Zweite Abtheilung

Die Sclaven der Arbeit

Erstes Kapitel

Der Kampf um die Liebe

Es war am Sonnabend vor Fastnacht. Draußen, hart am Waldesrande und fast eine halbe Stunde Weges vom kleinen Städtchen entfernt, erhob sich auf hoher Halde ein finsterer, rußgeschwärzter Gebäudecomplex, in dessen Mitte eine hohe, rauchende Esse zum Himmel ragte. Das war ein Kohlenbergwerk, welches durch einen eingleisigen Schienenstrang mit dem Bahnhofe der über eine Stunde entfernten größeren Stadt in Verbindung stand.

Eine Glocke läutete, zum Zeichen, daß die Schicht zu Ende sei. Im Förderhause wurde der Personenfahrstuhl mit der Maschine gekoppelt, und bald entstiegen dem schwarzen Schlunde eine Menge dunkler, rußgeschwärzter Gestalten, welche von Mitternacht an bis jetzt in der gefährlichen Tiefe im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet hatten, um an der Oberwelt ihr armes, anspruchsloses Leben fristen zu können. Andere fuhren an ihrer Stelle nieder.

In jener Gegend wohnen gottesfürchtige Leute. Die dem Schachte Entstiegenen sammelten sich um den Steiger und falteten auf ein von ihm gegebenes Zeichen die Hände. Er sprach ein kurzes, aufrichtig gemeintes Dankgebet, daß Gott sie während der zwölfstündigen Schicht beschützt hatte, und dann sangen sie nach der bekannten Melodie die Strophe:

»Was Gott thut, das ist wohl gethan;

So wollen wir stets schließen.

Ist gleich bei uns kein Kanaan,

Wo Milch und Honig fließen,

So wird von Gott doch unser Brod

Zur Gnüge Dem bescheeret,

Der ihm traut und ihn ehret.«

 

Als der fromme Gesang beendet war, begaben sich die Leute zum Zahlmeister, um ihren Wochenlohn in Empfang zu nehmen. In seine Expedition durfte man nur einzeln eintreten. Durch die Anwesenheit Mehrerer hätte ihm der Raum ja beschmutzt werden können. Er war ein wortkarger, menschenfeindlicher Mann, von dem noch Niemand eine freundliche Sylbe gehört hatte. Er pflegte jedem Eintretenden den kargen Lohn schweigend hin zu schieben und dann durch einen kurzen, barschen Wink das Zeichen der Entfernung zu geben. Darum war es befremdend, daß er heute die Arbeiter, bevor sie ihn der Reihe nach verließen, aufforderte, draußen vor dem Hause zu warten, da er ihnen eine Eröffnung zu machen habe.

Draußen war es bitter kalt. Der Schnee lag über eine Elle hoch und fiel noch immer in dichten, scharf schneidenden Flocken nieder. Die Leute zitterten vor Frost. Ihre armselige Kleidung war nicht geeignet, ihnen Schutz zu gewähren. Hätte nicht der häßliche Kohlenstaub ihre Gesichter bedeckt, so wäre es ihnen leicht anzusehen gewesen, daß auch ihre Ernährung nicht geeignet sei, sie gegen die Unbilden des Winters widerstandsfähiger zu machen.

Endlich trat er heraus zu ihnen. Er sagte:

»Ich habe Euch im Auftrage des Herrn Barons von Helfenstein zu eröffnen, daß er von jetzt ab pro Schicht und Mann zehn Kreuzer weniger zahlt. Es ist Winter; die Concurrenz erschwert den Absatz, und die Betriebskosten werden immer bedeutender. Das ist’s, was ich Euch bekanntgeben soll.«

Die Leute blickten sich unter einander bestürzt an. Ein leises Flüstern ging durch ihre Reihe, und dann meinte Einer von ihnen, der vielleicht der Älteste sein mochte: »Herr Zahlmeister, Sie haben uns da sehr erschreckt. Wissen Sie noch, wieviel ich heute erhalten habe?«

»Ja; drei Gulden,« antwortete der Beamte.

»Drei Gulden für eine Woche! Drei Gulden für eine vierundachtzigstündige Arbeitszeit unter der Erde! Drei Gulden für sieben zwölfstündige Schichten, während denen ich, wie wir ja Alle, in steter Todesgefahr geschwebt habe!«

»Ist Dir’s nicht genug, so suche anderweit Arbeit!«

»Das kann ich nicht! Sie wissen das nur zu gut, Herr Zahlmeister. Es giebt hier nur Weber und Kohlenbergleute. Zum Weben sind meine Augen zu schwach, und dieses Bergwerk ist das einzige in der weiten Umgegend. Ich muß bleiben!«

»So raisonnire also auch nicht!«

»Ich raisonnire nicht: aber ich denke an die acht Personen, welche ich mit drei Gulden zu erhalten habe. Nun sollen für die Woche gar siebzig Kreuzer weniger gezahlt werden. Herr, wir hungern bereits, wir hungern und frieren! Was soll nun weiter mit uns werden?«

»Das ist mir gleichgiltig. Ich habe meine Pflicht zu thun. Ich soll Euch den Befehl des Herrn Barons mittheilen, und ich habe es gethan. Wer nicht einverstanden ist, der braucht nicht wieder zu kommen. Ich finde Arbeiter genug!«

Bei diesen Worten drehte er sich um und trat in das Haus zurück, die Thür hinter sich zuziehend.

Die Leute aber besprachen leise und grollend die Neuigkeit und wadeten dann in einzelnen Gruppen durch den tiefen, knirschenden Schnee dem Städtchen zu.

Dieses Letztere bestand aus niedrigen, ärmlich dreinschauenden Häusern. Es gab nur zwei Gebäude, welche ein besseres Aussehen hatten, nämlich das Pfarrhaus und dann ein anderes, welches auch nicht weit von der Kirche stand und über dessen Thür an einer Marmortafel in goldenen Buchstaben zu lesen war: ›Der Herr behüte dieses Haus und Alle, die da gehen ein und aus!‹ Und an der Thür stand auf einem Porzellanschilde geschrieben: ›Seidelmann und Sohn.‹

Als draußen auf dem Schachte das Schichtzeichen erklungen war, hatte auch hier im Städtchen der Küster die Glocke in Bewegung gesetzt, damit die Einwohner wissen sollten, daß es Mittag sei. Das war so alter Brauch: Mittags zwölf Uhr wurde mit der kleinen Glocke geläutet.

Dieses Geläute unterbrach das scharfe, taktmäßige Geräusch der Webstühle, welches vom frühesten Morgen an aus den Wohnungen der armen Weber heraus in das Schneegestöber erklungen war.

Die Thür eines Häuschens öffnete sich. Ein Mädchen, welches in jeder Hand eine Wasserkanne hielt, wollte heraustreten, fuhr aber erschrocken zurück, als ein scharfer Windstoß ihr eine ganze Wolke von Schnee entgegentrieb.

In demselben Augenblicke wurde die Thür des Nachbarhäuschens aufgestoßen, und ein junger Bursche sprang herbei.

»Grüß Gott, Engelchen!« sagte er. »Du willst an den Brunnen?«

»Ja, Eduard,« antwortete sie.

»Das ist Nichts für Dich! Gieb mir die Kannen!«

Er nahm ihr die beiden Gefäße aus den Händen und eilte fort, um an ihrer Stelle das Wasser zu holen. Sie zog sich zum Schutze hinter die Thür zurück, hielt dieselbe aber ein Wenig geöffnet, um dem gefälligen Nachbarssohne nachblicken zu können.

»Eine gute, liebe Seele, der Eduard!« sagte sie zu sich selbst. »Kaum stehe ich unter der Thür, so ist er auch bereits da. Er hat mich von seinem Webstuhl aus gesehen.«

Er hatte sie ›Engelchen‹ genannt. Das ist ein Diminutiv von Angelica, welcher Name zu Deutsch nämlich Engel bedeutet. Das Mädchen war vielleicht achtzehn Jahre alt. Ihre Kleidung war einfach und außerordentlich sauber. Der rothe Flanellrock reichte ihr kaum weiter als bis zur Hälfte der Waden, so daß man das kleine, aber doch kräftig gebaute Füßchen ganz erblicken konnte. Die Winterjacke, welche sie angelegt hatte, war vorn um ein Kleines geöffnet und ließ eine schlanke Taille vermuthen, welche eine schöne, volle Büste zu tragen hatte. Das Gesichtchen war frisch und rosig. Angelica war schön, schöner als manche Dame, welcher es gegraut hätte, den Fuß in eine solche Gebirgshütte zu setzen.

Da kam der Bursche mit den gefüllten Kannen zurück. Sie schob die Thür weit auf und sagte:

»Komm herein, Eduard! Da draußen kannst Du heute die Kannen nicht absetzen.«

Er gehorchte und rieb sich dann pustend die Hände.

»Das ist ein schlimmes Wetter,« meinte er. »Wenn es so fortmacht, werden wir fast nicht mehr auf die Straße gehen können.«

»Und doch kommst Du herüber, um mir Wasser zu holen! Ich danke Dir, Du Guter!«

Sie reichte ihm die Rechte, welche er nahm, um sie herzhaft zu drücken. Dabei antwortete er:

»Oh, Nachbarsleute müssen einander aushelfen. Da ist gar nichts dabei zu sagen.«

»Aber Du bist aus der Arbeit gegangen!«

»Nur diese Minute. Das hole ich schnell ein.«

»Und hast doch so nothwendig!« fügte sie hinzu.

»Woher weißt Du das, Engelchen?«

»Ah, denkst Du etwa, ich habe nicht gehört, daß Du die ganze Nacht hindurch gearbeitet hast?«

Er nickte leise, und dabei nahm sein hübsches, offenes Gesicht einen trüben Ausdruck an.

»Es mußte sein, Engelchen; ich muß ja heute in der Dämmerung fertig werden. Du weißt, daß der Vater jetzt in vierzehn Tagen nur ein Stück fertigbringt, und darum hatte ich drei zu machen.«

»Drei?« fragte sie erstaunt. »Das bringt kein Mensch!«

»Ja, es ist fast zu viel, drei Stück, ein jedes zu zweiundsiebzig Ellen; aber ich habe es doch gebracht!«

»Du wirst Dich krank arbeiten! Warum mußt Du denn eigentlich so viel bringen, Eduard?«

»Weil wir viel Geld brauchen. Der Seidelmann hat dem Vater das Geld gekündigt.«

»Herrgott, ist’s möglich!« rief sie aus. »Der reiche Krösus braucht es doch gar nicht!«

»Das wissen wir wohl; aber wir können es doch nicht ändern. Er sagte, daß er jetzt im Geschäft sehr viel verloren habe, so daß er alle außenstehenden Gelder einziehen müsse.«

»Das glaube ich nicht. Vielleicht hat er einen anderen Grund!«

Eduards Gesicht nahm für einen Augenblick eine dunklere Farbe an. Er antwortete, sichtlich zurückhaltend:

»Das ist freilich möglich!«

»Kannst Du es Dir denken?«

»Vielleicht kann ich es errathen.«

»Was ist’s? Sage es mir!«

»Jetzt nicht; vielleicht ein anderes Mal. Du wirst mit dem Essen zu thun haben.«

»O nein, wir sind bereits weg vom Tische. Ich hatte des Vaters Leibgericht, grüne Klöße und Rauchfleisch. Was aßt ihr?«

Jetzt erröthete er noch mehr als vorhin. Um dies nicht bemerken zu lassen, drehte er sich zur Seite und antwortete: »Ich weiß es wirklich nicht, Engelchen. Wenn ich so nothwendig zu arbeiten habe, nehme ich mir nicht Zeit, darauf zu merken, was die Mutter zurichtet. Ich werde es aber wohl gleich erfahren. Lebe wohl, Engelchen!«

»Lebe wohl! Kommst Du auf den Abend zu uns?«

»Ja, ich komme.«

Nach diesen Worten sprang er von dannen.

Das Häuschen, in welches er schlüpfte, war noch kleiner, als dasjenige, welches Engels Eltern bewohnten. Der Flur bestand aus fest geschlagenem Lehm. Rechts war ein Gewölbe und ein Ziegenstall, und links befand sich die Wohnstube. Diese hatte nur zwei Fenster. Vor jedem derselben stand ein Webstuhl. Gerade als Eduard in die Stube trat, hörte er die Mutter sagen: »Komm, Vater, steige aus dem Stuhle. Wir wollen essen.«

Der Weber folgte der Aufforderung. Seine Gestalt war gebeugt und sein Haar vor der Zeit ergraut. Dieselbe Erscheinung zeigte auch seine Frau. Die Armuth ist eine geizige Freundin.

Auf den Ruf der Mutter hatte es sich in den Ecken und Winkeln der Stube bewegt. Fünf Kinder, außer Eduard, eilten dem blank gescheuerten Tische zu. Die Webersfrau stellte eine Schüssel Kartoffeln auf den Letzteren. Dann faltete der Vater die Hände und sagte: »Wir wollen beten!«

Die Glieder seiner Familie neigten andächtig die Köpfe, und er begann:

»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheeret hast!«

Die Kleinen glaubten, daß das Gebet zu Ende sei, und erhoben die Händchen, um nach der Schüssel zu langen. Der Weber aber warf ihnen einen strafenden Blick entgegen und fuhr fort:

»Du schenkst uns, Gott, so väterlich

Jetzt Speis und Trank; wir preisen Dich;

Denn Alles, was uns stärkt und nährt

Wird uns durch Deine Huld beschert.

Sieh, Deine Gaben nehmen wir

Mit Freuden, Vater, hin von Dir.

O laß uns den Genuß gedeihn

Und Dir dafür auch dankbar sein!«

 

Jetzt setzte er sich nieder. Das war das Zeichen, daß das Mahl beginnen könne. Und welch’ ein Mahl! Es gab eine Schüssel seifiger Kartoffeln in der Schale und dazu nichts weiter als – Salz, welches die Mutter braun geröstet hatte, um demselben wenigstens einen etwas ungewöhnlichen Beigeschmack zu geben.

Das war es, was Eduard dem »Engelchen« vorhin nicht hatte sagen wollen.

Und eben, als sie das mehr als frugale Essen begonnen hatten, öffnete sich die Stubenthür und ein steinaltes dürres Männchen trat ein.

»Guten Tag, Gevatter Hauser!« grüßte der Neuangekommene, indem er sich Mühe gab, einen Husten zu unterdrücken. »Ihr seid beim Essen? Da störe ich und will nur lieber gleich wieder gehen.«

»Bleib in Gottes Namen da,« antwortete der Hausvater. »Setze Dich dort auf den Schemel. Uns störst Du nicht.«

Der Alte zog den Schemel an den Ofen und prüfte mit der Hand die Kacheln, ob sie warm seien.

»O weh!« sagte er. »Das Feuer ist ausgegangen!«

»Der Gevatter will sich wärmen,« sagte der Weber. »Magst Du nicht noch einmal anlegen, Mutter?«

Die Gefragte machte ein trübseliges Gesicht und antwortete:

»Die Kohlen sind alle, Vater.«

»So nimm Holz!«

»Auch davon ist nichts mehr da. Es reichte gerade noch zu, um die Kartoffeln zu kochen.«

»O weh! Wieviel Geld hast Du noch?«

»Vier Kreuzer!«

»So laß nachher für vier Kreuzer Kohlen holen. Hast Du schon gegessen, Gevatter?«

Der Alte schüttelte den Kopf, warf einen begierigen Blick auf die Schüssel, welche sich zusehends leerte und sagte:

»Heute noch nichts. Ich war – hm, ich war bei Herrn Seidelmann. Ich fragte ihn, ob – hm, na! Der giebt Nichts!«

»So komm her, Gevatter, und iß mit uns!«

Das Männchen ließ sich dies nicht zweimal sagen. Anstatt sechzehn, waren es nun achtzehn Hände, welche sich bestrebten, den Inhalt der Schüssel verschwinden zu lassen. Dazu gab es einen Trunk kalten Wassers.

Als die letzte Kartoffel verzehrt war, erhob sich der Weber und sagte, ganz wie vorher:

»Wir wollen beten!«

Sie falteten Alle die Hände, und der Hausvater begann:

»Wir danken Dir, Herr Jesus Christ, daß Du unser Gast gewesen bist!«

Und daran fügte er die Strophen:

 

»Nun, wir sind auch diesmal satt,

Da uns Gott vergnügt gespeiset

Und vergnügt getränket hat.

Seine Güte sei gepreiset.

Er wird ferner unserm Leben

Speis und Trank und Nothdurft geben.«

 

Er war fertig und wollte bereits die gefalteten Hände auseinander nehmen, da aber fuhr der Alte fort:

 

»Reiche Deine milde Hand,

Liebster Vater, auch den Armen.

Laß den kümmerlichen Stand

Immer unser Herz erbarmen,

Daß wir ihnen einen Segen

Nach Vermögen reichen mögen,

Bis wir himmlisch Mannah speisen

Und Dich ewig selig preisen!«

 

Der Beter hatte die Augen voller Thränen. Als er geendet hatte, streckte er dem Weber die hagere Rechte entgegen und sagte: »Vorhin habe ich gemeint, daß ich seit heute noch nicht gegessen hätte, Gevatter; aber ich will Dir nun gestehen, daß bereits seit vorgestern Abend nichts über meine Lippen gekommen ist.«

»Guter Gott!« rief da der Weber. »Mutter, schneide ihm doch ein Stück Brod ab!«

Die Frau hustete verlegen und antwortete dann:

»Das Brod ist alle, Vater.«

»Haben wir gar kein Bischen mehr?«

»Gar nichts.«

Da warf er ihr einen Blick zu, welchen sie sofort verstand. Sie warf ein Tuch über den Kopf und entfernte sich. Nach einer kleinen Weile kam sie wieder. Sie war bei dem nahen Bäcker gewesen und hatte ihre letzten vier Kreuzer, welche für Kohlen bestimmt gewesen waren, hingegeben, um dem alten Gevatter ein Stück Brod zu holen.

Der Alte drückte die Hände der braven Frau an seine Brust und rief:

»Vergelt’s Euch Gott! Aber nehmen kann ich es doch nicht. Eure Kleinen da brauchen es ebenso nothwendig wie ich.«

»Nimm und iß es!« gebot aber Hauser. »Wir haben zwar jetzt nichts mehr; aber in der Dämmerung geht der Eduard mit den vier Stücken, welche fertig werden, zum Seidelmann. Da bekommen wir viel Geld und können Alles kaufen, was wir brauchen. Du jedoch hast keine Aussicht, Geld zu verdienen.«

»Guter Gott, das ist wahr!« seufzte der Alte, indem er hungrig in das Brod biß. »Früher war es anders. Da war ich der einzige Barbier und Bader der Umgegend. Jetzt sind Andere da, und meine Hand zittert so sehr, daß ich das Messer unmöglich mehr führen kann. Die Zeiten sind immer schlechter geworden und die Menschen mit ihnen. Wißt Ihr schon, was in letzter Nacht passirt ist?«

»Nein. Ist’s etwas Neues.«

»Etwas ganz Neues und ganz Grauenhaftes! Der Förster ist im Walde gewesen, heute früh trotz des Wetters. Sein Hund bleibt bei einer Schneewehe stehen und ist nicht fortzubringen. Und als der Förster die Wehe untersucht, findet er, daß eine Leiche unter ihr begraben liegt.«

»Herrgott! Eine Leiche? Ein Erfrorener?«

»Nein, sondern ein Ermordeter.«

Auf dieses Wort folgte das Schweigen des Entsetzens. Eduard fand zuerst die Sprache wieder. Er fragte:

»Wer ist denn der Ermordete gewesen?«

»Der Grenzoffizier, der Lieutenant.«

»Der Lieutenant? War er etwa geschossen?«

»Ja. Die Kugel ist ihm durch den Kopf gegangen.«

»So sind es die Pascher gewesen!«

»Der Waldkönig selber ist’s gewesen!«

»Woher weißt Du das?«

»Der Ermordete hat einen Zettel in der Hand gehabt, den ihm der Waldkönig hineingesteckt hat. Darauf stand geschrieben, daß es einem Jeden so gehen werde, der sich um die Pascher bekümmert.«

»Das ist ja ganz und gar entsetzlich!« meinte die Hausfrau.

»Ja,« stimmte der Alte bei. »Und am Morgen ist einer der Grenzaufseher in der Schenke gewesen und hat erzählt, daß in der vergangenen Nacht ein Zug von über dreißig Schmugglern über die Grenze geschlüpft ist. Die Beamten haben sich gar nicht an so Viele wagen können.«

»Wer nur der Waldkönig sein mag?«

»Das weiß Niemand, und Niemand wird es erfahren. Der leibhaftige Gottseibeiuns muß es sein, kein Anderer! Aber ich muß nach Hause. Ihr habt zu arbeiten, und ich darf nicht stören. Habt tausend Dank, ihr guten Leute!«

Er reichte Allen die Hand und ging. Hauser begleitete ihn nach guter, alter Sitte, bis unter die Hausthür. Gerade als sie dort standen, kam ein zweispänniger Schlitten vorübergefahren. Ein tief in seinen Pelz gehüllter Mann saß in demselben.

»Ein Fremder,« meinte der Alte. »Wer mag das sein?«

»Hast Du ihn denn nicht erkannt, Gevatter?«

»Nein. Wer war es?«

»Der Bruder des Kaufmannes.«

»Der Fromme? O weh! Wenn der in den Ort kommt, giebt es allemal ein Unglück. Lebe wohl, Gevatter!«

Er ging.

Als Engelchen vorhin in ihre Stube getreten war, stand ihr Vater am Tische, um ein Stück Webearbeit, welches er gefertigt hatte, zu prüfen, ob sich vielleicht ein Fehler eingeschlichen habe. Auch diese Stube war klein, hatte aber ein offenbar behäbigeres Aussehen als die Wohnung Hauser’s. Dieser hatte sechs Kinder, während Engelchen das einzige Kind ihrer Eltern war. Das giebt einen Unterschied.

Ihr Vater hatte jenes gebrochene Profil, welches dem Gesichte einen nicht angenehm zu nennenden Ausdruck giebt. Er warf ihr einen zürnenden Blick zu und fragte: »Wo warst Du jetzt?«

»Ich habe Wasser geholt.«

»Du selbst?«

Sie zog es vor, nicht zu antworten, und machte sich mit ihrer Arbeit zu schaffen.

»Nun wie wird’s?« fragte er scharf. »Erhalte ich Antwort?«

»Der Eduard ist für mich gegangen,« sagte sie.

»Der Eduard und immer der Eduard!« zürnte er.

»Hast Du Etwas gegen ihn?«

»Eigentlich nicht. Er ist ein guter Bursche, aber ein Habenichts!«

»Wir sind auch nicht reich, Vater!«

»Gerade das ist aber Grund genug, darnach zu trachten, daß wir es werden.«

Sie warf einen ganz erstaunten Blick auf ihn.

»Wir? Reich werden?« fragte sie. »Das kann wohl vor dem Jüngsten Tage nicht werden!«

»O, das kann sehr bald werden! Du bist jung und hübsch. Es giebt wohlhabende Burschen, welche ein Auge auf Dich geworfen haben.«

Sie erröthete und antwortete:

»Ich brauche Keinen.«

Da trat er vom Tische auf sie zu und sagte:

»Keinen außer dem Eduard! Nicht wahr? Oder ist er etwa nicht Dein Schatz?«

»Nein,« antwortete sie einfach.

»Das machst Du mir nicht weiß! Ich kann mir sehr leicht denken, was hinter meinem Rücken geschieht!«

»Nichts, gar nichts ist geschehen!«

»Er hat noch nicht von Liebe und Dergleichen mit Dir gesprochen?«

»Kein Wort!«

»Hm! So ist er dumm genug, dümmer als ich dachte. Wie gesagt, ich habe Nichts, gar Nichts gegen ihn, als daß da drüben bei ihm die Armuth zu Hause ist. Ihr paßt nicht zu einander. Ich dachte, ihr wäret im Stillen einig mit einander geworden. Umso besser, wenn es nicht der Fall ist; denn mein Ja hätte ich nicht dazu gegeben. Jetzt weißt Du, woran Du bist, und kannst Dich darnach richten.«

Er legte sein Arbeitsstück zusammen, zog den Rock an und ging dann, um das Erstere zum Kaufmanne zu tragen. Dies war Seidelmann, in dem Hause mit der Marmorplatte. Der Weber trat durch eine Thür, an welcher das Wort »Contor« zu lesen war. In dem Zimmer stand ein junger Mensch an einem Stehpulte. Er schien mit einem großen Buche beschäftigt gewesen zu sein. Sein Gesicht heiterte sich zusehends auf, als er den Eintretenden erblickte.

»Ah, Hofmann, Sie sind es!« sagte er. »Wieder ein ganzes Stück fertig gebracht in dieser Woche?«

»Ja, ein ganzes. Es hat mir aber große Mühe gemacht. Das Garn war ungewöhnlich schlecht.«

»Oho! Das glauben Sie selber nicht. Sie wissen ganz genau, daß ich für Sie immer das beste Material aussuche.«

Hofmann machte ein pfiffig ungläubiges Gesicht.

»Sie zweifeln daran?« fragte der Kaufmann. »Ich darf das gar nicht meinem Vater merken lassen. Na, zeigen Sie Ihre Waare her.«

Er sah die Arbeit oberflächlich durch.

»Hm!« brummte er dabei. »Hier haben Sie einen Fadenbruch. Haben Sie ihn nicht selbst bemerkt?«

»Ich habe ihn gesehen, aber es läßt sich nun nicht ändern.«

»Das wird aber Abzug geben!«

»Wegen eines Fadenbruches?«

»Natürlich! Ein Anderer dürfte mir mit so einem Fehler gar nicht kommen. Ich zahle Ihnen ja bereits mehr als jedem anderen Arbeiter. Für diese Arbeit gebe ich, wenn sie fehlerfrei ist, vier Gulden; Ihnen habe ich fünf gegeben. Wissen Sie, warum?«

»Nein, Herr Seidelmann. Ich habe gedacht, ich bekomme mehr, weil ich besser arbeite, als Andere.«

Der junge Kaufmann lachte ihm ironisch entgegen und sagte:

»Das lassen Sie sich nur ja nicht einfallen. Sie arbeiten nichts weniger als gut. Keiner bringt mir so fehlerhafte Stücke wie Sie. Wenn ich nachsichtig gegen Sie bin, so habe ich meine Gründe. Mein bester Arbeiter ist der Hauser’s Eduard. Er hat nie einen Fehler und bringt doppelt soviel fertig als Sie. Wenn ich ihm trotzdem nicht gut bin, so hat dies auch seine Gründe. Ich werde Ihnen heute zwei Gulden abziehen müssen!«

Der Weber erschrak. Zwei Gulden, das war für seine Verhältnisse schon ein bedeutendes Geld.

»Einen Abzug von zwei Gulden!« sagte er. »Das werden Sie mir doch nicht anthun!«

»Hm! Vielleicht lasse ich mich erweichen, vorausgesetzt, daß Sie verständig sind.«

»Haben Sie mich jemals unverständig gefunden?«

»Wollen erst sehen! Sind Sie in der Nachbarstadt bekannt?«

»So leidlich, Herr Seidelmann.«

»Kennen Sie das Casino?«

»Nein. Ich weiß nur, daß eine Gesellschaft junger, feiner Herren diesen Namen führt.«

»Nun, ich bin Mitglied dieser Gesellschaft. Ich habe diese Herren für nächsten Dienstag nach hier geladen. Wir wollen uns ein Vergnügen machen. Es soll in der Schänke einen kleinen Maskenball geben. Haben Sie schon einmal so Etwas gesehen?«

»Im ganzen Leben noch nicht!«

»Also auch noch nicht mitgemacht?«

»Erst recht nicht.«

»Nun, ich wollte Ihnen wünschen, einmal Theil zu nehmen. Aber das geht nicht; dazu muß man Geld haben. Aber, da fällt mir ein: Wir brauchen Tänzerinnen. Ist Ihre Tochter einmal auf einem Maskenballe gewesen?«

»Auch nicht.«

»Gut, so werde ich sie einladen!«

Das hatte Hofmann geahnt. Sein Gesicht glänzte vor Freude.

»Werden auch Andere eingeladen?« fragte er.

»Von hier? Nein. Meine Freunde bringen ihre Damen mit. Sie kommen Alle per Schlitten. Also, erlauben Sie mir, das Engelchen einzuladen?«

»O, ich habe ganz und gar nichts dagegen!«

»Das denke ich! Aber sie muß sich auch maskiren.«

»Das heißt, sie soll sich verkleiden?«

»Ja. Ich habe mir bereits ausgesonnen, daß sie als Italienerin kommen soll.«

»Davon verstehe ich nichts. Sie hat ja keinen Anzug, wie sie ihn dazu braucht.«

»Den besorge ich. Nur mache ich die Bedingung, daß sie nicht vorher wissen darf, wer sie einladet!«

»Ich werde nichts sagen, Herr Seidelmann.«

»Gut! So sind wir also einig. Ich habe erwartet, daß Sie Ja sagen werden, und bereits Alles in Ordnung gebracht. Es ist ein Paquet zur Post gegeben, welches der Briefträger noch heute bringen wird. Die Einladungskarte liegt dabei. Sie nun haben dafür zu sorgen, daß Ihre Tochter auch wirklich kommt.«

»O, die wird kommen! So Etwas macht Jede gern mit!«

»Hm! Wenn sie aber nun doch nicht will?«

»So wird sie müssen!«

»Pah! Selbst ein Vater kann seine Tochter nicht zu Allem zwingen. Ich habe so eine Ahnung, daß sie gute Gründe hat, sich zu weigern.«

»Von solchen Gründen weiß ich nichts.«

»Hat sie keinen Geliebten?«

»Nein.«

»Ich denke, der Hauser läuft ihr nach?«

»Es ist möglich, daß der eine Absicht hat; aber gesagt hat er ihr noch kein Wort davon, und ich würde das auch ganz und gar nicht dulden.«

»Da sind Sie klug und weise. Also, versprechen Sie mir, daß die Engel kommt?«

»Sie kommt sicher.«

»So verlasse ich mich also darauf. Und da will ich denn einmal so nachsichtig sein und Ihnen den Fadenbruch verzeihen.«

»Und der Abzug?«

»Auch davon will ich absehen. Hier haben Sie fünf Gulden.«

Er gab ihm das Geld, und Hofmann ging fort, ganz glücklich, erstens darüber, so leichten Kaufes davongekommen zu sein, und sodann darüber, daß seine Tochter auserwählt war, von so feinen Herrschaften zum Ball geladen zu werden.

»Wie werden sich die anderen Mädels ärgern, wenn sie es hören!« murmelte er vor sich hin. »Es giebt keine Zweifel: er ist vernarrt in sie, verliebt, ganz und gar verliebt. Es ist wahr, sie ist ein Bild sauberes Weibsen, und ich bin überzeugt, daß er sie heirathen wird. Aber dann, ja dann! Dann gucke ich keinen Nachbar mehr an!«

Und der Kaufmann blickte ihm unter einem schadenfrohen Lächeln nach und brummte:

»Dummkopf, der Du bist! Wer weiß, was für Luftschlösser der Kerl jetzt baut! Ja, ein schönes Mädchen ist sie. Sie wird die Schönste von Allen sein. Und nun gar als Italienerin! Diese Tracht! Kurzes Röckchen, offenes Mieder, tief ausgeschnitten! Dazu das Tanzen, der Wein, der Grog, den sie nicht gewohnt ist. Das wird ein famoser Abend!«

In diesem Augenblicke war es, daß der Schlitten, welchen Hauser und der alte Barbier gesehen hatten, herbei gesaust kam. Er hielt vor dem Hause.

»Donnerwetter, der Onkel!« sagte der Kaufmann zu sich selbst. »Das ist eine Ueberraschung! Da ist irgend etwas Wichtiges im Werke!«

Er eilte hinaus, um den Ankömmling zu empfangen. Dieser hatte bereits die Decken von sich geworfen und den Schlitten verlassen. Er öffnete die Arme und sagte in salbungsvollem Tone: »Ich komme wie der Engel des Herrn zu Abraham in den Hain Mamre. Sei gegrüßt in dem Herrn, Du Sohn meines geliebten Bruders!«

Sie umarmten und küßten sich.

»Willkommen, Onkel!« sagte Seidelmann. »Du überraschst uns auf die angenehmste Weise. Wer hätte Dich erwartet!«

»Der Herr machet seine Boten zu Winden und seine Diener zu Feuerflammen! Wer kann seine Wege begreifen und seine Absichten erforschen! Wo ist Dein Vater, mein lieber Fritz?«

»In seinem Zimmer. Komm, laß Dich führen!«

Er geleitete ihn in das Haus und führte ihn die Treppe empor. Dort aber kam ihnen bereits sein Vater entgegen, welcher die Ankunft des Schlittens bemerkt hatte.

»Willkommen!« sagte er. »Alle Teufel, welcher Wind bringt denn Dich so unerwartet geweht?«

Der fromme Mann machte eine Gebärde des Schreckes und antwortete:

»Fluche nicht, mein Bruder! Wer den Fürsten der Finsterniß im Munde führt, der ist ihm bereits verfallen!«

»Du meinst den Teufel?«

»Ja, ich meine den Versucher von Anbeginn, welcher ein Gegner Gottes ist in Ewigkeit.«

»Papperlapapp! Solches Zeug verfängt nicht bei mir! Komm, tritt jetzt herein, und wärme Dich! Das Mittagessen wird sogleich aufgetragen werden.«

Es war eigenthümlich, die Familienähnlichkeit zu bemerken, welche diese drei Männer zur Schau trugen. Die Brüder sahen sich zum Verwechseln ähnlich, und der Sohn paßte ganz genau zu ihnen wie der halbwüchsige Alligator zu den alten Krokodilen.

Der Gast machte es sich bequem, zog seine Dose hervor, nahm eine Prise und fragte dann:

»Wie geht es Euch hier? Man hat ein Geschrei gehört in dem Gebirge Bethlehem und ein Wehklagen auf den Höhen. Die Zeitungen schreiben, daß hier oben die Menschheit vor Hunger sterbe.«

»Vor Hunger?« fiel der Kaufmann ein. »Sage doch lieber, vor Faulheit!«

»Ich glaubte es nicht. Der, welcher fünftausend Mann speiste mit drei Broden und zween Fischen, so daß noch ganze zehn Körbe mit Brocken gesammelt wurden, wird auch hier Keinen verderben lassen.«

»Hat Dich der Baron geschickt?«

»Auch in seinem Auftrage komme ich.«

»Auch, sagst Du. Also giebt es noch einen anderen Grund Deines Kommens?«

»Ja. Ich komme als Prophet, als Heiliger der Meinigen.«

»Alle Wetter! Seit wann bist Du unter die Heiligen und Propheten gegangen?«

Der Mann faltete die Hände und antwortete:

»Ich bin nie als Saul unter die Propheten gegangen; ich war auch nie ein Saulus, aus welchem ein Paulus werden mußte. Ich habe von Anbeginn meiner irdischen Laufbahn nach dem Reiche der Erlösung gestrebt. Jetzt nun bin ich Vorsteher der Gesellschaft der Schwestern und Brüder der Seligkeit.«

»Diesen Galimatthias mag der Kukuk verstehen; ich begreife kein Wort davon. Erkläre Dich deutlicher!«

»Das werde ich thun, denn meine Seele dürstet, auch Euch zu retten und einzuführen in die Secte der wahrhaft Frommen.«

»Bleibe mir mit Deiner Secte vom Leibe! Ich beginne zu begreifen, daß Du Vorsteher einer frommen Gesellschaft bist?«

»Es ist die Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit.«

»Aha! Es sind auch Schwestern dabei? Gratulire!«

»Du redest, wie die Kinder der Menschen reden. Ich verzeihe es Dir, denn die Herzen meiner Brüder sind voller Milde und Erbarmen. Sie haben von der Noth vernommen, welche in dieser Gegend herrschen soll, und eine Sammlung zum Besten der Unglücklichen veranstaltet. Ich komme mit sechstausend Gulden, um sie zu vertheilen unter Die, welche einer solchen Gabe am Würdigsten sind.«

Der Kaufmann lachte.

»Der Würdigste bist jedenfalls Du selbst!« sagte er. »Also, sechstausend Gulden? Hm! Darüber werden wir noch zu sprechen haben. Vorerst aber muß ich wissen, ob Du auch im Auftrage des Barons kommst.«

»Ja, auch er sendet mich.«

»In welcher Angelegenheit?«

»In der Angelegenheit jenes Sohnes Belials, welchen ihr hier den Waldkönig nennt.«

»Ich bitte Dich um aller Welt willen: Laß diese frommen Ausdrücke bei Seite, wenigstens so lange, als Du Dich bei mir befindest! Wir kennen uns und brauchen uns nicht zu verstellen. Wenn Belial wirklich einen Sohn hat, so bist Du es! Verstanden?«

Der Fromme schlug die Augen zum Himmel auf, machte eine Geberde des Abscheues und rief:

»Herr, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun! Ich werde mich wahrhaftig gezwungen sehen, zu sprechen ganz so, wie die Kinder der Sünde zu sprechen pflegen. Aber sage mir, wie es kommt, daß Dein Name ›Seidelmann und Sohn‹ an Deiner Thür zu lesen ist? Das ist doch ganz so, als ob Du Kauf-oder sonst ein großer Geschäftsmann geworden seist.«

»Das ist auch der Fall.«

»Kaufmann?«

»Man könnte so sagen. Was ich bin, das wird hier in dieser Gegend eigentlich Verleger genannt.«

»Dieses Wort verstehe ich nicht.«

»Ich werde es Dir erklären. Es giebt große Fabrikanten, deren Geschäft ein so bedeutendes ist, daß sie gar nicht Zeit finden, direct mit ihren Arbeitern zu verkehren. Sie engagiren also Mittelspersonen.«

»Ah, das sind die Verleger?«

»Ja.«

»Ein solcher bist auch Du?«

»Ja. Es giebt hier Weber zu Tausenden. Sie finden in dieser Gegend keine Arbeit. Ich habe mich nun mit mehreren Fabrikanten in Verbindung gesetzt; diese senden mir das Material und die Muster und bezahlen mir pro Stück ein bestimmtes Arbeitslohn. Ich engagire die Arbeiter und behalte dafür von dem Lohne eine Kleinigkeit für mich.«

»Wie viel beträgt die Kleinigkeit?«

»Bekomme ich pro Stück zehn Gulden, so erhält der Arbeiter vier, höchstens fünf.«

»Welch ein Sündengeld! Du bist werth, ersäufet zu werden im Meer, da es am tiefsten ist!«

»Bekomme ich ferner pro Stück vierzig Pfund Garn für den Arbeiter, so erhält dieser Letztere nur fünfunddreißig. Er muß davon das Stück liefern. Reicht das Garn bei ihm nicht aus, so kommt er zu mir, um zu kaufen, was er nöthig hat!«

»Ich sehe den Mühlstein bereits an Deinem Halse hängen!«

Der Kaufmann zog eine selbstgefällige Miene und antwortete:

»Ehe ich ertrinke, mußt vorher erst Du ersoffen sein. Aber horch, man klopft! Das Essen ist aufgetragen. Komm! Wir dürfen nicht warten lassen!«

Sie begaben sich in das Nebenzimmer. Wie ganz anders sah es da aus als am Mittag bei dem armen Hauser! Dort hatte es nur schlechte Kartoffeln mit Salz gegeben. Hier erfüllten Wohlgerüche das Zimmer, und die Tafel brach fast unter dem Reichthume der Delicatessen, welche aufgetragen waren.

»Komm und lange zu!« nöthigte der Kaufmann.

Da aber zog sein Bruder ein frommes Gesicht, faltete die Hände und sagte:

»Laßt uns vorher beten!«

»Mache hier keine dummen Witze!« rief Seidelmann. »Das Beten ist für die armen Teufel und für die reichen Heuchler. Mir aber kommst Du nicht damit! Setze Dich und haue ein!«

Der Fromme schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte:

»Eigentlich müßte Dir ja jeder Bissen zu Galle, Gift und Opperment werden. Du bist schlimmer als ein Heide und Götzendiener; aber Gottes Sonne geht ja auch auf über Gerechte und Ungerechte. Es sei Dir verziehen!«

Nun schwelgten Die, welche den hungernden Arbeiter um den größten Theil seines Lohnes betrogen, in Genüssen, von denen der Ärmste kaum die Namen zu nennen gewußt hätte. Kostbarer Wein wurde getrunken. Die Tafel währte, bis die Dämmerung hereinbrach. Unten standen die Arbeiter, um die Früchte ihrer Anstrengung zu bringen und den ärmlichen Lohn in Empfang zu nehmen. Sie mußten warten, bis es Fritz Seidelmann gefiel, sich ihrer zu erinnern.

Auch Eduard Hauser befand sich unter ihnen. Er hatte seine vier Stück Kleiderstoff gebracht und zählte die Sekunden. Die Seinen hatten weder Feuerung, noch Speise oder Licht.

Endlich kam der Kaufmannssohn. Er expedirte zuerst die Anderen und ließ Eduard bis zuletzt warten. Er wußte es so einzurichten, daß die Stoffe desselben neben das Stück zu liegen kamen, welches Hofmann gebracht hatte. Er vertauschte dasselbe so geschickt, daß Eduard gar nichts bemerkte, und prüfte es dann. Seine Stirn zog sich dabei in tiefe Falten.

»Was ist denn das?« sagte er. »Ich glaube gar, hier ist ein Fadenbruch!«

Eduard erschrak.

»Ein Fadenbruch?« fragte er. »So Etwas ist ja bei mir noch gar nicht vorgekommen.«

»Und doch ist einer hier, und was für einer!«

»Das ist ganz unmöglich, Herr Seidelmann!«

Der Kaufmann warf ihm einen strengen, verweisenden Blick zu und sagte in erhobenem Tone:

»Denken Sie etwa, ich habe keine Augen? Und warum sollte es so sehr unmöglich sein?«

»Weil ich die Stücke vorher ganz genau durchgesehen habe.«

»So schauen Sie her? Hier!«

Er hielt ihm den Fehler vor die Augen. Eduard nahm den Stoff in die Hand, prüfte ihn, besah sich die Arbeit und sagte dann: »Herr Seidelmann, dieses Stück ist nicht von mir!«

»Ah! Wieso? Von wem denn sonst?«

»Ich kenne meine Arbeit und auch diejenige meines Vaters!«

»Wollen Sie etwa sagen, daß Sie diese vier Stück gar nicht gebracht haben?«

»Das nicht. Aber ich weiß wirklich nicht, was ich denken soll!«

»Desto besser weiß ich, was ich von Ihnen denken soll! Wissen Sie vielleicht, welchen Werth ein solches Stück hat?«

»Wohl über dreißig Gulden!«

»Ja, sechsunddreißig Gulden. Sie haben es verdorben. Sie müssen Schadenersatz leisten. Das Stück werde ich nicht los. Es gehört Ihnen; es ist Ihr Eigenthum, und dafür bezahlen Sie mir jetzt die sechsunddreißig Gulden!«

Dem armen Weber war es, als ob er einen Keulenschlag erhalten hätte.

»O Gott, sechsunddreißig Gulden!« sagte er. »Ich habe ja nicht einmal soviel Kreuzer in meinem Vermögen!«

»Das wird sich finden. Vorerst aber will ich die drei anderen Stücke prüfen!«

Er suchte und forschte. Er fand keinen Fehler. Da nahm er den Fadenzähler, ein Vergrößerungsglas, und setzte ihn auf den Stoff, um Kette und Einschuß zu prüfen.

»Ah!« sagte er. »Das ist nicht übel! Wieviel Schuß haben Sie pro Zoll zu liefern?«

»Fünfzig.«

»Und ich zähle nur fünfundvierzig! Das ist kein Kleiderstoff, das ist ein Lappen, ein Lumpen! Wer soll solches Zeug kaufen! Durch solche Arbeiter geht der Ruf der Firma verloren. Wie steht es, können Sie die sechsunddreißig Gulden bezahlen?«

»Nein.«

»Gut, so will ich das auf mich nehmen, um nur den Ärger los zu werden. Sie erhalten aber natürlich keinen Arbeitslohn, und Arbeit erhalten Sie auch nicht wieder.«

»Herr Seidelmann!«

»Was beliebt?«

»Wollen Sie mich und meine Familie unglücklich machen?«

»Was gehen mich Sie und was geht mich Ihre Familie an! Es ist mir völlig gleichgiltig, ob Sie glücklich sind oder nicht. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Arbeiten Sie besser. Basta, abgemacht! Adieu!«

Er drehte sich um, ging hinaus und ließ Eduard stehen. Diesem war es, als ob er träume. Er konnte gar nicht an die Möglichkeit Dessen, was er gehört hatte, glauben. Es gab hier nur ein Mittel: Er mußte mit Seidelmann, dem Vater sprechen. Er begab sich also nach dessen Zimmer und klopfte an.

»Herein,« wurde geantwortet.

Als er eintrat, saßen die beiden Brüder beisammen, und Fritz befand sich bei ihnen.

»Was wünschen Sie?« fragte der Vater streng.

»Ich wollte Sie ersuchen, sich doch gütigst einmal die –«

»Ah, die vier Stücke Kleiderstoff ansehen?« unterbrach ihn der Kaufmann rasch.

»Ja.«

»Das ist nicht nöthig. Mein Sohn hat mich bereits von dem Vorgefallenen unterrichtet. Seine Augen sind ebenso scharf wie die meinigen. Sie kommen noch sehr gut weg.«

»Aber, Herr Seidelmann, ich weiß von keinem Fadenbruch etwas, und ich gestehe, daß wir ohne einen Kreuzer sind und weder Feuerung noch Lebensmittel in dieser Kälte mehr besitzen!«

»Was geht mich das an! Arbeitet besser! Sie haben in vierzehn Tagen drei volle Stück fertig gemacht. Das ist unmöglich, wenn man sorgfältig arbeitet. Bei solcher Ueberstürzung muß ja die Lüderlichkeit fertig werden.«

»Herr Seidelmann, ich habe Tag und Nacht gearbeitet, weil Sie uns die hundertzwanzig Gulden gekündigt haben!«

»Weiß schon, weiß schon! Es bleibt bei der Bestimmung meines Sohnes. Sie erhalten keine Arbeit mehr. Und wenn bis Ende des nächsten Monats die gekündigte Summe nicht gezahlt wird, so nehme ich Ihrem Vater die Bude weg.«

»Mein Gott! Das wäre ja die reine Grausamkeit!«

Da erhob sich der Armenpfleger, streckte die Hände weit von sich und sagte:

»Herr, behüte mich in Gnaden! Das ist auch Einer von der Rotte Korah, Datham und Abiram! Er lästert die wahren Gläubigen und ärgert die Kinder der Gerechten. Hebe Dich von uns, sonst lasse ich Feuer und Schwefel regnen über dieses Gomorrha der Lüderlichkeit und des Leichtsinns!«

Eduard fühlte etwas, was nicht Abscheu allein, sondern auch Eckel war. Er ging. Es war ihm ganz wüst im Kopfe, und das Herz wollte ihm brechen. Unterwegs – er konnte nicht anders, er konnte nicht weiter, die Glieder wurden ihm so schwer – unterwegs setzte er sich in den tiefen Schnee, legte das Gesicht in die kalten, frierenden Hände und weinte wie ein Kind.

Er hätte da sitzen bleiben können die ganze Nacht. Vielleicht wäre die Starre des Frostes über ihn gekommen und hätte ihn einschlafen lassen auf Nimmererwachen. Aber da dachte er an die Seinigen, an die alten Eltern und auch an die kleineren Geschwister. Er raffte sich wieder empor und ging nach Hause.

Dort erzählte er, was ihm widerfahren war. Diese Nachricht brachte großen Schreck hervor. Die Mutter rang die Hände, und die Brüder und Schwestern weinten. Der Vater hatte wortlos zugehört: jetzt faltete er die Hände und sprach:

»Auf, auf, gieb Deinem Schmerze

Und Sorgen gute Nacht!

Befiehl Gott, was das Herze

Betrübt und traurig macht!

Bist Du doch nicht Regente,

Der Alles führen soll;

Gott sitzt im Regimente

Und führet Alles wohl!«

 

Welch ein Unterschied zwischen diesem armen Weber, dessen Frömmigkeit ohne Falsch war, und jenem Heuchler, der Eduard mit Worten, der Heiligen Schrift entlehnt, die Thür gezeigt hatte.

»Du hast recht, Vater,« sagte die weinende Frau; »wir müssen uns auf Gott verlassen. Aber wird er selbst kommen, um uns Brod, Kohlen und Holz zu geben?«

»Brod haben wir nicht,« antwortete Hauser; »aber haben wir nicht noch Kartoffeln?«

»Nur einen ganz kleinen Rest noch.«

»So werden unsere Kinder heute nicht hungern. Koche sie!«

»Womit? Hier in der Stube ist es jetzt ebenso kalt wie draußen auf der Gasse!«

»Ich gehe zum Nachbarn Hofmann. Er wird mir einige Kohlen borgen. Giebt Gott dem reichen Baron von Helfenstein die Kohlen in solchen Mengen umsonst, so kann er auch mir einige Stückchen schenken, um dem Nachbar die Schuld zu bezahlen.«

Er nahm einen Korb und ging. Eduard wußte kaum, was er dachte und was er that. Die Stube mußte unbedingt geheizt werden. Der Nachbar hatte selbst nichts übrig. Für wenige Kreuzer Kohlen, wie lange konnten sie vorhalten? Der junge Bursche setzte seine Mütze wieder auf, holte sich die kleine Handsäge aus dem Gewölbe und schritt dann zum Städtchen hinaus dem Walde zu.

Was wollte er dort? Er gab sich keine bestimmte Rechenschaft darüber. Viele arme Leute gingen in den Wald, um ganze Körbe voll Lesholz heimzutragen. Aber das geschah im Sommer. Jetzt konnte man unter dem Schnee nicht suchen. Andere wieder gingen des Nachts hinaus, holten sich ganze Stämme und spalteten sich ihr Winterholz daraus. Auch jetzt gab es noch genug abgestorbene Bäumchen und Bäume, deren Holz trocken genug war, um sogleich als Feuerung verwendet werden zu können. Das gab Hilfe in der Noth.

Eduard erreichte den Wald. Er kannte eine junge Fichte, welche abgestorben war. Sie war nicht schwer zu finden, und bereits nach kurzer Zeit stand er vor ihr. Er handelte fast willenlos, ganz noch unter dem Einflusse des Geschehenen. Er kniete nieder, legte die Säge an und –»Herr, mein Heiland, was will ich thun!«

Der Ton, welchen die Säge erzeugte, als sie die dürre Rinde berührte, hatte ihn zu sich gebracht. Es war ihm, als ob er aus einem tiefen Schlafe erwache.

»Das ist ja Diebstahl,« murmelte er. »Forstdiebstahl der streng, sehr streng bestraft wird! Soll ich denn die Eltern und Geschwister noch elender machen, als sie bereits jetzt sind? Nein, ich stehle nicht, sondern ich will arbeiten!«

Er erhob sich aus der knieenden Stellung.

»Arbeiten?« fuhr er fort. »Ja, aber kann ich denn? Ich soll ja keine Arbeit mehr erhalten! Gut, so gehe ich in den Kohlenschacht. Ich werde morgen fragen, ob man mich annehmen will.«

Wenn der Mensch im Unglücke einen festen Entschluß faßt, so ist ihm bereits zur Hälfte geholfen. Eduard fühlte sich plötzlich ganz ruhig und voll Vertrauen. Er verließ den Ort, an welchem er beinahe zum Diebe geworden wäre.

Der Schnee leuchtete. Indem der junge Mann einem schmalen Waldpfade folgte, welcher nach dem offenen Wege führte, hörte er plötzlich Schritte vor sich. Er blieb überrascht, vielleicht sogar ein Wenig erschrocken stehen. Der ihm Begegnende that dasselbe. Hier unter den Bäumen fiel der Schnee nicht so dicht, als draußen im Freien. Die beiden erkannten sich sofort.

»Herr Förster.«

»Was? Hausers Eduard? Was thun Sie zu dieser Zeit und in diesem Wetter hier im Walde?«

»Das will ich Ihnen sagen, Herr Förster, ganz offen und ehrlich, wie es ist. Ich kam, um Holz zu stehlen. Hier sehen Sie die Handsäge. Aber als sie durch die Rinde zu schneiden begann, da war es mir gerade so, als ob es nicht durch den Baumstamm, sondern durch meine Seele gehe. Ich kehrte um.«

»Das ist doch gar nicht zu glauben! Hausers Eduard ein Holzdieb, das macht mir keiner weiß, wenn Sie es nicht selber wären, der es sagt. Das muß seine eigene Bewandtniß haben.«

»Die hat es auch. Hören Sie!«

Er erzählte sein heutiges Unglück. Der Förster war ein rauher Mann, aber unter seinem unnahbaren Äußeren verbarg er ein tiefes, wohlwollendes Gemüth. Er hörte den Worten Eduard’s schweigsam zu und sagte dann, als dieser geendet hatte: »Ja, ja, so ist es! Diese Seidelmann’s sind ein wahrer Segen für unsere Gegend. Es giebt weit und breit keine Concurrenz für sie, und so haben sie das Prä und die Dominatio in ihren ungewaschenen Händen. Es ist mit ihnen ganz dasselbe wie mit dem Kohlenbergwerk, bei welchem der Baron Franz von Helfenstein die Alleinherrschaft hat. Ein zweites Werk giebt es in der ganzen Gegend nicht; die Bewohner sind zu arm, um mit ihren meist zahlreichen Familien auszuwandern oder eine Gegend im Vaterlande, wo sie Arbeit finden könnten, aufzusuchen, auch hängen die braven Leute an ihrer Heimat, trotz des Elendes, an welchem sie da zu kauen haben, und so hat der Baron und der Seidelmann alle Welt in der Hand. Wem sie keine Arbeit geben, der muß entweder verhungern oder zu den Paschern gehen, und wem sein Lohn ohne allen Grund verkürzt werden soll, der muß es sich einfach gefallen lassen. Ich habe eine fürchterliche Liebe zu diesen Schuften. Sie allein sind Schuld an der immer mehr überhand nehmenden Verarmung. Sie allein haben es auf dem Gewissen, daß die Zahl der Schmuggler, der Wild-und Holzdiebe so auffällig wächst. Heiliges Hagelwetter, wie wollte ich mich freuen, wenn ich Gelegenheit fände, Einem von ihnen einmal Etwas am Zeuge zu flicken! Ich wollte, ich könnte ihnen sämmtliche Bäume meiner Forstungen um die Köpfe schlagen, aber Notabene, die Äste und Zweige dürften es nicht sein, sondern ich würde gleich die Stämme nehmen, gerade wie Rübezahl, welcher ja auch an solchen Herren seinen Narren gefressen hat! Wenn ich den Baron, den Zahlmeister vom Schachte oder einen Seidelmann sehe, so wird es mir allemal warm unter der Jacke, die Kaputze will mir vom Kopfe, und in den Fingern juckt es mich, als wenn ich in ein ganzes Feld voller Brennesseln gegriffen hätte! Der Teufel hole dieses Gesindel; aber nicht etwa fein säuberlich unter den Armen darf er sie anfassen, sondern er muß vierzigtausend Satane mitbringen, von denen jeder ein einzelnes Haar dieser Schufte in die Krallen nimmt! Und dann muß es durch die Luft gehen, hurr, hurr, hopp, hopp, hopp, gerade wie in dem Gedichte von der Lenore, welches der Schiller gemacht hat, oder der Beethoven oder der alte Schweppermann; ich weiß es nicht genau; kurz und gut, ein berühmter Kerl ist es gewesen. Auch Du sollst ihnen zum Opfer fallen, mein Junge. Du bist ein braver Kerl, ein guter Sohn und ein tüchtiger Arbeiter; das wissen wir Alle. Was Du heute geliefert hast, ist jedenfalls tadellos gewesen; aber wer weiß, welchen Grund dieser Seidelmann hat, Dich in das Elend zu stürzen. Hast Du ihn einmal beleidigt?«

»Nie! Wenigstens weiß ich nichts davon.«

»Oder bist Du ihm irgendwie im Wege?«

»Wie sollte das der Fall sein! Sein Weg ist ja ein ganz anderer, als der meinige.«

»Das ist wahr. Aber einen Grund hat er jedenfalls. Vielleicht wirst Du ihn noch erfahren. Was aber gedenkst Du anzufangen? Ein Spitzbube wärest Du beinahe geworden. Ein Glück, daß der Grund und Boden bei Dir so gut bearbeitet ist! Da kann moralisches Unkraut nicht gut haften. Oder willst Du unter die Pascher gehen?«

»Das fällt mir nicht ein, Herr Förster. Ein Verbrecher werde ich nicht. Lieber verhungere ich. Ich habe mir vorgenommen, morgen früh zum Obersteiger zu gehen. Vielleicht giebt er mir Arbeit.«

»Kohlenarbeiter willst Du werden Junge?«

Der alte, biedere Mann pflegte erwachsene Burschen, wie Eduard einer war, wohl mit »Sie« anzureden; hier aber ging ihm die Sprache mit dem guten Herzen durch und mit dem Interesse, welches er für diesen Fall hegte.

»Ja; es bleibt mir doch nichts Anderes übrig,« antwortete der Gefragte.

»Aber Du wirst nur als Anfänger bezahlt werden, das heißt, schlecht genug, da Du von der Sache noch nichts verstehst!«

»Das muß ich mir allerdings gefallen lassen. Besser ist es immer, wöchentlich wenig zu verdienen, als monatlich gar nichts.«

»Hm! Auch das ist richtig. Es freut mich, daß Du aus eigenem Antriebe heute von dem falschen Wege wieder abgewichen bist, und darum möchte ich mich gern Deiner annehmen. Leider aber habe ich dazu gar keine Gelegenheit. Im Winter wird im Revier nicht gearbeitet; Personal habe ich übergenug. Es geht nicht, beim besten Willen nicht! Also Holz wolltest Du holen? Habt Ihr etwa kein Brennmaterial?«

»Gar keines. Der Vater ging vorhin zum Nachbar Hofmann, um sich ein Bischen Holz und ein paar Stücke Kohlen zu borgen.«

»Zu dem? Hm! Dem steht auch der Kopf höher, als Du denkst und als er Veranlassung hat. Er scheint bei dem Seidelmann in einiger Gunst zu sein, und das treibt ihm die Nase aufwärts. Ich möchte nicht bei ihm borgen. Und wie steht es denn mit der Nahrung bei Euch? Was habt ihr heute Mittag gegessen?«

»Kartoffeln?«

»Und was dazu?«

»Salz. Die Mutter hat es über dem Feuer gebräunt.«

»Ah, kenne das! Es muß einen schärferen Geschmack bekommen, damit man die seifigen, ungesunden Kartoffeln hinunter bringt. So ist die Nahrung unserer armen, braven Bevölkerung beschaffen. Kein Wunder, daß dann die Haut um die Knochen schlingert und das Blut eine Schärfe erhält, welche am Leben frißt! Und heute Abend? Was habt ihr da auf dem Tische?«

»Nichts. Die Mutter wollte nachsehen, ob noch einige Kartoffeln vorhanden seien.«

»O weh! Da hat der Magen schon zu Fastnacht Osterferien! Ist das ein Elend! Wer ist Schuld daran? Die Regierung etwa? Die thut Alles, was sie thun kann. Aber die Blutsauger, die Vambeeren oder Vampiren oder wie sie heißen, die sind Schuld daran! In unserer Gegend sollte es auch einen solchen Fürsten des Elendes geben wie in der Residenz!«

»Einen Fürsten des Elendes? Was ist das?«

»Wie? Du hast noch nichts von diesem Prachtkerl gehört?«

»Kein Wort!«

»Hm, ja! Ihr schindet Euch von Morgens bis Abends und oft auch wieder von Abends bis früh Morgens mit Eurer Arbeit und habt keinen Augenblick Zeit, Euch um das zu bekümmern, was draußen vorgeht. In der Residenz ist nämlich eine geheimnißvolle Person aufgetaucht, welche überall da zum Vorschein kommt, wo ein armes Menschenkind mit Noth und Sorge ringt. Diese Person bringt dem Unglücklichen Hilfe und verschwindet dann wieder. Kein Mensch weiß, wer der Mann ist. Er scheint allwissend und allgegenwärtig zu sein. Wer den Namen ›Fürst des Elendes‹ aufgebracht hat, das kann Niemand sagen, aber bezeichnend ist er ganz und gar. So einen Engel sollten wir hier haben! Na, ich sehe, Du zitterst vor Frost. Das ist kein Wunder: Nichts auf dem Leibe und nichts im dem Magen. Komm, Bursche! Wenn wir wacker durch den Schnee stampfen, wird Dir’s wärmer werden.«

Er schickte sich an, weiter zu gehen, aber nicht in der Richtung des Städtchens, sondern in derjenigen, welche nach dem Forsthause führte. Deßhalb sagte Eduard: »Dann gute Nacht, Herr Förster. Sie wollen mich also nicht zur Anzeige bringen?«

Der Alte hielt seine Schritte an und antwortete:

»Zur Anzeige? Mensch, für wen oder was hältst Du mich? Denkst Du etwa, ich hätte kein Herz unter dem Kamisole? Hätte ich Dich mit dem Stamme getroffen, den Du glücklicher Weise stehen gelassen hast, weiß Gott, ich hätte Dich aus Pflicht, anzeigen müssen, so leid es mir in tiefster Seele gewesen wäre; aber Du bist nicht zum Spitzbuben geworden, und so kann es mir gar nicht einfallen, Dich noch tiefer in das Elend zu stürzen. Und von wegen dem ›Gute Nacht, Herr Förster‹, das laß nur fein sein! Ich selbst bin auch nur ein armer Teufel; ich habe außer einigen Deputaten nur dreihundert Gulden Gehalt und ein Stückchen armes Feld, aber es wächst doch immer Einiges darauf, und für eine brave Familie, welche hungern und frieren soll, liegt gern ein Stückchen Brod in meinem Schranke!«

Eduard fühlte sich tief gerührt, und dennoch sagte er zögernd:

»Herr Förster –«

»Was denn, was?«

»Das Betteln ist uns noch niemals in –«

»Halte den Schnabel, Junge!« fiel ihm der Alte schnell und polternd in die Rede. »Was kommt Dir in den Sinn! Habe ich Dich und die Deinen jemals als Bettler, Strolche und Lumpen betrachtet? Mach keine Spinnefixereien! Wir Menschen sollen keine Steine sein, sondern eben Menschen. Wir sollen einander aus der Noth helfen. Der Heiland hat aus sieben Brocken fünfhundert Brode gemacht, oder waren es gar fünftausend, nämlich dort am See Elisabeth oder Nazareth; das bringe ich nun zwar nicht fertig, aber ich kann aus Broden Brocken machen, und einen davon sollst Du mit nach Hause nehmen. Also komm, und vorwärts marsch!«

Er ging voran, und Eduard folgte ihm. Wie war dem Letzteren sein Herz, welches vorher so schwer gewesen war, so leicht geworden! Er hatte die Versuchung überwunden, und der Lohn war sofort gefolgt: Er hatte die Verheißung, den hungernden Seinen eine Speise mitbringen zu können.

Als sie an die Stelle gelangten, wo der schmale Waldpfad auf die breitere Fahrstraße mündete, welche an dem Forsthause vorüber führte, blieb der Alte lauschend stehen und sagte: »Horch! Hörst Du Etwas?«

»Ja; Schellengeläute.«

»Richtig! Da unten kommt ein Schlitten. Zu dieser Zeit und bei diesem Schnee! Das ist selten. Na, Pascher werden es nicht sein, denn die hängen keine Schellen und Klingeln an die Pferde.«

Sie schritten weiter. Die Straße ging bergan; dennoch wurden sie von dem Schlitten sehr bald eingeholt. Es schien ein Extrapost-Fuhrwerk zu sein. Der Kutscher hielt an und sagte: »Guten Abend, Leute! Sind Sie hier bekannt?«

»Das will ich meinen,«, antwortete der Förster.

»Nicht war, diese Straße führt nach dem Forsthause?«

»Ja.«

»Wie weit ist es noch bis dahin?«

»Wollen Sie etwa nur bis zur Försterei?«

»Ja. Dieser Herr will zum Förster Wunderlich.«

»Zum alten Wunderlich? Der bin ich ja selber!«

Als der tief in Pelzwerk gehüllte Herr, welcher im Schlitten saß, dies hörte, schlug er den Kragen vorn auseinander, so daß er sprechen konnte, und sagte: »Sie selbst sind der Herr Förster? Das ist mir sehr angenehm. Sind Sie vielleicht auf dem Heimwege begriffen?«

»Ja. Hier ist’s kalt und zugig, und meine Alte wird mir eine warme Suppe in den Kachelofen gestellt haben.«

»Darf ich mich zu dieser Suppe einladen?«

»Warum nicht, Herr? Löffel haben wir genug, und wenn der Suppentopf etwa nicht sehr groß sein sollte, so wird Wasser zugegossen, dann wird’s wohl ausreichen.«

»Schön! Wie lange fahren wir noch?«

»Nur fünf Minuten.«

»So steigen Sie mit ein!«

»Danke! Ich kann laufen. Die Straße ist steil und der Schnee tief; ich will die Pferde nicht maltraitiren.«

»Die sind kräftig genug. Steigen Sie nur Beide ein!«

Der Fremde lüftete die Schlittendecke, und so meinte der Alte:

»Na, wie Sie wollen! Ich habe warme Stiefel an und kann mich hinten auf die Pritsche setzen. Dieser Bursche aber hat seine Sommerhosen an. Nehmen Sie ihn hinein, wenn Sie wollen.«

Eduard zögerte; aber der Fremde faßte ihn beim Arme und zog ihn hinein. Der Förster stieg hinten auf, und nun setzte sich der Schlitten wieder in Bewegung. Da wendete sich der Herr nach rückwärts und sagte: »Sie werden sich wundern, was so spät ein Reisender bei Ihnen will!«

»Hm, ich werde es wohl erfahren.«

»Allerdings. Doch warten wir, bis wir bei Ihnen sind.«

Die fünf Minuten vergingen, und nun sahen sie, nur ein klein Wenig abseits der Straße, das Forsthaus unter hohen, mit Schnee beschwerten Tannen, stehen. Der Kutscher lenkte hinüber, und noch ehe sie anhielten, öffnete sich die Thür, unter welcher eine behäbige Frauengestalt erschien, eine Laterne in der Hand haltend.

»Guten Abend, Bärbchen!« grüßte der Förster. »Hat Dich das Schellengeläute heraus gezogen? Ja, Du hast wohl nicht gedacht, daß Dein Alter heute so vornehm mit Extrapost ankutschirt kommt!«

Sie trat auf die Stufen heraus und antwortete:

»Das habe ich freilich nicht gedacht; aber die Extrapost habe ich doch erwartet.«

»Du?« fragte der Förster erstaunt. »Was hast denn Du mit solchen Extragelegenheiten zu schaffen?«

»Gerade als Du fort warst, brachte ein Lohnfuhrmann aus der Stationsstadt zwei Koffer und sagte, daß der Herr, dem sie gehören, mit Extraschlitten nachkommen werde.«

Der Alte warf einen Blick auf den Fremden, welcher soeben hinter Eduard ausgestiegen war, und sagte:

»Da ahnt und schwant es mir, daß Sie der Besitzer dieser Koffer sind.«

»Ich bin es. Doch bitte, lassen Sie uns vor allen Dingen eintreten!«

»Halt!« rief da Wunderlich. »Sie sehen aus wie ein vornehmer Herr. Vielleicht sind Sie Kaufmann oder so Etwas, und mein Haus liegt nahe bei der Grenze. Sie haben zwei Koffer mit. Sollte es sich etwa um eine Schmuggelei handeln, so muß ich mich sehr verwahren. Meine Thür steht einem jeden braven Kerle offen; aber wenn Sie in solcher Absicht kommen, so nehmen Sie nur gleich die Beine wieder unter die Arme!«

»Alter, Alter!« warnte seine Frau in bittendem Tone.

»Keine Sorge!« fiel der fremde Herr ein. »Ich komme in der ehrlichsten Absicht von der Welt. Sie brauchen mich nicht von sich zu weisen.«

Er gab dem Postillon ein Trinkgeld. Dieser mochte fühlen, daß es ein sehr ungewöhnliches sei und machte ein außerordentliches Honneur. Dann trat er mit seinem Schlitten den Rückweg an.

»Sie sehen, mein lieber Herr Förster, daß ich die Schiffe hinter mir verbrenne,« sagte der Fremde. »Ich kann nun nicht retour, und Sie müssen mir wohl oder übel den Zutritt gestatten.«

»Wenn Sie wirklich nicht in der erwähnten Absicht kommen, dann von Herzen gern. Gehen Sie voran!«

Die Försterin leuchtete ihnen durch den dunklen Flur in die Wohnstube. Diese war niedrig; die Wände bestanden aus Holztäfelwerk, und die Möbels waren beinahe mehr als einfach; aber alles glänzte vor Sauberkeit, und der alte, riesige Kachelofen, welcher in der Ecke stand, strahlte eine angenehme Wärme aus.

Der Förster gab dem Fremden die Hand und meinte in seiner biederen, treuherzigen Weise:

»Willkommen also, Herr! Legen Sie das Pelzwerk ab, und machen Sie es sich bequem! Mutter, hast Du mir meine Suppe aufgehoben?«

»Wie sollte ich nicht,« antwortete sie, indem sie geschäftig nach dem Ofen eilte. »Du siehst ja die Schüssel, den Teller und den Löffel dort auf dem Tische!«

»Aber halt! Langt sie denn für uns Drei?«

Da wendete sie sich schnell um, machte ein höchst zweifelhaftes Gesicht und sagte:

»Hm! Für Drei? Das möchte ich bezweifeln!«

Der Fremde hatte Pelz und Hut an den Nagel gehängt. Jetzt drehte er sich um und meinte lächelnd:

»Bitte, meinetwegen keine Umstände! Ich bin nicht hungrig, und ehe ich daran denken kann, mich mit an Ihren Tisch zu setzen, muß ich mich doch erst Ihnen vorstellen, damit Sie erfahren, wer es ist, den es Ihnen so unerwartet in die Stube schneit. Gehört dieser junge Mann zu den Bewohnern Ihres Hauses?«

»Nein. Ich bin ihm zufälliger Weise begegnet und habe nur ein Kleines mit ihm abzumachen.«

»So besorgen Sie das vorher. Ich habe keine Eile.«

»Das ist mir recht, denn den Eduard möchte ich nicht warten lassen. Hunger thut weh!«

Da schlug die Försterin die Hände zusammen und fragte:

»Hunger? Herr Jesus! Sind denn die Hauser’s in Noth?«

»Ja, meine Alte. Setzen Sie sich nieder. Setze auch Du Dich nieder, mein Junge. Weißt Du, Bärbchen, seine Leute haben nichts zu essen und auch nichts zu feuern. Da ist in der Noth ihm der Gedanke gekommen, in diesem Wetter und bei diesem Schnee in den Wald zu gehen, um ein Wenig Holz zu holen. Der brave Junge ist aber wieder umgekehrt. Er hat sich doch gesagt, daß er kein Recht an dem Holze hat, und da hat er lieber frieren wollen. Was ist da zu thun, liebes Bärbchen?«

»Ja, da muß doch schleunigst geholfen werden!« antwortete die Försterin. »So brave Leute darf man doch nicht sitzen lassen. Aber, ist denn heute nicht Lohntag gewesen?«

»Der ist allerdings gewesen. Der Eduard hat sich Tag und Nacht geschunden, aber der Seidelmann, der jedenfalls irgend einen Pick auf ihn hat, hat seine Arbeit getadelt, ihm das Geld verweigert und ihn dann sogar abgelohnt. Er hat seinem Vater auch die Hypothek gekündigt. Ist das nicht ein Elend, he?«

»Ein großes sogar! Was soll da werden?«

»Der Eduard will zum Obersteiger und ihn um Beschäftigung bitten. Das wird auch nicht viel abwerfen, weil er kein gelernter Bergmann ist. Aber hier giebt es ja nichts Anderes. Der Obersteiger ist kein schlechter Kerl; er hält Etwas auf mich, und so werde ich morgen früh ein gutes Wort einlegen. Jetzt aber schütte dem Eduard die Suppe aus! Er hat’s am Nöthigsten, und ich und der Herr hier werden schon Etwas für uns finden.«

Die Försterin folgte schleunigst dieser Aufforderung. Eduard mußte sich wohl oder übel an den Tisch setzen und zulangen. Unterdessen zog der Fremde, welcher es sich in einer Weise, als ob er hier zu Hause sei, auf dem Kanapee bequem gemacht hatte, eine Cigarre heraus, welche er sich anbrannte. Er bot auch dem Förster eine an; dieser aber meinte: »Danke, Herr! Mit diesen Dingern habe ich mich nie befreunden können. Es ist, als steckte man einem Eisbären eine Nähnadel in das Maul. Ich bleibe bei meiner Pfeife. Aber, komm her, Alte! Wollen einmal sehen, was wir für den Eduard finden. Hast Du noch Brod?«

»Ich habe ja erst gestern gebacken!«

»So gieb ihm eines!«

»Nicht lieber zwei? Das eine ist ja morgen schon alle!«

»Gut, Bärbchen, gut! Hast Du Mehl?«

»Natürlich!«

»Gieb ihm ein Pfündchen oder zwei. Kaffee?«

Da machte die Försterin eine Bewegung der Ungeduld und sagte:

»Warum so einzeln aufzählen? Ich werde ihm zusammensuchen, was er braucht.«

»Schön! Wir geben ihm den Handschlitten mit. Da mag er sich Holz, Reißig und einen Sack Kohlen aufladen. Es geht ja bergein nach der Stadt; da braucht er sich nicht anzustrengen.«

Diese Unterredung war mit gedämpfter Stimme geführt worden, so daß Eduard nichts davon hörte; da aber das Sopha näher stand, hatte der Fremde jedes Wort vernommen.

Dieser machte, wie der Förster bereits draußen vor der Thür bemerkt hatte, ganz den Eindruck eines vornehmen Mannes. Er mochte über sechzig Jahre zählen und hatte graues Haar. Der Alte setzte sich an seine Seite und sagte gutmüthig: »Sie müssen schon verzeihen! Der Junge mag sich erst satt essen; dann kommen wir auch an die Reihe.«

»Sie handeln ganz nach meiner Weise. Er ist also der Sohn von braven Eltern?«

»Das will ich meinen!«

Und nun machte der Förster den Fremden in gedämpftem Tone mit den Verhältnissen der Familie Hauser bekannt. Dabei kam natürlich der Name Seidelmann öfter in Erwähnung, und der Förster mußte auch über die letztere Familie Auskunft geben. Er war in Wärme gerathen; er schilderte die Noth ebenso beredt wie die Geschäftspraxis der Arbeitsgeber. Der Fremde hörte ihm mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit zu.

Da legte Eduard den Löffel weg. Das bewog den Förster, abzubrechen. Er stand auf und sagte:

»Na, komm einmal hinaus, mein Junge! Wir wollen sehen, was meine alte Barbara für Düten zusammengefunden hat!«

Eduard griff nach seiner Kopfbedeckung und nach seiner Säge, welche er neben sich liegen hatte und bot dem Fremden eine gute Nacht. Dieser aber trat rasch auf ihn zu und sagte: »Der Förster hat mir von Ihnen erzählt. Können Sie verschwiegen sein?«

»Wenn es sich um nichts Böses handelt, ja,« antwortete der junge Mann, sichtlich verwundert über die eigenthümliche Frage.

»So nehmen Sie hier dies Beides! Das Eine ist der Betrag Ihrer Schuld an Seidelmann, und das Andere soll speziell für Sie sein, weil Sie der Versuchung so tapfer widerstanden haben.«

Er zog seine Börse hervor, in welcher sich nur Goldstücke zu befinden schienen, griff zwei Mal hinein und drückte Eduard erst in die Rechte und dann auch in die Linke eine Anzahl dieser Stücke.

Der junge Mann vergaß vor freudigem Schreck, die geöffneten Hände zu schließen. Der Förster sah das Geld und rief:

»Herr, mein Heiland! Ist das Spaß oder Ernst, Herr?«

»Mein voller Ernst!« nickte dieser.

»Können Sie denn so ein Heidengeld mir nichts Dir nichts fortgeben?«

»Ich thue mir keinen Schaden dabei.«

»Juchhe! Eduard, haben wir nicht vorhin von dem Fürsten des Elendes gesprochen? Gerade so macht es dieser Herr! Na, Gott sei getrommelt und gepfiffen! Der Seidelmann bekommt seine Hypothek; für Dich bleibt auch noch übrig, und morgen früh rede ich mit dem Obersteiger! Ich denke, daß er Dir mir zu Liebe Arbeit geben wird. Siehst Du, daß der alte Herrgott noch lebt!«

Jetzt gewann auch Eduard die Sprache wieder. So viel Geld hatte er noch nicht in seinen Händen gehabt. Für seine armen Verhältnisse war es eine große Summe.

»Herr, es kann Ihr Ernst nicht sein!« sagte er, indem seine Stimme hörbar bebte.

»Es ist mein Ernst. Nehmen Sie das Geld in Gottes Namen! Ich bin nicht arm; ich kann es geben. Aber ich stelle die Bedingung, daß Sie schweigen. Niemand als Ihr Vater darf erfahren, von wem Sie es haben; selbst Ihre Mutter darf es nicht wissen, denn Frauen sind in Beziehung auf ihre Verschwiegenheit nicht immer besonders zuverlässig.«

»Aber, Herr, warum soll Niemand erfahren, welche Wohlthat Sie uns erweisen?« fragte Eduard, dem die Thränen des Glückes in die Augen zu treten begannen.

»Das werde ich Ihnen wohl einmal später sagen; denn ich denke, daß wir uns jetzt zwar zum ersten, nicht aber zum letzten Male sehen und sprechen!«

»Und wie soll ich meinem Vater antworten, wenn er mich fragt, wer unser Wohlthäter ist?«

»Sagen Sie ihm, daß ich ein Vetter des Försters bin, bei dem ich einige Tage zu Besuche bleibe.«

Wunderlich trat einen Schritt zurück und machte große Augen, sagte aber nichts. Eduard steckte das Geld ein, ergriff beide Hände des Gebers und sprach, indem ihm die Thränen in großen Tropfen über die Wangen rannen: »Herr, ich weiß vor Glück und Erstaunen nicht, was ich sagen soll! Sie retten eine arme Familie aus großer Noth. Gott hat Sie uns gesandt, wie er früher seine Engel sendete. Kann ich Ihnen einen Dienst erweisen, so soll es mit tausend Freuden geschehen! Ich würde für Sie sogar durch das Feuer gehen!«

»Nun, vielleicht ist es möglich, daß Sie mir dankbar sein können. Jetzt aber gehen Sie! Wer Glück bringt, der soll es so eilig wie möglich bringen.«

Der junge Mann ging mit dem Förster hinaus. Der Fremde hörte an der lauten, verwunderten Stimme der Försterin, welche Letztere sich in der Küche befand, daß die Beiden ihr das Geschehene erzählten. Er stieß einen Seufzer aus und sagte: »Wahrlich, Geben ist seliger als Nehmen! Die Heilige Schrift hat vollständig Recht!«

Er setzte sich wieder auf das Kanapee und blieb da in tiefe Gedanken versunken, bis der Förster mit seiner Frau eintrat.

»Herr, Sie sind da wirklich wie ein Engel gekommen, ganz so wie der Junge sagte,« meinte der Erstere. »Sie sind ein braver Mann und ein nobler dazu. Aber was Sie da von dem Vetter erzählten, hm, wir Beide, nämlich ich und das Bärbchen da, wir haben uns fast den Kopf zerbrochen, doch vergeblich.«

»Nun, worüber habt Ihr Euch denn den Kopf zerbrochen, Ihr guten Leute?«

»Ueber diesen verteufelten Vetter! Nämlich, meine Frau ist ein Waisenkind ohne alle Verwandtschaft, und auch ich kann in alle meine Töpfe gucken, ohne einen Menschen zu finden, der mein Vetter sein könnte. Ich bin nämlich ein Findelkind.«

»So, so! Nun, ich bin allerdings nicht mit Ihnen verwandt; ich mußte aber doch auf die Frage eine Antwort geben, und da hier kein Mensch wissen darf, wer ich bin, so habe ich mich ganz einfach für Ihren Vetter ausgegeben. Ich hoffe, daß dies mich bei den hiesigen Leuten legitimiren wird.«

»Das wohl; aber, hm! Nehmen Sie es mir nicht übel, aber bei den hiesigen Verhältnissen ist man sehr zur Vorsicht gezwungen. Wenn sich Einer für meinen Vetter ausgiebt, so möchte wenigstens ich wissen, wer er ist und aus welchem Grunde er sich mit meiner Verwandtschaft befaßt.«

»Da haben Sie sehr Recht. Ich werde Ihnen gern Rede stehen. Ist dieser Eduard Hauser bereits fort?«

»Ja. Er machte ein Gesicht, als wolle er mit dem Handschlitten, den ich ihm voll Brennmaterial geladen habe, geradezu gen Himmel fahren.«

»Aus welchen Personen bestehen Ihre Hausgenossen?«

»Wir haben nur Zwei bei uns, den Försterburschen und einen alten Waldläufer.«

»Wo befinden sie sich?«

»Sie sind bereits schlafen gegangen, weil sie früh bei Zeiten in den Wald müssen.«

»So können wir sicher sein, nicht belauscht zu werden?«

»Sapperlot, das klingt ja außerordentlich geheimnißvoll! Der Bursche schläft wie ein Ratz; ihn brächten zehn Pferde jetzt nicht aus den Federn. Und der Alte, der schläft zwar leiser, aber dem fällt es im ganzen Leben nicht ein, seine Herrschaft zu bespioniren. Der ist eine höchst treue und ehrliche Haut.«

»So will ich also aufrichtig sein. Sie werden sich wundern, wie ein völlig fremder Mensch mit zwei Koffern um diese Zeit seinen Einzug bei Ihnen halten kann; aber ich will zu meiner Entschuldigung sagen, daß ich von einem Manne geschickt werde, welcher behauptet, ein sehr guter Freund von Ihnen zu sein.«

»Ein sehr guter? Hm! Ich bin in meinem ganzen Leben mit dem Worte Freund nicht sehr freigebig gewesen. Die Menschheit ist es nicht mehr werth. Mein liebster Freund ist mir hier mein altes Bärbchen. Es giebt hier wohl auch Viele, sehr Viele, die mir gewogen sind, aber Freund, und noch dazu ein sehr guter Freund, da giebt es wirklich nur einen Einzigen, den ich so nenne.«

»Darf ich fragen, wer das ist?«

»Warum nicht! Es ist der alte Brandt, der früher Förster in Helfenstein war.«

»Jetzt wohnt er in der Residenz?«

»Ja, ja. Kennen Sie ihn?«

»Sehr gut. Er ist jetzt Portier oder so Etwas beim Fürsten von Befour. Das heißt, er hat die Aufsicht über den Eingang, welcher durch ein Häuschen der Siegesstraße nach dem Garten des fürstlichen Palais führt, welches in der Palaststraße liegt.«

»Stimmt, stimmt! Waren Sie dort?«

»Jawohl!«

»Ich auch. Vor einigen Wochen überkam mich eine ungeheure Sehnsucht nach meinem alten Brandt, und wahrhaftig, ich habe meine Alte im Stiche gelassen, um auf vier Tage nach der Residenz zu gehen. Also, der hat Sie geschickt?«

»Ja. Er sagte mir, daß Sie mir die Thüre nicht weisen würden, wenn er mich zu Ihnen sendete.«

»Richtig! Fällt mir gar nicht ein! Willkommen und abermals willkommen, Herr! Hast Du die Koffer in das Stübchen schaffen lassen, Barbara?«

»Sogleich, als sie ankamen.«

»Und auch Alles hübsch vorgerichtet? Den Ofen feuern lassen?«

»Natürlich, Alter!«

»Nun, so laufe geschwind und sieh nach, ob es noch etwas Eßbares im Hause giebt, oder ob der Eduard Alles mitgenommen hat! Sie müssen nämlich wissen, daß mein Bärbchen das Letzte hingeben kann, wenn sie sieht, daß sich Jemand in der Noth befindet.«

Die Försterin wollte sich entfernen; der Fremde aber fiel schleunigst ein:

»Halt! Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich nicht hungrig bin, und wenn es bei Ihnen mit dem Abendbrode nicht ganz und gar eilt, so möchte ich Ihnen erst sagen, warum ich zu Ihnen gekommen bin.«

»Wenn Sie nicht anders wollen, nun, mein Hunger ist auch nicht riesig. Also, haben Sie einmal geladen, so schießen Sie auch los!«

»Setzen Sie sich hier neben mich. Das Kanapee ist groß genug, für uns Drei.«

Der Förster warf seiner Frau einen Blick zu, welcher seine ganze Befriedigung darüber aussprach, daß dieser vornehme Herr mit ihnen auf dem gleichen Platze sitzen wollte. Sie ließen sich neben ihm nieder, und als das geschehen war und der alte Wunderlich seine Pfeife bedächtig zu stopfen begann, fragte der Fremde: »Kennen Sie die Vergangenheit des alten Försters Brandt?«

»Warum sollten wir nicht!« antwortete der Alte, indem er den Tabaksbeutel zuzog. »Ich war ja lange Jahre Brandt’s Reviernachbar, ehe ich nach hier versetzt wurde.«

»So kennen Sie auch die Geschichte von seinem Sohne?«

»Von dem Gustav, dem Polizisten? Wohl kenne ich sie; aber mein lieber Herr, ich spreche nicht gern davon.«

»Warum nicht?«

»Weil es meinen alten Kopf zu sehr angreift und mein Herz noch vielmehr. Wir haben auf den Gustav große Stücke gehalten; er war ein braver Junge und ein tüchtiger Beamter, mit dem die Vorgesetzten trotz seiner Jugend sehr zufrieden waren. Was hätte aus ihm werden können! Und da, da kam der verdammte Doppelmord dazwischen!«

»Er hat die That also wirklich begangen?«

»Der? Herr, was fällt Ihnen ein! Der ist so unschuldig gewesen wie die liebe Sonne am Himmel! Herrgott, war das ein Jammer und ein Herzeleid, als es hieß, der Gustav habe die Beiden ermordet und sei eingesperrt worden! Wir haben ihn lieb gehabt, gerade als ob er unser eigenes Kind gewesen wäre, und da auf einmal – Mohrenelement, sehen Sie, da ist es bei meiner Alten rein alle! Da hat sie gleich die Schürze am Gesichte! Wenn ich sie zum Schluchzen bringen will, so darf ich nur von dem Gustav anfangen.«

»Ich hörte, daß es ihm gelungen sei, zu entfliehen?«

»Ja. Seinem Vater ist das anfänglich gar nicht lieb gewesen. Er ist ein eigener Kopf; er wollte, der Gustav solle sich nur getrost hinrichten lassen. Aber er hat sich doch darein gefunden. Gustav wollte daran arbeiten, seine Unschuld zu beweisen; aber seit er fort ist, hat kein Mensch wieder Etwas von ihm gehört.«

»Er ist vollständig verschollen?«

»Ganz und gar. Er ist gestorben und verdorben, der gute, unschuldige Junge; das ist sicher, denn sonst hätte er wenigstens ein einziges Mal ein Wörtchen von sich hören lassen.«

»Wie schade!« meinte der Fremde bedächtig, indem er leise mit dem Kopfe nickte. »Wenn er noch lebte und man wüßte seinen Aufenthalt, so könnte man ihm vielleicht gute Nachricht geben.«

»Gute Nachricht?« fragte der Förster rasch. »Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß man jetzt so ziemlich Hoffnung hat, seine Unschuld zu beweisen.«

»Donnerwetter!« rief Wunderlich, von seinem Sitze aufspringend.

»Herr Jesus! Ist das möglich?« fragte die gute Barbara, indem sie schnell die Schürze vom Gesichte fallen ließ.

Die Mienen der Beiden drückten die freudigste Ueberraschung aus.

»Ja,« antwortete der Fremde. »Die Hoffnung, von welcher ich spreche, ist sogar eine berechtigte. Sie gewinnt von Tag zu Tag Boden.«

»Gott sei Dank!« seufzte der Förster, indem er sich langsam wieder niederließ. »Aber sagen Sie doch geschwind, Herr, Herr – hm, ich will nicht zudringlich sein, aber es spricht sich so sauer mit Einem, dessen Namen man nicht kennt.«

»Ich heiße Arndt, und da ich Gründe habe, hier als Ihr Vetter zu gelten, so bitte ich Sie, mich Vetter Arndt zu nennen.«

»Schön! Wenn Sie es so wollen! Also, Herr Vetter, sagen Sie uns doch, ob mein Freund Brandt auch schon davon weiß!«

»Natürlich! Er sendet mich ja in dieser Angelegenheit zu Ihnen.«

»Wieso? Kann ich dabei Etwas thun?«

»Sehr viel.«

»Das soll von ganzem Herzen gerne geschehen! Nicht wahr, Bärbchen? Aber wie soll ich das anfangen?«

»Sie sollen mir behilflich sein, zu entdecken, wer die geheimnißvolle Person ist, welche man –«

»Welche man den Fürsten des Elendes nennt, doch nicht etwa?« fiel da schnell der Alte ein. »Den kenne ich ganz und gar nicht; da kann ich keine Auskunft geben. Ich war ja nur vier Tage in der Residenz; wie soll da gerade ich erfahren haben, was dort noch kein Mensch herausgeackert hat!«

Arndt lächelte vergnügt vor sich hin und sagte:

»Vom Fürsten des Elendes ist hier keine Rede; ich meine vielmehr die geheimnißvolle Person, welche man hier den Waldkönig oder auch den Pascherkönig nennt.«

»Ah, den! Steht denn der mit der Brandt’schen Angelegenheit in Beziehung?«

»Ich vermuthe es. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß ich eigentlich Geheimpolizist bin.«

»Ah – hm – so, so!« machte der Förster, indem er dabei ein leises Pfeifen hören ließ. »Geheimpolizist, Delictive oder Defektive, wie es heißt! Grad wie damals der Gustav Brandt! Das soll Niemand ahnen, und darum wollen Sie als mein Vetter gelten!«

»So ist es allerdings.«

»Aber wie soll denn der Waldkönig in Bezug zu der Brandt’schen Sache stehen?«

»Darüber darf ich jetzt noch nicht sprechen. Vielleicht aber ist es mir recht bald möglich, mich Ihnen zu erklären. Hat man hier wirklich keine Ahnung, wer der König eigentlich ist?«

»Nicht die mindeste!«

»Auch keinen Verdacht auf Jemand?«

»Auch nicht.«

»Aber es giebt doch jedenfalls Personen, von denen man weiß, daß sie notorische Schmuggler sind?«

»Allerdings. Aber von ihnen ist nichts zu erfahren. Bisher hat ein jeder Pascher, welcher aufgefangen wurde, zu Protokoll gegeben, daß die Untergebenen des Waldkönigs ihn selbst nicht kennen. Er verkehrt nur verkleidet mit ihnen und mit einer Maske vor dem Gesicht. Seine Befehle bekommen sie auf ganz geheimnißvolle Weise. Wer nicht gehorcht, muß sterben!«

»Hm! Er kann kein gewöhnlicher Mann sein.«

»Sicher nicht! Es gehört schon ein Kerl dazu, so eine verzweifelte Bande zu organisiren und in Respect zu halten. Es ist mit ihm gerade wie mit dem Fürsten des Elendes: Beide scheinen allwissend und allgegenwärtig zu sein, nur daß der Eine ein Engel ist, der Andere aber ein wahrer Teufel.«

»Sie scheinen sich für den Fürsten des Elendes sehr zu interessiren?«

»Gewaltig! Während der vier Tage in der Hauptstadt habe ich so viel von ihm gehört, daß mir noch heute die Ohren klingen.«

»Ah, da fällt mir ein: Wohnt nicht auch der Baron von Helfenstein dort, dem das hiesige Kohlenbergwerk gehört?«

»Ja, er und die Baronin, welche früher Kammermädchen war.«

»Kommt er zuweilen nach hier?«

»Sehr oft sogar.«

»Zu regelmäßigen Zeiten?«

»Nein. Er ist zuweilen längere Zeit abwesend, zuweilen sieht man ihn alle Wochen hier, aber nur kurze Zeit.«

»Und drüben in Helfenstein, auf Schloß Hirschenau? Ist er auch da zuweilen zu sehen?«

»Gewiß! Ebenso oft wie hier. Ich wollte, der Teufel holte ihn! Er war damals auch nicht rein in der Wäsche, als der junge Brandt eingesperrt wurde.«

»Darüber läßt sich nichts sagen! Aber, kann man denn nicht in Erfahrung bringen, in welcher Gegend der Pascherkönig am Liebsten sein Wesen treibt?«

»Eben gerade zwischen hier und Helfenstein. Er scheint auf den Baron auch nicht sehr gut zu sprechen zu sein, da er gerade dessen Gebiet so unsicher macht.«

Es war ein sehr eigenthümliches Lächeln, welches jetzt die Lippen Arndt’s umspielte. Doch fragte er ruhig weiter:

»Ich hörte auf der letzten Station, daß vorigen Abend wieder ein Verbrechen verübt worden ist?«

»Ein Grenzoffizier ist erschossen worden, jedenfalls von einem Schmuggler, von einem Untergebenen des Waldkönigs.«

»Hat man keine Spur entdeckt?«

»Nicht die geringste. Der Wind hat Alles verweht. Ich selbst war ja dabei. Wir haben nach Kräften gesucht. Vielleicht ist es möglich, Etwas zu finden, nachdem der Frühling den Schnee fort gethaut hat. Ein fürchterlicher Anblick, diese Leiche! Man muß sich geradezu fürchten, hier im Walde zu wohnen. Ich habe mein Leben jedenfalls nur meiner Vorsicht zu verdanken. Ich thue nämlich als Förster meine Pflicht, menge mich aber niemals in die Pascherangelegenheiten. Das ist Sache der Grenzbeamten, nicht aber die meinige.«

»Wollen Sie mir damit sagen, daß ich nicht auf Ihren Beistand rechnen kann? Meine Aufgabe gerade ist es ja, zu erforschen, wer der König ist!«

»Hm! Das habe ich nun gerade nicht gemeint! Dem Brandt thue ich schon Etwas zu Liebe. Ich stelle mich Ihnen sehr gern zur Verfügung; nur dürfen Sie nicht verlangen, daß ich mich blindlings der Gefahr aussetzen soll!«

»Das fällt mir gar nicht ein. Ihre Hilfe soll vielmehr eine ganz und gar heimliche sein. Es darf ja auch von mir kein Mensch ahnen, weshalb ich mich hier befinde.«

»Das beruhigt mich. Aber auf welche Weise wollen Sie denn eine Spur des Pascherkönigs entdecken?«

»Darüber bin ich mir selbst noch nicht klar. Ich muß erst recognosciren, um mir ein Urtheil zu bilden. Gesehen hat ihn Niemand?«

»O doch! Aber man weiß, daß auch ein Jeder, der nicht sein Untergebener ist, sterben muß, unbedingt sterben, wenn er ein Wort über so ein zufälliges Zusammentreffen verliert. Dennoch aber sagt man sich heimlich, der Pascherkönig sei ein langer, schmächtiger Mann, und seine Kleidung bestehe aus einer kurzen, eng anliegenden Jacke, einem breitkrämpigen Hute, einer Maske über dem Gesicht und langen Stiefeln, in deren Schäften die Hosen stecken. Um den Leib hat er einen Gurt, in welchem Messer und Revolver stecken, und ohne Flinte ist er nicht zu treffen.«

»Diese Kleidung hat nichts Ungewöhnliches; man trägt sie hier fast allgemein. Na, ich werde sehen!«

»Und ich wünsche Ihnen Glück, zweifle aber am Gelingen!«

»Warum?«

Der Förster überflog Arndt’s Gestalt mit einem prüfenden Blicke und antwortete dann:

»Sie sind sehr kräftig gebaut und scheinen in Ihrer Jugend gewandt und beweglich gewesen zu sein. Bei Ihrem jetzigen Alter und bei der gegenwärtigen Witterung können Sie den Mühen und Gefahren nicht gewachsen sein, denen Sie sich unterwerfen müßten, um den König zu fangen. Man hat die ganze Gegend mit Militair besetzt – ohne den geringsten Erfolg. Werden Sie als Einzelner glücklicher sein?«

»Mein lieber Herr Förster, die rohe Gewalt thut es am Allerwenigsten. Ich weiß nicht, ob ich mich vor dem Waldkönige Mann gegen Mann zu fürchten hätte; auch kann ich nicht sagen, ob ich ihm, der doch jedenfalls eine große Portion Verschlagenheit besitzt, an List gewachsen bin, aber versucht muß es doch werden. Einen großen Vortheil aber habe ich vor ihm voraus.«

»Wirklich? Und der wäre?«

»Ich weiß, daß ich ihn suche, er dagegen hat keine Ahnung von meiner Absicht; das ist ein großer Vortheil.«

»Vielleicht auch nicht. Wie viele in der Residenz wissen, daß sie den Fürsten des Elendes suchen. Haben sie ihn gefunden?«

»Hm! Ich vielleicht würde ihn finden!«

»Sapperlot! Wie wollten Sie das anfangen?«

»Zunächst würde ich mir sagen, daß er es weiß, daß man ihn entdecken will, und daß er sich also wohl hinter verschiedenen Gestalten verbergen wird. Er erscheint vielleicht in hunderterlei Weisen, bald so und bald so, bald jung und bald alt, bald mit und bald ohne Bart, bald dick und bald schlank, die Kleidung, Sprache und so weiter gar nicht mitgerechnet.«

»Das wäre mir unbegreiflich! Man kann wohl die Kleidung verändern, weiter aber nichts. Einer Perrücke oder einem Barte sieht man es ja sofort an, ob er Natur ist oder nachgemacht.«

»Meinen Sie? Wollen sehen!«

Er stand vom Kanapee auf und trat an die Ofenbank, auf welcher ein gefülltes Waschbecken stand. Er tauchte einen Zipfel seines Taschentuches in das Wasser und fragte dann: »Für wie alt halten Sie mich?«

»Vierundsechzig ungefähr.«

»Und jetzt?«

Er griff nach seinem Haare. Ein rascher Ruck, und er stand mit einem vollständig schwarz belockten Kopfe da.

»Herrjesses!« rief die Försterin. »Können Sie hexen?«

»Nein. Aber haben Sie bemerkt, daß mein graues Haar ein künstliches ist?«

»Mit keinem Blicke!« antwortete der Förster.

»Sie sehen ein, daß ein geheimer Polizist zuweilen auch Ursache hat, nicht erkannt zu sein. Ich bin hinreichend mit Gegenständen versehen, welche mich unkenntlich machen. Für wie alt halten Sie mich denn jetzt, lieber Vetter?«

»Sapperlot! Für zehn Jahre jünger als vorher.«

»Also für ungefähr vierundfünfzig. Aber jetzt?«

Er fuhr sich mit dem nassen Zipfel seines Taschentuches rasch einige Male über das Gesicht. Die vorher blasse Farbe desselben war einem dunklen Teint gewichen. Der alte Wunderlich riß den Mund weit auf, starrte ihn verwundert an und sagte dann: »Gott stehe mir bei! Jetzt sind Sie kaum fünfzig!«

»Und jetzt?«

Er zog ein kleines Flacon aus der Tasche, träufelte aus demselben einige Tropfen auf das Tuch und wischte sich mit dem Letzteren langsam über das Gesicht. Sofort war die bräunliche Farbe verschwunden, und die beiden alten Leute erblickten nun ein aristokratisch feines Gesicht, welches jene schöne, aber nicht im mindesten krankhafte Blässe zeigte, die man nur an den Angehörigen höherer Stände zu bemerken pflegt.

»Jetzt, jetzt sind Sie kaum über vierzig!« entschied der Förster. »Nicht wahr, Bärbchen?«

Die Alte nickte zustimmend, sagte aber nichts. Was sie sah, das ging über ihren Horizont. Arndt fuhr fort:

»Jetzt sehen Sie mein ursprüngliches Gesicht. Ich habe zahlreiche Salben und Essenzen, welche mich befähigen, dasselbe in einer Viertelstunde zehnmal zu verändern. Nehmen Sie dazu falsche Bärte und Perrücken, welche auf das Sorgfältigste meinem Gesichte und Kopfe angepaßt sind, ferner die Verschiedenheit der Tracht, der Haltung, des Ganges, der Sprache und der Geberden, so werden Sie einsehen, daß es schwer ist, mich zu erkennen, wenn ich nicht erkannt sein will.«

»Ich bin ganz starr vor Verwunderung?«

»Ich sage Ihnen zum Beispiel, daß ich einen Rock besitze, ein wahres Meisterstück in der Schneiderkunst, und nach meinen eigenen Angaben gefertigt, dem ich in fünf Minuten viererlei Schnitte und dreierlei verschiedene Farben geben kann, je nachdem ich ihn anziehe, auf-oder zuknöpfe und einzelne Theile einschlage oder auswerfe. Dieser Rock hat vier Ärmel anstatt zwei. Jetzt sieht mich Jemand im dunkelblauen Ueberzieher; ich verschwinde um die Ecke, und wenn er mir nachfolgt, erblickt er mich in einem kurzen, hellen Rocke, anstatt der Mütze habe ich einen Hut auf dem Kopfe und anstatt des grauen oder schwarzen Bartes einen hellblonden. Ich habe einen guten Grund, Ihnen diese Mittheilung zu machen. Können Sie ihn errathen?«

»Nein,« antwortete der Förster.

»Nun, er ist eigentlich nicht schwer zu entdecken. Ich werde nämlich die Gegend in verschiedenen Gestalten durchstreifen; da wird es unvermeidlich sein, daß wir einander treffen, ohne daß Sie mich erkennen. Sie müssen also vorher davon unterrichtet sein, daß ich mich verkleide, und wir müssen uns über irgend Etwas verständigen, woran wir uns erkennen.«

»Was sollte das sein?«

»Zunächst wenn wir uns am Tage von Weitem sehen, da werde ich mit der rechten Hand von meinem linken Ohre zum rechten greifen.«

»Das geht. Aber des Abends?«

»Bin ich Ihnen nahe, so daß Sie es hören können, wenn ich leise spreche, so flüstere ich Ihnen – na, was denn zu? Hm!«

»Halt! Ich weiß was!« meinte der Förster.

»Nun?«

»Der Fürst des Elendes ist mein Liebling. Flüstern sie mir das zu, wenn ich Sie erkennen soll!«

»Gut! Auch mir ist das von Interesse, vielleicht mehr noch, als Sie denken. Aber es kann auch der Fall eintreten, daß wir im Dunkel uns von Weitem einander zu erkennen geben müssen. Da wird es am Besten sein, der Eine ruft ›der Fürst!‹ und der Andere ›des Elendes!‹ Sind Sie damit einverstanden?«

»Natürlich! Das klingt grad wie in einem Romane, aber es kann unter Umständen ganz praktisch sein.«

»Das ist’s, was wir zunächst zu besprechen hatten. Hinzufügen will ich noch – o weh, ich habe ja noch gar nicht bestimmt gefragt, ob ich bei Ihnen wohnen bleiben kann.«

»Natürlich!« antwortete Frau Barbara sogleich.

»Das versteht sich ganz von selbst!« stimmte der Förster bei. »Mein Freund hat Sie geschickt; Sie arbeiten für eine gute Sache, für welche ich mich persönlich auf das Lebhafteste interessire, und endlich hat Ihr jetziges Gesicht, welches Sie Ihr natürliches, Ihr eigentliches nennen, so ein Etwas, was mich anspricht. Ich kann es nicht herausfinden und erklären, aber es ist mir ganz so, als hätten wir uns schon seit langer Zeit gekannt.«

»So geht es Einem zuweilen, mein lieber Vetter. So werden wir uns nämlich stets nennen müssen, mögen wir nun allein oder in Gesellschaft sein.«

»Aber was sind Sie denn, wenn man mich fragt?«

»Ich bin früher nach Amerika gegangen, habe dort mein Glück gemacht und besuche Sie auf einige Zeit. Früher bin ich Försterbursche gewesen!«

»Aber ich werde Sie bei der Behörde anzumelden haben!«

»Das besorge ich selbst. Ich werde Sorge tragen, daß mir weder die Polizei noch die Grenzbeamten Etwas in den Weg legen.«

»Werden Sie das fertig bringen?«

»Als Geheimpolizist habe ich meine Legitimationen, und außerdem stehe ich unter einem hohen Schutze. Eigentlich hat der Fürst des Elendes in diese Gegend mich gesandt.«

Da schlug der alte Förster vor Verwunderung die eine Hand in die andere und rief:

»Der Fürst? Der hat Sie gesandt? Herr – Herr – Herr Vetter, Sie sind, hole mich der Kukuk, ein ganz außerordentlicher Kerl; das habe ich längst bemerkt; jetzt aber steht mir all mein Verstand stille! Haben Sie denn mit ihm gesprochen?«

»Ja, freilich!« nickte Arndt.

»Und ihn also auch gesehen?«

»Natürlich!«

»Hat er Ihnen vielleicht gesagt, wer er ist?«

»Nein, gerade das hat er nicht gethan. Vielleicht hat er gedacht, daß ich es weiß, ohne daß er es mir sagt. Doch genug hiervon! Ich muß Ihnen nur noch bemerken, daß ich keine pekuniären Opfer fordere. Ich werde Alles bezahlen.«

»Das fehlte noch! Einer den mir mein Freund Brandt schickt! Einer, der mit dem Fürsten des Elendes gesprochen und ihn sogar gesehen hat! Und mich bezahlen! Viel eher schlägt das Wetter drein, ehe ich einen Kreuzer nehme! Ich bin ein armer Teufel, aber zu hungern brauche ich nicht. Sie kriegen, was wir selbst haben. Wer mehr giebt, als er hat, der ist ein Schuft, und das bin ich nicht. Abgemacht!«

»Gut, abgemacht, und das Uebrige vorbehalten! Hier meine Hand! Die Frau Muhme mag jetzt sehen, ob sie Etwas zu essen für uns findet; Sie aber, Herr Vetter, zeigen mir einmal das Stübchen, in welchem meine Koffer bereits sind!«

»Schön! Kommen Sie! Vornehm sind wir nicht eingerichtet; aber ein Bett werden Sie haben, einen Tisch, einen Stuhl, einen Spiegel und sogar einen Stiefelknecht. Den habe ich selber aus einem birkenen Zwiesel geschnitten.«

Er führte ihn nach dem Giebelstübchen, welches eine Treppe hoch lag. Draußen war der Mond aufgegangen, und der Schneefall hatte fast gänzlich aufgehört. Der Förster trat an das kleine Fenster, deutete nach dem Walde und fragte: »Sehen Sie da drüben die drei Riesentannen stehen?«

»Jawohl sehe ich sie.«

»Nahe bei der mittleren hat der ermordete Grenzer gelegen.«

»Das ist ja gar nicht weit von hier!«

»Ganz und gar nicht. Wollen wir morgen Vormittag einmal zusammen hingehen?«

»Auch ich wollte diese Frage aussprechen. Wir gehen, und Sie haben die Güte, mir an Ort und Stelle Alles ausführlich zu berichten. Vielleicht komme ich auf eine Idee. Sie müssen nämlich wissen, daß eine gute Idee oft mehr werth ist, als eine vollendete materielle Thatsache.« –Unterdessen hatte Eduard Hauser seinen Heimweg beendet. Bei dem Gedanken an die Seinigen schlug ihm das Herz vor Freude. Einen Schlitten voll Holz und Kohlen; oben darauf einen großen Korb voll Eßwaaren und allerlei Küchennothwendigkeiten. Das waren Dinge, welche zu erlangen ihm vor einer Stunde noch als unmöglich erschienen war. Und jetzt!

Die Straße führte bergab. Er stellte sich hinten auf die Kuffen und ließ den Schlitten laufen, indem er ihn dadurch lenkte, daß er zuweilen mit dem betreffenden Fuße den Boden berührte. So gelangte er sehr bald in die Nähe des Städtchens, wo der Weg sich wieder hob und er sich also vorspannen mußte. Aber diese Arbeit wurde ihm leicht.

Vor der Thür des Elternhäuschens hielt er an, ließ den Schlitten einstweilen stehen und begab sich nach der Wohnstube. Bereits vor der Thür hörte er die Stimme des Vaters:

»Kein Leiden kommt von ungefähr;

Die Hand des Höchsten schickt es her;

Sein Rath hat’s so ersehen.

Drum sei nur still

Und was Gott will,

Laß immer gern geschehen!«

 

Als er die Thür öffnete, wehte ihm eine Luft entgegen, welche ihm noch eisiger als die äußere zu sein schien. Die Seinigen saßen zusammengedrängt um den Tisch, um sich an einander zu erwärmen. Bei dem Ofen kniete – Engelchen, bemüht, mittels einiger Scheitchen Holz ein ärmliches Feuer anzufachen.

»Er kommt! Er ist da!«riefen die kleinen Geschwister.

»Ja, da ist er! Gott sei Dank!« sagte die Mutter, der es anzusehen war, daß sie Angst um ihn ausgestanden hatte.

Angelica erhob sich von der Diele und fragte ihn:

»Aber Eduard, wo bist Du denn gewesen? Wir Alle haben Sorge um Dich gehabt. Du warst fort, bei diesem Wetter!«

»Und ob ich schon wandle im finsteren Thale, so fürchte ich kein Unglück,« recitirte der Vater; »denn Du bist bei mir; Dein Stecken und Stab trösten mich!«

Eduard rieb sich, ohne auf die einzelnen Fragen, welche man an ihn richtete, einzugehen, die Hände und sagte: »Wie kalt! Habt Ihr kein Feuer gehabt?«

»Ein Bischen nur,« antwortete die Mutter.

»Hat Euch der Nachbar nicht ausgeholfen?«

»Fünf Scheitchen Holz hat er uns geborgt. Mehr könnte er nicht thun, sagte er, da er mit seinem Vorrathe noch bis zum Ende des Winters reichen müsse.«

»Und Kohlen?«

»Gar keine. Er hatte selbst nur wenig.«

Die arme Frau sagte das mit großer Bitterkeit.

»Ja,« erklärte Engelchen, »der Vater war nicht gut gegen den Deinigen, Eduard. Ich weiß nicht, was ihm so plötzlich in den Kopf gefahren ist.«

»Habt Ihr Kartoffeln gekocht und gegessen?« erkundigte sich der junge Mann weiter.

»Nein. Mit den paar Spaltchen Holz brachten wir ja nicht einmal das Wasser warm!«

»Herrgott! Ihr habt gehungert, und ich habe zu Abend gegessen wie ein König!«

»Was denn, was denn?« fragten die Geschwister begierig.

»Graupensuppe, eine ganze große Schüssel voll!«

»Wo denn?«

»Bei – oh, da stehe ich und rede, während Ihr friert. Wartet, Ihr sollt sogleich eine warme Stube haben!«

Er eilte hinaus und holte erst den mit Eßwaaren gefüllten Korb herein.

»Hier, Mutter, ist etwas gegen den Hunger. Theile aus!«

Nach diesen Worten ging er wieder, um das Holz und die Kohlen abzuladen und in das Gewölbe zu schaffen. Er nahm davon so viel, als er für heute zu brauchen meinte, und kehrte damit in die Stube zurück, wo ihn ein Anblick erwartete, von dem sich nur sehr schwer sagen ließ, ob er zum Entzücken oder zum Erbarmen sei.

Der Hunger lag auf allen Gesichtern, aber auch die Freude leuchtete aus allen Augen. Mutter und Kinder starrten mit glänzenden Blicken auf die Vorräthe, und der Vater saß mit gefalteten Händen dabei und betete:

»Nun danket alle Gott

Mit Herzen, Mund und Händen,

Der große Dinge thut

An uns und allen Enden!«

 

Dann erst, als er seinem frommen Herzen Genüge gethan hatte, wendete er sich an Eduard mit der Frage:

»Mein Sohn, sage, wer uns diese Freude bereitet!«

»Der alte Förster Wunderlich,« antwortete der Gefragte.

»Gott segne den braven Mann und seine wohlthätige Frau! Aber wie bist Du denn zu ihm gekommen? Erzähle es!«

»Jetzt nicht, Vater! Komm, Engelchen, hilf mir! Hier ist Holz, und da sind Kohlen. Wir müssen vor allen Dingen anfeuern, damit es warm wird. Mutter gieb den Kleinen einstweilen etwas. Im Korbe ist auch Kaffee. Wir kochen welchen!«

»Kaffee, Kaffee!« jubelten die Kleinen, denen die Mutter von dem Brode vorschnitt.

Die Lippen des Vaters zuckten vor tiefer Bewegung. Als sich der erste Freudensturm gelegt hatte und die Kleinen mit ihren Brodschnitten beschäftigt waren, sagte er: »Frau, siehst Du, daß Gott uns nicht vergessen hat! Er macht noch immer seine Winde zu Boten und seine Diener zu Feuerflammen. Dieses Mal hat er dem Förster geboten, unser Engel zu sein. Ihm sei Preis und Dank!«

»Aber wie lange wird es reichen?« meinte die Frau, welche nicht die Glaubensstärke ihres Mannes besaß. »Wir sind abgelohnt, wir haben keine Arbeit, und wie bald ist die Hypothek zu bezahlen! Wer soll da helfen? Es wird und kann sich Niemand finden! Wir müssen aus der Hütte!«

»Kleingläubige, warum zweifelst Du? Wie er uns heute hilft, so wird er uns auch weiter helfen. Er ist mächtiger als die Sorge, und größer als die Noth!«

»Er hat bereits geholfen, lieber Vater, liebe Mutter,« sagte da Eduard, der nicht länger an sich halten konnte. »Hier ist die Hypothek, und hier sind auch noch fünf Goldstücke mehr!«

Damit sprang er vom Ofen herbei, zog das Geld aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Die Mutter schlug die Hände zusammen; die Geschwister blickten einander wortlos an; auch Engelchen gab durch ihre weitgeöffneten Augen ihr Erstaunen zu verstehen; der Vater aber erhob sich langsam von seinem Sitze, streckte die Hand gegen das viele Geld aus und sagte: »Eduard, mein Sohn, ich will nicht hoffen, daß die Noth Dich auf unrechten Weg geführt hat! Dieses Gold gleißt wie die Sünde. Wer kann Dir eine solche Summe borgen?«

»Borgen, Vater?« fragte der glückliche junge Mann. »Geschenkt habe ich es erhalten, geschenkt!«

»Das ist unmöglich, ganz und gar unmöglich!«

Der Vater machte ein ernstes, fast trauriges Gesicht; die Anderen aber drangen in Eduard, ihnen zu erzählen, von wem er das viele Geld habe. Er mußte ihnen Folge leisten. Daher überließ er Engelchen den Ofen und erzählte aufrichtig, wie er in den Wald gegangen sei, um Holz zu holen, und dort den Förster getroffen habe, von dessen Frau ihm dann die Eßwaaren in den Korb gepackt worden seien.

»Soweit ist Alles erklärlich,« sagte der Vater. »Die Liebe zu uns hätte Dich beinahe zum Diebe gemacht, und ich danke Gott, daß er Dich nicht aus seiner Hand gelassen hat. Aber das Gold, das Gold, das kannst Du nicht vom Förster empfangen haben!«

»Nein, Vater.«

»Von wem sonst?«

»Das soll ich Allen verschweigen; nur Dir allein darf ich es sagen.«

»Warum?«

»Der Geber hat es mir befohlen.«

»Ich kann das Geld nicht anrühren, als bis ich gewiß bin, daß mein Gewissen es mir erlaubt. Du bist stets gut und ehrlich gewesen; ich will Dich nicht verdächtigen, mein Sohn; aber ich muß wissen, auf welche Weise es in Deine Hand gekommen ist. Folge mir, und erzähle es!«

Er zog sich hinter den Webstuhl zurück, wo Eduard mit leiser Stimme ihm Bericht erstattete. Die Anderen waren still, doch hörten sie nur das leise Geflüster, verstehen aber konnten sie nichts, als endlich nur die Frage des Vaters: »Und der Förster ist Zeuge, daß es wirklich so ist?«

»Ja, Vater!«

»Und ich kann mich also getrost bei ihm erkundigen?«

»Thue es in Gottes Namen!«

»Nein, ich werde es nicht thun, denn nun ist mein Gewissen beruhigt. Ich glaube und vertraue Dir!«

Er kehrte wieder an den Tisch zurück. Die Mutter, bereits durch seine letzten Worte mit froher Hoffnung erfüllt, blickte ihn dennoch fragend an. Er nickte ihr unter einem glücklichen, verklärten Lächeln zu und sagte: »Kinder, es ist uns heute ein Heil widerfahren, und eine große Gnade ist uns begegnet. Faltet Eure Hände und betet mit mir:

›Wie groß ist des Allmächtigen Güte!

Ist der ein Mensch, den sie nicht rührt,

Der mit verhärtetem Gemüthe

Den Dank erstickt, der ihm gebührt?

Nein, seine Liebe zu ermessen,

Sei ewig meine größte Pflicht.

Der Herr hat mein noch nie vergessen,

Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht!‹«

 

Wer in diesem Augenblicke in die ärmliche Stube getreten wäre, dem hätte ein Odem Gottes entgegen geweht, als ob er sich in der Kirche befinde. Die Armuth, das Elend führt zu Gott; der Reichthum aber macht gleichgiltig gegen den Geber aller Güter.

Das Feuer knisterte in dem Ofen, und das Wasser begann im Topfe zu singen. Es wurde nach und nach warm in dem Raume, und auch die Menschen waren warm und lebendig geworden. Sonderbar, daß gerade Diejenige, welche wenigstens von schwerer Sorge bisher verschont geblieben war, desto einsilbiger wurde, je fröhlicher sich die Anderen zeigten – nämlich Engelchen.

Es war ihr anzusehen, daß sie sich nicht in ihrer gewöhnlichen Stimmung befand. Auch Eduard bemerkte es, und als sie dann nach Hause ging und er sie bis vor die Thür begleitete, fragte er: »Hat Dich vielleicht Jemand von uns beleidigt, Engelchen?«

»Nein, Eduard, Niemand,« antwortete sie.

»Du warst so ernst, während wir uns so glücklich fühlten!«

»Nur weil ich an den Vater dachte, der heute so ungut mit den Deinigen war.«

»Ist Dir vielleicht der Grund bekannt?«

Sie kannte ihn nur zu gut; auch wußte sie, daß die Ursache ihrer Schweigsamkeit eine ganz andere gewesen sei. Sie hatte an das Vergnügen gedacht, welches ihrer wartete. Sie hatte sich den Ballsaal im Geiste ausgeschmückt. Wie sehr stach gegen ihn die ärmliche Stube ab, in der sie sich befand! Waren diese Hausers wirklich die Leute, mit denen sie verkehren konnte, sie, die schöne und ehrenvolle Einladungen bekam? Wie manches vornehme Mädchen würde entzückt sein, eine solche zu erhalten!

»Nein,« antwortete sie; »ich kenne den Grund nicht.«

Es war das erste Mal, daß sie den Nachbarssohn belog. Eduard mußte an das denken, was der Förster über ihren Vater gesagt hatte, und so warf er unwillkürlich die Worte hin: »Vielleicht sind wir Deinem Vater nicht gut genug?«

»Wo denkst Du gleich hin!« beugte sie schnell vor. »Vielleicht war er nur darum so kurz mit Deinem Vater, weil er gerade sehr viel nachzudenken hatte.«

»Nachzudenken? Hat er vielleicht von den Seidelmanns ein schwieriges Muster erhalten? Ich will ihm helfen, die Fäden auszurechnen.«

Das hatte er bereits oft gethan, denn er war ein geschickterer Weber als Hofmann; sie aber antwortete:

»Er ist klug genug dazu! Aber nicht er hat Etwas erhalten, sondern ich selbst.«

»So? Etwas Erfreuliches?«

»Ja, so erfreulich, wie ich im ganzen Leben noch nichts empfangen habe. Es kam mit der Post.«

»Ah, ein Brief?«

»Nein, sondern ein Packet. Rathe einmal, was es enthielt!«

»Wer kann da rathen! Ein Geschenk?«

»Ja, und eine Karte.«

»Eine Karte? Heute ist doch nicht Dein Geburtstag gewesen«

»Nein; den kennst Du ja genau. Es war keine Geburtstagskarte, sondern eine viel schönere – eine Ballkarte.«

»Eine Ballk – –«

Das Wort blieb ihm auf der Zunge liegen. Sie standen mit einander im dunklen Flur. Hätte sie sein Gesicht sehen können, so wäre sie gewiß erschrocken über die Todesblässe, welche sich plötzlich über dasselbe verbreitet hatte. All sein Blut wich nach dem Herzen zurück. Es war ihm, als ob er im nächsten Augenblick ersticken müsse.

»Nun, was sagst Du dazu?« fragte sie, ärgerlich über sein langes Schweigen.

»Wann ist der Ball?« fragte er.

»Nächsten Dienstag.«

»Wo?«

»Hier in der Schänke.«

»Da ist ja Maskenball, wie ich gehört habe!«

»Jawohl, Eduard. Der erste Maskenball, den ich mitmache!«

»Aber man sagte doch, daß er nur für das Stadtcasino sei?«

»Allerdings für das Casino und für Die, welche von den Mitgliedern eingeladen werden.«

»Und Du gehörst zu diesen Geladenen?«

»Natürlich! Ich habe sogar den Maskenanzug erhalten!«

Sie sagte das beinahe jubilirend, ganz in demselben freudigen Tone, in welchem vorhin seine hungernden Geschwister das Brod bewillkommnet hatten. Es war ihm ganz so, als ob sich eine harte, kräftige Hand um seine Kehle lege, um ihn zu erwürgen, und es dauerte lange, ehe es ihm gelang, die Frage hervorzustoßen: »Den Maskenanzug? Den kann ein Mädchen doch nur von ihrem Geliebten oder gar Verlobten erhalten!«

»Meinst Du? Nun, vielleicht habe ich so einen Geliebten oder gar Verlobten!«

»Engelchen, sagst Du das im Ernste?«

Sie hörte das Zittern seiner Stimme. Sie war nicht schlecht; sie war auch nicht leichtsinnig; sie war nur jung und unerfahren. Sie hatte ihn lieb, so lieb, nun ja, wie man einen Nachbarssohn gewöhnlich zu haben pflegt, dachte sie, und da gab es ihr Spaß, ihn ein Wenig zu necken oder gar zu ärgern. Denn daß er sich ärgere, das hörte sie ja: Seine Stimme bebte vor Zorn.

»Denkst Du denn, daß ich Spaß mache?« fragte sie.

»Und wer ist es, der Dir einen Maskenanzug schicken darf?«

»Ein feiner Herr, ein Mitglied des Casino!«

»Ah, kein armer Weberssohn?«

»Nein.«

Ihr Ton hatte bei diesem Worte etwas schnippisch Hartes. Sie merkte das gar nicht, und noch viel weniger dachte sie daran, sich darüber Rechenschaft zu geben.

»So gratulire ich!« meinte er leise.

Man hätte fast sagen können, es sei eine ersterbende Stimme, mit der er diese Worte hervorlispelte.

»Ich danke! Du freust Dich doch darüber?«

»Ich freue mich, wenn ich Dich glücklich sehe, Engelchen. Gott weiß es, wie ich mich grämen würde, wenn Du unglücklich wärst. Was für ein Anzug ist es, den Du erhalten hast?«

»Ich gehe als Italienerin!«

»Das kenne ich nicht. Ist es hübsch?«

»Ach, allerliebst, sage ich Dir! Möchtest Du mich nicht einmal in dem Costüme sehen?«

»Gar zu gern, wenn ich darf!«

»Du darfst. Komme nachher herüber, wenn die Eltern nicht mehr wach sind!«

»Warum nicht eher?«

»Weil – weil – na, weil ich den Anzug nicht tragen darf, wenn der Vater dabei ist, und –«

Sie stockte. Eduard aber begriff sie nicht und fragte in seiner Unbefangenheit:

»Warum soll Dein Vater den Anzug nicht sehen? Ist er denn zu häßlich?«

»O nein; er ist im Gegentheile gar zu schön, wie ich bereits sagte. Und sodann weißt Du ja, daß der Vater heute schlechte Laune hat. Ich möchte nicht haben, daß er Dich bemerkt. Also komme später; vielleicht in einer Stunde!«

»Gut, Engelchen, ich komme!«

Er gab ihr die Hand. Diese war so kalt, so eigenthümlich kalt. Es war nicht die Kälte, welche vom winterlichen Froste kommt, sondern jene schaurige Kälte, welche – – Engelchen entsann sich, daß die Hand ihres Großvaters, als derselbe todt im Sarge lag, sich ganz ebenso angefühlt hatte. Sie zuckte zusammen und zog ihre Hand aus der seinigen, öffnete die Thür und eilte raschen Laufes ihrem Häuschen zu.

Er stand unter der offenen Thüre und blickte ihr starren Auges nach. Er blickte noch hinüber, als sie schon längst drüben verschwunden war. Er hatte keinen Gedanken, kein Gefühl; aber er wußte, daß er todt sei, todt, gestorben an einem plötzlichen, fürchterlichen Schlage, der auf sein Herz gefallen war.

Schon als kleine Kinder hatten sie sich gekannt. Er war ihr Beschützer gewesen, ihr Helfer zu aller Zeit. Er hatte nie an die Möglichkeit gedacht, sie auf einen einzigen Tag entbehren zu müssen, denn das lag für ihn ja überhaupt nicht im Bereiche der Möglichkeit. So waren sie aufgewachsen mit und neben einander. Es war ihm nie eingefallen, sich Rechenschaft über sein Herz zu geben; er war sich seines Zustandes nie klar geworden, bis heute mit einem Male zwei Gewißheiten zerschmetternd auf ihn niederstürzten, nämlich, daß er sie liebe, mit jeder Faser seines Herzens liebe, und daß er sie verloren habe, noch ehe er sich dieser Liebe bewußt geworden sei.

So stand er da. Der eisige Hauch des Winters umwehte ihn; das Vermögen, geordnete Gedanken zu haben, kehrte ihm zurück; in seinen Schläfen klopfte es; sein Herz hämmerte gegen die Rippen; er streckte seine Arme aus und flüsterte: »Angelica, Engelchen! Ich wollte, ich wäre todt!«

Er lehnte den Kopf an die kalte Thürpfoste und summte wie gedankenlos die Melodie jenes tief innigen Liedes vor sich hin: »Wenn sich zwei Herzen scheiden, die sich dereinst geliebt, das ist ein großes Leiden, wie’s größer keines giebt!« Aber als er bei der zweiten Strophe angekommen, sprach er die halblauten Worte aus:

»Als ich zuerst empfunden

Daß Liebe brechen mag,

War mir’s, als sei verschwunden

Die Sonn’ am hellen Tag.

Es klang das Wort so traurig gar:

Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar.

Als ich zuerst empfunden,

Daß Liebe brechen mag.«

 

Er fühlte, daß es ihm feucht aus den Augen tropfte; er wischte die Thränen fort, aber immer neue drangen nach, bis er, mit dem Fuße auf den Boden stampfend, zu sich sagte: »Sie ist verloren; sie hat einen Geliebten; darum ist ihr Vater so stolz gegen uns. Ich kann nichts dagegen machen; ich habe meine Zeit versäumt und werde nun einsam durch das Leben gehen. Aber als Italienerin muß ich sie sehen, als Italienerin in dem Costüme, in welchem sie an seinem Arme durch den Saal schwebt. Ich werde dann zu derselben Zeit im Webstuhle sitzen – o nein, sondern tief in der Kohlengrube stecken! Oh, Engelchen, warum hast Du mir doch das gethan!«

Er kehrte in die Stube zurück. Die Seinen standen im Begriff, schlafen zu gehen. Als der Abendsegen gesprochen worden war und sie sich entfernt hatten, setzte er sich einsam an den Tisch, legte den Kopf in die Hände und ließ die Gefühle, welche in seinem Innern aufgeschreckt worden waren, ohne Widerstand auf sich einstürmen.

»Oh, diese Hand! Brrr, eine Leichenhand!« hatte Engelchen vorhin, als sie von ihm fort geeilt war, vor sich hin gemurmelt. »So eine Hand ist entsetzlich!«

Als sie ihre Wohnung erreichte, waren die Eltern noch wach. Der Vater begann sogleich wieder von der Einladung zu sprechen und von dem Glücke, welches ihr daraus erwachsen könne, und die Mutter breitete den mit goldenen und silbernen Flittern besetzten Anzug vor ihr aus und machte sie auf die Art und Weise aufmerksam, wie derselbe noch zu verschönern sei.

Sie liebte Eduard Hauser; aber sie war sich dessen noch nicht bewußt geworden. Darum machten die Flitter auf sie, das unbemittelte Webermädchen, Eindruck, und Das, was der Vater sagte, schmeichelte ihrer Eigenliebe.

Nur reiche Mitglieder zählte das Casino. Einer desselben hatte sie nicht nur eingeladen, sondern ihr sogar den Anzug geschenkt; er war also ganz gewiß verliebt in sie. Es lag nur in ihrer Hand, eine reiche Frau zu werden! Geld, Geschmeide, kostbare Kleider, Vergnügungen aller Art schwebten an ihrem geistigen Auge vorüber. Sie bemerkte gar nicht, daß der Vater nach einiger Zeit zur Ruhe ging, und sie beachtete es kaum, daß die Mutter ihm nach wenigen Minuten folgte.

»Eine reiche Frau! Eine reiche Frau!« klang ihr ihre eigene Stimme fortwährend schmeichelnd in die Ohren, bis sie endlich aus dem Sinnen emporschreckte. Es hatte leise an die Fensterläden geklopft.

»Der Eduard ist’s,« sagte sie zu sich. »Wie schade, daß er nicht auch wohlhabend ist! Er wäre ganz sicher der Beste und vielleicht auch der Hübscheste von Allen! Er war vorhin so – so – so – hm – gegen mich, und dafür muß er bestraft werden. Er soll mich in diesem Anzuge sehen und vor Ärger vergehen müssen. Vor dem Vater möchte ich mich nicht so sehen lassen, ich schämte mich zu Tode, auch wohl vor dem Eduard nicht, denn er ist doch kein Mädchen; aber weil er mich geärgert hat, thue ich es dennoch! Und die vornehmen Herren auf dem Balle, die sehen mich doch auch! Nun, die kennen mich ja nicht, und mein Gesicht ist verhüllt! Da braucht man sich nicht zu schämen.«

Sie öffnete leise, leise die Thüren und ließ Eduard herein. Sein Gesicht erschreckte sie; die Farbe desselben spielte in das Aschfahle; seine Augen waren eingefallen, und in seinen Zügen lag ein Etwas, vor dem sie sich fürchten zu müssen glaubte.

Er deutete, ohne ihr eine Hand gegeben zu haben, auf den Tisch und fragte:

»Ist das die Italienerin?«

»Ja. Nicht wahr? Herrlich!«

»Sehr!« antwortete er tonlos. »Und diese Sachen willst Du wirklich anziehen?«

»Natürlich!« verwunderte sie sich.

»Du wirst Allen, Allen gefallen!«

»Meinst Du wirklich?«

»Das ist ja ganz natürlich!«

Der verlorne Sohn
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