zurückgehalten habe, Durchlaucht?« fragte sie.
»Warum?«
»Ein Wenig aus Furcht, daß die Bande doch noch wiederkehren werde, mehr aber noch aus Neugierde. Ich fühle die größte Sehnsucht, Sie einem ebenso strengen wie weitläufigen Examen zu unterwerfen.«
»Ich muß mich leider fügen; ich bin ja gefangen!« erklärte er lächelnd.
»Wer hat Sie gefangen?«
»Sie!«
»Soll das eine Galanterie sein.«
Er schüttelte langsam und ernst den Kopf und antwortete:
»Ich habe keine Muse, galant zu sein.«
»Sie sind es auch nie gewesen?«
»Niemals, im gewöhnlichen Sinne des Worts.«
»So sind Sie ein Sünder; denn Sie haben nie geliebt.«
»Nie geliebt?« fragte er, indem seine großen, dunklen Augen durch das Fenster hinaus nach dem Himmel schweiften, wo die Sterne ihre ewigen Kreise zogen.
»Ich habe geliebt, einmal, ein einziges Mal, mit aller Gewalt und Innigkeit meiner Seele. Ich habe nur an sie gedacht, an sie, sie, sie! Dann verließ sie mich, und ich stand einsam. Ich habe mich gerächt, fürchterlich gerächt!«
»Gerächt?« fragte sie, über seinen Ton beinahe schaudernd. »Wie und wodurch?«
»Dadurch, daß ich sie auch dann nicht vergaß, sondern sie mit derselben Gluth und Innigkeit weiter liebte, wie vorher. Halten Sie das für möglich, Baronesse?«
»Ja,« antwortete sie erröthend. »Auch Frauenherzen können sich auf diese Weise rächen. Sie scheinen überhaupt die Liebe als das letzte Mittel der Rache gelten zu lassen. Sie behandeln sogar Einbrecher mit Liebe?«
»Diese Liebe liegt in der Tiefe des Menschenherzens verankert. Und doch gestehe ich, daß doch auch ein Wenig Berechnung mit dabei vorhanden ist.«
»Welche Berechnung könnte das sein?«
»Es ist die Berechnung des Feldherrn, welcher den Grundsatz befolgt: Getrennt marschiren und vereint schlagen. Ich befolge diesen Grundsatz um Gustav’s Brandt willen.«
»Ah, Durchlaucht, das müssen Sie mir erklären!«
»Gern! Vorher aber sagen Sie mir aufrichtig, ob Sie ihn noch immer für schuldig halten!«
»Noch immer?« fragte sie. »Wie wäre das eine Möglichkeit. Ich war vom Scheine geblendet und von der Grauenhaftigkeit der Thaten erdrückt. Ich war nicht im Stande, selbstständig zu denken. Sobald mir aber diese Fähigkeit wiederkehrte, erkannte ich, wie sehr, wie sehr gesündigt ich an Dem hatte, den ich so innig liebte.«
»Ich war seine Schwester!«
»Ich begreife!«
»Und dennoch hat das Mißtrauen, welches ich gegen ihn zeigte und durch welches ich ihn in das Verderben trieb, seine düsteren Schlagschatten weit, weit hinein in mein einsames Leben geworfen. Noch heute martern mich die Vorwürfe.«
»Lassen Sie dem ein Ende werden! Er hat Ihnen vergeben!«
»Ich glaube es ihm, denn er hat mich vergessen können!«
»Vergessen? Niemals! Nie!«
Da warf sie das Köpfchen empor und sagte in liebenswürdiger Unvorsichtigkeit:
»Und doch, doch hat er mich vergessen, denn er hat eine Andere, eine Engländ- –«
Sie hielt inne. Sie hatte sich verrathen. Sie senkte die Augen und den Kopf. Es war, als ob alles Blut ihres Herzens in die Wangen gestiegen sei, und vor Zorn über ihre Unvorsichtigkeit oder auch vor tiefer innerer, schmerzlicher Erregung tropften ihr einige große, schwere Thränen von den langen, seidigen Wimpern nieder. Dann aber bat sie in tiefster Verlegenheit:
»Durchlaucht, Entschuldigung! Ich bin stets so unglücklich und erregt, wenn ich an jene bösen, unseligen Zeiten denke!«
Da ergriff er ihre Hand und sagte in so tiefem Tone, daß man es ihm anhörte, es komme aus dem Herzen, was er sprach: »Baronesse, erlauben Sie mir, als Freund zu Ihnen zu sprechen!«
»Reden Sie!« bat sie, indem sie keine Miene machte ihm ihre Hand zu entziehen.
»Sie haben ihn geliebt, herzlich und innig lieb gehabt?«
Sie senkte die Augen; sie erröthete; aber sie schwieg.
»Sie haben diese Liebe unbewußt im Herzen getragen, und erst dann, als die Größe Ihres Mißtrauens vor Ihre Erkenntniß trat, wurden Sie sich dieser Liebe bewußt?«
»Es mag so sein!« flüsterte sie.
»Und dann ist mit Ihrer Trauer auch Ihre Liebe gewachsen, so hoch, so hoch, daß es keine andere für Sie geben konnte. Darum ist Ihr Lebensweg ein so einsamer geblieben?«
Sie hatte ihm ihre Hand entzogen. Sie hielt die Hände gefaltet, als ob sie beten wolle, und in ihren Augen glänzten Thränen.
»Durchlaucht,« stammelte sie mit bebenden Lippen, »ich bin es gewesen, die ihn auf die Anklagebank und dann aus der Heimath getrieben hat. Ich habe das erst erkannt, als es mir der vorige König sagte.«
Der Fürst schwieg. In seinen Zügen kämpften tiefe Erregungen. Hatte er Sorge, gegen seine Pläne und Grundsätze zu handeln, wenn er jetzt wagte, das Wort zu ergreifen?
»Ich werde büßen, so lange ich lebe!« sagte sie. »Für mich giebt es weder Glück noch Stern. Ich habe mich an einem Menschenherzen versündigt, und das ist eine Sünde, welche nicht vergeben werden kann.«
»Und doch hat er Ihnen vergeben!«
»Weil er mich vergessen hat!«
»Er hat Sie nicht vergessen. Ich kann es Ihnen beweisen!«
»Womit?«
»Ich habe sogar den Auftrag, es Ihnen zu beweisen.«
»Womit?« wiederholte sie.
»Damit!«
Er griff in die Brusttasche und zog einen Sammetcarton hervor, den er ihr überreichte. Sie öffnete ihn, und ein in Gold getriebener und mit Perlen und Diamanten besetzter Photographierahmen flimmerte ihr entgegen. Er enthielt – das Bild ihres Milchbruders in englisch-ostindischer Offiziersuniform.
»Gustav, mein Gustav!« rief sie.
Beim Anblicke der geliebten Züge vergaß sie, wer bei ihr war. Sie drückte das Bild an ihre Lippen, an ihre Brust; sie lachte und sie weinte. Sie erhob sich von ihrem Sitze und ging in tiefster Erregung im Zimmer hin und her. Fast wurde es ihm angst. War das der stille, warme, wonnige Sonnenstrahl? Nein, nein! Aber konnte es anders sein? Zwanzig Jahre der Selbstvorwürfe, des Weinens, der Trauer lagen hinter ihr. Ihr Herz war einsam und verschlossen. Sie hatte ihre Kämpfe in stillen Nächten gekämpft. Ihr Herz, ihr Leben, ihr Dasein war unterwühlt. Eine gewaltige, hoffnungslose Liebe lag zusammengepreßt in der Tiefe ihres Herzens. Die gewaltige Expansivkraft derselben bedurfte nur des Funkens, um die Explosion, die Eruption hervorzubringen, welche jetzt erfolgt war. Der Blick auf das Bild des Geliebten war der Funke gewesen, und nun loderte die Liebe in hellen Lohen und Flammen aus ihr empor. Das konnte und mußte ganz von selbst und nur nach und nach zur Ruhe kommen!
Der Fürst saß dabei, wie Einer, welcher vor einem gewaltigen Feuer steht und sich gern hineinstürzen möchte, um zu retten, aber doch weiß, daß er selbst dabei verbrennen muß. Er kniff die Lippen zusammen und tippte mit den Spitzen seiner Finger sich die Thränen von den Wimpern.
Da plötzlich trat sie vor ihn hin und sagte:
»Durchlaucht, also ist er noch in Indien?«
»Ja.«
»Hätte er diese Engländerin nicht, ich würde noch heute nach Indien gehen, nach Kalkutta oder Madras, nach Bombay oder Benares; nein, nein, ich würde noch weiter gehen, nach China, nach Borneo, nach Australien, dreimal, zehnmal um die Erde herum, um ihn zu finden und ihm zu sagen, wie lieb ich ihn gehabt habe. Ich kann ihm nicht zürnen. Er hat mich unendlich lieb gehabt, ich weiß das gewiß; aber ich habe an ihm gezweifelt, ich habe ihn unter die Verbrecher geworfen; er konnte mich nicht mehr achten und also auch nicht mehr lieben, und darum hat er sein Glück an der Seite einer Anderen gefunden. Ich ernte nur, was ich gesäet habe. Aber Eins kann und will ich thun. Eins.«
»Was ist das, Baronesse?«
»Die Rettung seines Andenkens. Er war unschuldig, und seine Unschuld will ich beweisen.«
»Wird Ihnen das gelingen?«
»Ich hoffe es.«
»Haben Sie an dieser Aufgabe bereits gearbeitet?«
»Nein. Und das ist eine große, große Unterlassungssünde, welche ich mir vorzuwerfen habe. Ich habe es für unmöglich gehalten, einen Faden zu finden. Aber heute, am Tage, da ich die Macht und Unendlichkeit der Gefühle erkannt habe, erkenne ich ebenso, daß diese Aufgabe zu lösen sei.«
Er lächelte leise, fast mitleidig vor sich hin und fragte:
»Wollen Sie einen Verbündeten haben?«
»Wen?«
»Mich!«
»Sie? Sie wollen sich mir anschließen, Durchlaucht?«
»Sehr, sehr gern. Habe ich doch bereits seit Langem an der Lösung dieser Aufgabe gearbeitet.«
»Sie?« fragte sie abermals erstaunt.
»Ja. Aus welchem Grunde glauben Sie wohl, daß ich Indien verlassen und mich hier angekauft habe?«
»Um die Anschauungen und Errungenschaften des Abendlandes kennen zu lernen.«
Er zuckte die Achsel; diese Bewegung war eine beinahe verächtliche zu nennen.
»Wohl dem Morgenländer, der diese Errungenschaften und Anschauungen lieber gar nicht kennen lernt,« sagte er. »O nein. Ich bin aus einem ganz anderen Grunde hierher gekommen. Gustav Brandt ist mein Freund. Er lechzt förmlich nach der Kunde, daß seine Unschuld an den Tag gekommen sei. Er sehnt sich mit dem Heimweh des Schweizers nach seinem Vaterlande, und er darf doch nicht in dasselbe zurück, bis der wirkliche Thäter gefunden ist. Darum, und nur aus diesem Grunde habe ich mich aufgemacht. Ich bin gekommen, seine Unschuld an den Tag zu bringen, und sollte es mich Millionen kosten. Ich bin reich, fast unendlich reich und kann dieses kleine Opfer bringen.«
Da streckte sie ihm beide Hände entgegen und sagte:
»Wenn es so ist, so wollen wir Verbündete sein, treue Freunde und Verbündete für immerdar. Sie haben mir heute Eigenthum und Leben gerettet, o viel, viel mehr noch als das Leben. Ich wäre des elendesten Todes gestorben, den ein Weib nur sterben kann. Ich bin Ihnen eine Dankbarkeit schuldig, welche von der Erde bis zum Himmel reicht. Sie und Gustav Brandt sollen die Beiden sein, für welche ich leben und wirken will. Und da mein Wirken dasselbe Ziel besitzt, wie das Ihrige, so wollen wir vereint zu einander stehen, solange wir denken und überhaupt leben.«
Sie war ganz begeistert. Ihre Augen strahlten, und auf ihren Wangen lag die Röthe der schönsten Herzensinspiration. Wie sie so vor ihm stand, war sie von wahrhaft hinreißender, siegreicher Schönheit. Er suchte nach einem Zufluchtsmittel und fand es, indem er sagte: »Ist es so, Baronesse, so wollen wir sein wie Schwester und Bruder, welche fürs Leben treu zu einander halten.«
»Ja, das wollen wir sein, Durchlaucht, Bruder und Schwester.«
»So habe ich auch den Muth, mich des letzten Auftrages zu entledigen, den er mir beim Scheiden für Sie an das Herz legte.«
»Ein Auftrag? Was ist es? Sprechen Sie, Durchlaucht.«
»Er sagte zu mir: ›Und wenn sie nicht glaubt, daß ich ihr vergeben habe, wenn sie meint, daß die Farben ihres lieben, süßen Bildes in meinem Herzen verblichen und erloschen sind, so bitte ich, ihr Dieses von mir zu bringen.‹ Dabei erhielt ich von ihm einen Beweis seiner Herzenstreue, den ich Ihnen übergeben soll.«
Man sah ihr die freudige Spannung an, in der sie sich befand.
»Was war es, was er Ihnen gab?« fragte sie. »Schnell, schnell!«
»Es war – ein – – ein Kuß,« antwortete er.
Sie erglühte so, daß sie die Augen schließen mußte. Sie stand vor ihm in einer so hinreißenden Schönheit, daß er im Stande gewesen wäre, sie an seine Brust zu reißen und ihr Alles, Alles zu gestehen. Aber er beherrschte sich und fragte: »Soll ich ihm diese Gabe nicht wiederbringen und ihm sagen, daß sie nicht angenommen worden ist?«
Da blickte sie, zwar hochrothen Antlitzes, aber freundlich und gewährend auf den vor ihr Sitzenden herab, streckte ihm die Rechte entgegen und antwortete: »Nein, das sollen und dürfen Sie nicht. Eine solche Gabe muß angenommen werden. Hier, Durchlaucht, es sei erlaubt!«
Während die Rechte immer noch in seiner Hand lag, legte sie die Linke auf seine Schulter und bog sich zu ihm nieder.
Sein Herz drängte sich in seine Augen. Er fragte mit bebender Stimme:
»Befehlen Sie die Wange oder den Mund?«
»Was Sie wollen, Durchlaucht!« flüsterte sie. »Nicht Sie sind es ja, sondern Gustav ist es, der mich küßt.«
»Ja, Gustav soll es sein. Ich will denken, ich sei er. Also den Mund, Baronesse, den Mund, den süßen, schönen, lieben Mund.«
Er schlang den Arm um sie und zog sie weiter zu sich herab. Ihre Lippen fanden sich zu einem langen, langen Kusse. Sie hielt die Augen geschlossen, um sich der süßen Täuschung hinzugeben, daß es der Geliebte sei, den sie küsse. Er aber ließ den offenen Blick auf ihr ruhen, und es war ihm, als ob er seinen Mund nie, nie wieder von diesen Lippen lassen könne.
Da glitt ihr der eine Fuß aus, sie sank fast in seine Arme und legte die Linke um seinen Nacken. Er schlang beide Arme um ihre Taille, zog sie innig, innig an sich und gab ihr Kuß um Kuß und Kuß auf Kuß. So lagen sie Brust an Brust in süßer, seliger Selbstvergessenheit, bis sie sich endlich ermannte und aus seinen Armen wand.
»War der Kuß Gustav’s auch ein solcher?« fragte sie halb verschämt und halb vorwurfsvoll.
»Es wäre ein solcher gewesen, wenn er direct an Sie hätte gerichtet sein können.«
»So mag es vergeben sein. Wir sind ja Bruder und Schwester, Durchlaucht. Nun aber unser Bund geschlossen ist, lassen Sie uns zu den Einzelheiten unserer Aufgabe übergehen!«
»Ich bin bereit. Haben Sie schon nachgesonnen, um einen Plan zu finden, welcher ein Resultat verspricht?«
»Leider nein.«
»Wollen wir die Unschuld unseres Freundes beweisen, so kann es uns nur dadurch gelingen, daß wir den wirklichen Thäter entdecken. Haben Sie eine Muthmaßung, wo er zu suchen sei?«
»Ich möchte mit Ja antworten.«
»Wen meinen Sie?«
»Meinen Cousin.«
»Franz von Helfenstein?«