»Ja.«

»Haben Sie Anhaltepunkte?«

»Nur dieselben, welche Gustav und sein Vertheidiger während der Verhandlungen gaben!«

»Ich kenne sie. Sie hatten leider keinen Erfolg.«

»So dürfen wir, wenn wir sie jetzt aufstellen, noch viel weniger auf Erfolg rechnen.«

»Das ist sehr richtig. Aber wir finden vielleicht Anknüpfungspunkte, welche uns spätere Zeiten bieten. Meinen Sie vielleicht, daß Ihr Cousin bei beiden Mordthaten der Schuldige sei?«

»Ich möchte es behaupten.«

»Wenn es so in der Wahrheit ist, so hat er einen ungeheuren Scharfsinn zu entwickeln gehabt.«

»Der Zufall ist ihm zu Hilfe gekommen!«

»Mag sein. Aber trotzdem bin ich der festen Ueberzeugung, daß nicht Zufall und Scharfsinn allein Alles gethan haben können.«

Sie wurde aufmerksam und fragte:

»Wie meinen Sie das? Was könnte außer Zufall und Berechnung noch vorhanden gewesen sein.«

»Mitschuldige.«

Sie erschrak. Er hatte dieses eine, aber schwerwiegende Wort mit solchem Ernst, Mit solcher Ueberzeugung ausgesprochen, daß sie annehmen mußte, er besitze Gründe dafür.

»Mitschuldige?« fragte sie. »Welche ihm geholfen haben, die Mordthaten auszuführen?«

»Entweder dieses Eine –«

»Oder? Was ist das Andere?«

»Oder Mitschuldige, welche zufälliger Weise Zeugen des Mordes waren, sich aber durch irgendwelche Gründe bestimmen ließen, für Franz von Helfenstein und gegen Gustav zu zeugen.«

»Gott! Daran habe ich noch nie gedacht!«

»Und doch ist es sehr leicht, auf solche Gedanken zu kommen, wenn man die Verhältnisse betrachtet, welche sich seit jener Zeit ergeben und entwickelt haben.«

»Welche Verhältnisse meinen Sie?«

»Zum Beispiele die Verheiratung Ihres Cousins mit Ihrer früheren Zofe Ella.«

»Diese Verbindung ist mir von jeher höchst merkwürdig gewesen. Ich habe sie mir allerdings zu erklären gesucht.«

»Welche Erklärung fanden Sie.«

»Ella war hübsch, raffinirt, schlau berechnend. Sie wollte hoch hinaus und hat den Cousin umgarnt.«

»Ein schönes, raffinirtes, aber niedrig geborenes Mädchen vermag einen Edelmann nur dann zu umgarnen, wenn er eine grob sinnlich angelegte Natur ist. War Ihr Cousin eine solche?«

»Ich möchte nicht Ja sagen. Er mag ein Roué gewesen sein, wie er es ja auch jetzt noch zu sein scheint, aber er war in eben dem Grade auch berechnend, habsüchtig, stolz und eingebildet.«

»Ueberdies schien er Sie geliebt zu haben?«

»Ich hatte die Ehre, ihn von seiner Liebe sprechen zu hören.«

»Schön! Ella war unmöglich befähigt, Sie in seiner Liebe auszustechen. Es muß ein anderer, geheimerer Grund zur Verheirathung vorhanden gewesen sein.«

»Vermögen Sie, ihn zu finden?«

»Ich halte mich einstweilen an eine Hypothese.«

»Bitte, darf ich sie erfahren?«

»Sagen Sie erst, ob Sie sich entsinnen können, daß Ihr Cousin an jenem Tage, welcher den beiden Mordthaten voranging, einmal unter vier Augen mit Ihrem Vater gesprochen hat?«

»Auch ich habe gerade daran öfters gedacht, und darum entsinne ich mich ganz genau, daß eine solche Unterredung stattgefunden hat.«

»Ah, wann?«

»Der Cousin hatte mich auf dem Tannenstein mit seiner Liebeserklärung belästigt, und Brandt war dazu gekommen. Kurz nach unserer Rückkehr von dort nach dem Schlosse ist der Cousin bei Papa gewesen, aber in sehr schlechter Laune von ihm zurückgekehrt.«

»Das stimmt ganz prächtig zu meinem Gedankengange. Ihr Cousin war ein notorischer Spieler; er hatte viele Schulden. Nicht?«

»Allerdings!«

»Er schuldete auch Ihrem Vater. Er wollte weiter von ihm borgen und bekam nichts. Ihre Liebe konnte ihn retten. Er erhielt von Ihnen und dem Vater einen Korb. Nur der Tod des Vaters konnte ihn seinem Ziele näher bringen. Er hatte zwei Ziele. Erreichte er das Eine nicht, so erreichte er das Andere sicher!«

»Zwei Ziele?«

»Ja. Haben Sie über das zweite noch nicht nachgedacht?«

»Nein. Ich habe keine Ahnung von demselben.«

»Und er hat es doch erreicht!«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Nun, so muß ich deutlicher sein, auch auf die Gefahr hin, grausame Erinnerungen in Ihnen aufzufrischen.«

»Thun Sie es! Thun Sie es immerhin! Wenn ich nur Licht erhalte.«

»Das eine Ziel war die Verbindung mit Ihnen. Mit Ihnen hoffte er fertig zu werden; aber der Vater mußte sterben.«

»Und das andere?«

»Das andere war der Besitz der Herrschaft Helfenstein. Da waren aber Zwei im Wege, nämlich Ihr Vater und Ihr kleines Brüderchen, und Beide mußten sterben.«

Alma starrte den Sprecher wie abwesend an.

»Großer Gott!« rief sie. »Das könnte ja nur der Plan eines Teufels gewesen sein!«

»Ja. Der Teufel aber hat gewollt, daß er gelinge.«

»Haben Sie Gründe zu dieser Annahme?«

»Ich sagte bereits, daß ich bis jetzt nur eine Hypothese aufbaue. Aber ich bin in Helfenstein gewesen; ich habe mich erkundigt; ich habe verglichen und berechnet. Ich habe gegraben wie der Bergmann, welcher weiß, daß er auf die Ader treffen muß, aber die Tiefe noch nicht kennt, in welcher sie liegt. Verschiedene Anzeichen lassen mich vermuthen, daß ich bald, sehr bald auf diese Ader stoßen werde. Dann sollen Sie die Erste sein, welche den Erfolg meiner Arbeit erfahren wird.«

»So meinen Sie, daß jener Brand, bei welchem mein Brüderchen umkam, beabsichtigt war?«

»Ich bin moralisch überzeugt davon. Ich möchte sogar behaupten, daß man Ihr Brüderchen getödtet und dann das Bett in Brand gesteckt hat, um den Mord zu vertuschen.«

»Mein Gott, mein Gott, wie fürchterlich!«

Sie saß da vor ihm, ein starres Bild des Entsetzens. Er aber ließ sich dadurch nicht beirren und fuhr fort:

»Wir haben es also nur mit dem Plane zu thun, welcher gelungen ist – der zweite: Ihr Vater und Ihr Brüderchen mußten sterben. Zunächst der Vater. Die Gelegenheit war da – eine Jagd. Ein Dritter, auf den die Schuld geschoben werden konnte, auch, nämlich Brandt. Er hatte Ihren Cousin zur Rache gereizt, den Zorn Ihres Vaters herausgefordert und den Hauptmann von Hellenbach beleidigt. Hat Geld gefehlt, Baronesse?«

»Es stellte sich erst später heraus, daß mehrere Tausend Thaler in Gold fehlten.«

»Schön! Das paßt. Ihr Cousin war in Geldnoth. Er sieht Brandt, im Kampfe mit Blut befleckt, zu Ihrem Vater eilen, um ihn zu warnen. Er läßt Brandt fort und begiebt sich dann auch zu Ihrem Vater. Er schneidet ihm den Hals durch und steckt so viel Geld ein, als er gerade braucht. Das Messer, mit welchem der Mord vollbracht wurde, läßt er liegen, um den Verdacht auf Brandt zu lenken, dem er es am Nachmittage gestohlen hat, als er Sie mit ihm belauschte. Er geht, schließt die Thür zu und steckt den Schlüssel ein, begegnet aber unglücklicher Weise wem – –?«

»Nun, wem?«

»Ella, der Zofe!«

»Ah, ich ahne!«

»Nicht wahr? Sie hat gewußt, wer der Mörder war, und ihn gezwungen, sie zu heirathen. Ich habe erfahren, daß sie am Tage vor der Verhandlung ihn besucht hat. Sie sind noch an demselben Tage zum Pfarrer gegangen. Die Verlobung wurde unter diesem Datum eingetragen. Ich habe sie kürzlich gelesen.«

Alma war ganz Ohr.

»Jetzt wird es hell in mir, furchtbar hell!« sagte sie.

»O, hören Sie nur weiter! Wer war es, wer Gustav Brandt aus dem Waggon befreite, als er nach dem Zuchthaus transportirt werden sollte?«

»Der Schmied und sein Sohn.«

»Schön! Welche Veranlassung hatten Beide zu dieser an und für sich höchst gefährlichen und von unserer Seite aus lobenswerthen That?«

»Ich weiß keinen Grund. Vielleicht thaten sie es aus Freundschaft für Brandt und dessen Vater.«

»War die Freundschaft zwischen dem Förster und dem Schmied so groß?«

»Ich könnte es nicht behaupten.«

»Oder zwischen den Söhnen dieser Beiden?«

»Ebenso wenig.«

»Nun, so kenne ich nur zwei Gründe, welche wir untersuchen wollen!«

»Ich habe keine Ahnung von noch zwei Gründen. Ich erkenne heute sehr deutlich, daß der Mann im Beobachten und Calculiren weit über unserem Geschlechte steht.«

»Desto mehr stehen wir den Damen in Beziehung der Feinheiten des Gemüthslebens nach. Uebrigens ist das Erstere kein Verdienst für uns, da wir nach der Behauptung der Anatomen ein weit größeres Gehirn besitzen, als die Wesen, nach deren Liebe wir trotzdem so sehnlich trachten. Also meine zwei Gründe! Der erste lautet: Die beiden Schmiede sind zu der That gedungen worden.«

»Von wem aber?«

»Es gab nur zwei Personen, denen man so Etwas zumuthen konnte; nämlich entweder Sie oder der alte Förster.«

»Mir lag ein solcher Gedanke damals leider fern.«

»Dem Förster ebenso. Dieser wollte doch sogar partout, daß sein Sohn sich hinrichten lassen solle. Es bleibt uns noch der zweite Grund übrig, und das ist ein psychologischer. Nämlich, die Beiden haben Brandt aus Gewissensbissen gerettet.«

»Ah! Wie soll ich das verstehen?«

»Sie waren Zeugen des Mordes an dem Hauptmann. Sie wußten, wer der Mörder war; sie kannten die Unschuld Brandt’s, aber sie konnten nicht für ihn auftreten, weil sie gezwungen waren, zu schweigen. Ihr Gewissen schlug. Sie wollten es zum Schweigen bringen und erreichten es dadurch, daß sie Brandt zur Flucht verhalfen. Der Ueberfall des Wachtmeisters war zwei solchen Paschern keine allzu große Heldenthat.«

»Auch hier wieder eine Perspective, von deren Dasein ich nichts ahnte. Ich bewundere Sie, Durchlaucht!«

Er lächelte ruhig, beinahe traurig, und sagte dann:

»Sie werden mich noch mehr bewundern! Sie trafen Brandt im Walde. Der Hauptmann wollte ihm Abbitte thun; er wartete, bis sie sich entfernten und trat dann zu ihm. Ihr Cousin war Ihnen gefolgt; er fand Brandt’s Gewehr und schoß den Hauptmann nieder. Als dieser todt am Boden lag und Sie ohnmächtig in Brandt’s Armen, schlich er näher und steckte dem nichts Ahnenden den Zimmerschlüssel Ihres Vaters in die Tasche.«

»Das klingt so leicht, so glaubhaft! Warum ist es mir nicht damals so erschienen!«

»Weiter! Die Pascher waren überfallen worden. Der Schmied und sein Sohn gehörten zu ihnen. Sie strichen aus irgendeinem Grunde im Walde umher. Sie befanden sich in der Nähe des Mordplatzes. Sie waren Zeugen der That, aber sie waren dem Mörder in irgend einer Weise verbunden, oder sie hatten einen anderen Grund. Kurz und gut, sie schwiegen, als Brandt verurtheilt wurde, aber sie retteten ihn, um ruhig schlafen zu können. Klingt das etwa sehr unwahrscheinlich, liebe Baronesse?«

»Ganz und gar nicht.«

»Das finde ich auch. Wer also Klarheit über den Mord Ihres Vaters haben will, muß zu der jetzigen Baronin Ella von Helfenstein gehen. Und wer dem zweiten Morde auf den Grund kommen will, der hat sich an die beiden Schmiede zu halten, welche ja heute noch leben. Und wer Drittens etwas über die Ermordung Ihres Brüderchens erfahren – – ah, Sie staunen?«

»Ich bin allerdings fast sprachlos! Haben Sie auch hier bereits geforscht, Durchlaucht?«

»Ja.«

»Mit Resultaten?«

»Hm! Man glaubt hier in der Stadt allgemein, daß der geheimnißvolle Fürst von Befour sich erst seit sechs Monaten hier im Lande befinde; Ihnen aber, als meiner Freundin, Schwester und Vertrauten, will ich mittheilen, daß ich vorher bereits fast dreiviertel Jahr unter verschiedenen Gestalten im Lande herumwanderte, um nach Spuren zu suchen und zu forschen.«

»Welch ein Mann! Welch eine Aufopferung für unseren Brandt!«

»Pah! Bei meiner Freundschaft für ihn ist das, was ich für ihn thue, grad so, als sei es für mich gethan. Der Verdacht, welchen ich auf die beiden Schmiede warf, brachte mich auf neue Gedanken.«

»Durchlaucht, Sie sind ja der reine Polizist! Ich glaube, Sie übertreffen Brandt noch, der auch bedeutende Anlagen für diesen Beruf besaß. Er könnte heute seine Angelegenheit sicherlich nicht besser führen, als Sie es thun!«

»Ich will dieses Kompliment einstweilen nicht mit Dank hinnehmen. Doch, hören Sie weiter! Die Schmiede waren die Verbündeten Ihres Cousins. Die alte Wirthschafterin des Letzteren entsinnt sich jener Zeit noch sehr genau. Von ihr erfuhr ich, daß die Zofe Ella am Tage vor Brandt’s Verurtheilung bei Franz von Helfenstein gewesen sei. Ebenso erfuhr ich, daß der Letztere einen Tag vorher von den Schmieden besucht wurde. Da haben sie ihren Packt mit ihm gemacht. Das sieht man heute. Sie sind reiche Leute geworden. Aber ich werde sie zu fassen wissen.«

»Ich hoffe es! Aber wollten Sie nicht von meinem Brüderchen sprechen, Durchlaucht?«

»Gewiß. Unsere Wege sind eben so verschlungen, daß wir sehr viel von der geraden Richtung abweichen müssen. Können Sie sich auf den Tag des Schloßbrandes besinnen?«

»Sehr genau. Es war derselbe Tag, an welchem unser Gustav Brandt verurtheilt wurde.«

»Das stimmt. Nehmen wir getrost an, daß das Knäblein ermordet werden sollte. Die Beiden, in deren Interesse dies geschah, waren am Tage in der Residenz gewesen und am Abende zurückgekehrt, also anwesend, aber ich glaube trotzdem nicht, daß der Baron selbst oder Ella Hand an das Kind gelegt haben. Ich habe vielmehr Verdacht auf ihre Verbündeten, die beiden Schmiede.«

»Haben Sie Veranlassung dazu?«

»Ja. Ich kam nämlich auf höchst eigenthümliche Weise auf meine Gedanken. Können Sie sich noch auf den Todtengräber Uhlig in Helfenstein besinnen?«

»Sehr gut. Er ist jetzt bei seinem Sohne.«

»Richtig. Der gute Christian Uhlig war Schließer, als Brandt in Untersuchung saß. Jetzt ist derselbe Christian Wachtmeister, und sein Vater wohnt bei ihm, um das Gnadenbrot da zu essen. Ich nahm, aus Forscherabsicht, Veranlassung, mit den Beiden einmal wie zufällig zusammenzutreffen, und ich hörte da etwas, was mir zu denken gab. Nämlich gerade damals ist der alte Schmied zu Christian gekommen, um sich nach Brandt zu erkundigen. Er hat dem Schließer einen Sack voll Kartoffeln von seinen Eltern mitgebracht. Als das erzählt wurde, erfuhr ich so nebenbei von dem alten Todtengräber, daß am Abende des Schloßbrandes die beiden Schmiede bei ihm zur Geburtstagsfeier gewesen seien. Der Knabe der Botenfrau ist begraben worden, und die Schmiede haben geholfen, den Sarg mit Erde zu bedecken.«

Sie sah dem Sprecher fragend in das Gesicht.

»In welchem Zusammenhang steht das Alles?« meinte sie.

»In einem sehr innigen. Nehmen wir an, die Schmiede haben Ihr Brüderchen tödten sollen.«

»Das traue ich ihnen nicht zu!«

»Ich traue ihnen zu, daß sie um der Bezahlung willen diesen Auftrag übernommen haben, aber ich traue ihnen die strikte Ausführung desselben auch nicht zu. Sie haben den Sohn der Botenfrau mit eingescharrt. Das ist des Nachts geschehen, eine gute halbe Stunde, bevor es im Schlosse brannte. Wie nun, wenn man einmal nachgraben ließe, ob sich in jenem Grabe wirklich die Reste einer Kinderleiche befinden?«

»Wie meinen Sie das?« fragte sie gespannt.

»Ich denke, die beiden Pascher haben den alten, braven Todtengräber über’s Ohr gehauen. Sie haben die Leiche entfernt und nur den leeren Sarg einscharren helfen.«

»Ich sehe aber nicht ein, weshalb und wozu!«

»Nun, sehr einfach: um nicht gezwungen zu sein, Ihr kleines Brüderchen zu tödten. Sie wollten das Geld verdienen, die Leiche des Knaben mußte also gefunden sein. Sie nahmen Ihren Bruder fort, legten das Kind der Botenfrau an seine Stelle und brannten das Bettchen an, damit die Verwechslung nicht bemerkt werden könne. So ist meine Combination.«

Da erhob sich Alma langsam und wie starr vom Stuhle. Gerade und aufrecht vor dem Fürsten stehend fragte sie:

»Sie meinen, daß mein Bruder nicht getödtet worden sei?«

»Das meine ich.«

»Daß er auch nicht mit verbrannt sei?«

»Das will ich eben sagen.«

»So kann er ja noch leben!«

»Das ist leicht möglich!«

Da schlug sie die Hände zusammen und rief:

»Und das Alles sagen Sie in einem so ruhigen und kalten Tone!«

»Weil ich nicht Hoffnungen in Ihnen erwecken will, welche sich als trügerisch erweisen können. Halten Sie den kleinen Robert immerhin für todt, und lassen Sie mich weiter forschen.«

»Gott, welch eine Freude, welch ein Glück, wenn er noch lebte!«

»Ja. Welch eine Freude für Sie, und welch ein Schlag für Ihren Cousin!«

»Er müßte die ganze Erbschaft herausgeben!«

»Dazu würde er allerdings gezwungen sein!«

»Durchlaucht, schreiten wir so rasch wie möglich auf der Bahn fort, die Ihr Scharfsinn uns eröffnet hat! Lassen wir schleunigst nachgraben, ob sich eine Kinderleiche im Sarge befindet!«

»Gemach, gemach!« meinte er lächelnd. »Zur Exhumirung einer Leiche gehört ein langer Actenweg. Und selbst für den Fall, daß wir nur einen leeren Sarg vorfänden, was hätten wir erreicht? Nichts als die persönliche Ueberzeugung, daß meine Schlüsse correct gewesen sind.«

»Aber man muß doch Etwas thun!«

»Allerdings! Die beiden Schmiede müssen gefaßt werden. Der Alte wird nicht mehr lange leben; man muß sich also beeilen. Eine grimmige Feindschaft mit ihrem früheren Verbündeten, Ihrem Cousin, würde am Schnellsten zum Ziele führen. Lassen Sie mir Zeit zum Nachdenken und zu meinen Arrangements, so kann ich Ihnen die Hoffnung geben, daß wir früher oder später in jeder Beziehung zum Ziele gelangen.«

Bei diesen Worten erhob er sich. Sie fragte:

»Sie wollen sich verabschieden?«

»Ja. Es sind Stunden vergangen, und der Tag möchte mich hier überraschen. Wollen Sie mir die Art und Weise verzeihen, in der ich heute bei Ihnen Zutritt nahm?«

»Gern, Durchlaucht! Aber diese Art und Weise ist mir ein Geheimniß. Wer hat Sie eingelassen?«

»Niemand.«

»Aber wie konnten Sie zu dieser Stunde –?«

Er unterbrach sie durch eine Handbewegung und antwortete in sehr launigem Tone:

»Sie haben heute bei Oberst von Hellenbach gesehen, daß ich teuflische Künste treibe. Fragen Sie heut nicht! Vielleicht weihe ich Sie später in meine magischen Geheimnisse ein!«

»So werde ich auch in dieser Beziehung warten müssen!«

»Hoffentlich nicht sehr lange Zeit! Und nun möchte ich endlich mit einer Bitte scheiden!«

»Bitten Sie getrost, Durchlaucht! Ich gewähre, was zu gewähren mir möglich ist.«

»Lassen wir nicht öffentlich merken, daß wir befreundet und Verbündete sind! Je weniger wir uns zu kennen scheinen, desto mehr werden wir durch heimliches Zusammenwirken erreichen.«

»Ich stimme bei, denn ich sehe ein, daß Ihre Ansicht die richtige ist. Aber, wie jetzt?« fuhr sie lächelnd fort. »Werden Sie so ohne Hilfe verschwinden, wie Sie uns ohne unseren Beistand erschienen sind?«

»Ich will die Geister nicht zu viel belästigen und ersuche Sie, mir durch die Zofe öffnen zu lassen!«

Sie nahmen freundlichen Abschied von einander, und als er fort war und das Mädchen schon längst wieder im Schlummer lag, saß Alma noch bei der Lampe und hatte das Bild des Geliebten in den Händen. Der Rahmen war Tausende werth, aber das Bild war ihr doch noch tausendmal theurer! – –Am anderen Vormittage hielt ein prächtiger Schlitten vor dem Palais des Barons von Helfenstein. Der Fürst stieg aus und begab sich in das Innere.

»Die Frau Baronin bereits zu sprechen?« fragte er den Diener, indem er ihm seine Karte überreichte.

Der dienstbare Geist warf einen Blick auf die Krone und die Buchstaben, verbeugte sich dann so tief, daß er mit der Nase beinahe den Boden erreichte, und antwortete: »Werde sofort Meldung machen. Treten Euer Durchlaucht einstweilen gütigst hier ein!«

Er begab sich schleunigst nach dem Vorzimmer der Baronin, wo er die Zofe fand.

»Hulda, Donnerwetter, ist Deine Gnädige schon auf?« fragte er in einem Tone, als ob er ein außerordentliches, unbegreifliches Ereigniß zu berichten habe.

»Nein! Warum denn?«

»Der Fürst von Befour, der eine ganze Milliarde im Vermögen hat, will zu ihr!«

»O weh! Sie liegt noch im Bette! Was machen wir?«

»So einen Cavalier kann man nicht fortschicken!«

»Ist denn bereits Visitenstunde?«

»Natürlich! Schon seit einer halben Stunde, ihr verschlafenes Volk!«

»Ich kann aber nicht hinein zu ihr!«

»Warum nicht?«

»Der Herr trinkt die Chocolade bei ihr!«

»Der Teufel hole den Herrn, die Madame, die Chocolade und Dich! Was muß der Fürst von mir denken, wenn ich ihn so lange warten lasse! Wo bleiben dann die Trinkgelder, he?«

»Bleib da! Ich will es versuchen!«

Sie klopfte und trat ein.

Der Baron hatte sich allerdings in das Schlafzimmer seiner Frau begeben, um ihr über seine gestrigen Erlebnisse zu berichten, denn sie hatte ihr Wort nicht gehalten und sich früher zur Ruhe begeben, als er nach Hause gekommen war.

Als er eintrat, war sie soeben erst aufgewacht.

»Guten Morgen!« grüßte er im gleichgiltigen Tone eines Mannes, der eine saure Pflicht zu erfüllen hat.

Sie fand gar keine Zeit, seinen Gruß zu erwidern. Ihr erstes Wort war ein Ausruf des Schreckes:

»Herjesses, wie siehst Du aus, Mann!«

»Ich? In wiefern?«

»Hast Du denn noch nicht in den Spiegel gesehen?«

»Freilich, doch!«

»Nun, was ist das mit Deinem Auge?«

»Das geschah heute nacht in der Bibliothek. Ich suchte noch nach einem Buche. Da stürzte ein Foliant von oben herab und mit der Ecke mir gerade auf das Auge.«

Sie lächelte ihm merkwürdig malitiös zu und sagte:

»Armer Teufel! Es soll auch Fäuste geben, welche die Kraft und das Gewicht von zehn Folianten besitzen. Doch setze Dich! Hier hat das Mädchen bereits die Chocolade servirt. Erzähle, wie Euer gestriges Unternehmen geendet hat!«

In diesem Augenblicke trat die Zofe ein.

»Der Herr Fürst von Befour wünscht die gnädige Frau Baronin zu sprechen.«

»Ah!« meinte die Genannte. »Wir saßen gestern mit einander zur Tafel. Welche Aufmerksamkeit! Er kommt, sich nach meinem Befinden zu erkundigen.«

»Hm! Aber hier kannst Du ihn doch nicht empfangen!« warf der Baron ein.

»Tölpel!« flüsterte sie ihm zu. Und sich an die Zofe wendend, befahl sie derselben: »Sage dem Diener, daß ich in einer Minute zur Verfügung bin, doch möge Durchlaucht entschuldigen, daß ich Hochdieselbe in italienischer Weise empfange. Du aber kommst sofort wieder, um das Bett zu ordnen.«

Das Mädchen trat hinaus und meinte zum Lakaien:

»In einer Minute ist Madame bereit. Durchlaucht sollen entschuldigen, daß Hochdieselben in italienischer Weise empfangen werden.«

»Kreuzelement! Was heißt das, in italienischer Weise?«

»Im Bett. Dummkopf!«

»Hm! Da lobe ich mir freilich Italien!«

Er trat ab. Als er den Fürsten brachte, stand die Zofe bereit und öffnete die Thür. Die Baronin lag in malerischer Stellung auf dem Ruhebette und lächelte dem Eintretenden verbindlich entgegen. Der Baron stand bei ihr und verbeugte sich tief vor ihm.

»Verzeihung, meine Gnädige, daß die Sehnsucht, eine süße Pflicht zu erfüllen, mich nicht länger warten ließ!« sagte der Fürst, die ihm entgegengestreckte Hand ergreifend, um sie zu küssen.

»Eine Auszeichnung, wie die gegenwärtige, empfängt man nie zu früh!« antwortete sie. »Mein Gemahl, der Baron, Durchlaucht! Heute leider infolge eines kleinen Unfalles ein Wenig indisponibel.«

Der Fürst verbeugte sich. Der Baron hielt es für gerathen, seine Lädur zu entschuldigen:

»Das Studium gewisser Folianten ist oft mit Unbequemlichkeiten verbunden, fürstliche Durchlaucht. Sie fallen Einem zuweilen dahin, wohin eigentlich ihr Inhalt gehört.«

Der Baron hatte gestern falschen Bart getragen, aber der Fürst wußte trotzdem sogleich, woran er war. Diesen Mann hatte er also gestern in das Gesicht geschlagen, und dieser Baron war es auch, welchen er unter den Bäumen bei der Frohnveste gesehen hatte. Eine ganze Fluth von Gedanken und Schlüssen stürmte auf ihn ein; er drängte sie aber zurück und antwortete in verbindlicher Weise: »Stürzt sich Geist auf Geist, so darf allerdings nichts Körperliches dazwischen sein. Doch ist Arnica der dritte Geist, welcher dem Körper freundlicher gesinnt ist.«

»Ich kenne ihn und bitte um die Erlaubniß, mich zu ihm zurückziehen zu dürfen.«

Mit diesen Worten entfernte sich der Baron. Die Baronin hatte bereits ein Tabouret bereit stellen lassen, recht nahe an das Ruhebette. Sie hatte sich die Aufgabe gestellt, diesen seltenen Mann zu fesseln, zu erobern und mit dieser Eroberung in den Gesellschaften zu glänzen. Sie winkte, Platz zu nehmen, und er that es in der gewandten Weise eines Mannes, welcher gewöhnt ist, mit schönen Frauen zu verkehren.

»Ich habe Sie willkommen geheißen, Durchlaucht,« begann sie, »obgleich ich einen Vorwurf auf den Lippen hatte, als Sie eintraten.«

»Sie sind unzufrieden mit mir, meine Gnädige?«

»Sehr!«

»Das macht mich unglücklich!«

»Wer glücklich sein will, darf nicht so plötzlich Orte verlassen, an denen er das Glück findet.«

»Ah! Mein rasches Entfernen hat Sie erzürnt! Pardon! Sie wissen ja, daß wir Indier Barbaren oder doch wenigstens Halbbarbaren sind. Wir bedürfen noch sehr des Unterrichts!«

»Sie werden Lehrer finden.«

»Danke! Wer diese Wissenschaft studiren will, muß sich an die Gewogenheit der Damen wenden. Die Kunst des Salons erlernt man nie von einem Manne.«

»So sollten Sie als Barbar sich schnellstens nach einer Lehrerin umsehen, Durchlaucht!«

»Der Rath ist vortrefflich, Madame; doch die Beschränkung, welche Sie demselben beifügen, ist nicht glückverheißend für mich.«

Sie war nicht geistreich genug, ihn sofort zu verstehen. Darum fragte sie:

»Eine Beschränkung? Wäre das meine Absicht gewesen?«

»Ich meine das Wort ›schnellstens‹. Wenn ich mir schnellstens eine Lehrerin wählen soll, so finde ich hier ja nur eine einzige Dame, und ich habe kein Recht zu glauben, daß diese Dame mir Ihre Theilnahme und Nachsicht widmen möchte.«

»Nur die Ueberzeugung vermag zu überzeugen.«

»Ich gehe auf dieses in das Deutsche übersetzte französische Sprichwort ein. Darf ich mir Ueberzeugung holen?«

Sie lächelte ihm ermuthigend entgegen und antwortete:

»Ich gestatte es.«

»Wie, Sie wollten die Taube sein, nach der ich meinen Flug richten darf?«

»Gern! Fliegen Sie in unserem Hause so oft ein und aus, als es in Ihrem Wunsche liegt.«

»So werde ich jetzt als Barbarenkrähe eingeflogen sein und einst als gewandte Schwalbe das Weite suchen.«

»Ich hoffe, daß bis dahin noch recht lange Zeit vergeht.«

»Das werden Sie ganz in Ihrer Gewalt haben. Theilen Sie den Unterrichtskursus, den ich hier zu nehmen gedenke, in so viel wie möglich Lectionen ein.«

»Ich werde dies thun und zugleich den Vortheil verfolgen, mit den Lectionen so spät wie möglich zu beginnen.«

»Ich finde das sehr weise gehandelt, meine schöne Lehrerin. Aber doch bin ich begierig, zu erfahren, welche Methodik Sie verfolgen?«

»Sie wünschen eine Probelection?«

»Allerdings!«

»Also eine Probelection aus dem Buche über den Umgang mit Menschen?«

»Ja, und zwar aus der Abtheilung mit dem Umgang mit Damen.«

»Diese Probelection sei Ihnen gewährt.«

»Darf ich das Thema wählen?«

»Ich hoffe, Sie werden wählen den Umgang mit Damen im Salon. Nicht?«

»Nein!«

»Im Theater?«

»Nein.«

»Auf der Promenade?«

»Allerdings auch nicht.«

»Auf Ausflügen, beim Picknick?«

»Noch weniger.«

»Auf Reisen, im Coupee?«

»Ganz und gar nicht.«

»Ich gestehe, daß Sie mich in Verlegenheit bringen, denn meine Themata sind fast ganz erschöpft!«

»Geben wir uns Mühe, noch einige aufzufinden.«

»Ueber den Umgang mit Damen bei Familienfesten?«

»Das ist es nicht.«

»In der Häuslichkeit?«

»Wir nähern uns.«

»Ah! Im Boudoir?«

»Ja, das ist es, um was ich bitten möchte.«

»Sie befanden sich noch nie im Boudoir einer Dame?«

»Zuweilen doch; aber ich betrug mich als Barbar. Ihre gegenwärtige Lection soll den Fehler mildern.«

»So meinen Sie, daß ich beginnen soll?«

»Ich flehe Sie darum an, meine liebenswürdige Erzieherin.«

Sie lachte glücklich vor sich hin. Sie war der Ansicht, daß sie auf dem besten Wege sei, ihn in sich verliebt zu machen. Darum bemerkte sie mit einem wiederholten Kopfnicken: »Ich bemerke bereits, daß mein Zögling nicht ohne gesellschaftliche Talente ist. Nehmen wir also an, daß Sie bei einer Dame eintreten. Sie sind gemeldet, und wenn Sie – –«

»Pardon!« unterbrach er sie. »Beginnen wir mit etwas Späterem! Ich bin ja bereits eingetreten. Ich sitze sogar bereits bei der Dame. Beginnen wir also bei diesem Zeitpunkte.«

»Wie Sie wünschen, mein wißbegieriger Schüler! Fragen Sie also gütigst, und ich werde antworten.«

»Das wird die gegenwärtige Lehrstunde höchst interessant machen. Also ich sitze, nehmen wir an, bei einer Dame, welche mich auf italienische Manier empfangen hat –«

»So wie ich.«

»Ja. Diese Dame ist aber leider verheirathet –«

»So wie leider auch ich.«

»Wie würde ich dieser Dame zum Beispiel meine Ehrerbietung erweisen? Etwa, indem ich ihr die Finger küsse?«

»Ja, das würde das Richtige sein.«

»So erlauben Sie mir, Sie zu verehren.«

Er nahm ihre Hand in die seinige und drückte seine Lippen auf die Fingerspitzen, ohne aber die Hand dann frei zu geben.

»Meine Hochachtung würde ich wohl durch einen Kuß auf die Hand beweisen? Etwa so?«

»Ja, so!« lachte sie vergnügt, als er die Hand wirklich küßte.

»Das war die Hochachtung und Ehrerbietung. Jetzt kommt die Zuneigung. Natürlich auch durch einen Kuß. Aber wohin?«

»Nicht anders als auf die Stirn,« belehrte sie ihn.

»Ah! So vielleicht?«

Er beugte sich über sie und küßte sie auf die Stirn.

»Ganz recht,« stimmte sie bei. »Sie erfassen die Regeln der guten Gesellschaft mit einer rapiden Schnelligkeit!«

»Diese Anerkennung macht mich so glücklich, daß ich den Muth finde, sofort zur nächsten Stufe weiter zu gehen.«

»Welche wäre das?«

»Das, was man ›Jemandem gut sein‹ nennt!«

»Ah, das ist interessant!«

»Wie bezeichnet man dies mit einem Kusse?«

»Diese Antwort möchte ich Sie selbst errathen lassen.«

»Gut! Ich rathe! Aber erlauben Sie, daß ich die Antwort nicht in Worten, sondern gleich im Beispiel gebe.«

Er küßte sie auf den Mund, den sie ihm willig und ohne sich zu zieren entgegen hielt.

»Nun sind wir wohl am Schlusse der gesellschaftlichen Gefühlserweisungen angekommen?« meinte sie dann.

»Ich glaube nicht. Wir haben noch die letzte und höchste Stufe zu erklimmen. Es handelt sich um die Liebe!«

»Ah! Ist Ihnen dieselbe bekannt, Durchlaucht?«

»Bis vor zwei Minuten noch nicht. Jetzt aber muß ich Sie wirklich fragen, in welcher Weise ich im gegenwärtigen Falle der Dame zu beweisen hätte, daß ich sie liebe!«

Sie lag im Nachtkleide auf dem Ruhebette, über welches eine rothseidene Decke gebreitet war. Bisher hatte er von ihr nur die Hand gesehen, welche sie unter der Decke hervor ihm gereicht hatte, und den Kopf, dessen Haare in ein Netz gebracht waren, durch dessen Maschen einige Strähnen sich durchgestohlen hatten. Jetzt aber war es, als ob die Decke ihr zu schwer werde. Sie zog die Arme unter derselben hervor und man konnte nun die immer noch prächtige Büste und den üppigen Bau der Arme bewundern.

»Hierauf kann ich Ihnen nur antworten,« sagte sie, »daß Sie wirklich ein Schüler sind.«

»Ah! Wirklich?«

»Ja. Wenn Sie die Dame wirklich liebten, würden Sie gar nicht fragen. Die wahre Liebe lehrt ohne Worte, wie sie sich zu bethätigen hat, Durchlaucht!«

»Dann ist meine Liebe allerdings eine wahre, denn ich fühle nicht das mindeste Verlangen, sie durch Worte zu beweisen.«

Er nahm ihren Kopf in seinen Arm, drückte sie an sich und gab ihr Kuß um Kuß auf Stirn, Mund, Wangen, Hals und Arme. Sie schlang die Letzteren dann um ihn und fragte mit jener leisen Stimme, welche die hingebende Liebe in Anwendung zu bringen pflegt: »So lieben Sie mich also wirklich, wirklich?«

»Ja, wirklich,« antwortete er: »wenn nämlich Ihre Erklärung vorhin die richtige gewesen ist.«

»Es war die richtige. Aber erlauben Sie, daß ich der Zofe klingle, um Toilette zu machen!«

Sie setzte sich empor und langte zur Glocke. Doch ehe sie dieselbe noch in Bewegung gesetzt hatte, klopfte es an die Thür; das Mädchen steckte den Kopf herein und sagte: »Frau Regierungsrath von Krausberg läßt fragen.«

»Ah! Wie unangenehm!«

Aber schnell hatte sich der Fürst erhoben und sagte:

»Meine Zeit ist abgelaufen, Frau Baronin. Darf ich in der Ueberzeugung gehen daß die gestrige Plaisir Sie befriedigt hat?«

»Ich danke, ich kam doch etwas angegriffen nach Hause, weshalb Sie mich heute noch ruhend fanden. Werde ich bald die Ehre haben, Sie wieder begrüßen zu können?«

»Der Schüler wird baldigst gezwungen sein, sich Rath zu holen.«

Er küßte ihr die Hand und ging. Das Mädchen erhielt den Befehl, die Räthin einzulassen. Jetzt befand sich die Baronin für einige Augenblicke allein. Sie klatschte triumphirend die Hände zusammen und sagte: »Gewonnen! Gewonnen! Er liebt mich! Er soll sich vor meinen Wagen spannen und mich im Triumph durch alle Salons ziehen! Die Anderen, diese Hoch-und Edelgeborenen sollen bersten vor Neid!«

Und er, als er langsam die Treppe hinabschritt, stieß ein kurzes Lachen aus und flüsterte vor sich hin:

»Eine frühere Zofe geküßt! Fi donc! Verzeihe mir, mein Sonnenstrahl, denn nur mit Widerstreben spiele ich den Hausfreund – den Anbeter. Es ist aber leider der einzige Weg, welcher zur Entlarvung des Doppelmörders führt. Ihr Mann, dieser Baron ist der ›Hauptmann‹; das ist sicher. Sie soll ihn mir an das Messer liefern!«

Der Baron war, als er seine Wohnung wieder aufgesucht hatte, in ein Cabinet gegangen, welches selbst sein Kammerdiener nicht betreten durfte. Dort gab es eine außerordentliche Auswahl der verschiedensten Kleidungsstücke und Toilettemittel. Als er wieder heraustrat, hatte er sich als Engländer verkleidet. Eine Brille ließ die Blessur seines Auges nicht erkennen.

Er stieg eine schmale Seitentreppe hinab, durchschritt einen ziemlich finsteren Corridor und trat dann durch eine Pforte, welche er wieder verschloß, hinaus in das Freie. Kein Mensch hätte in dem hageren Englishman den Baron von Helfenstein erkannt.

Langsamen Schrittes spazierte er durch mehrere Gassen, bis er die Wasserstraße erreichte. In Nummer Elf trat er ein und stieg bis zu der Thüre empor, an welcher der Name »Wilhelm Fels, Mechanikus«, zu lesen war. Er horchte eine Weile und vernahm zwei weibliche Stimmen. Dann klopfte er an und trat ein.

Die Blinde saß, wie immer, auf der Ofenbank. Marie war bei ihr. Sie hatte einige Augenblicke erübrigt, um einmal nach der armen, einsamen Frau zu sehen. Als sie den fremdländischen Herrn eintreten sah, zog sie sich bescheiden in eine Ecke zurück.

Er grüßte in englischer Aussprache und fragte:

»Hier wohnt Herr Fels, Mechanikus?«

»Ja, mein Herr,« antwortete die Mutter.

»Ist er daheim?«

»Nein. Er ist auf Arbeit.«

»Wann kommt er zurück?«

»Um die Mittagszeit.«

»Er arbeitet privatim an einer Maschine? Nicht?«

»Ja, mein Herr.«

»Es ist diejenige, welche ich bei ihm bestellt habe. Wann wird er mit ihr fertig sein?«

»Er sprach davon, daß es noch vor Weihnachten geschehen werde.«

»Das ist mir lieb, denn ich muß sie bis dahin haben. Ich werde heute oder morgen Abend wiederkommen.«

Er ging. Da sprang Marie herbei und öffnete ihm die Thür. Sie huschte mit hinaus und begleitete ihn bis hinunter in den Hausflur, wo sie ihn durch ihre Anrede veranlaßte, stehen zu bleiben.

»Entschuldigung, Mylord!« sagte sie. »Darf ich Ihnen wohl eine kleine Bitte vortragen?«

Sie hatte gar keine Ahnung, daß sie vor Demjenigen stand, der sie schon so oft verfolgt hatte. Seine Brille verdeckte den begierigen Blick seines Auges.

»Was für eine Bitte?« fragte er.

»Wenn Wilhelm zu Hause gewesen wäre, hätte er es Ihnen selbst gesagt.«

»Wilhelm? Wer ist Wilhelm?«

»Eben der junge Mechanikus, welcher für Sie arbeitet.«

»Sind Sie vielleicht seine Schwester?«

»Nein,« antwortete sie verlegen.

»Seine Verwandte?«

»Nein.«

»Ah! Also seine Braut, seine Geliebte!«

»Ja, Mylord,« gestand sie erröthend. »Und gerade darum werden Sie mir es nicht übelnehmen, daß ich an seiner Stelle spreche.«

»Reden Sie!«

»Wilhelm ist arm. Er kann das theure Material, welches er zu Ihrer Maschine braucht, nicht kaufen. Er hat es sich aus den Vorräthen seines Prinzipales geborgt, aber ohne dessen Erlaubniß. Wenn dieser es bemerkt, so wird Wilhelm gar als ein Dieb gelten können. Darum wollte er Sie bitten, und ich thue es hier in seinem Namen, ihm doch einen Vorschuß zu zahlen, damit er das Geld für das Material entrichten kann.«

Er blickte sie vom Kopfe bis zu den Füßen an und sagte:

»Ich werde ihm, wenn ich komme, das Geld bringen. Adieu!«

Sie kehrte, innig vergnügt, nach oben zurück. Er ging wieder nach Hause. Als er sich dort umgezogen hatte, rieb er sich die Hände.

»Zwei Fliegen, zwei Fliegen mit einer Klappe!« meinte er. »Dieser Fels ist einer der geschicktesten Arbeiter. Ich kann ihn gebrauchen, wie keinen Zweiten. Aber unehrlich muß er erst gemacht werden! Jetzt endlich habe ich ihn in den Händen! Das habe ich ja mit dem Maschinenschwindel bezweckt. Er soll noch heute arretirt werden! Muß er sich dann einmal unter die Diebe zählen lassen, so erhält er keine Arbeit mehr und fällt mir zu! Und dieses dralle, kernige Mädchen! Ein Appetitsbissen! Ah! Also seine Geliebte! Dieser Kerl hätte sie mir gar noch weggeschnappt! Aber gerade ihre Liebe zu ihm soll sie mir in die Falle bringen! Es klappt Alles so gut, daß ich zufrieden sein kann.«

In der Mittagsstunde verließ er in einer anderen Kleidung wieder sein Palais und wendete sich einer der belebtesten Straßen zu, wo er in ein mechanisches und optisches Atelier eintrat.

»Ist Herr Hartwig zu sprechen?« fragte er.

»Ich bin es selbst,« antwortete der Herr, welchen er gefragt hatte.

Die Arbeiter waren alle zu Tische gegangen, und darum pflegte der Prinzipal um diese Zeit stets selbst im Laden zu verweilen.

»Womit kann ich dienen, mein Herr?« fragte er.

»Mir mit nichts; aber ich denke, daß ich Ihnen dienen kann.«

»So, so! Haben Sie vielleicht Etwas zu verkaufen?«

»Nein, aber Etwas zu zeigen. Hier, Herr Hartwig!«

Er zog eine Polizeimarke aus der Tasche und zeigte sie vor.

»Ah, Sie sind Detective?« fragte der Ladenbesitzer.

»Ja, wie Sie sehen! Arbeitet bei Ihnen ein gewisser Wilhelm Fels?«

»Ja.«

»Was ist das für ein Mensch?«

»Es ist mein geschicktester und zuverlässigster Arbeiter.«

»So, so! Hm, hm! Wirklich zuverlässig?«

»Ja.«

»Auch treu?«

»Ich halte ihn dafür. Warum fragen Sie, mein Herr?«

»Weil wir ihm schon längst wegen Dingen auf der Fährte sind, deren Erwähnung hier nichts zur Sache thut. Bei dieser Gelegenheit haben wir bemerkt, daß er Ihnen Material unterschlägt.«

»Dazu halte ich ihn nicht für fähig.«

»Ueberzeugen Sie sich! Er arbeitet Nächte lang zu Hause und verkauft die Maschinen und Instrumente in seinem Interesse. Gerade jetzt hat er wieder eine Maschine dastehen, welche er für einen Engländer fertigt. Es ist nicht gut, wenn Prinzipale allzu vertrauensselig handeln. Es werden dadurch immer mehr unehrliche Menschen fertig, mit denen dann doch wir unsere Noth bekommen.«

»Herr, das ist viel gesagt!«

»Aber es ist wahr! Ich hoffe, daß Sie diesem Schwindler das Handwerk legen, ehe er Ihnen noch größeren Schaden bereitet. Nachsicht und Milde ist da gar nicht angewandt.«

»Sie sagen, er hat die Maschine zu Hause stehen?«

»Ja. Sobald er vom Mittagessen zurück ist, können Sie hingehen und sich überzeugen.«

»Das werde ich allerdings thun. Ich hoffe, daß ich ihn schuldlos finde; hat er mir aber wirklich Material unterschlagen, so lasse ich ihn ohne alle Nachsicht bestrafen. Ich kann nur ehrliche Leute bei mir beschäftigen, sonst ist es um die Ehre meiner Firma geschehen.«

»Da haben Sie sehr Recht! Adieu!«

»Leben Sie wohl, und meinen Dank für die Warnung.«

Um ein Uhr kehrte Wilhelm Fels von seiner Mutter zurück und begann seine Arbeit von Neuem. Niemandem fiel es auf, daß der Prinzipal ausging. Das kam ja öfters vor. Er begab sich nach der Wasserstraße Elf, wo man ihn persönlich gar nicht kannte. Die Blinde war allein zu Hause.

»Ist Herr Fels da?« fragte er.

»Nein. Was wünschen Sie?«

»Ich wollte ihm eine Privatarbeit in Auftrag geben. Nimmt er dergleichen an?«

»Sehr gern, mein Herr. Könnten Sie nicht heute Abend wiederkommen?«

»Das ist möglich. Aber lieb wäre es mir, eine Arbeit von ihm zu sehen. Hat er nicht so Etwas hier?«

»O ja. Draußen in der Kammer steht eine Maschine, welche er für einen Engländer anfertigt.«

Der Mechanikus betrachtete sich die Maschine, erkannte sein Material und ging. Aber er ging nicht direct nach Hause, sondern auf die Polizei, wo er sich einen Wachtmeister mitnahm. Eine Stunde später befand sich Wilhelm Fels in Untersuchungshaft.

Es war gegen Abend desselben Tages, als sowohl Robert wie Marie ihre Arbeiten beendet hatten. Das Dunkel war bereits angebrochen, so daß Beide sich ihrer ärmlichen Kleidung nicht zu schämen brauchten. Sie gingen mit einander fort und trennten sich vor dem Laden, in welchem Marie ihre Stickerei abzugeben hatte.

Marie trat ein. Es gab da noch mehrere Käufer zu bedienen; aber trotzdem wurde sie sofort von einer der Verkäuferinnen gefragt, was sie wünsche.

»Ich bringe ein Stickerei,« sagte sie.

»Wie heißen Sie?«

»Marie Bertram.«

»Geben Sie her und setzen Sie sich! Ich werde es der Madame sogleich melden!«

Aber anstatt nach dem Cabinet zu gehen, in welchem die Principalin residirte, schlüpfte sie hinaus auf den Hof, schlug dort in einem Winkel das Papier auseinander, in welches die Stickerei geschlagen war, zog aus der Tasche ein kleines Fläschchen mit Oel hervor und schüttete einen großen Theil desselben auf die Stickerei. Dann legte sie das Papier wieder in die frühere Lage, zog die Schnure darüber und begab sich nun erst zur Madame.

Marie wurde gerufen. Sie hatte Monate lang mit eisernem Fleiße an dieser Aufgabe gearbeitet. Sie wußte, daß alles zur besten Zufriedenheit gerathen sei und trat daher heiteren Antlitzes bei der strengen Dame ein.

»Endlich fertig!« seufzte diese. »Diese Arbeit hat mir sehr viel Ärger bereitet. Sie ist von der Baronin von Helfenstein bestellt, welche längst mit Schmerzen darauf gewartet hat. Lassen Sie sehen!«

Sie nahm das Packet, zog die Schnur ab, nahm das Papier hinweg und schlug die Arbeit auseinander. Kaum aber hatte sie den ersten Blick darauf geworfen, so stieß sie auch einen Ruf des Schreckes und der Entrüstung aus.

»Herrjemine! Was ist denn das? Diese Stickerei schwimmt ja in Oel! Und das bringen Sie zu mir!«

Marie erschrak bis auf den Tod. Die Dame hielt ihr die Arbeit vor die Augen. Die kostbare Seide war verdorben, die Spitzen, die Perlen, Alles, Alles war hin. Marie glaubte in die Erde sinken zu müssen, aber sie faßte sich und erklärte, daß das Oel weder daheim, noch unterwegs an die Stickerei gekommen sei. Da gab es denn neues Oel, nämlich Oel in’s Feuer. Es folgte ein Auftritt, der sich gar nicht beschreiben läßt. Die Arbeiterinnen, die Verkäuferinnen, Alles eilte herbei, um zu sehen, daß es doch möglich sei, eine Stickerei im Werthe von mehreren hundert Thalern zu verderben. Marie war fast sinnlos vor Scham, Zorn und Schmerz. Das Ergebniß war, daß die Prinzipalin versuchen lassen wollte, ob der Schaden auf chemischem Wege beseitigt werden könne. Morgen Nachmittag drei Uhr sollte sie wiederkommen, um die Arbeit selbst zur Baronin zu tragen, welche sämmtliches Material geliefert hatte. Von einer Auszahlung des Arbeitslohnes war natürlich keine Rede, und zugleich erhielt sie die Versicherung, daß sie niemals wieder Arbeit bekommen solle.

Sie wankte halb todt nach Hause. Wie hatte sie sich auf das viele Geld gefreut! Sie hatte sich schon ausgerechnet, auf welche Weise es angewendet werden solle, und wie sie davon dem Vater, Robert, den Geschwistern und ihrem lieben Wilhelm eine kleine Weihnachtsfreude machen wollte – und nun war die Arbeit von Monaten umsonst gewesen. Nichts hatte sie erhalten als Schande, Spott und Demüthigung! Fast getraute sie sich nicht, zur Thür einzutreten. Die Familie wartete mit Schmerzen auf das Geld.

In der Stube herrschte bereits eine sehr gedrückte Stimmung. Die kleineren Geschwister hatten sich in die Ecke niedergeduckt; der Vater hustete, als wolle es ihm die Brust auseinander treiben, und Robert sah trüben Antlitzes zum Fenster hinaus. Als sie eintrat, drehte er sich um.

»Endlich!« sagte er. »Ich hoffe, daß Du glücklicher gewesen bist als ich, liebe Marie!«

»Warst Du nicht glücklich?« hauchte sie.

»Nein. Der Herr war verreist. Man hat die Noten behalten, ohne daß ich Geld bekam. Ich soll morgen oder in einer Woche oder noch später wiederkommen.«

»Gott, o Gott!« schluchzte sie. »Wir sind verloren. Wie soll da der Herr Baron die Miethe erhalten!«

Sie erzählte nun, was ihr widerfahren war. Der Vater jammerte laut, die Geschwister weinten. Einer aber sagte nichts, nämlich Robert. Er ging in die Kammer und holte seine Kette. Er wickelte sie in das nächste Stück Papier, welches er fand, und schlich sich still davon. Unten auf der Straße faltete er die Hände und betete: »Herrgott, hilf nur dieses Mal! Gieb dem Salomon Levi einen guten Augenblick, daß er mir so viel bietet, wie ich brauche!«

Er schlich sich an den Häusern hin, bis er des Juden Thür erreichte. Sie war verschlossen, und er klopfte. Die alte Rebecca öffnete ein Wenig, und als sie hörte, was er wolle, ließ sie ihn ein. Er mußte durch das vordere Zimmer in das Cabinet, in welchem gestern Abend die Frau des Schließers gewesen war. Dort befand sich Salomon Levi, der Jude, und – Judith, seine Tochter. Sie war auf einige Augenblicke herabgekommen, um einiger häuslichen Fragen willen. Ihr Auge fiel auf das übergeistigte, schöne, aber vor Sorgen bleiche und hagere Gesicht des Jünglings.

»Was will der junge Herr?« fragte der Alte.

»Würden Sie mir auf eine goldene Kette einen Vorschuß geben?« fragte Robert.

»Was ist sie werth?«

»Ich verstehe nicht, das zu schätzen. Hier ist sie!«

Er gab sie hin, mitsammt dem Papiere, in welches er sie eingewickelt hatte. Der Alte setzte die Brille auf, wickelte die Kette aus, warf das Papier achtlos auf den Tisch und untersuchte die Erstere. Als er damit zu Ende war, warf er einen scharfen, beinahe stechenden Blick auf Robert und fragte ihn: »Ist die Kette Ihr Eigenthum?«

»Ja.«

»Von wem haben Sie sie erhalten?«

»Jedenfalls von meinen Eltern.«

»Ist denn Ihr Vater ein Baron, ein Freiherr?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin ein Findelkind und habe, als man mich fand, diese Kette um den Hals getragen.«

»Das kann ein Jeder sagen! Haben Sie bei sich einen Schein, welcher beweist die Wahrheit Ihrer Worte?«

»Ja, hier ist er!«

Robert hatte vorsichtiger Weise diese Legitimation zu sich gesteckt und gab sie dem Alten. Dieser prüfte sie und sagte dann: »Der Schein ist in Ordnung. Wieviel wollen Sie haben?«

»Wieviel können Sie mir geben?«

»Zehn harte, blanke, schwere Thaler.«

»Das reicht nicht hin!«

»Wie? Was? Das reicht nicht hin für einen so jungen Herrn? Wozu wollen Sie brauchen dieses schwere Geld?«

»Herr Levi, mein Pflegevater ist arm und krank und ich habe jüngere Geschwister, welche noch nichts verdienen können. Wir sind den Hauszins schuldig und haben nichts zu essen. Ich brauche weit mehr als nur zehn Thaler!«

Da trat auch Judith näher, um sich die interessante Kette anzusehen. Zugleich fiel ihr Blick auf das Papier. Die Anordnung der Zeilen, welche darauf geschrieben waren, bewies ihr, daß es ein Gedicht sei. Sie nahm es auf und betrachtete es. Kaum aber hatte sie die ersten Zeilen gelesen, so rief sie: »Was ist das?

 

Wenn um die Berge von Befour

Des Abends dunkle Schatten wallen!

 

Das ist ja das Gedicht des Hadschi Omanah! Doch nein, es lautet hier anders, ganz anders!«

Sie las weiter und weiter. Als sie geendet hatte, fragte sie:

»Wer hat das geschrieben?«

»Ich,« antwortete Robert.

»Wovon haben Sie es abgeschrieben?«

»Es ist keine Abschrift, sondern Original.«

»Original? Wer hat es gedichtet?«

»Ich, mein Fräulein.«

Sie richtete die dunklen, sprühenden Augen groß und voll auf ihn, musterte ihn genauer, als es vorher geschehen war, und fragte: »Sie? Wirklich Sie? Dann ist es blos ein Zufall, daß Sie Ihrem Vorbilde fast gleichgekommen sind. Es ist ein Pendant zu der ›Nacht‹ von Hadschi Omanah!«

»Ja, es ist ein Pendant zu der ›Nacht‹ von Hadschi Omanah. Das erstere Gedicht ist die ›epische Nacht‹ und dieses hier die ›tragische Nacht des Südens‹, jedoch nicht nur das Erstere, sondern Beide sind von Hadschi Omanah.«

»Wie können Sie das sagen? Dann wären ja Sie dieser Dichter der Heimaths-, Tropen-und Wüstenbilder.«

Seine Wangen rötheten sich, und seine Gestalt schien sich zu strecken.

»Nicht wahr, Fräulein, ich sehe nicht aus wie ein Dichter?« fragte er. »Wie kann ein Dichter zur Leihbank seine Zuflucht nehmen? Mein Vater stirbt an der Auszehrung, und meine Pflegegeschwister weinen und jammern vor Noth. Und doch ist mein Pseudonym Hadschi Omanah!«

Da trat sie zu ihm heran, legte ihm beide Hände auf die Achseln und sagte in tiefen, vollen Brusttönen:

»Hadschi Omanah wären Sie? Gefunden hätte ich meinen Lieblingsdichter! Können Sie das beweisen?«

Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten, und ihr Busen hob und senkte sich unter dem Sturme der Gefühle, welche in diesem Augenblicke ihr Herz durch flutheten. Er hob das treue, ehrliche und doch so geistvolle Auge zu ihr und antwortete: »Wie soll ich es Ihnen beweisen, wenn Sie es mir nicht glauben? Ich müßte Sie zu meinem Verleger führen, um es mir von ihm bestätigen zu lassen.«

»Nein, das ist nicht nöthig! Ich will es wissen, ich muß es wissen, ob Sie der Geist sind, den ich bewundert habe und der es meiner Seele angethan hat. Und ich werde es erfahren, gleich jetzt, sofort! Hier liegt Papier, und hier ist Tinte und Feder. Soll ich Ihnen ein Sujet geben? Können Sie mir sofort ein Gedicht schreiben?«

Er blickte ihr selbstbewußt lächelnd in das erregte Gesicht und antwortete in seinem milden, freundlichen Tone: »Versuchen Sie es, mein Fräulein!«

»Nun wohl! Ich werde Ihnen ein Sujet geben, ein Sujet, welches Ihren Eigenheiten, Ihrer wundervollen Sprache, Ihren funkelnden Reimen ganz angepaßt ist: Der Seesturm. Denken Sie sich die Fee des Meeres auf dem stillen, tiefen Meeresgrunde. Sie hat noch nie ein menschliches Gefühl im Herzen getragen, bis sie einst glückliche Menschenkinder belauschte. Da begann es auch in ihrem Herzen zu wogen und zu wallen; es gährte, spritzte, zischte, es donnerte und – wissen Sie, was ich meine?«

»Ja, Fräulein.«

»So nehmen Sie hier Papier!«

»Das ist nicht nöthig. Ich werde extemporisiren.«

»Bringen Sie das fertig?«

»Ich möchte Den, welcher nicht Herr der Sprache ist, auch niemals einen Dichter nennen!«

»Sie mögen Recht haben. Gut, beginnen Sie!«

Er blickte ihr einen Augenblick lang sinnend in die dunklen Augen und sagte dann:

»Fräulein, ich müßte Sie schildern. Sie haben der kalten, gefühllosen Meeresfee geglichen, bis ein Funken des Lichtes in Ihr Auge, in Ihr Herz gefallen ist. Hören Sie:

Wo keiner Stimme Töne klangen

Am Grunde der krystallnen See,

Da liegt, vom Schlummer lind umfangen

Im Zauberschloß die Meeresfee.

Sie träumt von Liebe, träumt vom Leben,

Das über ihrem Reiche rauscht,

Dem, von Triton und Elf umgeben,

Sie oft verborgen zugelauscht –«

 

Er wollte fortfahren, aber sie faßte seinen Arm und sagte:

»Halt! Sie sind Hadschi Omanah, ja, Sie sind es! Das ist seine Sprache; das ist sein Ausdruck und sein Reim. Herr, ich habe Sie schwer beleidigt, indem ich an Ihnen zweifelte; ich habe Sie um Verzeihung zu bitten!«

»Ich verzeihe Ihnen gern,« sagte er einfach. »Es hat mich noch Niemand, der mich sah, für einen großen Geist gehalten; wie sollte ich da Ihnen zürnen! Also Sie haben meine Tropen-und Wüstenbilder gelesen?«

»Hundertmal, nein, tausendmal! Aber nein, sprechen wir jetzt nicht von Ihnen, sondern von den Gründen, welche Sie veranlassen, uns diese Kette zu bringen. Wir werden natürlich diesen Pfand nicht annehmen, sondern Ihnen auch ohne dasselbe so viel bieten, wie Sie brauchen.«

Das war ihrem Vater doch ein Wenig zu großmüthig. Er konnte sich mehr für Pfandscheine als für Gedichte begeistern.

»Judith!« warnte er.

»Ich danke Ihnen, Fräulein!« fiel Robert ein. »Ich kann Ihnen für ein Darlehen keine andere Garantie bieten, als diese Kette, und ohne Garantie werde ich keinen Pfennig nehmen.«

»Hörst Du es, Rebeccaleben?« fragte der Alte. »Habe ich doch nie geglaubt, daß ein Dichter von Reimen und Versen auch kann haben einen Sinn für Ordnung im Handel und Wandel der Welt von die Geschäfte!«

»Gut!« sagte Judith, »so wollen wir die Kette nehmen. Sagen Sie, wie viel Sie brauchen!«

Jetzt wurde er verlegen. Zu extemporisiren hatte er sofort vermocht, aber eine exacte Summe anzugeben, das fiel ihm schwer.

»Ich habe es mir wirklich noch nicht genau ausgerechnet,« sagte er.

»Genügen fünfzig Thaler?«

Es war zu verwundern, daß der gute Salomon Levi bei dieser Zahl nicht einen Angstschrei ausstieß oder vor Schreck einen Purzelbaum schlug. Selbst Robert machte eine Bewegung der Ueberraschung und sagte: »Das ist zu viel, Fräulein! Soviel brauche ich doch wohl nicht.«

»Das ist mir gleich. Ich gebe Ihnen fünfzig Thaler auf diese Kette, nicht mehr und nicht weniger. Zahle es ihm aus, Vater! Oder soll ich es ihm aus meiner Kasse geben?«

»Nein, nein! Wenn Du es würdest geben aus Deiner Casse, so würdest Du es geben ohne Procente und Gewinn. Und der Mann von das Geschäft muß essen und trinken selbst dann, wenn er leiht fünfzig Thaler einem Dichter, welcher macht Reime, von denen ein jeder ist werth neunzig Thaler und acht Silbergroschen.«

Er holte das Geld herbei und zählte es vor Robert auf. Es ist nicht zu beschreiben, welche Wonne dieser fühlte, als er die blanken Geldstücke vor sich liegen sah! Jetzt wollte Salomon Levi den Schein ausstellen, aber Judith meinte in entschiedenem Tone: »Jetzt noch nicht! Mein Herr, wo wohnen Sie?«

»Wasserstraße Elf.«

»So nahe, so sehr nahe! Und ich wollte Sie im Oriente suchen. Die Ihrigen werden Sorge haben. Gehen Sie jetzt! Aber in einer Stunde geben Sie mir die Ehre, mit mir das Abendbrot zu nehmen. Darf ich rechnen, daß ich damit keine Fehlbitte thue? Dann kann ja auch das Schriftliche unseres Geschäftes abgemacht werden.«

Er fühlte sich überwältigt von der Güte des schönen Mädchens. Er reichte ihr die Hand und versicherte ihr:

»Ich werde kommen, Fräulein, ganz gewiß, denn es ist mir ein Herzensbedürfniß, Ihnen zu zeigen, wie wohl mir Ihre Güte gethan hat und wie dankbar ich Ihnen bin.«

»Und dürfen wir unterdessen Ihren Namen wissen?«

»Ich heiße Robert Bertram. Ich muß Ihnen den Namen sagen, denn mir Karten drucken zu lassen, bin ich zu arm gewesen.«

Sie lächelte ihm verheißungsvoll entgegen und sagte:

»Ein Dichter Ihrer Begabung kann unmöglich arm bleiben. Sie werden bald genug im Stande sein, sich Karten anfertigen zu lassen. Uebrigens besitzen Sie ja bereits die besten Empfehlungskarten, welche es nur geben kann. Ich meine nämlich Ihre ›Heimaths-, Tropen-und Wüstenbilder‹. Jede Familie, welche eins Ihrer Bücher besitzt, wird es sich zur Ehre rechnen, Sie unter Ihre Freunde zu zählen. Auch wir hoffen, dies thun zu dürfen. Darum bitte ich Sie, uns heute nicht lange warten zu lassen!«

Sie reichte ihm ihre Hand entgegen, welche er im Gefühle innigster Dankbarkeit an seine Lippen drückte. In ihren dunklen Augen leuchtete es auf in der Vorahnung des Sieges und der Befriedigung, und ihr Blick hing noch an der Thür, als er bereits hinter derselben verschwunden war.

Die alte Rebecca hatte ihn hinausgeführt. Als sie wieder hereintrat, schüttelte sie den Kopf und sagte zur Tochter: »Judithleben, was hast Du gemacht für einen Streich! Wie kannst Du reden und sprechen von Ehre, welche uns wird widerfahren, wenn er besucht unser Haus und unsere Zimmer! Wie kannst Du ihn nur einladen, damit er wegißt das Abendmahl, welches bestimmt ist, zu ernähren uns Drei!«

Da aber geschah etwas, was die Alte nicht für möglich gehalten hatte: Salomon Levi vertheidigte seine Tochter. Er legte Rebecca die Hand auf die Achsel und sagte: »Weib, sage mir, ob Du weißt, was ein Dichter ist!«

»Ob ich das weiß? Ein Dichter ist ein Mann, welcher macht Reime, um zu verkaufen das Stück zu vier Kreuzer; das macht fünfzig Reime auf einen Gulden. Oder er schreibt Liebesbriefe für Hausknechte und Dienstmädchen, das Stück zu sechs bis acht Kreuzer.«

»Weib, was bist Du dumm! Ein Dichter ist ein Mann, welcher im Leben erhungert das Geld zu dem Denkmal, welches man ihm setzen wird nach seinem Tode, wo er nicht mehr braucht zu essen und zu trinken. Wer ihn unterstützt in seiner Armuth, dessen Name wird mit eingehauen in das Denkmal von Marmor und wird schimmern in goldenen Buchstaben, welche kosten herzustellen beinahe zwanzig Kreuzer das Stück.«

Sie blickte ganz erstaunt zu ihm auf und fragte:

»Salomonleben, ist’s die Wahrheit, was Du redest?«

»Die reine Wahrheit. Willst Du nicht haben, daß unser Name wird ausgehauen in Marmor aus Carara oder Namur?«

»Das will ich, ja, das will ich!«

»Und daß er soll glänzen in Gold zu solchem Preis das Stück?«

»Auch das will ich, wenn Du mir kannst versichern, daß dabei stehen wird Rebecca, welches ist der Name, der mir gehört.«

»Es werden ausgemeiselt sein die Namen Salomon Levi, Rebecca und Judith als Retter des großen Dichters Robert Bertram, welcher hat gemacht Reime über die Heimath und sogar über die Wüste. Und was wird uns kosten dieser Ruhm –?«

»Geld, viel Geld!«

»Nein, sehr wenig Geld. Judith wird ihm vorsetzen Brod, ein Stück Käse von Milch, welche ist gewesen abgerahmt, und einige Zehen Knoblauch, um zu begleiten mit Würze das Brod und den Käse. Was wird kosten die Geschichte? Einen Groschen fünf Pfennige oder neun Kreuzer.«

»Aber er wird Dir wollen abborgen immer mehr Geld!«

»Diese Kette ist werth sechzig Thaler. Habe ich ihm gegeben fünfzig, so habe ich noch immer gemacht ein gutes Geschäft. Und will er haben noch mehr Geld, so mag er bringen noch mehr solche Ketten.«

»Er wird keine mehr haben!«

»So wird er welche bekommen. Ein Dichter wie er erhält Ehrenketten von Fürsten und Potentaten, welche ihm nicht geben wollen Brod, Wäsche, Stiefel und Hauszins nebst Einkommensteuer, wo er ja hat gar kein Einkommen.«

»Aber wenn er ist ein so berühmter Mann, wie soll ich da wagen, mit ihm zu sprechen, zu sitzen und zu essen an demselben Tische?«

»Das ist nicht nöthig. Auch ich selbst weiß nicht zu setzen schöne und gelehrte Worte, welche sich reimen am Ende der Zeile, aber Judithchen, unser Kind, hat gelernt Geographie, die Geschichte von der großen, französischen Revolution und die Kunde von dem Nordpol und dem Lande der Chinesen. Sie kann mit ihm plauschen nach Herzenslust und wird mit ihm speisen in ihrem Zimmer, wohinein ein Dichter eher paßt als in diese Niederlage von alten Gegenständen. Sie wird – ah, Gott der Gerechte, sie ist bereits fort! Sie ist schon verschwunden! Sie wird sich haben zurückgezogen, um zu machen ihre Toilette, wie sie es beginnt anzufangen, wenn sie macht lebendige Bilder mit ihrer Freundin Sarah Rubinenthal.«

Judith hatte sich allerdings entfernt, ohne sich in das Gespräch ihrer Eltern einzulassen. Sie kannte ihre Eltern; sie wußte aber auch, was sie wollte und durfte. Sie gab der alten, verschwiegenen Magd Geld, einen Korb und einen Zettel, auf welchem bemerkt stand, was sie zu haben wünschte. Dann begann sie ihre Toilette. Sie wußte, daß sie schön war, und sie wollte sich dem Dichter in der ganzen Herrlichkeit dieses Vorzuges zeigen.

Als Robert das Haus verlassen hatte, begegnete er einem Manne, der, als er an ihm vorüber geschritten war, für einen Augenblick stehenblieb und ihm nachschaute.

»War das nicht der Schreiber Bertram?« murmelte er. »Jedenfalls hat er bei dem Juden Etwas versetzt. Er pfeift auf dem letzten Loche.«

Der Mann trat nach diesem Selbstgespräche in ein kleines Haus, tappte sich die finstere Treppe hinauf und klopfte an eine Thür. Als er dieselbe geöffnet hatte, zögerte er einen Augenblick, einzutreten, und zwar vor Erstaunen.

Das sah hier ja ganz anders aus als gestern!

Der Mann war nämlich Baron Franz von Helfenstein, und hier in dem Zimmer wohnte der Schließer Arnold, welchen er gestern bereits hier gesprochen hatte. Gestern so kahl, so leer, so elend! Heute war Alles anders! Die Frau, welche ihn sofort erkannte, kam ihm mit freudig glänzendem Angesichte entgegen.

»Sie, mein Herr!« sagte sie. »Seien Sie mir willkommen! Sie haben uns Errettung aus einer bösen Lage gebracht.«

»Sie sind also mit mir zufrieden?« fragte er, indem er die Thür hinter sich zuzog.

»O sehr! Ueber alle Maßen!«

»Und Ihr Mann ebenso?«

»Auch! Er hat zwar eine große –«

Sie zögerte, fortzufahren, daher forderte er sie dazu auf.

»Sprechen Sie getrost weiter!«

»Ich meinte, daß er eine große Angst ausgestanden hat.«

»Weshalb?«

»Ob der Riese Bormann wirklich zurückkehren würde!«

»Ich hatte es ihm versprochen, und ich pflege Wort zu halten. Man hat doch nichts bemerkt?«

»Kein Mensch.«

»Nun, so möchte ich noch eine Offerte an Sie richten.«

»Welche?«

»Wo ist Ihr Mann?«

»Er war zum Abendbrote hier, ist aber bereits wieder im Dienst.«

»Das ist unangenehm! Ich hätte gern mit ihm gesprochen, doch konnte ich leider nicht eher kommen. Kann man nicht zu ihm gehen?«

»Freilich kann man das; aber es ist –«

Sie blickte ihn verlegen an.

»Fahren Sie nur fort!« ermunterte er sie.

»Wegen solchen Dingen, wie sie gestern hier besprochen wurden, dürften Sie nicht zu ihm gehen.«

»Warum nicht?«

»Weil – weil man leicht Verdacht schöpfen könnte.«

»Ach so! Ich dachte, Sie hätten einen anderen Grund. Wie wäre es da, wenn Sie zu ihm gingen?«

»Ich? Hm! Ich darf die Kinder nicht allein lassen.«

»Sie sind ja in einer Viertelstunde wieder hier, und ich bleibe da, bis Sie kommen.«

Sie war doch bedenklich, denn sie fragte:

»Ist es etwas Gefährliches, was er thun soll?«

»O, nein! Er soll sich noch hundert Thaler verdienen!«

Das wirkte augenblicklich. Der besorgte Ausdruck ihres Gesichtes verschwand.

»Was soll er dafür thun?«

»Den Riesen noch einmal herauslassen.«

»Das wird er schwerlich thun!«

»Warum?«

»Wegen der Angst. Uns ist ja nun geholfen. Wir sind nicht mehr gezwungen, etwas Verbotenes zu thun, um uns zu retten.«

Er schüttelte sehr ernst den Kopf und sagte:

»O doch! Ich glaube sogar, daß Sie heute sehr gezwungen sind, den Riesen noch einmal herauszulassen.«

»Warum?«

»Ich habe heute wieder einen Brief von dem ›geheimen Hauptmann‹ erhalten, der dies nothwendig macht.«

»Mein Gott! Was steht darin?«

»Daß gestern Etwas vergessen worden ist. Es muß noch eine Kleinigkeit besprochen werden; es wird aber ganz bestimmt das letzte Mal sein, daß man an Ihren Mann eine solche Forderung stellt.«

»Und wenn er doch nicht darauf eingeht?«

»So droht der Hauptmann, ihn anzuzeigen, daß er gestern den Gefangenen freigegeben hat.«

»Welch ein Zwang! Was soll ich thun?«

»Ganz ebenso habe auch ich mich gefragt. Die einzige Antwort ist die, daß wir gehorchen müssen.«

»Sie meinen also, daß ich zu meinem Manne gehen soll?«

»Ja. Hier ist der Brief. Nehmen Sie ihn mit. Aber ich bitte Sie um Gotteswillen, ihn keinen Menschen weiter sehen zu lassen!«

»Das kann mir gar nicht einfallen. Es wäre ja zu unserem eigenen Verderben. Sie wollen also wirklich hundert Thaler zahlen?«

»Ja. Ich gebe sie Ihrem Manne augenblicklich, sobald er mir den Gefangenen bringt.«

»Zu welcher Zeit soll das sein?«

»Punkt zwölf Uhr. Ich werde ganz an demselben Orte warten, wie gestern. Gehen Sie! Ich bleibe hier, bis Sie zurückkehren.«

Die Frau warf ein Tuch über und ging. Sie hatte keinen Begriff von der Größe der Gefahr, in welche sie ihren Mann stürzen, und von der Größe der Pflichtverletzung, zu welcher sie ihn verleiten wollte.

Es dauerte Etwas über die angegebene Zeit, ehe sie zurückkehrte. Ihr Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck.

»Nun, was hat er gesagt?« fragte der Baron.

»Er war ganz und gar dagegen.«

»Aber er hat sich doch noch erweichen lassen? Nicht?«

»Ja, freilich! Aber nicht um der hundert Thaler, sondern um der Drohung des Hauptmannes willen. Es soll aber auf jeden Fall heute das letzte Mal sein, daß er so Etwas unternimmt.«

»Damit bin ich einverstanden. Das habe ich ja auch selbst gesagt. Also er wird Punkt zwölf Uhr mit dem Bormann am Pförtchen sein?«

»Ja, wenn es möglich ist. Ist er noch nicht da, so sollen Sie warten. Er kommt später ganz gewiß.«

»Schön. Die hundert Thaler erhält er augenblicklich. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Er ging. Sein Weg führte ihn in jenen entlegenen Stadttheil, wo in dem Gartenhause die geheimen Zusammenkünfte abgehalten wurden. Er gelangte auf dem bereits angegebenen Wege hinein. Als er wieder zurückkehrte, war Mitternacht bereits nahe. Es mußte viel verhandelt worden sein.

Wäre Jemand an der anderen Seite der Gartenmauer aufgestellt gewesen, hätte er beobachten können, daß aus einem schmalen Pförtchen nach gewissen Pausen dunkle Gestalten huschten. Dem Pförtchen gegenüber war ein kleines Gehölz. Am Rande desselben stand im Dunkel der Bäume ein Mann, welcher für die Sicherheit der Passage zu sorgen hatte. Jedesmal, wenn Jemand drüben erschien, gab er durch ein halblautes »Pst!« das Zeichen, daß keine Gefahr vorhanden sei.

Nach dem Letzten wurde das Pförtchen von innen leise verschlossen. Dieser Mann blieb einen Augenblick stehen und verschwand dann, nachdem er das »Pst!« vernommen hatte, um die Ecke. Er eilte raschen Schrittes weiter, dem Innern der Stadt zu. Er schien von einem Gedanken oder Entschlusse gejagt zu werden. Er trat nach und nach in verschiedene Restaurationen ein, fand aber nicht, was er suchte. So war es beinahe ein Uhr geworden; da wurde ihm bange.

»Er ist nirgends zu finden!« murmelte er. »Soll ich es auf mich selbst nehmen, oder soll ich das geheime Zeichen geben? Er hat mir allerdings gesagt, daß ich das nur in einem sehr dringlichen Falle thun solle; aber gerade der heutige scheint mir ein solcher zu sein. Ich werde es also wagen.«

Er eilte nach dem vornehmen Stadtviertel. Dort wurden die Straßen von prachtvollen Villa’s gebildet. Da lag auch die Palaststraße, in welcher der Fürst von Befour wohnte. Hinter ihr zog sich eine zweite parallel dahin, an deren Eckhäusern die Bezeichnung »Siegesstraße« zu lesen war. Auch hier standen große, palaisartige Gebäude und mitten unter ihnen ein kleines Häuschen in freundlichem Schweizerstyl, welches nur für eine Familie eingerichtet sein konnte. Am Eingange zu diesem Häuschen gab es den Knopf zu einer electrischen Klingel. Hieran drückte der Mann.

Es war der Schlosser, welcher gestern dem Fürsten von Befour die Schlüssel zur Wohnung der Baronesse Alma gegeben hatte.

Nach kaum einer Minute wurde die Thür geöffnet. Der Hausflur war erleuchtet, und so konnte man den ehrwürdigen Kopf eines alten, grauhaarigen Mütterchens erkennen.

»Was wollen Sie?« fragte sie.

»Ich will zum Fürsten.«

»Ich verstehe Sie nicht. Ich kenne keinen Fürsten.«

»Ich meine den Fürsten des Elends.«

»Von dem habe ich wohl sprechen hören, aber den kennt ja kein Mensch. Wer sind Sie, lieber Mann?«

»Ich bin ein Diener Dessen, den ich suche.«

»Hm!« machte sie nachdenklich. »Ich gestehe, daß mir das Alles fremd vorkommt. Ich werde Ihnen doch lieber meinen Mann senden.«

Sie ließ die Lampe im Flur stehen und trat in ein einfach möblirtes, aber ungemein schmuck und sauber gehaltenes Zimmer. Da saß ein ehrwürdiger Greis am Tische. Sein Gesicht wurde von einem eisgrauen, martialischen Bart umflossen, so dicht und grau, wie auch sein Haupthaar war. Er trug in diesem Augenblicke eine Brille auf der Adlernase und las in einem illustrirten Buch. Es war eine eingebundene Jagdzeitung mit Abbildungen von Thieren, Geräthen und Scenen, welche sich auf das edle Waidwerk beziehen. Er blickte von dem Buche auf und fragte: »Wer war es?«

»Es will Einer zu unserem Gustav, zum Fürsten.«

»Ah! Zu welchen Fürsten?«

»Des Elendes.«

»Hat er das Stichwort gegeben?«

»Nein.«

»Hm! So muß ich selbst nachsehen. Es muß nothwendig sein.«

Er erhob sich und begab sich hinaus. Dort ließ er den Schein der Lampe auf den Schlosser fallen und fragte:

»Wer hat Sie zu uns geschickt?«

»Er selbst.«

»Wer? Ich begreife Sie nicht. Ist Ihnen kein besonderes Wort gesagt worden?«

»Nein.«

»Hm!« dachte der Alte. »So ist es ein Neuer, den er erst noch prüfen will.«

Und laut fügte er hinzu:

»Den, zu dem Sie wollen, kenne ich freilich nicht. Aber ich weiß Einen, der oftmals von ihm spricht und Ihnen sicher Auskunft ertheilen kann. Ist Ihre Angelegenheit nothwendig?«

»Nothwendig und eilig.«

»Was gilt es denn?«

»Ein Verbrechen zu verhüten. In einigen Minuten ist es vielleicht bereits zu spät.«

»Sapperlot! Da muß ich Ihnen allerdings den Ort nennen. Kennen Sie die Ufergasse?«

»Ja.«

»Da liegt die Wirthschaft der Madame Pauli?«

»Ich weiß das.«

»Begeben Sie sich schleunigst dorthin. Im Salon sitzt ein Mann mit rothem Bart und Haar; er heißt Brenner. An ihn wenden Sie sich. Er wird Ihnen sicher Auskunft ertheilen.«

»Ich danke.«

Mit diesen Worten wandte sich der Schlosser ab und eilte davon. Die Ufergasse war bald erreicht und das Haus auch. Es war ein hohes, aber nicht sehr breites Gebäude, mit verhältnißmäßig ein Wenig zu kleinen Fenstern, welche sämmtlich mit dünnen, weißen Vorhängen versehen waren. Die Thür war verschlossen. Der Schlosser klopfte leise, und sofort wurde geöffnet. Eine Frau stand da, welche den Ankömmling mit scharfen Blicken musterte.

»Zu wem wollen Sie?« fragte sie.

»In den Salon.«

Sie betrachtete ihn abermals und sagte dann mißlaunig:

»Sind Sie heute wohlhabend?«

»Mehr, als Sie denken.«

Damit schob er sich an ihr vorüber und stieg die Treppe empor. Da oben trat er in ein reich ausgestattetes Zimmer, in welchem sich eine Anzahl junger Damen und Herren befanden. Von ihnen getrennt, saß ganz allein in einer Ecke ein Mann mit rothem Bart und Haar. Zu ihm wendete sich der Schlosser sofort.

»Sind Sie Herr Brenner?« fragte er leise.

»Brenner ist allerdings mein Name,« antwortete der Gefragte langsam und in der Weise, in welcher Stotternde zu reden pflegen.

»Kennen Sie den Fürsten des Elendes?«

»Ja.«

»Ich bin –«

»Schon gut! Ich kenne auch Sie!«

»Was? Wie? Mich?« flüsterte der Schlosser.

»Ja. Sie haben dem Fürsten gestern abend einen großen Dienst geleistet.«

»Das ist allerdings wahr.«

»Und sich heute am Morgen die Belohnung dafür geholt.«

»Auch das stimmt.«

»Sie dachten da, in der Wohnung des Fürsten zu sein, haben sich aber geirrt. Er hat verschiedene Wohnungen, welche er je nach Gelegenheit und Bedarf benützt. Wer hat Sie an mich gewiesen?«

»Zwei alte Leute, welche in der Siegesstraße wohnen.«

»Schön! So muß Ihre Angelegenheit eine wichtige und auch eilige sein. Was wollen Sie?«

»Ich muß unbedingt mit dem Fürsten sprechen.«

»Das ist für heute nicht möglich.«

»Welch ein Unglück!«

»Ein Unglück? Vertrauen Sie mir die Angelegenheit. Ich bin zuweilen Stellvertreter des Fürsten, auf alle Fälle aber sein Vertrauter.«

»Wenn das wirklich ist, so kann ich allerdings sprechen. Ist Ihnen ein Riese Bormann bekannt?«

»Sehr. Er ist heute Nacht bei der Baronesse von Helfenstein eingebrochen. Nicht?«

»Ach, ich sehe, daß Sie eingeweiht sind.«

»Mehr, als Sie denken. Sie sind ein Untergebener des geheimen Hauptmannes, dabei aber ein geheimer Anhänger des Fürsten. Sie werden belohnt werden. Aber, was ist heute mit dem Riesen?«

»Da der Plan, ihn durch eine verbrecherische List zu befreien, gestern vereitelt wurde, so soll er heute anderwärts ausgeführt werden.«

»Alle Wetter! Wo?«

»Es soll im Schlafzimmer der Tochter des Obersten von Hellenbach eingebrochen werden.«

Der Rothkopf sprang erschrocken von seinem Stuhle auf.

»Bei Fanny von Hellenbach?« fragte er.

»Ja.«

»Wann?«

»Vielleicht bereits in diesem Augenblicke.«

»Dann vorwärts fort! Und unterwegs das Weitere.«

Er zog die Börse und warf ein Goldstück als Bezahlung des Weines, welchen er nun nicht genießen konnte, auf den Tisch. Dann eilten Beide fort. Keine der übrigen anwesenden Personen hatte eine Sylbe der Unterredung verstanden.

Auf der Straße angekommen, nahm der Rothe den Arm des Schlossers und fragte im raschen Vorwärtsschreiten:

»Sind Sie genau unterrichtet?«

»Ja. Ich war zugegen, als der ›Hauptmann‹ davon sprach.«

»Der Riese soll wieder freigelassen werden?«

»Ja.«

»Das wird heute das Unglück des Schließers sein. Er dauert mich. Aber der Riese ist ein brutaler Mensch; das Fräulein befindet sich vielleicht in Todesgefahr, und ich erfahre die Sache zu spät, um private Maßregeln ergreifen zu können. Ich bin also gezwungen, die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen. Wer wird bei dem Riesen sein?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie sind nicht mit zu ihm befohlen, wie gestern?«

»Nein. Und da der Hauptmann Jedem seine Befehle nur einzeln und leise giebt, so weiß Keiner, was der Andere zu thun hat.«

»Wünschen Sie in dieser Angelegenheit mit der Polizei in Berührung zu kommen?«

»Allerdings ganz und gar nicht. Ich befürchte, daß der Hauptmann sogar bei der Polizei seine Anhänger hat.«

»Das glaube ich nicht. Ich habe die hiesigen Verhältnisse genau studirt. Wir haben hier lauter pflichttreue und diensteifrige Leute. Sie allerdings haben überhaupt Ursache, nicht von ihnen bemerkt zu werden. Es ist also besser, daß wir uns trennen. Gute Nacht!«

Er ließ ihn stehen und ging schnellsten Schrittes weiter.

»Er hat mich nicht erkannt,« meinte er für sich hin. »Das ist ein Zeichen, daß ich in meinen Verkleidungen nichts zu befürchten habe. Diese Lahia-laki, diese natürlichen Scalpbärte und Scalpperrücken sind gar nicht mit Geld zu bezahlen. Ah, endlich! Da ist die Wache!«

Er stand vor dem Lokale desjenigen Reviers, zu welchem die Wasser-und auch diejenige Straße gehörte, in welcher das Haus des Obersten von Hellenbach stand. Er trat ein. Es waren über ein halbes Dutzend Schutzmänner vorhanden.

»Was wünschen Sie?« wurde er gefragt.

»Entschuldigung, wenn ich störe!« antwortete er. »Soeben begegnete mir ein Herr, welcher mich bat, schleunigst nach hier zu gehen, um Ihnen eine sehr wichtige Mittheilung zu machen.«

»Welche?«

»Ich weiß nicht, ob ich sprechen darf. Es könnte sich auch um eine Mystifikation handeln.«

»Mystifikation? Hm! Wer sind Sie?«

Da trat einer der Schutzmänner vor und antwortete:

»Ich kenne den Herrn. Es ist der Kunstmaler Brenner, welcher neben mir wohnt.«

»Schön! Also, Herr Brenner, wie lautet Ihre Meldung?«

»Es wird bei der Tochter des Obersten von Hellenbach eingebrochen.«

»Donnerwetter! Wann?«

»Vielleicht in diesem Augenblicke.«

»Wer ist der Thäter?«

»Der Riese Bormann.«

»Unsinn! Der steckt sehr sicher hinter Schloß und Riegel!«

»Er ist entweder entsprungen oder herausgelassen worden. Ich weiß das natürlich nicht. Ich kann blos sagen, was der Herr mir aufgetragen hat.«

»Jedenfalls eine Mystifikation, mein werther Herr Brenner. Kannten Sie den Herrn, der Sie hergeschickt hat?«

»Nein.«

»Sehen Sie! Es scheint, man hat sich im Datum verrechnet. Wir haben den ersten Dezember, aber nicht den ersten April.«

Der angebliche Maler schüttelte nachdenklich den Kopf. Er meinte:

»Der Fremde schien vorausgesehen zu haben, daß man mir keinen Glauben schenken würde. Er gab mir eine Bescheinigung mit.«

»Ah! Was?«

»Es ist nicht hell genug auf der Straße, um deutlich zu sehen. Es scheint eine Art von Münze zu sein, welche ich erhielt. Hier ist sie.«

Er zog den Gegenstand aus der Tasche und gab ihn hin. Der Beamte warf einen Blick darauf und sagte überrascht:

»Der Fürst des Elendes! Ueberall ist er! Alles weiß er! Er sagt nie die Unwahrheit! Der Einbruch wird wirklich verübt. Auf also, meine Herren! Nehmen Sie Todtschläger mit! Einer bleibt hier! Vorher aber telegraphire ich um Succurs nach der Hauptwache!«

Bei der Bewegung, welche es jetzt gab, fiel es gar nicht auf, daß der Maler sich nach einem kurzen Gruße zurückzog. Kaum eine halbe Minute nach ihm verließen auch die Polizisten das Local.

Nicht in einer auffälligen Truppe, sondern einzeln und möglichst unbemerkt eilten sie dem angegebenen Orte zu. Das Thor war verschlossen. Der Anführer zog es vor, zu klopfen, anstatt die Klingel zu ziehen. Der Portier war wach. Er nahte sich und fragte von innen: »Wer klopft?«

»Die Polizei. Oeffnen Sie möglichst leise!«

Der Mann schien bestürzt zu sein, denn es dauerte eine Weile, ehe das Thor aufging. Er trat unter die Oeffnung und fragte: »Wirklich Polizei?«

»Ja. Sie sehen es ja. Sprechen Sie leise. Wo schläft Fräulein von Hellenbach? Liegt das Zimmer nach der Straße oder nach dem Hofe zu?«

»Nach dem Hofe zu. Warum?«

»Erschrecken Sie nicht. Wir erwarten Menschen, welche dort einbrechen wollen.«

»Himmeldonnerw-!«

»Pst! Nicht so laut. Ist jemand Verdächtiger hier passirt?«

»Nein.«

»Oder durch die Hofthür?«

»Kein Mensch.«

»Hm! Ist die Letztere ohne Geräusch zu öffnen?«

»Ja. Schloß und Angeln sind gut geölt.«

»Oeffnen Sie! Dieser Vordereingang bleibt auch offen, und ein Mann postirt sich hier, um den Succurs zu empfangen. Die anderen kommen mit. Vorwärts! Aber leise!«

Der Portier öffnete die Hinterthür. Der Anführer trat vorsichtig in den Hof und blickte sich um. Er hatte kaum Selbstbeherrschung genug, einen Ruf des Erstaunens zu unterdrücken. Er trat zurück und meldete flüsternd: »Sie sind bereits oben. Draußen lehnt eine Leiter. Es scheint, sie sind durch das gegenüberliegende Haus der Wasserstraße hier in den Hof eingestiegen.«

»Wollen wir ihnen auf der Leiter folgen?« fragte Einer.

»Nein,« antwortete der vor-und umsichtige Beamte. »Das wäre zu gefährlich. Derjenige, welcher von Außen durch das Fenster steigen wollte, wäre den Waffen der Einbrecher preisgegeben. Sind die Thüren oben verschlossen?«

»Ja,« antwortete der Portier. »Aber mein Hauptschlüssel öffnet alle.«

Da hörte man leise Schritte von außen. Die erwartete Hilfe nahte.

»Ah, da kommt Succurs,« sagte der Beamte. »Brennt die Laternen an! Sechs, acht, zehn, zwölf Mann! Das ist vollständig genug. Einer am Hauptthore, zwei am Hinterthore hier, um den Hof zu bewachen. Die Anderen folgen jetzt. Vorwärts!«

Sie stiegen unhörbaren Schrittes die Treppe empor. Noch waren sie kaum verschwunden, da stieß Einer von den Beiden, welche den Hof zu bewachen hatten, den Anderen an.

»Du! Schau! Dort an der Mauer!« flüsterte er.

Auf der Mauer, welche das Grundstück von dem hinter demselben liegenden trennte, erschien ein Mensch. Er sprang hinab und kam leisen, aber eiligen Laufes herbei.

»Er gehört zu ihnen. Wollen wir ihn festnehmen?« flüsterte der Polizist.

»Nein, bei Leibe nicht!« meinte der Andere. »Laß ihn nur hinauf. Dort ist er uns sicher. Jetzt aber, wenn er Lärm machte, könnte er uns Alles verderben.«

»Hast auch Recht. Lassen wir ihn also hinauf.«

Sie hatten die Thüre so weit zugezogen, daß nur eine schmale Lücke offen war. Durch diese betrachteten sie die Person. Sie war nicht sehr hoch und dabei schmächtig. Gesichtszüge ließen sich nicht erkennen. Er bekümmerte sich gar nicht um die Thür; er eilte auf die Leiter zu. Als sie jetzt die Thür weiter öffneten und die Köpfe ein Wenig vorsteckten, sahen sie ihn wie eine Katze empor klettern. Oben hielt er an und blickte durch das jedenfalls offenstehende Fenster. Dann sprang er hinein.

Einen Augenblick lang hörte man nichts. Dann aber erklang eine Stimme:

»Zurück, Bösewicht!«

In demselben Augenblick erscholl von oben ein Schrei, welcher mehr dem Brüllen eines wilden Thieres oder rasend gewordenen Stieres glich.

»Das ist der Kampf,« meinte der eine Polizist.

Sie lauschten in höchster Spannung. Das Gebrüll währte noch einige Zeit. Ein Schuß krachte; noch einer; Flüche erschollen; dann wurde es still.

»Wir haben gesiegt,« antwortete der andere Polizist. –

Nachdem der ›Hauptmann‹ über die Mauer des heimlichen Versammlungsortes wieder auf die Straße geklettert war, begab er sich nach der Frohnveste. Er langte kurz vor zwölf Uhr bei dem Pförtchen an, hatte aber bis weit über Mitternacht zu warten, bis es leise geöffnet wurde. Zwei Männer traten heraus, der Riese und der Schließer. Der Letztere flüsterte: »Sind Sie da? Ja. Ich wage viel!«

»Gar nichts!« antwortete der Hauptmann.

»Werden Sie ihn mir wirklich wiederbringen?«

»Gewiß!«

»Wann?«

»Punkt drei Uhr.«

»Ich thue es aber zum letzten, zum allerletzten Male!«

»Man wird es auch nicht öfterer verlangen.«

»Und das Geld?«

»Hier sind hundert Thaler. Adieu einstweilen!«

Er drückte ihm die abgezählte Summe in die Hand und zog dann den Riesen mit sich fort. Unter den Bäumen blieb er mit ihm stehen.

»Was solls heute wieder?« fragte Bormann mißmuthig.

»Deine Rettung!«

»Pah! Wohl wie gestern wieder?«

»Unsinn! Das war ein dummer Fall! Ihr seid selber Schuld!«

»Inwiefern?«

»Ich wende eine solche Summe auf, um Dich durch den Beweis zu retten, daß es einen Zweiten giebt, der Dir ähnlich ist; ich sage sogar, daß Ihr das ganze Geld behalten sollt, und Ihr laßt Euch von einem einzelnen Menschen in das Bockshorn jagen! Hättet ihr ihn niedergeschlagen!«

»Donnerwetter! Hauptmann, es war der Fürst des Elendes!«

»Das habt ihr mir bereits heute Nacht erzählt. Ich glaube es nicht.«

»Aber ich glaube es! Er stand mit zwei Revolvern vor uns. Hätte ich mich bewegt, so wäre ich in demselben Augenblicke eine Leiche gewesen.«

»Wir wollen nicht rechten. Vorüber ist vorüber. Ich brauche Dich nothwendig; darum sollst Du auf alle Fälle frei werden, aber nicht durch die Flucht, sondern durch richterlichen Spruch. Ist die eine Gelegenheit versäumt worden, so muß ich Dir eine andere bieten.«

»Ich habe verdammt wenig Lust!«

»Was? Wie? Du willst nicht frei werden?«

»Herzlich gern; aber nicht auf diese Weise!«

»Auf eine andere geht es nicht.«

»Ich möchte keine Dummheiten mehr begehen.«

Der Hauptmann trat einen Schritt zurück, schüttelte verächtlich mit dem Kopfe und antwortete:

»Pah! Eine ganz alberne Folge der Predigt, welche Euch dieser Popanz, der Fürst des Elendes, gehalten hat.«

»Ich gebe aber doch zu, daß er Recht hat!«

»Meinetwegen! Folge ihm! Laß Dich verurtheilen! Weißt Du, was Du zu erwarten hast?«

»Nun?«

»Bis zwölf Jahre Zuchthaus!«

»Das weiß ich. Ich brenne aber durch. Ich mache nach Amerika und werde dort ein ehrlicher Kerl.«

»Das ist nicht so leicht, als wie Du denkst!«

»O, mich sollen sie nicht erwischen!«

»Aber Deine Frau?«

Der Verbrecher senkte den Kopf und schwieg.

»Und Dein Kind!« fügte der Hauptmann hinzu.

Da hob der Riese den Kopf langsam empor und antwortete:

»Meine Frau! Herr, ich habe ein braves Weib! Ich bin es gar nicht werth! Sie hat mich so lieb gehabt, und was habe ich ihr dafür gegeben? In Jammer, Schande und Elend habe ich sie gebracht. Und mein Kind, mein Junge, mein –«

Er hielt inne. Es war über den riesenstarken Mann eine Rührung gekommen, deren er nicht Herr zu werden vermochte. Erst nach einer Weile fuhr er mit leiser, milder, beinahe zärtlicher Stimme fort: »Haben Sie Kinder, Herr?«

»Nein.«

»Sind Sie einmal gefangen gewesen?«

»Nein.«

»So wissen Sie nichts, gar nichts! Hauptmann, ich bin ein wilder, ein grimmiger Mensch; ich mache mir aus einem Menschenleben nichts, gar nichts. Ich habe meine Eltern zu Tode geärgert und mein Weib ins Elend gebracht; ich habe es geschlagen, oft, oft, daß es liegen blieb; ich habe gestohlen, geraubt, gemordet; ich habe gedacht, daß da unter den Rippen und Knochen nicht eine Spur von dem sei, was Andere das Herz nennen! Aber, hole mich der Teufel, ich habe doch ein Herz, und was für eins! Das habe ich während meiner Gefangenschaft gemerkt.«

Er hielt abermals inne. Er hatte die Hände gefaltet, und seine Stimme war so weit gesunken, daß die einzelnen Worte fast nicht verstanden werden konnten. Seine Brust hob und senkte sich, und erst nach einem tiefen, tiefen Athemzug fuhr er fort: »Herr, mein Junge hat so blaue, blaue Augen – grad wie der Himmel! Und die Backen sind so rund und so roth! Und das Mäulchen – grad zum Küssen – zum Schmatzen, wie ich es heiße! Und die Arme und Beine, so dick, so rund, so quatschelig, daß es eine Freude, eine Wonne ist! Er konnte schon Papa sagen! Herrgott! Papa! Und was für ein Papa bin ich gewesen! Ein Rabenvater, der – der – der –«

Er schluchzte!

Der Hauptmann sagte kein Wort. Nach einer Pause fuhr der Riese fort:

»Der Kleine packte mich beim Barte und beim Haare und zauste mich, daß es eine Freude war. Und dann legte er mir den Kopf auf die Achsel und die Ärmchen um den Hals, und nun trat meine Frau herbei und nahm – nahm – nahm mich von der anderen Seite und fragte mich weinend, ob das denn nicht ein Glück – ein Glü – ein Gl –«

Seine Stimme brach in Weinen. Er schlang die Arme um den nächsten Baum und legte den Kopf an den Stamm, als ob er seine starke, mächtige Gestalt stützen müsse. Das dauerte eine ziemliche Weile. Dann begann er abermals: »Was mögen sie machen? Werden sie an mich denken? Papa wird der Kleine sagen: aber Der, nach dem er sich sehnt, der liegt in Ketten. Der Fürst des Elendes hatte Recht, ganz Recht!«

»Machst Du es anders?« fragte der Hauptmann jetzt.

»Ja. Ich könnte!«

»Wie denn?«

»Durch die Flucht.«

»Und Deine Frau, Dein Kind?«

»Die nehme ich Beide mit.«

»Schwatze keinen Blödsinn! Mit diesen Beiden hätten sie Dich bald wieder ergriffen.«

»Ich würde sie und mich vertheidigen wie ein Löwe!«

»Aber doch untergehen! Und was hätten sie dann davon? Nein! Hast Du die Deinigen wirklich so lieb, wie Du sagst, so ist das ein Grund mehr, mir zu gehorchen. Thust Du das, so bist Du in drei oder vier Wochen freigesprochen.«

Der Riese richtete seine Gestalt freudig in die Höhe.

»Ist das wahr?« fragte er.

»Ich verspreche es Dir! Ich gebe Dir mein Ehrenwort!«

»Das Urtheil wird lauten, daß ich unschuldig bin?«

»Ja.«

»Und ich kann dann zu meinem Weibe und meinem Kinde gehen?«

»Ja. Du bist dann vollkommen und vollständig frei.«

»Das klingt freilich gut, das klingt ganz so, wie ich es haben will!«

»Und es wird auch so werden!«

»Was habe ich da zu thun?«

»Du steigst noch einmal ein.«

»Gut, gut! Es handelt sich um die Freiheit und um Weib und Kind. Folge ich dem Fürsten, so komme ich in’s Zuchthaus. Folge ich Ihnen, so werde ich frei. Da ist die Wahl nicht schwer.«

»Du willigst also ein?«

»Ja, ich will. Aber eine Bedingung stelle ich!«

»Welche?«

»Es darf kein Mord dabei sein!«

»Es ist auch keiner dabei. Du sollst bei einer Dame einsteigen und ihren Schmuck holen.«

»Darauf gehe ich ein. Wer ist sie?«

»Die Tochter des Obersten von Hellenbach.«

»Die? Ah, die kenne ich, und ihr Haus auch.«

»Das ist gut.«

»Wie aber komme ich hinein?«

»Durch das Haus Nummer Elf in der Wasserstraße.«

»Wie aber komme ich in dieses?«

»Ich habe den Schlüssel. Hier ist er!«

Er gab dem Riesen den Schlüssel. Dieser betrachtete ihn beim Scheine des Schnees und fragte:

»Sapperment, das ist kein Nachschlüssel, sondern ein Original! Wie kommen Sie dazu?«

Der Hauptmann hütete sich natürlich, zu sagen, daß er der Besitzer des Hauses sei. Er antwortete:

»Das ist Nebensache! Du öffnest vorsichtig und kommst ohne Gefahr bis in den Hinterhof. Die Mauer stößt an Hellenbachs Garten.«

»Ist sie hoch?«

»Allerdings. Beinahe fünf Ellen.«

»Wie komme ich da hinüber?«

»Sehr einfach. Grad an dieser Mauer hängt eine Leiter. Sie ist wegen Feuersgefahr vorhanden. Sie ist zwar sehr lang, aber es hängt dabei noch eine viel kürzere, welche passen wird.«

»Gut! Und nachher?«

»In Hellenbachs Hofe angekommen, ist es das dritte Fenster der zweiten Etage, von links gerechnet, wo Du einsteigen mußt.«

»Der zweiten –! Alle Teufel! Wie komme ich da hinauf?«

»Sehr einfach. Auch auf einer Leiter!«

»Wo finde ich die?«

»Ich habe sie mit.«

»Wo?«

»Hier. Dort zwischen den Bäumen liegt sie.«

»Und die soll ich von hier nach der Wasserstraße schleppen?«

»Ja.«

»Durch einen Hausflur, zwei Höfe und einen Garten?«

»Ja.«

»Nehmen Sie es mir nicht übel! Aber, sind Sie etwa verrückt, Herr?«

»Nein. Ich traue Dir aber viel zu; denn ich weiß, daß Dir Keiner gleichkommt.«

»Das ist aber Unmögliches verlangt!«

»Pah! Es ist nicht so schwer. Komm und sieh Dir die Leiter an!«

Er zog ihn ein Stück weiter fort bis zu einem Baume, an welchem ein hier nicht deutlich zu erkennender Gegenstand lehnte. Der Riese betastete ihn.

»Ah, von Eisen,« sagte er.

»Ja. Nur fünfzehn Pfund schwer.«

»Und das soll zwei Stock hoch reichen?«

»Ganz sicher. Es ist meine eigene Erfindung. Leider kann ich auf so eine Diebesleiter kein Patent nehmen.«

»Sie ist zusammengelegt und trägt sich wie ein Feldstuhl.«

»Ich werde Dir nachher zeigen, wie sie geöffnet wird. Vorher aber muß ich Dich noch weiter instruiren. Hier in dieser Mappe sind zwei Pflaster.«

»Um das Fenster einzudrücken?«

»Ja. Das muß aber mit solcher Vorsicht geschehen, daß sie nicht davon erwacht.«

»Werde ich sehen können, ob sie schläft?«

»Ja; sie brennt Nachtlicht. In der Mappe sind zugleich Knebel und Stricke. Du bindest und knebelst sie, läßt ihr aber die Augen offen, damit sie Dich deutlich sehen kann. Darauf kommt Alles an. Am Spiegel steht das Schmucktischchen. Der Schlüssel dazu wird anstecken. Steckt er aber nicht an, so liegt er am Fuße des Consolührchens.«

»Woher Sie doch nur stets Alles so genau wissen!«

»Das ist meine Specialität! Wenn Du dann die Pretiosen genommen hast, kehrst Du ganz einfach an demselben Wege zurück, den Du vorher genommen hast.«

»Ich bin ganz allein?«

»Ganz. Bis zu dem Hause an der Wasserstraße gehe ich mit. Dort werde ich warten. In einer Viertelstunde kannst Du fertig sein. Hier ist für den Nothfall ein Revolver!«

»Gut! Heute heißt es: Entweder frei werden oder zu Grunde gehen!«

»Du wirst frei sein. Morgen wird es heißen, daß der Riese Bormann bei Hellenbachs eingebrochen ist. Du bist aber gefangen. Es muß Einen geben, der Dir ähnlich ist wie ein Ei dem andern, nur daß er ein Maal hat. Der Jude Salomon Levi wird beschwören, daß Derjenige, welcher bei ihm gewesen ist ein Maal gehabt hat – Du bist gerettet.«

»Aber das Maal –?«

»Das mache ich Dir jetzt. Komm ein Wenig mehr in das Lichte!«

Nach kurzer Zeit, während welcher er ihm auch den Gebrauch der Leiter gezeigt hatte, waren sie zum Aufbruche bereit. Der Riese nahm die sämmtlichen Gegenstände an sich, und es gelang ihnen, völlig unbeachtet bis in die Wasserstraße zu kommen.

Hier blieb der Hauptmann zurück. Bormann öffnete die Hausthür von Nummer Elf und zog den Schlüssel wieder ab. Er gelangte glücklich in den Hof und auf die von dem Hauptmanne angegebene Weise bis an die hintere Front des Hellenbach’schen Palastes. Ja, dort oben am dritten Fenster war noch Licht!

Er nahm die Leiter auseinander und richtete sie vorsichtig empor. Am oberen Ende hatte sie krumme Haken, gerade wie die Steigleitern unserer Feuerwehr. Mit Hilfe derselben fand sie oben auf dem Fenstersteine einen festen Halt.

Jetzt probirte er den Aufstieg. Die Leiter war sehr dünn gearbeitet, zeigte sich aber als unzerbrechlich und zuverlässig. Er kam glücklich oben an und blickte in das Zimmer.

Da lag sie auf ihrem Ruhebette, so schön, so hold, wie er noch kein Mädchen gesehen hatte.

»Himmelelement!« flüsterte er. »Ist das ein Prachtmädel! Der reine Engel! Da ist mein Weib denn doch nichts dagegen! Aber dafür hat die einen Jungen! Hm, sie dauert mich fast! Was ich heute doch so weichherzig bin! Es ist mir, als ob ich sterben sollte!«

Er griff in die Mappe, welche er sich an einer Schnur wie eine Tasche umgehängt hatte, und nahm ein Pflaster heraus, welches er an die Fensterscheibe klebte. Er hatte in solchen Dingen die Geschicklichkeit eines Virtuosen erlangt. Ein kurzes, ganz, ganz leichtes Klingen und dann war es wieder still! Er schaute und lauschte hinein – die holde Schläferin war nicht aufgewacht!

Die Tafel war entfernt. Er langte hinein, öffnete die Wirbel und stand im nächsten Augenblicke im Zimmer. Fanny schlief noch immer. Er trat näher und betrachtete sie.

»Wie von einem Künstler gemalt!« dachte er. »Es ist fürchterlich grob von mir, aber ich kann nicht anders, ich muß.«

Er zog den Knebel und die Schnuren hervor.

»Also jetzt! Eins – zwei – alle Teufel! Was ich heut so zaghaft bin! Was hat das zu bedeuten? Fast ist es mir, als ob ich mein eigenes Weib fesseln und knebeln solle. Aber es muß sein. Ich habe keine Zeit, zu warten. Also Eins – Zwei –«

Auch jetzt zögerte er noch. War es die Schönheit, die Reinheit des vor ihm liegenden Mädchens oder war es das erwachte Gewissen – er trat einige Schritte zurück. Da aber war es ihm, als ob er in der Ferne ein Geräusch vernehme. Das brachte ihm die Gefährlichkeit seiner Lage in das Gedächtniß zurück. Das Fenster war geöffnet; er hatte an demselben gestanden. Wie leicht konnte er von dem Hause da drüben aus gesehen werden.

Er trat rasch hinzu – ein unterdrückter Schrei, ein kurzes und vergebliches Kämpfen des schönen Mädchenkörpers gegen die herkulischen Kräfte des Riesen – dann lag sie da, geknebelt und gebunden, die angstvollen Augen auf ihn gerichtet. Er nickte ihr beruhigend zu und sagte halblaut, um nicht möglicher Weise im Nebenzimmer gehört zu werden: »Keine Angst, Gnädige! Ich thue Ihnen nichts! Ich will mir nur einige Pretiosen von Ihnen leihen. Kennen Sie mich?«

Sie schüttelte den Kopf. Dieses Mädchen mußte kräftige Nerven haben, da sie nicht vor Angst in Ohnmacht gefallen war.

»Ich bin der Riese Bormann. Sie können das morgen aller Welt sagen. Ich bin auch da kürzlich bei einem Uhrmacher eingebrochen. Aber thun werde ich Ihnen nichts. Ah, der Schlüssel steckt!«

Er öffnete das Tischchen und zog Alles hervor, was sich darin befand. Sie konnte ihn natürlich nicht sehen, sie konnte sich auch nicht bewegen, aber das Klirren der goldenen Ketten und Ringe wurde plötzlich durch den Ruf unterbrochen: »Zurück, Bösewicht!«

Wer war es, der diesen Ruf ausstieß? –

Als Robert Bertram, ganz glücklich, im Besitze von fünfzig Thalern zu sein, das Haus des Juden verlassen hatte, war es zunächst seine Absicht gewesen, nach Hause zu gehen, um die Seinen durch die frohe Botschaft von ihrem Herzeleid zu befreien, aber er dachte an den schuldigen Hauszins und an die Drohungen, welche der Vorsteher gestern ausgesprochen hatte. Daher beschloß er, lieber zuerst diesen aufzusuchen.

Er traf ihn daheim, jedoch zum Ausgehen bereit, und grüßte ihn höflich. Herr Seidelmann erwiderte den Gruß kalt und von oben herab und sagte: »Kommen Sie endlich! Jedenfalls ist es nur Ihre Absicht, um Nachsicht zu bitten! Das ist aber umsonst!«

»Das weiß ich!« antwortete Robert ruhig.

»Wie? Das wissen sie? Und dennoch sind Sie da?«

»Wie Sie sehen, Herr Seidelmann!«

»So gehen Sie nur gleich wieder fort! Morgen werden Sie auf die Straße gesetzt! Ich hatte mir vorgenommen, es bereits heute zu thun.«

»Sie werden doch die Güte haben, uns wohnen zu lassen!«

»Sie irren sich sehr! Und in dem Tone, welchen Sie gebrauchen, trägt man übrigens keine Bitten vor!«

»So viel ich weiß, komme ich nicht um zu betteln, sondern um zu bezahlen!«

Der fromme Mann fuhr erstaunt zurück.

»Bezahlen – be – zah – len?« fragte er gedehnt.

»Wie Sie hören!«

»Fast traue ich meinen Ohren nicht recht! Woher haben Sie denn das Geld?«

»Darüber habe ich Ihnen keine Rechenschaft zu geben!«

»Nicht? Ah! Mir, dem Armenversorger? Ich will doch hoffen, daß es auf ehrliche Weise in Ihre Hände gekommen ist! Das siebente Gebot lautet: Du sollst nicht stehlen! Und wenn ich –«

»Herr!« unterbrach ihn da Robert. »Was fällt Ihnen ein! Sagen Sie noch einmal ein solches Wort, und Sie sollen sehen, was ich thue!«

Der Vorsteher zog sich hinter einen Tisch zurück, blickte sich ängstlich nach einer Vertheidigungswaffe um und schrie: »Was wollen Sie thun? Mich vielleicht anfallen und berauben? Ich werde um Hilfe rufen und Sie wegen Hausfriedensbruch, Drohung und Nöthigung verklagen lassen!«

»Thun Sie das! Vorher aber nehmen Sie das Geld und fertigen mir darüber eine Quittung aus!«

»Gut! Das will ich thun! Das ist meine Pflicht, meine schwere, mühevolle und undankbare Pflicht. Bei der Administration solcher Häuser erntet man nur Ärger und Gefahr des Leibes und des Lebens. Doch rechne ich dabei auf Gotteslohn, welcher dem Gerechten nicht versagt bleiben wird.«

Er kam hinter dem Tische hervor, setzte sich an demselben nieder und schlug ein dickes Buch auf. Dann warf er einen forschenden Blick auf den Jüngling und fragte: »Sie wollen doch Alles bezahlen?«

»Alles!«

»Können Sie das auch?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wieviel Sie schuldig sind?«

»Sehr genau.«

»Ich zweifle daran!«

»Sie haben den Hauszins für –«

»Oh, oh!« fiel der Administrator ein. »Den Hauszins blos?«

»Ja. Was sonst weiter?«

»Acht Prozent Zinsen vom Verfalltage an.«

»Ah!« sagte Robert erstaunt.

»Und die Quittungs-und Buchungsgebühr!«

»Die Quitt – Was sind das für Gebühren?«

»Und die Anwaltskosten!«

»Herr Seidelmann, ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen!«

»Das glaube ich Ihnen! Ja, das glaube ich Ihnen! Wer Liebesgedichte schreibt und liest, der pflegt in den Angelegenheiten des weniger poetischen Lebens gewöhnlich ein Lüdrian zu sein. Ich muß Ihnen leider erst erklären, welche Pflichten Sie zu erfüllen haben!«

Er setzte sich in Positur, opferte seiner Nase eine Prise, legte sein Gesicht in strenge Falten und sagte:

»Sie sind den Miethzins schuldig geblieben?«

»Leider, ja.«

»Diese Schuld mußte gebucht werden!«

»Ich glaube es.«

»Sie sind Schuld, daß diese Arbeit nöthig wurde und haben also die Kosten derselben zu bezahlen.«

»Von solchen Kosten habe ich noch nie gehört. Wieviel betragen sie?«

»Vier Procent der Schuldsumme.«

»Mein Gott! Das macht mit den Zinsen ja zwölf Procent!«

»Allerdings. Und dazu kommen die Anwaltskosten.«

»Ich hatte doch mit keinem Anwalt zu thun!«

»Aber ich! Sie kamen heute nicht, um zu bezahlen, und so ging ich zum Advocaten, um die Klage auf Exmission anfertigen zu lassen. Das kostet Geld, das Zurücknehmen der Klage kostet wieder Geld. Wollen Sie zahlen, und sind Sie wirklich im Stande, es zu thun?«

Robert war wie vom Donner gerührt. Er, der bescheidene, unerfahrene Jüngling, war einem solchen Manne gegenüber machtlos. Er fragte sich, ob die fünfzig Thaler wohl reichen würden; er dachte an das Geld, welches ihm von den Goldstücken, welche der Fürst von Befour ihm geschenkt hatte, übrig geblieben war, und fragte: »Herr Seidelmann, nennen Sie das nicht Wucher?«

»Wucher? Was fällt Ihnen ein! Was verstehen Sie unter Wucher?«

»Wenn ein Gläubiger mehr Zinsen nimmt, als er menschlicher Weise nehmen sollte!«

»Die Bibel gebietet dem gläubigen Christen, mit seinem Pfunde zu wuchern! So lautet es wörtlich!«

»Diese Stelle ist anders zu deuten!«

»Davon verstehen Sie nichts. Die Bibel kann nur von einem frommgläubigen Theologen ausgelegt werden. Ich frage nochmals, ob Sie bezahlen können?«

»Und wenn ich es nicht kann?«

»So werden Sie exmittirt, zu deutsch herausgeworfen.«

»Herr Vorsteher! Ich möchte fragen, ob das christlich ist?«

»Ärgert Dich Dein Auge, so reiße es aus! Ärgert Dich Deine Hand, so haue sie ab! Sie geben, indem Sie Liebesgedichte lesen und den Zins nicht zahlen, dem ganzen Hause ein Beispiel des Ärgernisses. Meine Pflicht als Vorsteher, Christ und Administrator gebietet mir, dieses Ärgerniß zu beseitigen. Sehen Sie, Ihre Augen blitzen und Ihre Lippen zucken vor unchristlicher Wuth, von sündhaftem, teuflischem Grimm! Und doch gebietet der heilige Apostel: Kindlein, liebet Euch unter einander! Sie aber sind Beelzebub verfallen. Sie sind ein Kind der Augenlust, der Fleischeslust und des hoffärthigen Wesens. Gehen Sie in sich! Versuchen Sie die Beichte, und bitten Sie den Allliebenden dabei auf Ihren Knieen um Gnade und Barmherzigkeit.«

Robert stand da, ganz starr vor Erstaunen.

»Sehen Sie,« fuhr der Vorsteher fort, »wie die Wahrheit meiner Worte auf Sie wirkt? Sie ist wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt. Sie stehen da wie Lots Weib, als es sich umblickte nach dem Feuer, welches Sodom und Gomorrha verschlang. Auch Sie leben in einem Sodom und wandeln in dem Gomorrha der Ueppigkeit und der unlauteren Liebe, die in frechen Liedern besungen wird. Wollen Sie nicht, daß auch auf Sie Feuer und Schwefel herniederregne, so thun Sie beizeiten Buße im Sacke und in der Asche. Kasteien Sie Ihr Fleisch; werfen Sie die Neigung zum Mammon von sich, und versuchen Sie, ein gerechtes Leben zu führen in Ehren und Gottwohlgefälligkeit. Und fühlen Sie sich zu schwach dazu, so kommen Sie zu mir. Sie sollen in mir den Hirten finden, welcher das räudige Schaf mit der heilenden Salbe der Gnade bestreicht, damit er es wieder versammeln kann zur Heerde der Gerechten und Frommen!«

Jetzt fand Robert die Sprache wieder. Er hatte den Mann ausreden lassen und wollte nun eine scharfe Entgegnung beginnen. Aber er besann sich eines Besseren und sagte nur: »Herr Seidelmann, haben Sie die Güte, mir zu sagen, wie viel ich zu bezahlen habe.«

»So ist es recht! Die wahre Frömmigkeit beginnt mit der Erfüllung der berechtigten irdischen Pflichten. Ich werde addiren.«

»Ich werde nicht nur um die Summe bitten.«

»Um was noch?«

»Um die einzelnen Posten.«

Der Vorsteher blickte ihn ganz erstaunt an.

»Warum? Wozu?«

»Sie haben mir meine geistlichen Schulden soeben so ausführlich hergezählt, daß es Ihnen sehr leicht sein muß, mir auch die irdischen, soweit sie den Miethzins betreffen, zu specificiren.«

»Das kann ich, aber es hat keinen Zweck.«

»O doch!«

»Nun, welchen?«

»Den der Controle.«

»Was?« brauste der Fromme auf. »Sie wollen mich controliren?«

»Nein. Aber ich habe als Sohn die Verpflichtung, meinem Vater zu zeigen, wofür ich mein Geld ausgebe. Ich selbst also bin es, welcher controlirt werden soll. Schreiben Sie mir besonders den Namen des Rechtsanwaltes auf, bei welchem Sie die Exmissionsklage fertigen ließen. Sie müssen die Liquidation dieses Herrn in den Händen haben. Geben Sie mir eine mit Ihrer Unterschrift versehene Abschrift davon. Ich werde Alles bezahlen, nur bitte ich Sie, Alles zu unterschreiben!«

Da stand der Vorsteher von seinem Stuhle auf und rief ihm zu:

»Mensch! Sünder! Du beleidigst Gott, indem Du seinen Diener lästerst. Eine von mir beglaubigte Abschrift einer weltlichen, einer profanen, einer advocatorischen Liquidation! Das ist Schändung meines Amtes. Die Zunge, welche solche Forderungen stellt, sollte eigentlich verdorren. Bertram, ich sehe ein, daß Sie nie zu bessern sind. Ich gebe Sie verloren für alle Zeit und Ewigkeit; aber ich wasche meine Hände in Unschuld, denn ich habe zu Ihrer Rettung gethan, was ich thun konnte. Ich mag nichts mit Ihnen zu thun und nichts mit Ihnen gemein haben. Ich mag nichts von Ihnen erhalten. Ich schenke Ihnen Alles, Alles, die Buchungskosten, die Quittungsgebühren, die Zinsen der Schuld und sogar die Anwaltskosten. Ich will lieber dieses irdische Opfer bringen, als den kleinsten Denar, den geringsten Obolus mein Eigen nennen, nachdem er sich in Ihrer Hand befunden hat! Aber den Miethzins kann ich Ihnen nicht erlassen, denn der gehört nicht mir, sondern dem Eigenthümer des Hauses.«

Ueber das hagere Leidensgesicht des Jünglings glitt ein unbeschreibliches Lächeln. Freude, Stolz und Verachtung fanden ihren Ausdruck in demselben. Er sagte in möglichster Ruhe: »Da hat Gott Ihnen einen guten Gedanken eingegeben. Ihre Rechnung wäre in die Hände des Anklägers gekommen. Jetzt weiß ich selbst genau, wie viel ich Ihnen zu bezahlen habe. Hier ist das Geld. Quittiren Sie schnell, damit ich so rasch wie möglich aus Ihrer Seligkeit hier in mein Gomorrha komme!«

Der Fromme sprach kein Wort weiter. Er steckte das Geld ein, schrieb die Quittung und warf sie ihm hin. Selbst als Robert, bevor er ging, noch grüßte, erhielt er keine Antwort. Er war ja dem Teufel verfallen. Der Frömmler durfte ihn keines Wortes mehr würdigen.

Als Robert zu Hause ankam, gab es noch immer Thränen, aber sie waren bald gestillt, als er die Quittung vorzeigte und dann bewies, daß er sogar noch Geld übrig habe.

»Woher aber hast Du denn eine so große Summe erhalten?« fragte sein Vater.

Er fiel vor Freude in einen fürchterlichen Husten, denn die Erstere griff ihn ebenso an wie die Traurigkeit.

Robert erzählte es, ließ aber weg, daß er die Kette zum Pfande dort gelassen hatte. Marie erhielt Geld, um Speise und anderes Nothwendige herbei zu schaffen. Er ging mit ihr, um sich in das Haus des Juden zu begeben. Unten auf der Straße meinte sie, indem sie sich selbst zu trösten versuchte: »Glaubst Du, daß es möglich ist, das Oel aus der Stickerei zu entfernen?«

»Ich bin kein Chemiker; ich kann da leider gar nichts sagen.«

»Ich hoffe es. Ich habe recht innig zu Gott gebetet, daß er mir die Freude machen soll, damit ich morgen auch Geld bringen kann. Hast Du vielleicht Wilhelm gesehen?«

»Nein. Ist er nicht daheim?«

»Noch nicht!«

»Du warst bei seiner Mutter?«

»Ja.«

»Vielleicht hat er Ueberstunden zu arbeiten.«

»Das ist möglich. Sein Prinzipal ist heute Mittag dagewesen und heute Abend mit einem Herrn wiedergekommen, um die Maschine zu holen, welche für den Engländer bestimmt ist.«

»So arbeitet er jedenfalls daran.«

Die guten Kinder wußten nicht, daß der andere Herr, der mitgekommen war, ein Polizist in Civil gewesen war.

Robert wurde, als er an der Thür des Juden klopfte, von der alten Rebecca eingelassen. Sie blickte ihn freundlich an, nickte ihm zu und fragte ihn zutraulich: »Ist es wahr, daß Sie oft Hunger gelitten haben?«

»Ach ja! Zuweilen!«

»Nun, dann werden Sie Ehrenketten empfangen von Fürsten und Potentaten, und man wird Ihren Namen ausmeiseln in Gold, den Buchstaben zu zwanzig Kreuzer beinahe. Gehen Sie eine Treppe höher, wo Ihrer wartet das Mahl nebst Knoblauch als Gewürze!«

Er wußte allerdings nicht, was er über diese ebenso freundliche, wie räthselhafte Auslassung denken sollte. Oben wartete die alte Magd auf ihn, um ihm die Thür zu öffnen. Als er eingetreten war, blieb er erstaunt stehen.

Das Zimmer war hell mit Wachskerzen erleuchtet; die Vorhänge hatte man zugezogen. Der Tisch war mit Delicatessen und Wein beladen, und auf dem Divan lag Judith.

Sie hatte eine eigenthümliche Tracht angelegt. War das Phantasie, oder war es die Kleidung eines jüdischen Stammes oder fernen Landes? Robert wußte es nicht zu sagen.

Sie trug orientalische Beinkleider von durchsichtigem, röthlichem Stoffe, reich in Silber gestickt, ein eben solches Jäckchen mit Goldstickerei, tief ausgeschnitten und mit so weit aufgeschlitzten Ärmeln, daß man die prächtigen Arme bis hinauf zur Achsel verfolgen konnte. Die nackten Füße stacken in Sammtpantoffeln. Um das Alles herum faltete sich ein weißer, außerordentlich feiner Florüberwurf, der mit goldenen Sternen besäet war. In dem rabenschwarzen Haare glänzten Steine und Perlen. Der größte Schmuck desselben war die eigene Schwere und Länge. Es war in dicke Flechten gebracht, welche wie glänzende Schlangen über den Flor herniederrollten.

Sie bemerkte den Eindruck, den sie auf ihn machte, und lächelte ihm süß entgegen.

»Willkommen, Herr Bertram,« sagte sie, indem sie ihm die Hand vorstreckte.

Er trat herbei, verbeugte sich etwas linkisch und ergriff dieses weiße, feine und doch so kräftige Händchen, wußte aber leider nicht, was er mit demselben machen sollte.

»Nun!« sagte sie. »Gefällt Ihnen diese Hand so wenig?«

Er erröthete verlegen und antwortete:

»O, sie ist im Gegentheile sehr schön!«

»Warum küssen Sie sie nicht?«

»Muß ich das denn?« fragte er lächelnd. Er hatte auf einmal seinen Muth wiedergefunden.

»Müssen? O nein! So Etwas thut man aus freiem Entschlusse. Ein Dichter aber sollte eigentlich immer galant sein.«

Sie entzog ihm die Hand und deutete mit derselben auf den Stuhl, welcher hart neben dem Divan stand.

»Nehmen Sie Platz und versuchen Sie, sich nicht zu langweilen. Wir werden während des ganzen Abends allein sein.«

»Ah! Ihr Herr Vater und Ihre Frau Mutter kommen nicht?«

»Nein. Ist es Ihnen Angst vor mir?«

»Ja, wenn wir allein sind,« gestand er in galanter Aufrichtigkeit.

»Warum?«

»Ich habe noch mit keiner schönen Dame allein gespeist!«

»Und ich mit keinem geistreichen Dichter.«

»So ist unser Abend vielversprechend. Wir werden eine Doublette von Geist und Schönheit haben.«

»Wer wird siegen und wer unterliegen?«

»Der Geist wird unterliegen; ich fühle es bereits!«

»Ich sehe, daß die Dichter in Wahrheit galant sein können. Leider ließen Sie mich lange warten. Ich hatte sehr viel Zeit zum Anrichten, und wir werden beginnen können. Darf ich Ihnen vorlegen?«

»Ich nehme mein Schicksal aus Ihren Händen.«

Sie erhob sich aus ihrer liegenden Stellung. Dadurch kam sie, trotzdem sie auf dem Divan blieb, ganz hart neben ihm zu sitzen. Sie servirte. Ihr voller, glänzender Arm strich dabei so hart an ihm hin, daß er sogar einmal seine Wange berührte. Ihrem Haar entströmte ein süßer, eindringlicher Duft. Ihre Augen funkelten ihm verheißungsvoll entgegen; ihr Mund lächelte; ihre Lippen grüßten still, aber innig. Und wenn sie eine Kleinigkeit zum Munde führte, so war es ein Vergnügen, die Perlenreihen ihrer Zähne glänzen zu sehen. Es war klar, daß sie ihn gewinnen wollte.

Er merkte jetzt von all den Schönheiten nichts. Er sah nur die Delicatessen, nickte fröhlich vor sich hin und sagte: »Speist man bei Ihnen stets so gut, Fräulein Judith?«

»Nicht immer, sondern nur dann, wenn Dichter geladen sind.«

»Dann sind diese Dichter wohl verpflichtet, der Tafel alle Ehre zu erweisen?«

»Natürlich! Aber die Wirthin darf dabei nicht vergessen werden!«

»O nein!« lachte er heiter. »Sie soll mitessen dürfen!«

»O, Sie materielle Seele!«

»Ist das ein Lob oder ein Vorwurf?«

»Nur das Letztere.«

»Ich dachte, nur das Erstere. Die Seele ist außerordentlich abhängig von der Materie. Doch, gerathen wir nicht auf dieses Gebiet, sondern bleiben wir lieber bei der Tafel.«

Er hatte alle Befangenheit überwunden und aß wie Einer, der ein Recht dazu hatte, hier am Tische zu sitzen. Sie freute sich darüber. Sie suchte ihm das Beste heraus und legte es ihm vor. Er wurde gesprächiger und immer gesprächiger. Seine Wangen bekamen Farbe; seine Augen glänzten, und seine Witze sprühten vor Geist.

Sie bemerkte das gar wohl. O, er hatte Recht gehabt, als er sagte, daß die Seele von der Materie abhängig sei. Er hatte gehungert. Er hatte vielleicht nie ein solches Mahl gehabt. Jetzt zeigte sich die geistige Wirkung dieses materiellen Ueberflusses.

Er sprach und kaute und kaute und sprach; sie konnte ihr Auge nicht von ihm wenden; denn er war jetzt schön, wirklich schön. Sie fühlte, daß sie ihn liebe, daß sie ihn haben müsse, daß sie um seinen Besitz mit jeder Gegnerin ringen und kämpfen werde.

»Sie sagten, daß Sie noch mit keiner schönen Dame gespeist hätten?« fragte sie. »Ist das wörtlich zu nehmen?«

»Ja, wörtlich,« nickte er.

»So sind Sie wohl selten in Damengesellschaft gewesen?«

»Nie.«

»Das ist kaum glaublich. Ein junger Herr Ihres Alters pflegt schon einige Liaisons gehabt zu haben.«

»Liaisons? O weh! Diese Herren sind zu beklagen!«

»Oder vielmehr ihre Damen!«

»Beide! Ich würde mir nie eine Liaison gestatten.«

»Warum?«

»Weil sie eine Versündigung ist, eine Versündigung an einem fremden und dem eigenen Herzen.«

»So haben Sie wirklich niemals eine derartige Bekanntschaft gehabt?«

»Nie,« antwortete er ernst. »Unter einer Liaison verstehe ich eine vorübergehende Liebelei. Eine Dame, welche Liaisons gehabt hat, gleicht einem Schmetterlinge mit beschädigten Stellen.«

»Sie haben Recht!«

»Nicht wahr! Der Mensch darf nur eine einzige Liebe haben; aber diese muß so groß und mächtig sein, daß sie sein ganzes Denken und Fühlen, sein ganzes Leben ausfüllt.«

»Wären Sie einer solchen Liebe fähig?«

»Ja.«

»Aber gefühlt haben Sie sie noch nicht?«

»Nein.«

»Meinen Sie, daß sie plötzlich über Einen herfällt, oder daß sie langsam ihren Einzug in das Herz hält?«

»Je nach dem Naturell. Ich bin zum Beispiel überzeugt, daß eine solche große Liebe nie langsam, sondern nur plötzlich über Sie kommen könnte.«

»Wieder haben Sie Recht. Und wie ist es bei Ihnen?«

»Ich denke, bei mir würde das Gegentheil stattfinden. Ich würde die Liebe nicht hinunterstürzen, sondern sie langsam trinken und nippen, bis der süße Rausch so ganz mein Herr geworden wäre.«

»Das geht zu langsam! Trinken Sie! Trinken Sie!«

Ihre Augen funkelten. Sie hielt ihm ihr Weinglas entgegen, um mit ihm anzustoßen. Es kam ganz fremd und eigenartig über ihn. War es der Wein oder waren es die Gluthblicke aus den Augen des schönen Mädchens. Er stieß mit ihr an und antwortete: »Ja, trinken wir!«

»Wein oder Liebe?«

»Beides!«

»Ja, richtig!« jubelte sie. »Beides! Beides!«

Sie legte den vollen Arm auf seine Schulter, näherte ihr Gesicht dem seinigen und fragte:

»Wie denken Sie von mir? Wie gefalle ich Ihnen?«

»Bei Ihrem Anblicke denke ich an die Worte des Dichters:

 

Füll den Pokal mit Schiraswein;

Entfess’le Deiner Locken Quell!«

 

»Soll ich ihn entfesseln?«

Ihr Athem streifte heißt seine Wange, und ihr Arm legte sich fester um seine Schulter. Er hatte sich noch nie in einer solchen Versuchung befunden. Er wußte nicht, was er antworten sollte.

»Noch nicht! Noch nicht!« sagte er, um doch Etwas zu sagen.

»Aber später doch? Gut! Wir verstehen uns. Und das ist kein Wunder. Sind wir doch Collegen.«

»Collegen?« fragte er lächelnd.

»Ja. Ich bin auch Dichterin. Das heißt, ich dichte.«

»Für sich selbst oder für einen Verleger?«

»Für mich allein.«

Der verlorne Sohn
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