»So laß sehen, ob ich Dir auch gefalle!«

Sie griff nach der Garderobe.

»Du willst Dich wirklich einmal ankleiden?«

»Ich habe es Dir ja versprochen, mich als Italienerin zu sehen!«

»Gut, so thue es. Soll ich mich hinumdrehen?«

»Ich bitte Dich darum.«

Er drehte seinen Stuhl gegen die Wand. An derselben hing ein Spiegel, in welchem sich das kleine Stübchen fast vollständig conterfeite. Er sah, daß sie die Jacke auszog und die Schürze sammt dem oberen Rock entfernte. Sie legte den Maskenanzug und auch die dazu gehörigen weißen Strümpfe an. Er sah im Spiegel Alles, Alles. Er hatte von ihrer Schönheit noch gar keine Ahnung gehabt. Diese vollen, blendenden Arme, dieser üppige Nacken, die reiche Büste, die enge Taille, das kleine Füßchen und das schön geformte Bein! Er war ein armer Weber und kein erotischer Gourmand, kein Kenner weiblicher Schönheit; aber das Bild, welches sich jetzt innerhalb des Spiegelrahmens bewegte, dünkte ihm der Inbegriff alles Herrlichen und Schönen zu sein.

Er hatte versäumt, die Hand nach diesem Schatze auszustrecken, und nun war ein Anderer gekommen. Er knirschte die Zähne zusammen und blieb scheinbar ruhig.

Jetzt trat sie näher, um auch einen Blick in den Spiegel zu werfen. Sofort wendete er sich ab, damit sie nicht bemerken sollte, daß er im Stande gewesen sei, sie in dieser Weise zu beobachten. Sie steckte noch eine künstliche Rosenknospe an die Brust und sagte dann:

»So, jetzt darfst Du Dich umdrehen!«

Er wendete sich langsam um und betrachtete sie von dem Scheitel an bis zu den Zehen herab. Sein Gesicht blieb dabei bewegungslos, und sein Blick schien immer starrer zu werden.

»Nun, wie gefalle ich Dir?«

»Ganz und gar nicht,« antwortete er langsam und mit einem Nachdrucke, der nicht ohne Wirkung blieb.

»Was? Nicht? Ganz und var nicht?« fragte sie, vor Ärger erröthend. »Willst Du mir wohl sagen, warum?«

»Nun, hast Du denn bemerkt, daß Dir das dünne Röckchen nur bis auf das Knie geht?«

»So ist’s in Italien!«

»Daß die Strümpfe durchbrochen sind, so daß man mehr Haut als Strumpf zu sehen bekommt?«

»In Italien muß es sehr heiß sein!«

»Siehe Deine entblößten Arme!«

»Das ist dort so gebräuchlich!«

»Das tief ausgeschnittene Mieder!«

Sie hätte eigentlich erröthen mögen, aber der Ton, in welchem er mit ihr sprach, erregte ihren Zorn, und darum antwortete sie kurz und zurückweisend:

»Auch das ist Mode dort in Italien!«

Da erhob er sich von seinem Stuhle, verschränkte die Arme über die Brust und fragte:

»Weißt Du, wer hier bei uns Arm und Bein und Brust so zeigt wie Du?«

Sie erröthete und wurde schon im nächsten Augenblicke wieder blaß. Ihr mädchenhaftes Zartgefühl erkannte das Richtige; aber er sollte nicht über sie triumphiren.

»Nun, wer denn?«

»Die Mädchen, welche verloren sind.«

Sie gab sich Mühe, ein höhnisches Lächeln zu zeigen, und sagte:

»Hast Du dergleichen schon kennen gelernt, daß Du es so genau weißt?«

Er zuckte die Achseln und antwortete:

»Engelchen habe ich Dich genannt, aber ich kann Dich unmöglich auch fernerhin so nennen, wenn Du zu diesem Balle gehst. Du kennst mich von frühester Jugend an; Du kennst mein Leben, alle meine Gedanken. Und dennoch fragst Du, ob ich diese Verlorenen kennen gelernt habe! Das ist eine Schlechtigkeit von Dir! Die Schönheiten eines Mädchens sind für kein einziges Auge da; diejenigen eines Weibes sind nur für den Mann ihrer Wahl vorhanden. Eine Frau, welche andere Männer zu Mitbesitzern macht, selbst wenn es nur durch das Auge wäre, und ein Mädchen, welches zu jungen Burschen in solcher Kleidung geht, wie diese hier ist, diese Beiden gehören zu den Verlorenen. Ich bitte Dich um Gotteswillen, von Deinem Entschlusse zurückzutreten! Man darf wohl ahnen, wie schön ein Mädchen ist, sehen aber darf es nur ein Einziger. Für jetzt bin ich der Einzige, dem Du Dich gezeigt hast; es bleibt Dir nur die Wahl zwischen mir und der Schande. Entscheide Dich, Angelica!«

Er stand trotz seiner ärmlichen Kleidung so hoch, so stolz vor ihr wie ein Prophet und Prediger. Er hatte gar nicht das Aussehen eines armen Webersohnes. Die Angst seines Innern, sie zu verlieren, und sein reges, sittliches Gefühl hatten ihm Worte in den Mund gelegt, wie man sie sonst nur aus dem Munde gebildeterer Männer, als er einer war, zu hören pflegt; aber gerade durch diesen Ernst und diese Strenge fühlte sie sich zurück-und abgestoßen. Es wollte sie zwar kalt überlaufen; aber sie hatte ein Lob, eine kleine Anerkennung, daß sie schmuck und sauber sei, erwartet, und mußte eine solche Rede hören. Die Widerspenstigkeit des Evakindes überkam sie, und so antwortete sie:

»Was redest Du von Schande und von Dir? Zwischen Euch nur hätte ich zu wählen? Was bildest Du Dir ein! Hast Du noch nicht gehört, daß die feinsten Damen, Gräfinnen und Fürstinnen, so ausgeschnitten gehen wie ich hier? Ist das für sie auch eine Schande? Oder solltest Du von der Ehre mehr verstehen als sie? Geh weg! Ich habe Dir eine Freude machen wollen; nein, eine Auszeichnung sogar ist es, daß Du mich als Italienerin noch eher sehen solltest, als Der, welcher mir den Anzug geschickt hat, und zum Dank dafür willst Du mich zu den schlechten Mädchen zählen? Du bist nicht klug; Du bist nicht gescheidt; mit Dir ist nichts anzufangen!«

»Mit denen vom Casino wohl mehr?« gab er ihr zurück.

Hätte er es zu einem freundlichen Blicke bringen können, so hätten sich zwei brave Herzen hier gefunden; aber es gelang ihm nicht. Seine letzten Worte erbitterten sie noch mehr; daher antwortete sie:

»Ja; jedenfalls sind sie klüger wie Du und vernünftiger. Ein einziger Augenblick bei ihnen wird besser sein als hundert Jahre bei Dir! Merks!«

Seine Wangen hatten eine in’s Graue spielende Farbe angenommen. Er ließ die Arme sinken und schloß die Augen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sie wieder öffnete. Dann legte er die Hände auf den Stuhl, als ob er sich stützen müsse, und fragte:

»Also, Du gehst doch auf den Ball?«

»Ja, ich gehe!«

Der Stuhl krachte und prasselte, und die Gestalt des jungen Mannes sank tiefer auf die Lehne herab.

»Und wenn ich Dich nun bitte, es nicht zu thun, Angelica?«

»Das ist umsonst! Ich gehe!«

»Wirklich? Ganz bestimmt?«

»Ganz sicher. Es bringt mich nichts davon ab! Ich selbst will es, und der Vater hat es auch befohlen!«

Da richtete er sich langsam auf. Es wurde ihm dunkel vor den Augen; er fühlte, daß er schwankte, aber es gelang ihm doch, die Thür zu erreichen. Dort drehte er sich noch einmal halb um und sagte:

»Leb wohl, Engelchen, mein liebes, liebes, gutes Engelchen!«

Vielleicht wollte er diese Abschiedsworte in einem sanften, zarten Tone sprechen, aber er brachte es nicht fertig. Seine Stimme klang heiser, beinahe kreischend. Er hatte aller seiner Kräfte bedurft, um überhaupt noch sprechen zu können.

Die Stubenthür schloß sich hinter ihm. Seine Schritte gingen laut und schlürfend nach der Hausthür; es dauerte lange, bis dieselbe geöffnet wurde, und dann schlug er sie mit lautem Schalle zu.

Sie stand noch an derselben Stelle, auf welcher sie ihm ihre letzte Antwort gegeben hatte.

»Was ist das?« fragte sie. »War er betrunken? O nein, das ist er all seiner Lebtage niemals gewesen. Es war die Wuth. Der Grimm bringt den Menschen ebenso in’s Taumeln und raubt ihm auch die Stimme, gerade so wie der Schnaps. Nun gut, er soll es merken, daß ich mir aus seiner Wuth nichts, gar nichts zu machen brauche!«

Sie trat an den Spiegel, betrachtete sich und flüsterte dabei:

»Ein Mädchen darf ihre Schönheit Keinem zeigen, so hat er gesagt. Bin ich denn schön? Na, ein Bischen hübsch mag ich schon sein, aber schön bin ich gewiß nicht; schön kann nur eine feine Dame sein. Schade um ihn! Er ist ein so bildsauberer, ordentlicher Bursche! Aber die Jähzornigkeit, die ich heute bei ihm gesehen habe, kann eine Frau nur unglücklich machen. Wie gut, daß ich noch zur rechten Zeit dahinter gekommen bin, sonst wäre es vielleicht gar möglich gewesen, daß ich ihn lieb gewonnen hätte.«

Sie ging hinaus, um zu sehen, ob die Hausthür wirklich in das Schloß gefallen sei; dies war der Fall, dennoch öffnete sie dieselbe; warum, darüber fragte sie sich allerdings nicht um Rechenschaft. Ihr Blick fiel hinüber zum kleinen Nachbarhäuschen. Dort an der Ecke, in sich zusammengesunken, kauerte eine Gestalt, welche keine Bewegung zeigte.

»Ah, er wartet,« dachte sie, »er meint, daß ich ihm nachlaufen soll, um ihn zurückzurufen und ihm gute Worte zu geben. Aber da irrt er sich gewaltig! Wer mich beleidigt, dem springe ich nicht hinterher. Er hat sich niedergekauert, weil es bitter kalt ist. Nun, er mag frieren. Wenn er merkt, daß ich nicht komme, wird er schon schlafen gehen.«

Der aber, welcher drüben an der Ecke kauerte, dachte nicht daran, daß sie ihm nachlaufen solle. Er war ein rüstiger Bursche; aber er hatte mehrere Wochen lang bei geringster Kost sich übermäßig angestrengt, und zu dieser körperlichen Schwäche kam nun heute der gewaltige, seelische Schlag. Dem konnte er nicht widerstehen.

Er kauerte dort lange, lange Zeit. Dann endlich raffte er sich auf und ging in das Haus, um sein Lager aufzusuchen. Dort lag er noch stundenlang wach und in dumpfem Brüten. Der wohlthätige Genius des Schlafes überraschte ihn erst spät, so daß es fast Mittag war, als er erwachte.

Heute war Sonntag. Als er in das Wohnzimmer trat, war dasselbe gut geheizt, jetzt eine Seltenheit, und vom Ofen her verbreitete sich ein kräftiger, erquickender Fleischgeruch. Die Familie hatte nach langer Zeit endlich einmal wieder ein hinreichendes Sonntagsmahl. Während des Essens sagte die Mutter zu Eduard:

»Du hast sehr lange geschlafen und weißt also die Neuigkeit noch nicht. Der Bruder des Seidelmann, der heilige Schuster, ist jetzt Vorsteher einer Secte und wird mit der Erlaubniß des Pastors und des Bürgermeisters heute Nachmittag um Fünf im Schänksaale eine Missionspredigt halten. Gehst Du hin?«

»Ich weiß es noch nicht,« antwortete er einsilbig.

Nach Tische wanderte er hinaus nach dem Schachte, um mit dem Obersteiger zu sprechen. Er durfte annehmen, daß der brave Förster bereits bei demselben gewesen sei. Dies war auch wirklich der Fall, aber gerade eben als der Obersteiger seine Zusage gegeben hatte, war ein Bote von Seidelmann’s gekommen und hatte den Befehl gebracht, daß Eduard Hauser wenn er ja um Arbeit anfragen sollte, ein für alle Mal abzuweisen sei.

»Wer hat das befohlen?« fragte der Obersteiger.

»Der junge Herr; aber der Vater und der Oheim wissen auch davon.«

Da wendete sich der Beamte achselzuckend zu dem Förster und sagte in aufrichtig bedauerndem Tone:

»Es thut mir herzlich leid; aber dagegen läßt sich gar nichts thun. Sie kennen die Verhältnisse nicht. Der heilige Seidelmann ist Bevollmächtigter des Herrn Barons, und außerdem sind Verhältnisse zu berücksichtigen, von denen ich hier gar nicht sprechen kann.«

Als Eduard kam, sah er seine Hoffnung in Trümmer fallen.

Am Morgen dieses Tages hatten zwei Lastwägen vor der Thüre des Seidelmann’schen Hauses gehalten, von denen eine große Anzahl Webstühle abgeladen worden waren.

»Was willst Du mit dem Zeuge?« hatte der einstige Schuster seinen Bruder gefragt. »Es ist ja alt und abgenutzt?«

Der Fabrikant streichelte wohlgefällig sein Kinn und antwortete:

»Das verstehst Du nicht. Diese Webstühle habe ich aus einer Concursmasse erstanden; das Stück kostet mich zwei Gulden. Wer hier von mir Arbeit haben will, muß seinen Stuhl von mir nehmen, entweder per Kauf oder auf Miethe. Ich verkaufe das Stück zu zwanzig Gulden; die Miethe beträgt sechs Gulden pro Jahr. Wird der Stuhl alt und es bricht Etwas, ist der Miether contractlich gezwungen, mir zwanzig Gulden zu zahlen.«

Der Vorsteher der Brüder und Schwestern der Seligkeit nickte zustimmend mit dem Kopfe und sagte:

»Ein Jeder wuchre mit dem Pfunde, das ihm verliehen ist! Wohl dem, der die Bedeutung der Schriftworte so klar erkennt, daß sie ihm Nutzen bringen!«

Zu derselben Zeit saß der junge Seidelmann im Comptoir und bemühte sich, für den zu erwartenden Maskenball die Figuren einer Polonaise zu Papier zu bringen. In der hintersten Ecke des Raumes stand ein hageres, dürftiges Männchen am Stehpulte und kritzelte lange Ziffernreihen in ein Contobuch. Dieser Schreiber schien nicht sehr gelaunt darüber zu sein, daß er gezwungen war, am Sonntag Vormittage hier zu arbeiten. Er trippelte mit den Füßen; er kaute ungeduldig an der Feder; endlich klappte er das Buch zu und näherte sich dem jungen Prinzipale. Dieser bemerkte das und fragte ziemlich barsch:

»Was wollen Sie?«

»Ich möchte bitten, mich doch für heute zu entlassen, mein verehrtester Herr Seidelmann!«

»Das geht nicht. Sie werden gebraucht.«

»Ich habe bereits gestern die Ehre gehabt, Ihnen zu sagen, daß meine Frau schwer krank darnieder liegt.«

»Was geht das uns an! Ihre Tochter mag sie pflegen, oder schicken Sie sie in das Hospital!«

Ueber das hagere, leidende Gesicht des Schreibers flog ein demüthiges, trübes Lächeln. Er antwortete:

»Im Hospital muß ich zahlen, und das kann ich nicht. Meine Tochter pflegt die Mutter bereits, aber sie hat jede Minute ein Ereigniß zu erwarten, welches selbst beinahe eine Krankheit genannt werden kann.«

Dabei richtete sich das Auge des Schreibers forschend auf das Gesicht des Prinzipales. Dieser vermochte nicht, eine leise Röthe zu verbergen, und sagte:

»So rufen Sie nach einem Arzte!«

»Ich habe bereits zu Doctor Werner geschickt, aber er ist bisher noch nicht gekommen.«

»Ich habe das erfahren und ihm verboten, zu Ihnen zu gehen! Was denken Sie denn eigentlich? Ein Comptorist unseres weltberühmten Hauses wendet sich an einen Knappschafts-und Armenarzt! Wir sind ja blamirt für ewige Zeiten!«

»Verehrtester Herr, ich möchte mich ja sehr gern den Ansprüchen Ihres Hauses gemäß verhalten, aber zwanzig Gulden Monatsgehalt bei einer kranken Frau, vier unerwachsenen Kindern und einer Tochter, welche ihrer Entbindung entgegensieht!«

Wieder zeigte sich jene Röthe im Gesicht des Prinzipales.

»Zwanzig Gulden sind vollauf genug!« sagte er. »Man schränke sich mehr ein; man lebe nicht in Sauß und Brauß! Andere Leute müssen auch rechnen, wenn sie auskommen wollen.«

»Und dennoch möchte ich ganz unterthänigst zum dritten Male um eine kleine Gehaltszulage bitten. Ich hoffe, daß ich brauchbar bin!«

»Brauchbar sind Sie, das ist nicht zu bestreiten; aber es ist bei uns Grundsatz, niemals einen Gehalt zu erhöhen. Fängt man bei dem Einen an, so kommen die Anderen auch gelaufen. Legen Sie besonders dem weiblichen Theile Ihrer Familie einige Beschränkung auf, so werden Sie bald bemerken, daß Sie sich besser stehen!«

Das war dem armen Schreiber denn doch zuviel. Er richtete sich auf, soweit es seine Gestalt erlaubte; seine müden Augen funkelten durch die Brille, und er antwortete:

»Gerade auf Veranlassung dieses Theils meiner Familie habe ich mich an Sie zu wenden, Herr Seidelmann. Meine älteste Tochter ist unverheirathet; sie erwartet ihre Stunde, sie erwartet aber auch mit wenigstens derselben Gewißheit Ihre Unterstützung!«

Da sprang der junge Seidelmann von seinem Sessel auf und rief: »Sie erwartet ihre Stunde? Was soll das heißen?«

»Fragen Sie eine Hebamme!«

»Und sie erwartet meine Unterstützung? Was heißt das?«

Der Schreiber zuckte die Achseln und sagte:

»Verlangen Sie das wirklich zu wissen, Herr Seidelmann?«

»Natürlich! Ich begreife gar nicht, wie meine Person in Beziehung zu einer Unterstützung für Ihre Tochter gebracht werden könnte!«

»Nun, so muß ich allerdings sprechen. Ich bin Ihr Untergebener und verdiene mir bei Ihnen mein Brod, wenn es auch mehr als spärlich ist. Ich bin Ihnen Achtung schuldig und zolle sie Ihnen auch gern, aber dennoch muß ich sagen, daß ich es geradezu unbegreiflich finde, daß Sie so thun können, als wüßten Sie nichts.«

»Den Teufel weiß ich! Ich verlange Aufklärung! Aus Ihren Andeutungen kann ich mir höchstens ersehen, daß ich jedenfalls das Opfer eines schlechten Streiches, einer Mystification, oder sonst einer Dummheit werden soll.«

»Es handelt sich hier weder um eine Mystification noch um eine Dummheit, aber allerdings um einen schlechten Streich. Sie entsinnen sich doch wohl, daß voriges Frühjahr Ihr Dienstmädchen krank geworden war?«

»Ja. Wir schickten Sie in das Krankenhaus, in welchem sie geheilt wurde.«

»Sie war daselbst eine Woche in Verpflegung. Sie machten mir damals den Vorschlag, Ihnen während dieser Zeit meine Tochter zur Aushilfe zu geben.«

»Das war eine Gefälligkeit von unserer Seite, denn Ihre Tochter hat für diese Woche anderthalb Gulden erhalten, ein wahrer Fürstenlohn! Das würde für das ganze Jahr achtundsiebzig Gulden ergeben. Welches Gesinde verdient sich so viel?«

»Streiten wir nicht darüber! Sie wissen jedenfalls auch, daß in der letzten Nacht, in welcher meine Tochter in Ihrem Hause schlief, sich Jemand in ihre Kammer schlich?«

»Ich soll das wissen? Es hat sich Jemand in ihre Kammer geschlichen? Ah, das wirft allerdings ein höchst eigenthümliches Licht auf Ihr Fräulein! Sie hat also einen Liebhaber gehabt, den sie mit in ihre Kammer genommen hat? Das ist interessant, sehr Interessant!«

Man hätte den scharfen Blitz, welcher jetzt durch die Brille des Schreibers zuckte, den matten Augen des Letzteren kaum zugetraut. Eine zornige Röthe färbte sein hageres, abgehärmtes Gesicht, indem er sagte:

»Ich bitte Sie sehr, die Ehre meines Kindes nicht anzutasten. Ich weiß ganz genau, daß meine Tochter niemals einen Liebhaber gehabt hat, am Allerwenigsten aber einen, den sie mit in die Kammer genommen hätte. Derjenige, welcher es gewesen ist, hat die Thür hinter sich verschlossen und dann dem Mädchen, welches vor Ermüdung in tiefem Schlaf gelegen hat, Gewalt angethan. Sie hat sich nach Kräften gewehrt; sie hat auch um Hilfe gerufen; aber die Kammer liegt unter dem Dache des Hintergebäudes, und Niemand hat ihr Rufen gehört.«

»Ah, das ist ja ein wirkliches Abenteuer! Wer ist denn der Glückliche gewesen?«

»Der Sohn des Hauses!«

Seidelmann brachte es fertig, seinem Gesichte einen ganz erstaunten Ausdruck zu geben.

»Was?« rief er. »Der Sohn des Hauses soll es gewesen sein?«

»Ja.«

»Und in unserem Hause ist es geschehen, behaupten Sie?«

»Ja.«

»Der Sohn dieses Hauses bin ja ich! Wollen Sie etwa damit sagen, daß ich der Thäter gewesen sein soll?«

»Nichts anderes!«

»Himmeldonnerwetter! Was fällt Ihnen ein?«

»Ich sage die Wahrheit!«

»Lügen, nichts als Lügen sind es! Ihre Tochter hat jedenfalls mit einem Burschen geliebelt, der nun, da sich die Folgen zeigen, ihr Nichts zahlen kann oder will. Da soll nun ich vorgeschoben werden. Ich danke! Das ist stark, sehr stark! Und das wagen Sie Ihrem Prinzipal anzuthun, bei dem Sie in Lohn und Brod stehen!«

»Es ist ein Wagniß, aber es muß unternommen werden! Ich wollte, als meine Tochter meiner Frau das betreffende Geständniß machte, Sie polizeilich zur Rechenschaft ziehen lassen. Das Gesetz bestraft ja solche Thaten sehr streng. Aber da ich mein Brod bei Ihnen finde, mein trockenes Brod, so gab mir meine Frau gute Worte, es nicht zu thun. Nun aber hoffe ich, daß Sie das Mädchen nicht im Stiche lassen.«

Fritz Seidelmann stemmte beide Hände in die Hüften, warf den Kopf empor und fragte im impertinentesten Tone, den es nur geben kann:

»Befehlen Sie vielleicht gütigst, daß ich Ihre Tochter heirathe?«

»Das fällt mir gar nicht ein! Ich hoffe jedoch, daß Sie ehrlich genug sein werden, sich des armen, unschuldigen Kindes, welches wir erwarten, anzunehmen.«

»So, so! Weiter nichts?«

»Nein, weiter nichts.«

»Und wenn ich das nicht thue?«

»So werde ich den Weg des Gesetzes betreten müssen«

»Schön, mein Lieber. Thun Sie das! Sie werden ja erfahren, wie weit es auf diesem Wege zu bringen ist.«

»Meine Tochter wird Sie als Vater angeben.«

»Nach dem Gesetze unseres Landes wird mir der Schwur zugeschoben werden, und ich werde mit dem besten Gewissen und der Wahrheit gemäß beeiden, daß ich mit dem Mädchen nicht das Geringste zu thun gehabt habe!«

Der Schreiber machte trotz dieser Worte ein siegesgewisses Gesicht und sagte:

»Sie werden diesen Meineid nicht thun können, denn meine Tochter wird beweisen können, daß Sie es gewesen sind.«

»Beweisen? Ah, ich wäre doch sehr begierig, zu erfahren, wie sie den Beweis liefern würde!«

»Ich sollte es eigentlich jetzt noch nicht verrathen; da mir aber an Ihrer Feindschaft nichts liegen kann, und da ich ferner hoffe, Sie durch meine Aufrichtigkeit zum freiwilligen Nachgeben zu bewegen, so will ich Ihnen erklären, daß meine Tochter im Besitze eines Gegenstandes ist, durch den der betreffende Beweis allerdings erbracht werden kann.«

»Welcher Gegenstand wäre das?«

»Sie hat Sie trotz der Dunkelheit, welche natürlich in der Kammer herrschte, an der Stimme erkannt; außerdem aber hat sich während des Ringens mit Ihnen ein Ring von Ihrem Finger abgeschoben und ist in der Hand meiner Tochter geblieben. Sie hat ihn behalten, um seiner Zeit beweisen zu können, daß Sie es gewesen sind, der die Alimente zu zahlen hat.«

Fritz Seidelmann fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Er war sichtlich verlegen geworden.

»Man soll erst beweisen, daß der Ring der meinige ist, daß er wirklich mir gehört,« sagte er.

»Der Beweis ist leicht. Ihr Name ist auf der Innenseite deutlich zu lesen. Der Goldschmidt, von dem Sie den Ring haben, wird leicht aufzufinden sein.«

»Alle Teufel! Sie wollen wirklich gegen mich auftreten, gegen mich prozessiren?«

»Sie zwingen mich dazu!«

»Und dabei bitten Sie mich um Gehaltszulage!«

»Ich habe bereits jetzt gehungert und gekummert genug; erhält meine Familie noch solchen Zuwachs, und zwar durch Ihre Schuld, so kann ich mit meinem kärglichen Gehalte unmöglich auskommen. Früher verdiente meine Frau noch nebenbei durch Näharbeiten ein Weniges; jetzt aber ist sie krank; es geht nicht mehr.«

»Lassen Sie sie kuriren!«

»Kann ich das? Einen Arzt kann ich nicht bezahlen, ebenso wenig die theure Medizin, und an den Armenarzt darf ich mich nicht wenden, weil Sie sagen, daß dies dem guten Rufe Ihres Hauses schade. Wie soll ich da die Kranke kuriren?«

»Sparen Sie!«

»Mein Gott, mein Gott, wie soll ich sparen! Ich bitte Sie um Gotteswillen mich und mein Kind nicht im Stiche zu lassen! Ich will für Sie arbeiten, so fleißig und so treu wie kein Anderer! Sie sollen stets mit mir zufrieden sein!«

»Das ist bereits jetzt Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit! Zulage kann ich nicht geben, principiell nicht!«

»Aber Sie nehmen sich wenigstens meiner Tochter an?«

»Auch das kann mir nicht einfallen! Ich habe das Mädchen mit keinem Finger berührt! Wie sollte ich, ich, Friedrich Seidelmann, die Schande auf mich laden, der Vater eines unehelichen Kindes zu sein! Das ist rein unmöglich!«

»Aber Sie sind es ja doch!«

»Schweigen Sie! Diese Behauptung ist eine Frechheit, die ich gar nicht begreifen kann!«

»Nun wohl, so bin ich gezwungen, aus Ihrem Dienst zu treten. Ich kündige!«

»Ah, wirklich? Wollen Sie verhungern?«

»Gott wird mir helfen! Ich habe bereits eine andere Stelle halb und halb zugesagt erhalten.«

»Wirklich?« erklang es höhnisch. »Das muß in Ostindien sein oder in Amerika, denn hier giebt es keine einzige Vacanz.«

»Es ist in der Nachbarschaft.«

»Das glaube ich nicht. Bei wem denn, he?«

»Beim Kaufmann Strauch.«

»Ah, bei dem! Hm, Hm! Und da bekommen Sie wohl jedenfalls auch mehr Gehalt?«

»Zehn Gulden monatlich mehr.«

Seidelmann nickte mit dem Kopfe leise vor sich hin und fragte, indem er dem Schreiber einen Seitenblick zuwarf:

»Und da gehen Sie wohl sehr gern fort von hier?«

»Ich weiß, daß Sie mich nothwendig brauchen; denn ehe mein Nachfolger sich nur einigermaßen eingearbeitet hat, werden Jahre vergehen; aber Sie zwingen mich!«

»Ja, ich zwinge Sie, aber nicht zum Gehen, sondern zum Bleiben! Ich nehme Ihre Kündigung nicht an!«

»Sie müssen Sie annehmen! Ich werde Ihnen vor Zeugen kündigen!«

»Thun Sie das! Aber ich sage Ihnen im Voraus, daß Sie mich bitten werden, bei uns bleiben zu dürfen.«

»Lieber sterbe und verderbe ich! Also, Herr Seidelmann, beharren Sie auf Ihrer Weigerung?«

»Ja. Ich kann nicht gegen die Wahrheit! Ich kann mir nicht eine Vaterschaft aufbürden lassen, von der ich nichts weiß!«

»Gut, so sind wir einstweilen fertig! Aber jetzt wenigstens werden Sie mir erlauben, nach meiner kranken Frau zu sehen.«

»Sind Sie mit der Arbeit fertig?«

»Nicht ganz. Ich werde heute Nachmittag noch eine Stunde schreiben.«

»Das kann mir nicht passen! Wenn Sie fertig sind, können Sie gehen, keine Minute eher!«

Der Schreiber mußte alle seine Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht aufzubrausen. Er räusperte sich und sagte dann:

»Ich werde trotzdem gehen!«

»Oho! Sie haben zu arbeiten!«

»Von einer Sonntagsarbeit steht kein Wort in unserem Contracte! Ich habe lange, lange Jahre meine Sonntage hinter Ihrem Pulte zugebracht, ohne einen einzigen Kreuzer oder nur ein einziges anerkennendes Wort dafür zu erhalten! Ich wollte Ihnen ein treuer Diener sein. Jetzt ist meine Frau todtkrank; ich bin ihr Mann und der Vater ihrer Kinder; sie muß mir lieber sein als Ihr Pult! Ich gehe!«

Er wendete sich um, griff nach der Mütze und ging.

»Verdammt!« brummte Seidelmann. »Der Hund fängt an, zu murren! Dieser Pöbel glaubt wirklich, uns den Stuhl vor die Thür stellen zu können! Wenn den Hungerleider der Hafer sticht, so wird man ihm den Brodkorb höher hängen müssen!«

Da ging die Thüre auf, und der fromme Schuster trat ein.

»Höre Fritz, das ist ja ein unverschämter Kerl!« sagte er.

»Wer?«

»Euer Schreiber. Er rannte an mir vorbei, ohne mich zu grüßen!«

»Das ist sonst seine Art und Weise nicht.«

»Er sagte zwar ›Adieu‹, aber die Mütze behielt der Mensch auf dem Schädel!«

»Er hat das vergessen. Er war, hm, er war in der Hitze!«

»In der Hitze? Bei dieser Kälte? Hast Du ihm eingeheizt?«

»Freilich! Eigentlich aber wollte er mir einheizen.«

»Wirklich? Beginnen die Kinder dieser Welt sich auch in dieser abgeschiedenen Gebirgsgegend zu regen? Ist der Antichrist auch bereits hier eingezogen? Vergessen auch hier die in die Christenheit aufgenommenen Seelen, was zu ihrem Frieden dient?«

»Freilich! Diese Seelen werden zu üppig. Sie wollen indische Vogelnester und Caviarsemmeln essen. Der Schreiber verlangte, denke Dir nur, Gehaltszulage!«

»Ziehe ihm zehn Gulden monatlich ab!«

»Und sodann ist er ohne meine Erlaubniß, sogar gegen meinen Befehl fortgegangen, noch ehe er mit seiner Arbeit fertig geworden ist.«

»Warum?«

»Er sagt, seine Frau sei krank.«

»Gott wird ihr helfen, darum mußte er bei der Arbeit bleiben.«

»Er sagte, er sei zur Sonntagsarbeit nicht verpflichtet.«

»So kennt er nicht die Gebote der heiligen Schrift. Der Heiland sagt, daß man den Ochsen und den Esel, welcher des Sonntags in eine Grube fällt, herausziehen soll. Mit diesen Worten gebietet und heiligt er die Sonntagsarbeit. Wäre ich hier gewesen, so hätte ich diesem Schreiber den Standpunkt klar gemacht. Er hätte sich auf keinen Fall entfernen dürfen.«

Fritz hatte beide Hände zusammengelegt und schritt unruhig im Comptoir auf und ab. Jetzt blieb er vor dem Heiligen stehen und sagte:

»Onkel August, Du bist ein gewiefter, spitzfindiger Kerl. Du hast schon Manches glatt gemacht, was bei anderen nicht eben werden wollte. Ich muß Dich um einen guten Rath ersuchen.«

»Sprich, lieber Fritz! Du machst ein ganz ungewöhnliches Gesicht. Ich hoffe nicht, daß Dir etwas Schlimmes widerfahren ist!«

»Und doch ist es so! Ich befinde mich in der Klemme; ich bin in eine schauderhafte Verlegenheit gerathen!«

»Das klingt ja wirklich schlimm! Heraus damit, wenn Du meinst, daß mein Rath Dir nützen kann!«

»Jawohl, heraus muß es! Mit dem Vater mag ich vorerst nicht darüber sprechen. Es ist eine miserabel discretionelle Sache. Erinnerst Du Dich des hübschen Dienstmädchens, welches bei Deinem letzten Besuche zu Ostern bei uns war?«

»Du meinst das kleine, bildsaubere Ding mit dem schwarzlockigen Haar?«

»Ja.«

»Die war allerdings zum Anbeißen. Ich bin ein Diener der Seligkeit; aber ich versage dem Schöpfer niemals meine Bewunderung, wenn ich eines seiner Meisterwerke erblicke.«

»Nun, ich bewunderte damals das Werk mehr als den Schöpfer.«

»Das war nicht christlich von Dir. Ich ahne, daß Du nicht bei der bloßen Bewunderung stehengeblieben bist.«

»Allerdings nicht! Ich wollte das Mädchen haben; aber sie war verteufelt spröde! Sie ließ sich nicht angreifen!«

»Das war tugendhaft von ihr!«

»Pah! Tugend! Berechnung war es! Das weibliche Geschlecht ist zur Liebe geboren; die Liebe von sich zu weisen, heißt, den Willen des Schöpfers mißachten.«

Ueber das glatte Faungesicht des Heiligen zuckte ein ganz und gar undefinirbares Lächeln.

»Ich widerspreche Dir nicht,« sagte er. »Hat doch auch Judith zu Ehren des Herrn und zur Rettung ihres Volkes das Lager des Holofernes getheilt! Also, Du wurdest abgewiesen?«

»Leider! Und wie! Sie drohte sogar mit Ohrfeigen!«

»Ein streitbares Mädchen!«

»Ich mußte zur List greifen. Ich schlich mich in ihre Kammer. Sie schlief, und da –«

Er hielt inne. Sein Oheim nickte ihm zu und fragte:

»Und da – was weiter?«

»Das kannst Du Dir denken. Sie hat sich zwar gewehrt wie ein Teufel; sie hat sogar um Hilfe gerufen, aber das hat ihr nichts nützen können.«

»Lieber Fritz, das kann ich nicht gutheißen. Laß Dir mit den Worten der heiligen Schrift sagen, daß –«

»Halt ein, Oheim! Bleibe mir mit Deinen Bibelsprüchen fern! Ich weiß doch, wie wir zu einander stehen, und was ich von Dir zu halten habe. Hilf mir lieber aus der Patsche!«

»Na, worin besteht denn diese?«

»Nun das Mädchen ist die Tochter unseres Schreibers. Heute verlangt der Kerl von mir, seiner Tochter Alimente zu zahlen.«

Der Oheim machte eine Bewegung des Erstaunens.

»Das hat er gewagt, wirklich gewagt?« fragte er.

»Wirklich!«

»Philister über Dir, Simson! Ergreife die Säulen des Gebäudes und brich es zusammen!«

»Das mag der Teufel fertig bringen! Ich bin kein Simson und kein Riese; in dieser Angelegenheit am Allerwenigsten!«

»Das Mädchen ist also in Hoffnung?«

»Sie erwartet ihre Stunde.«

»Fritz, Fritz, was für ein gottloser, und was noch viel, viel schlimmer ist, was für ein unvorsichtiger Mensch bist Du geworden?«

»Hofmeistere nicht! Gieb mir lieber einen guten Rath!«

»Hat sie einen Geliebten?«

»Sie hat niemals einen gehabt.«

»Geht sie zu Tanze?«

»Nie.«

»Das ist freilich fatal!«

»Es ist ihr leider nichts nachzuweisen. Sie lebt nur in ihrer Familie; sie besucht nicht einmal eine Rockenstube.«

»So bist Du ganz gewiß, daß sie Dich als Vater angiebt?«

»Ganz gewiß!«

»Aber Dir fällt ja der Schwur zu!«

»Das weiß ich wohl, doch werde ich gar nicht zum Eide kommen. Sie kann nämlich beweisen, daß ich es bin, der sie in der Kammer aufgesucht hat.«

»Das wäre allerdings verteufelt unangenehm! Die Ehre Deines und unseres Namens würde verloren sein! Weißt Du vielleicht, welchen Beweis sie zu erbringen vermag?«

»Ja. Sie hat mir während der Gegenwehr, welche sie leistete, einen Ring vom Finger gezogen. Den hat sie behalten. Wenn sie ihn vorzeigt, kann ich nichts machen.«

Da trat August Seidelmann einen Schritt zurück, schlug die Arme über die Brust, betrachtete seinen Neffen mit überlegenem Blicke, stieß ein kurzes Lachen aus und sagte:

»Fritz, Fritz, bist Du denn mit Blindheit geschlagen?«

»Ich blind? Wieso?«

»Sagt nicht der Heiland: Petro, stecke Dein Schwerdt in die Scheide, denn wer mit dem Schwerdte sündigt, der wird durch das Schwerdt umkommen?«

»Was geht mich Dein Petrus an! Ich verstehe Dich nicht, rede darum deutlicher!«

»Das soll heißen: Wer Anderen eine Grube gräbt, der fällt selbst hinein. Das Mädchen muß in ihre eigene Grube stürzen. Die Schlinge, welche diese Dirne Dir legt, wird sich um ihren Hals zusammenziehen!«

»Das wäre mir allerdings unendlich lieb; ich begreife nur nicht, wie es ermöglicht werden soll.«

»So höre! Der Ring ist Dein, wirklich Dein?«

»Ja. Ich habe ihn gleich am andern Morgen vermißt. Ich wußte, daß ich ihn bei ihr anstecken gehabt hatte.«

»Hast Du mit ihr davon gesprochen?«

»Ja. Sie hat gesagt, daß sie suchen will; aber später sagte sie, daß ich selber suchen solle. Sie kehrte nämlich an demselben Tage zu ihren Eltern zurück. Sie war nur eine Woche lang als Aushilfe bei uns.«

»Ist der Ring werthvoll?«

»Ich habe fünfzehn Gulden bezahlt.«

»Hat sie auch Dich zu bedienen gehabt? Ist sie auch in Deinem Zimmer gewesen, vielleicht gar während Deiner Abwesenheit?«

»Täglich einige Male.«

»Und Du siehst nicht ein, daß sie den Ring gestohlen hat!«

Fritz trat einen Schritt zurück, riß die Augen auf und rief:

»Alle Teufel! Du hast Recht!«

»Mit Hilfe dieses Diebstahles will sie Geld, Alimente von Dir erpressen! Bist Du mit dem Gerichtspersonal bekannt?«

»Sehr gut sogar. Einige Mitglieder des Amtspersonals sind in unserem Casino.«

»Der erste Zug gewinnt; wer zuerst kommt, der mahlt zuerst. Du mußt diesem Mädchen und ihrem Vater zuvorkommen.«

»Du meinst, daß ich Anzeige machen soll?«

»Natürlich! Ihren Vater jagst Du aus der Arbeit!«

»Hm! Das geht nicht! Wir bekommen keinen Mann wieder, der so ist wie er. Er ist treu und zuverlässig und arbeitet für Drei. Das muß ich aufrichtig gestehen. Uebrigens hat er mir gekündigt.«

»Hat er eine andere Stelle?«

»Ja; aber ich werde dafür sorgen, daß er sie nicht erhält!«

»Das ist klug. Das Mädchen muß arretirt werden, und ihren Vater zwingst Du, bei Dir zu bleiben. Das wird zu Deinem Ruhme dienen, denn man wird sich sagen, daß Du dem Vater nicht entgelten läßt, was die Tochter gesündigt hat. Ich hoffe, daß Du meinen Rath befolgen wirst!«

»Er ist der beste, den Du mir geben kannst. Du bist ein Schlaukopf vom Scheitel bis zur Zehe. Ich danke Dir, Onkel!«

»Schon gut! Laß keinen Augenblick vergehen. Die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder der Seligkeit. Man darf ihnen keinen Augenblick des Ueberlegens gönnen.«

Er ging. Fritz nahm einen Briefbogen und schrieb:

 

»Lieber Freund!

 

Soeben erfahre ich zu meinem allergrößten Erstaunen, daß Du unseren Schreiber engagiren willst. Ich hoffe, daß dieses Gerücht ein ersonnenes ist! Du weißt, wie wir stehen, und daß Du zum großen Theile mit unserem Capitale arbeitest. Sollen wir vielleicht von Dir selbst gezwungen werden, es Dir zu entziehen?

Fritz Seidelmann.«

 

Er adressirte den Brief und klingelte. Nach wenigen Augenblicken trat ein junger Bursche ein, der hier im Geschäfte als Markthelfer angestellt war.

»Du gehst jetzt sofort in die Kreisstadt, um dem Kaufmann Strauch diesen Brief zu bringen; weißt Du, Dem, welcher Mitglied unseres Casinos ist!«

»Ich weiß es, Herr Seidelmann.«

»Vorher aber gehst Du zum Gensd’arm. Ist er zu Hause, so soll er sogleich zu mir kommen.«

Der Markthelfer entfernte sich mit dem Briefe, um diese Befehle auszurichten. Er war kaum fort, so kehrte der Oheim zurück. Er hatte ein Zeitungsblatt in der Hand und fragte:

»Hast Du den heutigen ›Stadt-und Landboten‹ bereits gelesen, Fritz?«

»Nein.«

»Da, horch, diesen kurzen Artikel! Wenn das wahr ist, so können wir uns nur in Acht nehmen!«

Er las folgende Zeilen vor:

 

»Jedermann weiß, daß vor nun bereits längerer Zeit ein geheimnißvolles Wesen in der Residenz aufgetaucht ist, welches die dortigen Einwohner auf unbegreifliche Weise mit Wohlthaten überschüttet und sich dabei als ein furchtbarer Feind der Verbrecherwelt erweist. Man hat diesem sich in das tiefste Dunkel hüllenden Wesen den Namen ›Fürst des Elendes‹ gegeben.

So poetisch dieser Name klingt, der Träger desselben gehört doch nicht in das Reich der Poesie, sondern in dasjenige der Wirklichkeit, wie sich jetzt von Neuem ersehen läßt. Der Fürst des Elendes scheint nämlich seit Kurzem seinen Weg auch in unsere Gegend zu finden.

Vorgestern erhielt der Bürgermeister von Zackengrün, wo bekanntlich der Hungertyphus grassirt, von einem Unbekannten fünftausend Gulden für die Leidenden eingehändigt. Nach seinem Namen gefragt, sagte der Fremde, daß er der Fürst des Elendes sei, und verschwand.

An demselben Tage wurde der Pfarrer von Bodenbach, wo kürzlich vier Maurer verschüttet und todt unter den Trümmern hervorgezogen wurden, von einem unbekannten Herrn besucht, welcher ihm für jede der armen, betroffenen Familien fünfhundert Gulden einhändigte. Er nannte sich den Fürsten des Elendes und zog sich so schleunig zurück, daß ihm der würdige Geistliche nicht einmal zu danken vermochte.

Ferner weiß man, daß sich seit einiger Zeit in unserem eigenen Orte falsche Spieler herumtreiben. Es will der Polizei trotz anstrengendster Thätigkeit nicht gelingen, ihrer habhaft zu werden. Da empfängt der Bürgermeister einige Zeilen, in denen der Ort angegeben ist, an welchem sich die Gauner des Abends befinden werden. Der Wink wurde befolgt, und am Abende geriethen drei der berüchtigtsten Kümmelblättler in die Hände der rächenden Nemesis. Der Eine ist Diener des Barons Franz von Helfenstein gewesen, welchem letzteren Herrn bekanntlich das Kohlenbergwerk ›Gottes Segen‹ gehört, welches in der Nähe unseres Nachbarortes liegt. Die Zeilen aber waren mit dem Namen ›Fürst des Elendes‹ unterschrieben. Die Gauner hatten bereits mehrere Familien unglücklich gemacht. Man nahm ihnen eine reiche Beute ab, welche nun vielleicht den unvorsichtigen Opfern zurückerstattet werden kann.«

 

Fritz hatte aufmerksam zugehört. Jetzt aber sagte er:

»Das ist allerdings höchst interessant, uns aber kann es doch nicht interessiren!«

»Nicht? Oh, im Gegentheile, sehr!«

»Wieso?«

»Ich habe in der Residenz die Beobachtung gemacht, daß dieser sogenannte Fürst des Elendes es ganz besonders auf unseren Baron abgesehen zu haben scheint.«

»Das wäre allerdings sehr auffällig!«

»Nicht nur auffällig, sondern sogar beängstigend. Warum wird hier gerade dieser Diener besonders erwähnt? Doch wohl, um dem Baron einen Seitenhieb zu versetzen. Hast Du eine Ahnung, wer gemeint ist?«

»Jedenfalls Louis Helbig. Der Kerl gehört zu uns, hat uns aber mit seiner Spielwuth schon bedeutend zu schaffen gemacht. Ich habe gestern gehört, daß er arretirt worden ist.«

»So müssen wir die Ohren spitzen. Bisher ist Alles gut gegangen. Wir müssen kühn aber auch vorsichtig sein. Ich werde mich um diesen Fürsten des Elendes etwas mehr bekümmern als bisher. Wenn er uns über den Weg laufen will, so mag er sich in Acht nehmen, daß er nicht zu Falle kommt!«

»Nimm Du Dich selbst in Acht!«

»Pah! Wer vermuthet in dem Vorsteher meines Vereins – den – na, es ist ja nicht nothwendig, das Wort auszusprechen. Ja, die Frömmigkeit ist die beste Maske, die es giebt.«

»Sollte es wirklich keine bessere geben?«

»Nein. Wer die Böcke kennen lernen will, muß die Schafe von ihnen zu scheiden wissen. Wir arbeiten an der Aufgabe, die Besitzer der Millionen zu werden, welche der Baron zusammenträgt. Er arbeitet mit der Verbrecherwelt. Um solche Arbeiter zu finden, muß man zuvor die Guten kennen lernen. Das thue ich, indem ich mich dem Berufe gewidmet habe, ein Prediger in der Wüste zu sein. Hast Du Dir den Rath überlegt, den ich Dir vorhin gegeben habe?«

»Ich habe bereits nach dem Gensd’arm geschickt.«

»So will ich mich zurückziehen. Ich brauche bei dieser Conferenz nicht zugegen zu sein.«

Er ging, und kurze Zeit später kam wirklich der Gensd’arm. Der Markthelfer hatte ihn zu Hause getroffen, seinen Auftrag ausgerichtet und war dann nach der benachbarten Amtsstadt aufgebrochen. Dort hatte er den Brief an den Adressaten gegeben.

Dieser, der Kaufmann Strauch, war ein noch junger Mann, ungefähr in Fritz Seidelmann’s Alter. Er hatte die Zeilen gelesen und dann zu dem Boten gesagt:

»Es ist keine schriftliche Antwort nöthig. Sagen Sie Ihrem Herrn, daß ich gern bereit bin, ihm den Gefallen zu thun.«

Darauf kehrte der Markthelfer zurück. Der Schnee war tief, aber auf der Straße konnte man doch fortkommen. Die hier verkehrenden Schlitten hatten Bahn gebrochen.

Er mochte die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, als er einen Mann bemerkte, der ihm entgegen kam. Als dieser sich mehr genähert hatte, erkannte er Eduard Hauser in ihm. Der Letztere ging langsam und mit gesenktem Kopfe, als ob er sich in tiefen Gedanken befinde.

Beide blieben, als sie zusammentrafen, vor einander stehen.

»Du, Eduard?« fragte der Markthelfer. »Wohin willst Du?«

»Da vorwärts!«

»Am Sonntag? Doch also nicht in Geschäften?«

»Vielleicht doch! Ich will nämlich sehen, ob ich da nicht irgend eine Arbeit erhalten kann.«

»Ja, der Herr hat Dich abgelohnt.«

»Und auf dem Schachte bin ich nicht angenommen worden.«

»Ich weiß es.«

»Du? Woher?«

»Nun, ich darf eigentlich nicht aus der Schule schwatzen, denn des’ Brod ich esse, des’ Lied ich singe, wie das Sprichwort sagt; aber Fritz Seidelmann hat dem Obersteiger bedeutet, Dir ja keine Arbeit zu geben, falls Du nachfragen solltest.«

»Ist das wahr?«

»Ich weiß es genau.«

»Du selbst bist wohl zum Obersteiger geschickt worden?«

»Laß das gut sein. Ich habe Dir bereits mehr gesagt, als was ich sagen darf, aber ich hoffe, daß Du mich nicht etwa verrathen wirst.«

»Fällt mir nicht ein! Höre, Du bist öfter als ich hier in der Stadt. Weißt Du nicht einen Ort, wo ich Beschäftigung finden könnte?«

»Nein. Es fällt in der jetzigen Zeit außerordentlich schwer, irgendwo anzukommen. Glück auf!«

Er gab ihm die Hand und setzte seinen Weg fort. Eduard verfolgte den seinigen. Als er von dem Obersteiger abgewiesen worden war, hatte er nicht nach Hause gehen wollen. Die Seinigen hörten die traurige Nachricht ja zeitig genug. Er war in das Freie gegangen, um sich die Stirn im Winde zu kühlen, und da war ihm der Gedanke gekommen, einmal zu sehen, ob er in der Amtsstadt Beschäftigung finden könne. Der Markthelfer hatte ihm freilich schlechten Trost gegeben. Jetzt schritt er sinnend und grübelnd weiter.

»Es möchte noch sein!« sagte er vor sich hin. »Aber die Angelika, das Engelchen! Die macht mir bittre Sorge! Für mich wird der Herrgott sorgen! Finde ich keine Arbeit, so gehe ich weiter! Aber wie ist die Angelika zu retten? Wer ist es, der ihr den Anzug geschickt hat? Wenn ich das doch erfahren könnte!«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, hob den gesenkten Kopf und blickte um sich, als ob er eine Person suche, welche im Stande sei, seine Frage zu beantworten.

»Himmel, wenn ich dabei sein könnte!« fuhr er fort. »Ich würde sie beschützen! Dabei sein? Ist das nicht möglich?«

Er schritt sinnend weiter. Da plötzlich blieb er stehen und rief so laut, daß man es weit hören konnte:

»Ich hab’s! Ich hab’s!«

Er hielt erschrocken inne, schritt weiter und sagte leise:

»Dummhut, der ich bin! Ich schreie ja, daß es alle Welt hören könnte! Wie gut, daß Niemand in der Nähe war! Was ich vorhabe, das darf kein Mensch wissen! Geld wird’s kosten, aber wir haben uns heute Morgen ein Goldstück gewechselt, und hier in der Tasche stecken drei Gulden davon. Ob aber das Andere gelingen wird? Vielleicht! Die ganze Gegend fürchtet sich vor dem Waldkönig wie vor dem Teufel, und der Strauch ist auch kein Held; ich weiß das genau! Er ist der Einzige, von dem ich zufälliger Weise erfahren habe, daß er im Casino ist.«

Er begann jetzt schneller zu laufen als bisher. Als er die Stadt erreichte, bog er in eine der Gassen ein und blieb vor einer Thüre stehen, über welcher auf einer Firma zu lesen war, daß der Besitzer sich mit dem Ein-und Verkaufe alles Möglichen befasse. Neben der Thüre stand auf einem Blechschilde: »Maskengarderobe wird hier zu vorübergehendem Gebrauche verliehen.«

Das Geschäft war, als am Sonntage, nicht geöffnet. Dennoch trat Eduard ein, stieg die Treppe empor und klopfte an eine Thür. Diese wurde geöffnet. Ein scharfes, spitzes Mannesgesicht erschien, eine riesige, alte Brille auf der Nase.

»Was soll es sein?« klang es aus dem breiten, farblosen Munde hervor.

»Sie verleihen Masken?«

»Ja; treten Sie ein!«

Die Stube, in welcher sich Eduard jetzt befand, hing ganz voller alter Kleider, denen ein unangenehmer Duft entquoll. Der Händler betrachtete ihn prüfend und fragte dann:

»Für wen wollen Sie den Anzug?«

»Für mich.«

»Für Sie! Ich kenne Sie nicht.«

»Ich heiße Eduard Hauser und bin aus der Nachbarstadt.«

»Da kann ich Ihnen nur dann dienen, wenn Sie Kaution legen.«

»Ist das viel?«

»Der volle Werth des Stückes, welches Sie borgen. Haben Sie Maskenball daheim?«

»Ja. Nächsten Dienstag.«

»Ah, das Casino will auch hinüber. Diese Gesellschaft hat meine ganze Garderobe in Anspruch genommen. Ich kann Ihnen nur einen Domino bieten.«

Eduard wußte nicht was ein Domino ist, aber er wollte sich keine Blöße geben und sagte darum:

»Zeigen Sie mir ihn!«

»Er ist unten im Laden. Warten Sie einen Augenblick!«

Der Mann ging, und Eduard blieb allein zurück. Sein Blick fiel auf den alten Schreibtisch, an welchem er stand. Auf demselben lag ein aufgeschlagenes Buch, und da las er, ohne daß er bei der ungewöhnlichen Größe der Schrift noch näher zu treten brauchte:

»Herr Kaufmann Strauch einen Türkenanzug, fünf Gulden.«

Und darunter stand:

»Fräulein Marie Tannert, seine Geliebte, einen Anzug als Tscherkessin, auch fünf Gulden, bereits bezahlt.«

»Ah, das paßt herrlich!« flüsterte Eduard. »Da erfahre ich, wer zu mir gehört, wenn es klappt!«

Der Händler kam zurück. Was er Domino nannte, das war ein alter schwarzer Mantel aus dünnem, schlechtem Zeug, mit einer Kaputze.

»Wollen Sie auch eine Larve dazu?« fragte er.

»Ja.«

»Ich habe da eine seidene, welche das ganze Gesicht bedeckt. Zusammen würde das zwei Gulden kosten.«

»Das gebe ich.«

»Wollen Sie es gleich mitnehmen?«

Eduard wußte nicht, wo er die Maske zu Hause verbergen könne, so daß sie nicht entdeckt werden konnte; darum sagte er:

»Ich hole es mir übermorgen.«

»Mir auch recht! Aber einen Gulden müssen Sie heute doch anzahlen. Es ist das zu meiner Sicherheit, damit ich die Maske nicht weiter zu geben brauche.«

Eduard bezahlte den Gulden und ging. Er begab sich in ein ihm bekanntes Wirthshaus, wo er sich ein Glas Bier und sodann auch Papier, Tinte und Feder geben ließ. Er schrieb einen kurzen Brief, welcher folgendermaßen lautete:

 

»Herr Kaufmann Strauch.

 

Wenn Sie mit den Mitgliedern des Casinos den beabsichtigten Maskenball besuchen, sind Sie am dritten Tage darauf eine Leiche. Sie haben davon abzusehen, dies aber keinem einzigen Menschen zu sagen. Sie stellen sich krank und bleiben zu Hause. Auch die Tannert muß denken, daß Sie kommen. Ich hoffe, daß Sie gehorchen!

Der Waldkönig.«

 

Diesen Brief adressirte er, um ihn in den Kasten zu stecken. Dann erkundigte er sich, ob hier Jemand Tannert heiße.

»Ja,« antwortete der Wirth. »Es giebt nur einen einzigen Tannert. Das ist der reiche Bäcker in der nächsten Gasse.«

»Hat er eine Tochter?«

»Sein einziges Kind, die Marie. Die erbt einmal Alles.«

»Das wird dem lieb sein, der sie heirathet.«

»Freilich. Man munkelt, daß der Kaufmann Strauch ein Auge auf sie geworfen hat.«

Eduard wußte genug. Er trank aus, bezahlte seine Zeche und ging. Der Brief war bald besorgt, und dann trat er den Heimweg wieder an. Er hatte einen Entschluß gefaßt, den er ausführen wollte. Das gab ihm Kraft und Elasticität. Seine Schritte waren daher jetzt ganz andere als vorher.

Er war noch gar nicht sehr weit von der Stadt entfernt, so kam ihm ein Korbschlitten entgegen, in welchem außer dem Fuhrmanne drei Personen saßen. Er erkannte zu seinem Erstaunen den Schreiber Seidelmann’s, dessen Tochter und den Gensd’arm. Die Hände des Schreibers waren zusammengebunden; er stierte vor sich hin und schien Eduard gar nicht zu bemerken. Seine Tochter war blaß wie eine Leiche und hielt die Augen geschlossen. Auch sie sah also den jungen Burschen nicht, welcher erstaunt zur Seite getreten war, um den Schlitten vorüber zu lassen. Der Gensd’arm, den er grüßte, machte ein wichtiges Gesicht und dankte ihm mit einem kurzen Nicken des Kopfes. Eduard blickte dem Schlitten nach und murmelte bestürzt:

»Der Schreiber gefangen und seine Tochter dazu! Was mag da geschehen sein? Herrgott, der ist doch kein böser Mensch! Und die schwerkranke Frau daheim. Ich muß nur eilen, daß ich nach Hause komme! Da werde ich erfahren, was sich zugetragen hat!«

Er verdoppelte die Schnelligkeit seiner Schritte. Es wollte bereits Abend werden. Um fünf Uhr war in der Schänke die Versammlung, in welcher der Schuster Seidelmann eine Rede halten wollte. Eduard hatte sich vorgenommen, diese Rede anzuhören. Er ahnte keineswegs, was für eine Ueberraschung zu Hause seiner wartete. –

Der kleine Schreiber war so arm, daß er kein Haus, nicht einmal eine ärmliche Hütte besaß, wie es ihrer in dem Städtchen so zahlreiche gab. Er wohnte zur Miethe. Sein trauriges Heim bestand in einem kleinen Stübchen und einem noch kleineren Kämmerchen unter dem Dache, wo der Wind den Schnee zwischen den Schindeln hereintrieb.

Auf einem alten Kanapee, welches aber eigentlich nur eine alte, wackelige, und mit Lumpen belegte Holzstellage war, lag in der Wohnstube seine Frau. Die Kleinen befanden sich beim Wirth. Dieser war selbst arm, litt es aber gern, daß die Kinder zuweilen zu ihm kamen, um sich an seinem Ofen zu erwärmen. Dann hatte die Kranke doch wenigstens nicht den Anblick der leidenden Kleinen zu ertragen.

Beschwerlich fielen sie dem barmherzigen Wirthe keineswegs. Sie hockten still hinter dem Ofen und sahen stumm zu, wie er aus Holzstücken allerlei menschliche und andere Figuren schnitzte. Er verdiente sich sein kärgliches Brod nämlich mit der Anfertigung von Spielwaaren.

Droben in dem Stübchen saß die älteste Tochter bei der Mutter, um zu denjenigen Handreichungen bereit zu sein, welche bei der Krankenpflege nothwendig sind. Die Mutter lag bleich und mühsam athmend auf der harten Pritsche. Sie hielt die Augen geschlossen und öffnete sie kaum ein Wenig, wenn sie einmal eine Frage an die Tochter richtete.

Die Letztere war ein bildhübsches Mädchen. Jetzt allerdings sah auch sie leidend aus, eine Folge der Armuth, der mit der Krankenpflege verbundenen Anstrengung und ihres gegenwärtigen Zustandes. Grad eben jetzt hatte die Kranke die Augen geöffnet. Sie ließ den müden Blick auf ihrem Kinde ruhen und fragte mit leiser Stimme:

»Gustel, hast Du heute früh gegessen?«

»Ja, Mutter,« antwortete die Gefragte, indem sie leise erröthete.

Sie hatte nämlich eine Unwahrheit gesagt, und das war sie nicht gewohnt. Bei der Vorsicht aber, welche man der Kranken gegenüber beobachten mußte, konnte man derselbe nicht Alles wissen lassen.

»Was denn, Brödchen?« fragte diese.

»Ja, zwei.«

»Und die Kleinen?«

»Haben auch jedes zwei erhalten.«

Auch das war nicht wahr. Die Kinder hatten den harten Rest eines Brodes trocken verzehrt; Gustel aber hatte für sich keinen Bissen behalten.

»Weißt Du nicht, ob der Vater mit dem Arzte gesprochen hat?«

»Ich habe gehört, daß der Doctor vielleicht heute noch kommen wird, liebe Mutter.«

»Gott sei Dank! Dann werde ich gesund!«

Da kamen Schritte die Stiege herauf, und der Schreiber trat ein. Er ging zu der Kranken, ergriff ihre Hand und fragte:

»Wie befindest Du Dich, Mütterchen?«

»Ich danke Dir! Ich bin recht schwach, und das Athmen fällt mir heute noch schwerer als gestern. Kommt der Doctor?«

»Morgen früh!«

Er wendete den Kopf zur Seite, damit sie ihm nicht ansehen möge, daß er ihr zu Liebe eine Lüge gesagt habe.

»Morgen erst! Mein Gott, wie hartherzig doch die Menschen sind! Konnte er denn nicht bereits heute kommen? Hast Du mit Seidelmann gesprochen?«

»Ja.«

»Was sagte er wegen des Gehaltes?«

»Ich bekomme zehn – zehn Gulden mehr des Monats.«

Die Unwahrheit wollte ihm nicht über die Lippen; aber durfte er der Kranken die Wahrheit wissen lassen?

»Zehn Gulden!« sagte sie, erstaunt die mageren Hände faltend, die nur noch aus Haut und Knochen bestanden. »Zehn Gulden! Wieviel giebt dieß das ganze Jahr?«

»Hundertzwanzig Gulden.«

»Lieber Jesus, welche Summe! Nicht wahr, dann kaufen wir uns des Sonntags einmal ein Stückchen Butter?«

Bei dieser Frage traten ihm die Thränen in die Augen.

»Freilich!« antwortete er. »Butter und auch Fleisch werden wir dann des Sonntags haben!«

»Der Seidelmann ist doch nicht so schlimm, wie sie ihn beschreiben. Und was sagte er wegen – wegen –?«

Sie blickte nach der Tochter hin, und der Schreiber verstand sie sogleich. Er gab sich Mühe, eine möglichst sorglose Miene zu zeigen, und antwortete:

»Mache Dir keine Sorge! Auch das wird sich zum Besten wenden.«

»Gott sei Dank! Mir war sehr bange. Aber das Reden strengt an. Ich werde schlafen, schlafen, schlafen!«

Sie schloß die Augen. Sie lag da, als ob sie bereits gestorben sei. Vater und Tochter blickten einander an; dann verbarg die Letztere das Gesicht in die Händen. Sie hatte es ihm angesehen, daß es anders stand, als er gesagt hatte. Nach einer Weile fragte er flüsternd:

»Gustel, was essen wir heute?«

»Sauerkraut,« klang es leise und zögernd zwischen ihren Lippen hervor.

»Wieder!«

Bei diesem Worte senkte er den Kopf und legte, gerade so wie sie, das Gesicht in die Hände. Für fünfzehn Kreuzer Sauerkraut, Sauerkohl, hatte er am Montag gekauft. Das war nebst trockenem Brode während der ganzen Woche ihre einzige Nahrung gewesen.

»Mache es warm!« sagte er nach einer Weile.

Die Tochter gehorchte. Sie erhob sich und trat zum Ofen, um mit den wenigen Holzabfällen, welche der Wirth ihr heute geschenkt hatte, Feuer zu machen und das scharf und widrig gewordene Essen zu wärmen. Sie war noch damit beschäftigt, als schwere, polternde Schritte die Treppe heraufkamen. Die Thür wurde geöffnet, und der Gensd’arm trat ein.

»Guten Tag!« grüßte er. »Schön, daß Sie zu Hause sind. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Der Schreiber war bei dem Anblicke des Beamten erschrocken emporgefahren. Selbst Derjenige, welcher das beste Gewissen hat, fühlt eine gewisse Beklemmung, wenn er die Polizei bei sich zu empfangen hat.

»Was wünschen Sie?« fragte er.

»Ihre Frau ist krank. Haben Sie keinen anderen Raum, wo wir mit einander sprechen können?«

»Droben die Kammer unter dem Dache; aber da ist’s bitter kalt!«

Die Kranke hatte den Gensd’arm kommen gehört; auch seine Fragen hatte sie vernommen. Sie wendete ihm das Gesicht zu und fragte:

»Was wollen Sie? Weshalb wollen Sie mit ihm reden?«

Der Mann warf einen mitleidigen Blick auf sie und antwortete:

»Es ist weiter nichts, liebe Frau! Es handelt sich nur um eine Erkundigung.«

»Warum soll ich nichts davon hören? Wenn es eine gerechte Sache ist, so braucht man es mir nicht zu verschweigen.«

»Ja, sagen Sie hier, was Sie zu sagen haben!« bat der Schreiber. »Sie macht sich sonst unnöthige Sorgen.«

Der Gensd’arm winkte ihm ab; aber des Schreibers Frau merkte das und sagte:

»Winken Sie nicht! Ich will wissen, um was es sich handelt. Ich muß es wissen!«

Da sah sich der Gensd’arm zum Sprechen gezwungen. Er hätte gern einen Auftritt vermieden, welcher für die Patientin gefährlich werden konnte. Er versuchte darum auch jetzt noch, den mildesten Weg einzuschlagen, und fragte also:

»Sind Sie im Besitze von Kleinodien?«

»Kleinodien?« fragte der Schreiber erstaunt. »Sehen Sie sich um! Mein einziges Kleinod ist mein gutes Gewissen.«

»Sie haben keine kostbaren Uhren, Ringe, Ketten und dergleichen?«

»Gott, woher sollte ich solche Kostbarkeiten nehmen?«

»Und dennoch spricht man davon, daß solche Dinge bei Ihnen zu finden seien!«

»Herr, das könnte ich nicht begreifen. Meinen Sie etwa, daß ich Goldgeschmeide über die Grenze pasche? Ah, Herr Gensd’arm, hat man mich vielleicht als Schmuggler verdächtigt?«

»Ich habe darauf nicht zu antworten und will jetzt allen Ernstes meine Frage wiederholen.«

Da versuchte die Kranke, sich empor zu richten. Sie schüttelte unter einem traurigen Lächeln den Kopf und sagte:

»Herr, ich weiß, was Sie wollen! Man hat meinen Mann verdächtigt, und Sie sind gekommen, bei uns auszusuchen. Thun Sie das! Wir können ruhig sein!«

»Ja, thun Sie es,« sagte auch der Schreiber. »Man hat ja seine Feinde. Oder es hat sich Jemand einen albernen Scherz erlaubt.«

»Ich hoffe, daß es so ist,« meinte der Beamte. »Ich will nicht noch Andere hinzuziehen, da Sie mir erlauben, mich bei Ihnen umzusehen. Beginnen wir also!«

Er durchsuchte die vorhandenen Kasten und sonstigen Behältnisse resultatlos und ließ sich dann die Kammer zeigen. Vater und Tochter mußten ihm dorthin folgen. Auch hier wurde nichts gefunden. Nur eine kleine Truhe hatte er noch zu öffnen.

»Sie haben wirklich keinen der angegebenen Gegenstände in Ihrem Besitz?« fragte er nochmals.

»Nein.«

»Auch Sie nicht, Fräulein?«

»Nein,« antwortete sie.

»Gehört diese Truhe vielleicht Ihnen?«

»Ja; sie enthält nur meine Sachen.«

»So haben Sie die Güte mir den Inhalt zu zeigen!«

Sie öffnete und nahm Alles heraus. Es gab da einige grobe Wäsche und Kleidungsstücke, dann Kleinigkeiten, welche keinen Werth haben, von einem jungen Mädchen aber doch werth gehalten werden. Dabei befand sich auch ein kleines Pappschächtelchen. Es mochte früher Pillen oder sonstige Arznei enthalten haben.

»Was ist hier drin?« fragte der Gensd’arm.

Da sahen Vater und Tochter einander verlegen an. Sollte man nach diesem Gegenstande suchen?

»Ein Ring,« antwortete der Schreiber.

»Ein Ring? Sie haben doch wiederholt behauptet, daß Sie keinen Ring besitzen!«

»Sie haben doch nach Schmucksachen, nach Kostbarkeiten gefragt!«

»Gehören Ringe nicht zu den Schmucksachen? Zeigen Sie ihn!«

Das Mädchen öffnete das Schächtelchen, nahm den in Watte liegenden Ring heraus und gab ihn dem Beamten. Dieser betrachtete ihn aufmerksam und fragte dann:

»Ist der Ring Ihr Eigenthum, Fräulein?«

»Nein.«

»Wem gehört er?«

»Herrn – Herrn Seidelmann,« antwortete sie.

»Wie kommt er in Ihren Besitz?«

»Ich – ich habe ihn gefunden.«

»Und nicht zurückgegeben! Hat Ihr Vater davon gewußt?«

»Ich habe es gewußt,« antwortete der Schreiber.

Dem Gensd’arm that das Herz weh. Er war erst vor Kurzem in diese Gegend versetzt worden. Er kannte die Familie des Schreibers nicht; aber er sah die bittere Armuth rings umher; er blickte in das ehrliche, wenn auch verlegene Gesicht des Mannes und dieses Mädchens und sagte:

»Nach diesem Ringe habe ich gesucht. Es wurde Anzeige gemacht, daß er gestohlen worden sei. Sie haben geleugnet, solche Gegenstände zu besitzen. Wissen Sie, daß ich eigentlich gezwungen bin, Sie beide zu arretiren?«

»Um Gotteswillen!« rief der Schreiber.

»Ja! Ihre Tochter als Diebin und Sie als Hehler! Was hätten Sie wohl dagegen vorzubringen?«

»Herr, wir sind ehrliche Leute!«

»Und doch finde ich bei Ihnen den Ring, dessen Besitzer behauptet, daß er ihm gestohlen worden sei!«

»Ich habe ihn nicht gestohlen!« sagte das Mädchen. »Ich habe ihn nur zurückbehalten, weil ich Ursache dazu habe.«

»Ich will Ihnen alles Mögliche glauben. Ich habe auch nicht weitere Fragen an Sie zu stellen. Ich habe den Ring bei Ihnen gefunden; das muß mir genug sein. Sie aber haben sich zu verantworten. Ich wiederhole, daß ich Sie eigentlich arretiren müßte; aber Sie dauern mich, und ich will Ihnen diese Schande nicht anthun. Versprechen Sie mir, daß Sie Beide in zehn Minuten beim Bürgermeister sein werden?«

»Ja, das verspreche ich,« antwortete der Schreiber. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt. Wir werden kommen!«

»Gut! Ich verlasse mich auf Ihr Wort. Wenn Sie jedoch in zehn Minuten nicht da sind, so muß ich Sie holen.«

Er ging und begab sich, ohne die Wohnstube nochmals zu betreten, zum Bürgermeister. Den Ring nahm er natürlich mit. Bei dem genannten Stadtoberhaupte saß Fritz Seidelmann, der die Rückkehr des Gensd’armes erwartete.

»Nun,« fragte er ihn, »haben Sie den Ring gefunden?«

»Ja, wenn es dieser ist. Sehen Sie sich ihn an!«

Seidelmann betrachtete ihn und sagte:

»Er ist es. Herr Bürgermeister, ich erwarte, daß hier die ganze Strenge des Gesetzes in Anwendung kommt!«

Der Genannte verbeugte sich höflichst und antwortete:

»Sehr wohl, Verehrtester! Es ist traurig, wenn man nicht einmal seines Gesindes sicher ist. Verlassen Sie sich auf mich!«

»Warum haben Sie das Mädchen und den Vater denn nicht sogleich arretirt?« wendete sich Fritz an den Gensd’arm.

»Weil ich es nicht für nothwendig hielt. Diese Leute werden in fünf Minuten hier sein.«

»Es war Ihre Pflicht, sich ihrer zu versichern!«

»Ich glaube, meine Pflicht zu kennen, Herr Seidelmann. Ich erfülle dieselbe; mehr aber dürfen Sie nicht verlangen!«

»Pah! Mehr habe ich auch gar nicht verlangt. Adieu, Herr Bürgermeister. Darf ich vielleicht hoffen, Sie heute zum Souper bei uns zu empfangen?«

»Gewiß! Ich werde mich pünktlich einstellen. Adieu!«

Fritz ging in der Ueberzeugung, daß ihm sein Coup gelungen sei. Zu Hause angekommen, begab er sich sogleich zu seinem Oheim, welcher auf ihn wartete.

»Nun?« fragte der Heilige neugierig. »Wie steht es?«

»Der Gensd’arm hat gesucht und den Ring gefunden. Nun werden der Schreiber und sein sauberes Mädchen vom Bürgermeister vernommen.«

»So hast Du gewonnen! Mein Rath hat Dir Hilfe in der Noth gebracht. Jetzt aber laß mich allein! Ich habe noch an meiner heutigen Rede zu memoriren.«

»Worüber sprichst Du?«

»Ueber Gott den Herrn als Helfer in der Noth.«

»Famos! Deine Hilfe ist mir ebenso lieb!« –

Heute am Morgen hatte der Förster sich mit seinem Gaste in den Wald begeben, um ihm den Ort zu zeigen, an welchem die Leiche des Grenzbeamten gelegen hatte. Bei den drei Tannen angekommen, erklärte er ihm den Thatbestand. Arndt folgte seiner Auseinandersetzung aufmerksam und fragte ihn dann:

»Hat sich eine Spur gefunden, daß ein Kampf dem Morde vorangegangen ist?«

»Nein.«

»Oder daß die Leiche vielleicht hierher geschleppt worden ist?«

»Auch nicht.«

»Hm! Sollte der Grenzer meuchlings erschossen worden sein? Dann hätte der Mörder im Hinterhalte gelegen, und das ist bei dem hiesigen Terrain nicht gut möglich. Hier die einzelnen drei Tannen, drüben die freie Lichtung, links die Blöße, und an den beiden anderen Seiten der Wald mit den weit auseinander stehenden Stämmen. Wo sollte sich denn da ein Versteck finden?«

»Hinter jedem Baume.«

»Dann müßte der Mörder ganz genau gewußt haben, wann und woher sein Opfer kommen werde. Das ist aber nicht möglich, da hier kein Weg vorüberführt. Wieweit haben sich die Nachforschungen der Gerichtscommission über die Oertlichkeit erstreckt?«

»Bis dort hinüber zu den einzelnen Sträuchern.«

»So hat man allerdings angenommen, daß der Mord aus dem Hinterhalte geschehen sei; ich aber bin anderer Meinung. Sehen Sie! Hier hat die Kugel, nachdem sie das Opfer traf, den Stamm der Tanne gestreift.«

Er deutete dabei nach dem Baume. Der Förster betrachtete die Stelle und sagte:

»Bei Gott, es ist wahr! Das ist uns Allen entgangen.«

»Gut! Hier hat der Todte gelegen; hier ist die Kugelspur am Baume. In gerader Richtung von Beiden hat also der Schütze gestanden. Gehen wir in dieser Richtung retour! Bitte, Herr Vetter, folgen Sie mir!«

Der Förster konnte nicht begreifen, was Arndt beabsichtigte, doch schritt er hinter ihm her. Der Letztere ging langsam vorwärts und musterte alle Einzelheiten des Terrains genau.

»Was suchen Sie denn?« fragte Wunderlich.

»Nichts Bestimmtes. Kommen Sie nur!«

So schritten Sie mehrere Hundert Schritte in gerader Richtung weiter. Da plötzlich that Arndt einen raschen Sprung vorwärts, bückte sich und hob Etwas auf. Der Förster eilte herbei.

»Was giebt’s? Was ist’s?« fragte er.

»Hier, sehen Sie!«

Er hielt ihm ein dreieckiges Stückchen weiße Leinwand entgegen, welches er sich genau betrachtet hatte.

»Ein Fetzen Leinwand!« meinte Wunderlich enttäuscht. »Was soll das helfen? Solche Lappen liegen überall herum!«

»Oh, denken Sie nicht gering von diesem Funde! Betrachten Sie den Fetzen genauer. Was bemerken Sie?«

»Nichts, als daß zwei Seiten einen Saum haben, und da, ah, wahrhaftig, da ist ein eingestickter Buchstabe, ein T.!«

»Richtig! Dieses Stück Leinen ist der abgerissene Zipfel eines, eines – nun, wovon?«

»Eines Betttuches.«

»Das ist auch meine Meinung. Wie aber kommen Betttücher in den Wald? Findet man den Zipfel eines Taschentuches, so läßt sich das leicht und auf vielfache Weise erklären; aber eines Betttuches? Hm! Was denken Sie darüber?«

»Ich denke gar nichts. Ich bin ein Forstmann, aber kein Polizist.«

»Aber Sie müssen doch eine Ahnung haben, wozu jetzt, im Winter und des Nachts, ein Betttuch zu gebrauchen ist?«

»Habe keine Ahnung davon!«

»Nun, rings ist tiefer Schnee. Den Paschern muß daran liegen, unbemerkt zu bleiben. Dunkle Kleidung sticht vom Schnee ab. Was liegt da näher, als daß man, um die Grenzer zu täuschen, ein Betttuch über nimmt. Dann ist man des Nachts vom Schnee nicht zu unterscheiden.«

»Sakkerment! Das leuchtet mir ein!«

»Ich kann Ihnen sogar gestehen, daß ich ein Betttuch mitgebracht habe, um auf meinen beabsichtigten Streifereien mich seiner ganz zu demselben Zwecke zu bedienen. Ah, kommen Sie hier diese drei Schritte weiter! Da ragt ein Stumpf aus dem Schnee hervor, ein abgebrochener Wacholderknorren. Und sehen Sie, da hängen zwei weiße Fädchen Leinen daran! Was ist daraus zu schließen?«

»Die Ecke ist hier an dem Knorren abgerissen worden.«

»Allerdings. Nun ist die Sache klar. Es ist ganz so, wie ich vermuthete. Der Pascher wurde ertappt und entfloh, von dem Grenzbeamten hart verfolgt. Er war mit einem Betttuche umhüllt, mit dem er hier hängenblieb. Er riß sich diese Ecke hier los und eilte weiter. Drüben bei den Tannen sah er ein, daß er nicht entkommen werde. Er hielt also inne, drehte sich um und schoß seinen Verfolger nieder.«

»So ist es, so ist es! Einen Hinterhalt hat es nicht gegeben.«

»Die Unterbeamten des Ermordeten müssen vernommen werden. Sie können angeben, welchen Tagesbefehl sie von ihm erhalten haben. Sie werden auch wissen, ob er hier vorüberkommen mußte, um die Posten zu revidiren.«

»Was aber hat man davon?«

»Wir haben Zweierlei gewonnen. Erstens: Glauben Sie, daß Jemand sich ein fremdes Betttuch borgt, um es in der angegebenen Weise zu gebrauchen?«

»Nein. Es ist sein Eigenthum gewesen.«

»Und da der Buchstabe T. darauf steht, was folgt daraus?«

»Daß sein Name mit diesem Buchstaben anfängt.«

»Diese Entdeckung ist das Erste, was wir gewinnen. Uebrigens sind es jedenfalls zwei Buchstaben gewesen. Der Anfangsbuchstabe des Vornamens ist auch mit in das Tuch gestickt gewesen. Der Riß aber ist zwischen den beiden Buchstaben hindurchgegangen.«

»Und was ist das Zweite, was wir gewinnen?«

»Da muß ich Sie vor allen Dingen fragen: Wohin flieht Einer, der verfolgt wird?«

»Dumme Frage! Dahin natürlich, wo er glaubt, sicher und geborgen zu sein.«

»Das ist richtig! Er flieht nach einer Zufluchtsstätte. Der Mörder ist in gerader Richtung von hier nach den Tannen geflohen. In dieser Richtung liegt die Zufluchtsstätte, welche er gesucht hat. Wenn wir dieser schnurgeraden Linie folgen, müssen wir wenigstens in die Nähe des Ortes gelangen, an dem er sich hat verbergen wollen.«

»Herr Vetter, Herr Vetter! Sie sind ein verdammt spitziger und findiger Kopf. Mir würden solche Schlüsse niemals einfallen.«

»Das ist Geschäfts-und Uebungssache. Wollen wir unsere Untersuchung fortsetzen und der angegebenen Richtung folgen?«

»Gern, wenn Sie wollen!«

»So kommen Sie!«

Sie kehrten wieder zu den Tannen zurück. Von hier aus folgten sie derselben Linie weiter, durch den Wald, über die Straße, welche aus dem Städtchen nach dem Forsthause führte, quer hinüber, und dann wieder in den Wald hinein. Arndt ging dabei sehr langsam und beobachtete jeden, auch den kleinsten Gegenstand genau. So dauerte es über eine Viertelstunde. Sie näherten sich dem gegenüber nach dem Städtchen zu gelegenen Waldessaume und kamen an eine hohe Eiche, welche einige hundert Jahre alt sein konnte. Schon wollte Arndt an ihr vorüber; da blieb er aber plötzlich stehen und musterte den Boden, welcher wohl eine Elle hoch mit Schnee bedeckt war.

»Was giebt’s?« fragte der Förster.

»Sehen Sie her! Sehen Sie die mit neuem Schnee gefüllten Löcher im alten Schnee?«

»Natürlich! Sie sind ja zahlreich genug!«

»Was für Löcher mögen das sein?«

»Fußtapfen!«

»Richtig! Diese Fußtapfen kommen von allen Seiten auf die Eiche zu und gehen dann nach allen Seiten wieder von ihr fort. Hier haben sich zahlreiche Menschen zusammengefunden, ob zugleich, einzeln oder nach und nach, das ist leider nicht zu unterscheiden. Was haben sie hier gewollt? Sind es Pascher gewesen? Steht die Eiche in einer dauernden Beziehung zu ihren Zusammenkünften? Hm! Wollen doch einmal den alten Stamm untersuchen!«

Beide aber konnten trotz allen Suchens nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches an ihm entdecken. Ihre Mühe blieb ohne Resultat.

»Lassen wir es für heute sein; behalten wir aber diesen Baum auch fernerhin im Auge!« sagte Arndt. »Wir können mit Dem, was wir gefunden haben, leidlich zufrieden sein!«

»Sie meinen, daß wir nach Hause gehen?«

»Ja, ich wenigstens. Wollten Sie nicht den Obersteiger aufsuchen?«

»Ja. Ich muß dem Eduard Wort halten! Ich werde das gleich jetzt thun. Was fangen wir mit dem Betttuchzipfel an?«

»Wir übergeben ihn der Polizei. Ich möchte jetzt noch nicht genannt werden. Thun Sie so, als ob Sie die heutige Excursion ganz allein unternommen hätten!«

»Schön! Soll ich von der Eiche hier Etwas bemerken?«

»Kein Wort! Ich will mich lieber auf mich selbst verlassen, als Andern Gelegenheit geben, mir den Brei zu verderben. Hier ist der Zipfel. Nehmen Sie ihn mit!«

Sie trennten sich. Arndt kehrte nach der Försterei zurück, wo Wunderlich sich nach einiger Zeit auch einstellte. Er erzählte, daß sein Gang zum Obersteiger nicht von Erfolg gewesen und daß auch der Gensd’arm nicht anzutreffen gewesen sei. Er wollte versuchen, ihn nach Tische anzutreffen.

Darüber war der Vormittag vergangen. Nach dem Mittagessen machte der Alte sich abermals auf den Weg. Arndt hatte sich in sein Stübchen zurückgezogen und saß, mit der Lectüre eines Buches beschäftigt, am Fenster, von wo aus er den Förster zurückkehren sah. Er begab sich sofort hinab in die Wohnstube.

Der Alte war sehr aufgeregt, das sah man ihm sofort an. Er warf die Pelzmütze zornig auf den Tisch, warf sich in einen Stuhl und stieß einen kurzen, schrillen Pfiff aus. Frau Barbara wußte, daß dies ein sicheres Zeichen sei, daß er etwas Ärgerliches erlebt oder erfahren habe.

»Na, Alterchen,« sagte sie. »Was ist Dir denn so in die Quere gekommen?«

»Viel, sehr viel!« antwortete er. »Man glaubt gar nicht, was Alles passiren kann! Zuerst muß ich Euch sagen, daß um fünf Uhr Kirche ist, Gottesdienst, und zwar in der Kneipe!«

»In der Kneipe?«

»Ja, im Saale der Schänke.«

»Gottesdienst? Das ist doch gar nicht möglich!«

»Gottesdienst oder Missionspredigt oder dergleichen, gehalten von dem früheren Schuster Seidelmann.«

»Da gehe ich hin! Den muß ich hören!« sagte Arndt.

»Wünsche guten Appetit und viel Vergnügen! Ich bin nicht neugierig oder fromm oder gottlos genug, solche Sachen mitzumachen. Ich rede mit meinem Herrgott überall; aber wenn ich in der Kneipe sitze, da lasse ich ihn in Ruhe!«

»Und sodann? Was hat es ferner noch gegeben?« fragte Frau Barbara.

»Ein Unglück, ein fürchterliches, entsetzliches Unglück!«

»Herrgott, was denn und wo denn?«

»Mit dem kleinen Beyer.«

»Dem Schreiber bei Seidelmanns?«

»Ja. Das Herz könnte sich Einem im Leibe umdrehen! Du weißt doch, wie lange seine Frau bettlägerig ist?«

»Freilich wohl! Die Ärmste soll wenig Hoffnung haben, jemals wieder aufzukommen!«

»Ja, damit ist’s vorüber. Denkt Euch, der Beyer ist arretirt!«

Frau Barbara faltete vor Schreck die Hände und rief:

»Weshalb denn?«

»Wegen Hehlerei und Widerstand gegen die Staatsgewalt.«

»Der? Ein Hehler? Das ist im ganzen Leben nicht wahr! Und Widerstand gegen die Staatsgewalt? Der hat noch keinem Kinde ein Leid gethan. Alles will ich glauben, nur das nicht! Was soll er denn gehehlt oder verhehlt haben?«

»Einen Diebstahl, den seine Tochter ausgeführt hat!«

»Die Gustel, das arme Wurm? Die soll eine Diebin sein? Nun geht aber gleich die Welt unter? Ich glaube nicht daran, nun und nimmer nicht! Wie ist denn das gekommen?«

»Na, wie soll es denn gekommen sein? Wie Alles in der Welt: Nicht von ungefähr. Wer weiß, wer auch da dahinter steckt und die schmutzigen Hände im Spiele hat. Also plötzlich heißt es im Orte: Der Gensd’arm ist beim Schreiber Beyer. Natürlich rennt Alles hin, um Maulaffen feil zu halten!«

»So ist’s, Alter! Wenn Einem ein Malleur passirt, da kommen sie in hellen Haufen gerannt, um sich darüber zu freuen. Geht es Einem aber wohl, so bleiben sie davon und krächzen vor Mißgunst und Neid. Also wie weiter?«

»Nach einiger Zeit kommt der Gensd’arm aus dem Hause und geht zum Bürgermeister. Dort sitzt der Fritz Seidelmann, geht aber bald wieder fort.«

»Ah, der? Weil nur der dabei ist!«

»Wieder nach einiger Zeit kommt der Schreiber mit der Gustel. Diese Beiden gehen auch zum Bürgermeister. Das Volk zieht natürlich hinterher, gerade wie die Ameisen hinter der Blattlaus. Was haben die Beyers mit dem Gensd’arm und beim Bürgermeister zu thun? So fragt sich Alles. So fragt sich auch die gute Madame Heinefeld, welche neben Bürgermeisters wohnt und zehn Teufel und zwanzig Kalender im Leibe hat. Sie macht sich also ein Behelfchen und sucht die Frau Bürgermeister auf. Von der erfährt sie, daß die Gustel gestohlen hat und daß ihr Vater der Hehler sei.«

»Was soll sie denn gestohlen haben?«

»Der Eine sagt dies und der Andere das; ich glaube gar nichts. Also, die beiden neugierigen Weiber horchen. Sie hören die Gustel weinen und ihren Vater raisonniren. Er will sich nicht gefangen geben. Beide sollen nach der Amtsstadt transportirt werden, und das will der Beyer sich nicht gefallen lassen. Er betheuert seine Unschuld; er sagt, daß seine Tochter keine Diebin sei; er ruft, daß er seine Frau nicht verlassen dürfe. Der Bürgermeister will Gewalt anwenden, und da, nun ist der Teufel los! Ich glaube, der kleine Mann hat in seiner Wuth sich gar gewehrt. Da haben sie ihn überwältigt und ihm die Hände gefesselt.«

»Du mein lieber Gott! Was soll nun daraus werden!«

»Was daraus werden soll? Na, das, was bereits daraus geworden ist: Der Bürgermeister hat einen Fuhrmann requirirt, und der Beyer ist mit seiner Tochter unter der Bedeckung des Gensd’arms nach der Amtsstadt transportiert worden.«

»Und seine Frau, das arme, kranke Wesen, wie wird sie das Unglück aufnehmen? Sie wird es nicht verwinden können!«

»Pah, sie hat es bereits verwunden! Man kennt ja die Menschheit! Als die beiden Gefangenen im Schlitten sitzen und die Pferde sich in Bewegung setzen, setzen sich auch die Maulaffen in Bewegung. Und wohin? Natürlich nach Beyers Wohnung! Nicht etwa in schlechter Absicht! O nein! Trösten wollen sie, einem etwaigen Unglück vorbeugen wollen sie, weiter nichts! Diese Menschheit ist so gut, so liebevoll, so zuvorkommend! Und da stürzen sich nun ein halbes Dutzend solcher Klatschbasen zu der Kranken in die Stube und schreien ihr vor, daß ihr Mann in Ketten und Banden als Dieb und Hehler mit der Tochter fortgeschafft worden sei.«

»Die Unvorsichtigen! Herr Jesus, was wird da geschehen!«

»Was soll denn da geschehen? Nichts weiter natürlich, als daß die arme Frau vom Lager auffährt und einen entsetzlichen Schrei ausstößt. Sie fährt sich mit den Händen nach dem Herzen, der Athem geht ihr aus, das Gesicht wird erst roth und dann braun, und dann, nun ja, dann ist sie eben eine Leiche. Ganz recht! Warum ist sie die Frau eines Hehlers und die Mutter einer Spitzbübin!«

Frau Barbara schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und brach in ein lautes Weinen aus. Der Förster sprang von seinem Stuhle auf und lief mit langen, dröhnenden Schritten in der Stube hin und her. Da fragte Arndt:

»Was Sie da erzählen, das ist wirklich wahr?«

Da blieb der Alte vor ihm stehen, hielt ihm die Faust unter die Nase und brüllte:

»Herr, denken Sie, daß ich mit dem Unglücke meiner Mitmenschen Hallo und Allotria treibe! So kommen Sie mir ja nicht, sonst bin ich im Stande und werfe Sie zur Thür hinaus! Das merken Sie sich, Sie Vetter Arndt, Sie!«

Arndt nickte ihm wohlwollend zu und sagte:

»So krumm war es ja gar nicht gemeint!«

»Na, das will ich mir auch ausgebeten haben!«

»Sind diese Beyer’s brave Leute?«

»Brave Leute? Was das nun wieder für eine Frage ist! Würde ich denn so in’s Pulverfaß gerathen, wenn es nicht brave Leute wären?«

»Sind noch weitere Kinder da?«

»Natürlich! Vier Stück, vier arme, bleiche, abgehärmte, ausgehungerte Würmer, welche sich nicht getraut haben, laut zu reden! Die ganze Familie hat seit Montag von drei Pfund Sauerkraut gelebt. Herrgott von Mannheim, ich möchte der ganzen Welt den Kopf abhacken! Und wissen Sie, was man mit den Kindern gemacht hat? In’s Armenhaus hat man sie geschleppt, wo sie nichts lernen als die Bettelei! Sie müssen nämlich wissen, daß es dort mit Arbeit und Verpflegung noch ärger im Argen liegt als bei den Kalmücken und Hottentotten! Ein Bund Stroh haben sie, worauf sie schlafen! Essen und Trinken sollen sie auch erhalten, ja, auf dem Papiere steht es; aber wer da nicht verhungern will, der muß hinaus auf die Dörfer und bei den Bauern fechten gehen.«

»Schrecklich!«

»Finden Sie es schrecklich? Nicht wahr? Da ist zum Beispiel eine alte Frau, Löffler ist ihr Name. Die hat sich stets ehrlich und redlich durch die Welt geschlagen, hat Gott geehrt und ihre Arbeit gethan und bei den Seidelmann’s lange Zeit die Aufwartung gehabt. Da auf einmal explodirt die Lampe; das brennende Kamphin stürzt ihr in’s Gesicht und verbrennt ihr Alles, auch die Augen. Sie ist blind, kann nichts mehr sehen, nichts mehr machen und verdienen. Seidelmann’s jagen sie fort; sie muß in das Armenhaus, und nun ist sie über achtzig Jahre alt und tastet sich von einer Thüre zur anderen, um nach dem lieben Brod zu gehen. Denken Sie, in solchem Wetter, wie gerade jetzt! Eines schönen Morgens wird man sie aus dem Schnee ziehen, todt, erfroren, und kein Hund wird nach ihr bellen! Herr Vetter, na, wohin denn so plötzlich?«

»Fort!«

Arndt war aufgesprungen und ging in sein Zimmer. Dort nahm er einige Gegenstände aus dem Koffer, steckte sie zu sich und verließ das Haus. Er ging eiligen Schrittes nach dem Städtchen, aber nicht die Straße entlang, sondern durch den Wald.

Er hatte die Tracht der dortigen Gegend angelegt. An einer einsamen Stelle des Waldes angekommen, blieb er stehen und blickte sich vorsichtig um. Als er sich überzeugt hatte, daß er nicht beobachtet wurde, zog er die Jacke aus und wandte sie um, ebenso die Mütze. Die vorher dunkle Jacke war jetzt grau, die Pelzmütze war ein Plüschdeckel geworden. Nun zog er eine Perücke aus der Tasche und einen falschen Vollbart. Als er Beides angelegt hatte, war er hellblond geworden. Er hatte seine Züge so in der Gewalt, daß sie jetzt ganz andere zu sein schienen als vorher.

Jetzt nun setzte er seinen Weg fort, gelangte in den Ort und fragte nach dem Pfarrhause. Er folgte der erhaltenen Weisung und klopfte an. Als er auf das laute »Herein« des Pfarrers eintrat, fand er in demselben einen alten, ehrwürdig aussehenden Mann mit mild blickenden Augen und einem Johannesgesichte.

»Was wünschen Sie?« fragte der Geistliche, indem er das Blatt bei Seite legte, in welchem er gelesen hatte. Er hatte am Vor-und Nachmittage zu predigen gehabt und noch nicht in die Zeitung blicken können. Jetzt nun war er eben beschäftigt gewesen, den Artikel zu lesen, welchen heute früh der heilige Schuster seinem Neffen vorgelesen hatte.

»Ich komme, um eine recht herzliche Bitte auszusprechen, Ehrwürden,« antwortete Arndt.

»Sprechen Sie! Wer da bittet, der empfängt. Ich habe Sie noch nie gesehen. Sie scheinen nicht von hier zu sein?«

»Ich bin allerdings hier fremd, Herr Pfarrer. Heute kam ich hier an und hörte von einem großen Unglücke, welches eine brave Familie betroffen hat.«

»Sie meinen den guten Beyer? Ja, das ist ein Herzeleid, eine Heimsuchung, welche trauriger ist als traurig.«

»Halten Sie die Angeklagten für schuldig?«

»Gott allein sieht in das Verborgene, mir aber sagt mein Herz und meine Erfahrung, daß diesen Leuten Unrecht geschieht. Haben Sie Grund, Antheil an ihnen zu nehmen?«

»Ja, einen sehr guten Grund.«

»So sind Sie wohl verwandt mit Ihnen?«

»Sehr nahe sogar, ehrwürdiger Herr. Ich möchte Etwas für diese beklagenswerthen Leute thun.«

»Gott segne Sie! Sie kommen da gerade recht, wie der Fürst des Elendes, von dem ich soeben gelesen habe. Kann ich Ihnen zu Hilfe sein?«

»Sehr, sehr! Zunächst glaube ich, daß es Ihrer Fürbitte gelingen werde, wenigstens den Vater gegen Handgelöbniß zur Freiheit zu helfen.«

»Das hatte ich mir bereits vorgenommen.«

»So höre ich, daß Sie ein treuer Hirte und kein Miethling sind. Sollte eine Caution gefordert werden, so bin ich bereit, sie zu zahlen. Was nun die Kinder betrifft, so höre ich, daß sie sich im Armenhause befinden?«

»Leider! Wer will oder vielmehr wer kann sich ihrer unentgeldlich annehmen? Die Leute hier sind Alle arm, nur einige Wenige ausgenommen.«

»Vielleicht giebt es eine brave Familie, welche den Kleinen gegen ein Pflegegeld Aufnahme bietet.«

»Wer sollte das Pflegegeld bezahlen?«

»Ich, Ehrwürden! Der Weber Hauser ist Ihnen doch wohl bekannt; ich möchte sie am Liebsten ihm anvertrauen!«

»Hauser ist ein frommer und ehrlicher Christ; er ist sehr arm und hat selbst Kinder; aber für die Verwaisten wäre Keiner besser als er.«

»Nun, dann bitte ich, Herr Pfarrer, diese Kleinigkeit in Empfang zu nehmen! Hier fünfzig Gulden zur Beerdigung der Todten, und hier hundert Gulden, von denen Sie nach Bedürfniß an Hauser zahlen. Zuletzt nehmen Sie hier das Päckchen, es enthält tausend Gulden, welche Summe zur Aufbesserung Ihrer Armenhausverhältnisse verwendet werden soll.«

Der Pfarrer stand vor Erstaunen starr und steif.

»Herr,« sagte er endlich, »sind Sie denn reich genug, solche Summen verschenken zu können?«

»Ich besitze Millionen!« lächelte Arndt.

»Aber, verzeihen Sie, Ihr Äußeres ist nicht dasjenige eines Millionärs!«

»Das ist sehr wahrscheinlich. Doch, darf ich hoffen, daß meine Bitten in Erfüllung gehen?«

»Gewiß, gewiß! Ich werde augenblicklich die Kinder holen, um sie zu Hauser zu bringen. Er hat zwar selbst nicht viel Platz, aber sein Character und seine Zuverlässigkeit wiegen diesen Mangel mehr als auf. Doch, werther Herr, wenn ich nun gefragt werde, wem wir diese Gaben und Wohlthaten zu verdanken haben, wie soll ich dann antworten?«

»Nennen Sie meinen Namen!«

»So bitte, wie heißen Sie?«

»Der Fürst des Elendes! Guten Abend, Hochwürden!«

Im nächsten Augenblicke war er zur Thür hinaus. Der Pfarrer stand da, als hätte ihn der Schlag gerührt. Er wußte gar nicht, was er denken oder thun solle. Da ging die Thür auf, und eine Dame trat ein. Es war seine Schwester, welche bei ihm wohnte. Sie sah die Miene, welche er machte und fragte ganz betreten:

»Um Gottes Willen, was ist Dir geschehen? Dir muß ja etwas ganz und gar Ungewöhnliches passirt sein!«

Das gab ihm die Sprache wieder. Er antwortete, aber immer noch stockend, als ob er sich von seiner Ueberraschung noch immer nicht erholen könne:

»Ja, etwas Ungewöhnliches, etwas ganz Ungewöhnliches ist mir passirt! Ich kann kaum Herr meines Erstaunens werden!«

»So sage schnell, ob es etwas Schlimmes ist! Es war ein fremder Mensch bei Dir; ich habe ihn hier eintreten sehen.«

»O, Du brauchst ganz und gar nicht zu erschrecken. Es ist im Gegentheile etwas Hochwillkommenes, was dieser Fremde mir gebracht hat. Weißt Du, wer er war?«

»Wie soll ich es wissen? Er hatte das Aussehen eines ganz gewöhnlichen Arbeitsmannes.«

»Eines Arbeitsmannes? Ja, ja, das mag sein; aber er war doch etwas ganz Anderes. Denke Dir, es war der Fürst des Elendes!«

Da machte sie eine höchst überraschte Miene und sagte:

»Scherzest Du? Der Fürst des Elendes? Du lieber Gott, das wäre gerade der Richtige für unsere Gegend! Einen solchen Mann könnte Niemand so sehr gebrauchen wie unsere arme Bevölkerung!«

»Ja, er war es! Er ist da bei uns, in unserer Gegend, in unserem Orte, und Geld hat er mir gegeben, viel, sehr viel Geld!«

Sie schlug die Hände zusammen und fragte:

»Viel Geld? Für wenn denn?«

»Für die Hinterlassenen der todten Schreibersfrau und für – o, was bin ich doch unaufmerksam! Ich muß ihm nach; ich muß mich bei ihm bedanken; ich muß ihn kennen lernen und mit ihm sprechen! Er soll erfahren, was uns hier Noth thut! Ich eile, Du sollst nachher das Nähere erfahren!«

Bei diesen Worten eilte er zur Thüre hinaus. Vor dem Hause angekommen, blickte er die Gasse hinauf und hinab, konnte aber Niemand bemerken. Da kam ein Mann den Fußweg herab und um die Ecke des Hauses. Er trug die dunkle Tracht der dortigen Gegend und hatte einen tief schwarzen Vollbart. Seine Gestalt war beim Leuchten des Schnees ganz deutlich zu erkennen.

»Guten Abend!« sagte er. »Nicht wahr, heute wird hier im Orte ein Missionsvortrag gehalten?«

»Ja, so etwas Ähnliches,« antwortete der Pfarrer reservirt.

»Wo ist das?«

»In der Schänke. Gehen Sie die Gasse hinab, so werden sie die erleuchteten Fenster des Saales sehen. Es ist fünf Uhr, und so wird dieser Vortrag wohl bald beginnen. Ist Ihnen vielleicht ein Mann begegnet?«

»Nein, kein Mensch. Wie soll er ausgesehen haben?«

Der Pfarrer beschrieb den Fürsten des Elendes genau, aber der Andere hatte ihn nicht gesehen. Der brave Geistliche ahnte nicht, daß er den Gesuchten vor sich habe. Während des kurzen Gesprächs mit seiner Schwester hatte Arndt doch Zeit gehabt, hinter dem Hause die Jacke umzuwenden und sowohl die Kopfbedeckung als auch den Bart zu vertauschen. Er bedankte sich bei dem Pfarrer für die erhaltene Auskunft und begab sich nach der Schänke.

Dort herrschte ein sehr reges Leben. In der Gaststube gab es so viele Leute, daß sein Eintritt gar nicht beachtet wurde. Da waren Diejenigen anwesend, deren Mittel es erlaubten, vor Beginn des Vortrages ein Glas Bier zu trinken.

Er stieg zum Saale empor. Dort warteten bereits die ganz Armen der Ankunft Seidelmann’s. Da gab es Gesichter, in denen der Hunger, die Kälte, die Sorge, das Elend zu lesen waren, junge und alte Leute, Burschen, welche in Folge der ungesunden Schachtarbeit ein Jahrzehnt älter zu sein schienen, als sie wirklich waren; Mädchen und Frauen, deren einziges, ärmliches Gewand ihre Sonn-und Werktagskleidung war, Männer, welche trotz ihrer vierzig Jahre bereits in gebückter Haltung auf den Bänken saßen, und weißhaarige Greise, bei deren Anblicke man sich gewundert hätte, daß sie so hoch betagt hatten werden können, wenn man nicht gewußt hätte, daß sie ihrem Alter nach eigentlich noch gar nicht Greise genannt werden konnten.

Es war ein Podium errichtet, auf welchem ein Clavier stand. Auf dem letzteren lag eine Bibel und ein Gesangbuch, und zu beiden Seiten waren sammetgepolsterte Sessel gestellt, für wen, das wußte jetzt noch Niemand zu sagen.

Ein leises Flüstern ging durch den Saal. Der Vortrag sollte, wie man sich mittheilte, eine Art Gottesdienst sein. Es war in Folge dessen diesen guten Leuten zu Muthe, als ob sie sich in der Kirche befänden; darum wagten sie nicht, ihre Unterhaltung in lauten Worten zu führen.

Auch hier wurde Arndt gar nicht beachtet. Er schlüpfte in eine Ecke, in welcher er sich niederließ.

Kaum war das geschehen, so kam ein Zug von wohl über einem Dutzend Personen zur Thüre herein geschritten, voran der fromme Schuster. Er trug eine Art Priestertalar und eine Kopfbedeckung, welche dem Barette lutherischer Pfarrer ähnlich geformt war.

Ihm folgten die Inhaber des Geschäftes Seidelmann und Sohn nebst ihren Angestellten und dann die Beamten des freiherrlichen Kohlenwerkes »Gottes Segen«. Sie grüßten nicht. Sie schritten in stolzer Haltung auf das Podium zu und nahmen dort auf den Sammetsesseln Platz. Der Schuster trat hinter das Clavier, faltete die Hände und hob die Augen andächtig empor. Er flehte natürlich um den Segen Gottes zu dem frommen Werke, welches zu beginnen er im Begriffe stand. Sodann begrüßte er die Versammelten mit den bekannten Worten:

»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesum Christum!«

Es sind dies die Worte, mit denen lutherische Kanzelredner ihre Predigten zu beginnen pflegen. Er sprach dabei, wie so manche dieser Geistlichen, den Namen des Heilandes nicht Jesu Christo, sondern falsch, im Accusativ, aus. Sodann begann er das Werk, indem er das Gesangbuch aufschlug und die Anwesenden darauf aufmerksam machte, daß ein Trostlied gesungen werden solle, da er gekommen sei, ihnen in ihrer Noth und ihrem Elende die einzig wahre Hilfe und Rettung zu bringen. Er las die Verse einzeln vor; Fritz Seidelmann, sein Neffe, welcher gelernt hatte, ein halbes Dutzend Noten auf dem Clavier zu spielen, setzte sich an das Instrument und gab den Ton an. Erst ließen sich nur einzelne Stimmen hören; bald aber fielen mehrere ein, und endlich erklang es laut und kräftig wie in der Kirche:

 

»Sollt es gleich bisweilen scheinen,

Als verließe Gott die Seinen,

O, so weiß und glaub ich dies:

Gott hilft endlich doch gewiß!

Hilfe, die er aufgeschoben,

Hat er doch nicht aufgehoben.

Hilft er nicht zu jeder Frist,

Hilft er doch, wenn’s nöthig ist.

Gleich wie Väter nicht bald geben,

Wonach ihre Kinder streben,

So hält Gott auch Maaß und Ziel;

Er giebt, wem und wenn er will!«

 

Nach diesen Strophen begann der Vortrag über das Thema: Gott ist der Helfer in jeder Noth und Gefahr. Er zerfiel in die beiden Theile: Herr, hilf uns; wir verderben! und: O, Ihr Kleingläubigen, warum zweifelt Ihr?

Die Zuhörer mußten sich gestehen, daß der einstige Schuster im Besitze eines wirklichen Rednertalentes sei. Er stellte sich keineswegs außerhalb der christlichen Kirche; nein, dazu war er viel zu klug. Er kannte die Leute, zu denen er sprach; er kannte auch ihre Verhältnisse, ihre Nothlage, ihr Elend. Er kannte jedenfalls ebenso gut auch die wirklichen Gründe desselben. Er schilderte es ihnen mit beredten Worten in seiner ganzen nackten, erschreckenden Wirklichkeit, aber er hütete sich wohl, diese Gründe zu erwähnen. Er sprach von dem immer mehr überhand nehmenden Unglauben, von dem Mangel an Liebesthätigkeit. Er forderte sie auf, dem Bunde der Brüder und Schwestern der Seligkeit beizutreten. Dieser Bund habe den Zweck, den Glauben an Gott und das Vertrauen zu ihm neu zu erwecken und zu pflegen. Die Angehörigen seien bereit, im Namen des Allgütigen und Allbarmherzigen den leidenden Brüdern und Schwestern beizustehen. Darum solle heute eine Collecte abgehalten und eine Sammelstelle hier gegründet werden. Ein Jeder solle nach seinen Kräften geben; was er gebe, gebe er Gott, und dieser vergelte Solches tausendfältig. Wer da Hilfe verlange, solle zuvor selbst beitragen, daß geholfen werden könne.

Er riß seine Hörer hin. Sie übersahen die Mängel seines Vortrages; sie erkannten nicht, daß er gekommen sei, zu empfangen, nicht aber, zu geben. Sie selbst waren bitter arm, blutarm; aber sie kannten ja das Elend, und darum fühlten sie sich tief ergriffen. Er war der Fuchs, welcher den Hühnern predigt, und er verstand seine Sache.

Am Schlusse seiner Rede nahm er das Gesangbuch wieder zur Hand und ließ die Strophen singen:

 

»Seiner kann ich mich getrösten,

Wenn die Noth am Allergrößten.

Er ist gegen mich, sein Kind,

Mehr als väterlich gesinnt.

Trotz den Feinden! Trotz den Drachen!

Ich kann ihre Macht verlachen.

Trotz dem schweren Kreuzesjoch!

Gott, mein Vater, lebet noch!«

 

Und nun griff er in die Tasche seines Talares, zog eine blecherne Büchse hervor und begann einzusammeln, zunächst bei seinen Verwandten. Man hörte die schweren Geldstücke, welche sie gaben, in die Büchse fallen. Dann kamen die Angestellten daran, und endlich ging er auch weiter, von Reihe zu Reihe.

Wer nichts einstecken hatte, konnte natürlich nichts geben oder borgte sich beim Nachbar eine Kleinigkeit; die Anderen aber steuerten Alle bei, alle! So arm sie selbst waren, sie wollten zeigen, daß sie nicht ohne Religion, ohne Glauben und Liebe seien. Viele gaben den einzigen Kreuzer hin, den sie noch besaßen. Zu Hause gab es ja noch Kartoffeln und Salz.

Selbst der Pfarrer, welcher mit anwesend und für nachher zum Souper zu Seidelmann’s geladen war, warf seine Gabe in die Büchse, obgleich er eher als die Arbeiter im Stande war, den wirklichen Sachverhalt zu durchschauen.

Schließlich erklärte der Schuster, daß er kraft seiner Machtvollkommenheit seinen Bruder, Herrn Kaufmann Seidelmann, zum Kassirer ernenne. Ihm übergab er die Büchse, und dann entfernten sich die Honoratioren so stolz, wie sie gekommen waren, während die Armen zurückblieben, um sich noch eine Weile von dem, was sie gehört hatten, zu unterhalten.

Zu Hause angekommen, öffneten die Seidelmann’s unter sich die Büchse, um das Geld zu zählen. Als sie damit fertig waren, sagte der Kaufmann:

»Sechzehn Gulden! Das ist viel! Ich hätte nicht gedacht, daß so viel Geld unter den Leuten steckt!«

»Sechzehn Gulden?« fragte sein frommer Bruder. »Wo denkst Du hin! Dreizehn sind es.«

»Wieso?«

»Nun, nicht wahr, Du hast einen Gulden gegeben?«

»Ja.«

»Ich auch und Fritz auch. Das sind drei. Wir werden aber doch nicht so dumm sein, unser schönes Geld zum Fenster hinaus zu werfen. Diese drei Gulden nehmen wir wieder!«

»Mensch! August! Du hast Recht! Heraus also mit dem Gelde! Was aber wird mit dem anderen?«

»Was soll da werden? Bruder, bist Du wirklich so dumm?«

»Dumm? Wieso? Als Kassirer habe ich Buch zu führen und Rechnung abzulegen!«

»Davon entbinde ich Dich! Zunächst haben wir unsere Auslagen zu berechnen. Hast Du denn Dein Pianoforte umsonst hergeborgt?«

»Nicht umsonst?«

»Das darf Dir nicht einfallen! Wenn ein Verein sich zum Beispiel ein Instrument zu einem Concerte oder einer Aufführung borgt, muß er Leihgebühren zahlen.«

»Ich wäre doch der größte Thor, wenn ich auf Deine Noblesse nicht eingehen wollte! Wieviel willst Du geben?«

»Es kommt darauf an, wieviel Du haben willst.«

»Sind zwei Gulden zu viel?«

»Nein. Nimm drei! Hier sind sie!«

»Da bleiben also zehn. Welcher Arme bekommt sie?«

»An Eure Armen können wir noch lange nicht denken! Oder meinst Du, daß ich nicht auch Auslagen gehabt habe? Acht Gulden kostet mich die Eisenbahn und der Schlitten. Die übrigen zwei Gulden reichen gar nicht, wenn ich berechne, was ich unterwegs verzehrt habe, Grog, Warmbier, Kaffee, Cognac, zwei Rumpfsteaks mit Schmorkartoffeln und eine Tasse Cacao. Nein, diese zehn Gulden belege ich mit Beschlag, und gleiche damit meine Forderung aus; sonach bleibst Du als Cassirer noch immer in meiner Schuld.«

Er steckte die zehn Gulden ein und sagte dabei unter einem sehr frommen Aufschlage seiner Augen:

»So! Gott giebt!«

Und lachend fügte er hinzu:

»Aber nur Denen, welche zu nehmen wissen! Ist Euch der Bibelspruch bekannt: Bittet, so wird Euch gegeben; suchet, so werdet Ihr finden; klopfet an, so wird Euch aufgethan! Doch genug hiervon! Habt Ihr heute schon an der Eiche nachgesehen?«

»Nein.«

»Das wird bald Zeit. Wie ist’s, lieber Fritz? Willst Du nicht vor dem Souper gehen?«

»Habe keine Lust! Es wird wohl noch Zeit sein, wenn die Anderen fort sind.«

»Zeit wäre es wohl, aber bei den guten Weinen, die Ihr bereit gestellt habt, möchte es Dir dann nach dem Abendessen zu sehr in den Gliedern liegen.«

»Ganz das Gegentheil. Recht warm und behaglich werde ich jedenfalls sein. Es ist schauderhaft kalt da draußen!«

»Aber jetzt sitzen die Leute noch in der Schänke, und unsere Gäste werden sogleich kommen; da bist Du am Sichersten, daß Niemand draußen ist, Dich zu belauschen.«

Und als sein Neffe noch immer keine rechte Lust zeigte, fügte er hinzu:

»Weißt Du, welchen Werth die nächste Sendung haben wird?«

»Wie sollte ich das wissen! Der Waldkönig theilt das ja nie Jemandem mit.«

»Aber mir doch. Es stehen zwanzigtausend Gulden auf dem Spiele.«

»Zwanzigtau – ah, sapperment! Zehn Procent davon sind unser! Für zweitausend Gulden kann man sich schon einmal hinaus in die Kälte wagen. Ich gehe.«

Er begab sich nach seiner Stube, wo er lange Stiefel, kurze Jacke und eine schwarze Maske anlegte. Nach einigen Minuten schlich er sich, ohne von Jemand gesehen zu werden, durch den Garten in’s Freie.

Jetzt kamen die geladenen Gäste: der Pastor, der Bürgermeister und noch Andere. Die Tafel war sehr reich besetzt. Auch der Knappschafts-und Armenarzt war anwesend. Er hatte seinen Platz neben dem frommen Schuster. Eigentlich war er nicht geladen; aber er war zu einer Kranken gerufen worden und dann zufälliger Weise zu Seidelmann’s gekommen.

»Was fehlt der Frau?« fragte der Fromme.

»Pah! Was soll ihr fehlen? Die Auszehrung hat sie, wie hier fast alle Leute!«

»Giebt es keine Rettung?«

»Meinen Sie etwa, daß ich so eine Kohlenschauflerin nach Nizza, Kairo oder Madeira schicken kann?«

»Das ist richtig! Aber, mein Lieber, Sie haben voriges Jahr der Knappschaftskrankenkasse bedeutende Ausgaben verursacht.«

»Meinen Sie etwa die vierhundert Gulden Gehalt, welche ich bekomme?«

»Nein; das ist Fixum; darüber giebt es nichts zu sprechen, obgleich Sie diese Summe nur so nebenbei verdienen. Aber es sind einundzwanzig Gulden für den Apotheker verausgabt worden. Denken Sie, einundzwanzig Gulden in einem einzigen Jahre! Das ist stark!«

Da beugte sich der Arzt noch näher zu ihm hin, so daß Niemand hören konnte, was sie sprachen, und fragte:

»Wissen Sie, für wie viele Kranke diese Summe verausgabt worden ist?«

»Ich habe nach Gulden zu rechnen, nicht aber nach Kranken. Ich bin der Bevollmächtigte des Barons, dessen Interessen ich zu wahren und zu vertreten habe.«

»Nun wohl! Diese einundzwanzig Gulden sind für zweihundert und dreizehn Krankheitsfälle verausgabt worden. Da haben also im Durchschnitte mehr als zehn Kranke nur für einen Gulden Medicamente, Stärkungsmittel und so weiter erhalten. Das darf ich keinem Menschen sagen!«

»Das fehlte noch! Sie sind Diener des Barons. Uebrigens haben Sie statistisch nachgewiesen, daß es nur leichte Erkrankungen gewesen –«

»O, o!« fiel ihm der Arzt in die Rede. »Soll ich etwa wissen lassen, daß gerade mein Bezirk der elendeste des ganzen Landes ist?«

In diesem Augenblicke brachte der Hausherr einen Toast auf das Bestehen der Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit aus. Die Hochs erklangen, und die Gläser klirrten; der Wein floß in die durstigen Kehlen. Niemand bemerkte in diesem Augenblicke die Frau, welche leise eingetreten war und, sich mit den beiden Händen am Thürpfosten haltend, vorn am Eingange stand.

Es war eine Greisin, wenigstens hatte sie ganz das Aussehen einer solchen. Ihre Augen fehlten; die Lider waren tief eingesunken, denn es waren keine Augapfel mehr vorhanden. Ihr Haar war vom Winde zerzaust, und ihre Kleidung bestand aus dünnen Fetzen, welche nicht im Stande waren, die Kälte von dem armseligen Leibe abzuhalten. Sie zitterte vor Frost an allen Gliedern.

Jetzt war der Toast beendet. Die Tafelgäste, welche sich erhoben hatten, setzten sich wieder nieder, und nun wurde auch die Alte bemerkt. Es war dieselbe Armenhausbewohnerin, von welcher der Förster heute gesprochen hatte.

»Was! Die alte Löffler!« rief der Kaufmann. »Was will denn Sie bei uns?«

»O, nehmen Sie es nicht übel!« sagte die Frau, indem ihr die zahnlosen Kinnladen vor Frost zusammenschlugen. »Ich suche den Herrn Pastor Seidelmann.«

Der Schuster fühlte sich außerordentlich geschmeichelt darüber, daß sie ihn Pastor nannte. Er stand von seinem Stuhle auf und fragte:

»Ich bin es. Was will Sie, liebe Frau?«

»Ich war heute in der Schänke. Ich habe mich von einem Jungen hinführen lassen. Ich wollte –«

»Was? In der Schänke war Sie?« fragte er rasch.

»Ja, Herr Pastor.«

»Ist Sie nicht eine Bewohnerin des Armenhauses?«

»Ja, schon seit langer Zeit.«

»Und da geht Sie des Abends in die Schänke? Ich denke, jeder Armenhäusler muß zur gewissen Zeit zu Hause sein!«

»Das wird bei uns nicht so genau genommen, weil wir nach dem lieben Brode gehen müssen. Auch habe ich den Armenhausvater heute um Erlaubniß befragt.«

»Und er hat es Ihr bewilligt?«

»Ja, Herr Pastor.«

»Das ist stark! Der Vorsteher bewilligt Ihr, in die Schänke kneipen zu gehen, wohl gar Schnaps zu trinken?«

»O nein, nein! Das nicht! Ihre Rede wollte ich hören!«

»Ah! Das ist etwas Anderes! Nun, was will Sie denn jetzt und hier?«

Die Alte sann einige Augenblicke nach, um die rechten Worte zu finden und antwortete dann:

»Nun, Herr Pastor, ich hörte, daß Sie von der Noth und dem Elende sprechen wollten und von der Hilfe, welche es dagegen giebt. Noth und Jammer giebt es hier überall, aber zu den Elendsten gehöre doch ich.«

»Ja, Sie ist schlimm daran! Blind zu sein ist eine schwere Heimsuchung. Bete Sie mir recht fleißig zu Gott! Er hat den Tobias mit Hilfe einer Walfischleber sehend gemacht. Vielleicht läßt er auch Ihr ein Mittel zur Heilung finden.«

Der mit anwesende Pastor räusperte sich laut. Er war ein bescheidener, stiller Diener seines Gottes, nicht ein schneidiger, wehrhafter Petrus; aber was er hier hörte, war ihm doch zuviel.

Die Alte sagte in klagendem Tone:

»Ach, Hilfe giebt es für mich keine. Ich bin am Bergwerke bei einer Explosion verunglückt. Mir fehlen ja die Augäpfel; man hat sie mir herausgeschnitten. Hätte ich da nicht von dem Herrn Baron eine Unterstützung zu verlangen, Herr Pastor?«

»Nein. Er hat Ihr den Arbeitslohn pünktlich bezahlt, so lange Sie thätig war. Wenn Sie nicht mehr arbeitet, so hat Sie auch nichts mehr zu verlangen.«

»Aber Sie sind doch sein Stellvertreter! Könnten Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen?«

»Das geht nicht. Ich bin nicht sein vortragender Rath.«

»Ich verstehe nicht, wie das gemeint ist, Herr Pastor; aber seit jenem Unglücke führe ich das elendeste Leben, welches es nur geben kann. Die Anderen können hinaus auf die Dörfer, wo es eher ein Stückchen Brod giebt als hier. Ich aber taste mich im Orte von Haus zu Haus, wo lauter arme Leute wohnen. Ich weiß, wie der Hunger thut; ich weiß aber seit langer Zeit nicht mehr, wie es ist, wenn man satt ist. Ich friere bis in die Seele hinein. Heute haben Sie eine so schöne Rede gehalten, so schön und so rührend –«

»Ah, hat sie Ihr gefallen?«

»O, sehr, sehr! Sie sprachen vom Wohlthun und vom Mittheilen. Mich hungerte so sehr. Da dachte ich: Du gehst nachher zu ihm. Da giebt es feines Abendessen, Braten und Wein. Wer so schön vom Wohlthun reden kann, der hat sicherlich ein gutes Herz; der wird Dich nicht hungern lassen!«

Er zog die Stirn in Falten und fragte:

»So kommt Sie also betteln?«

»Ein Stück Brod will ich gern haben, nur ein kleines Stückchen Brod, keinen Braten und keinen Wein.«

Da machte er ein pfiffig strenges Gesicht und sagte:

»Da wird Ihr Gang wohl umsonst gewesen sein! Schäme Sie sich! In Gegenwart dieser Herrschaften zu betteln!«

Sie griff zu der alten, zerrissenen Schürze, als ob sie weinen und sich die Thränen trocknen wolle, ließ sie aber sofort wieder fallen.

»Herr Pastor,« sagte sie, »ich darf nicht weinen, denn die Thränen können bei mir nicht heraus, das verursacht mir große Schmerzen; das brennt wie höllisches Feuer. Heute, als Sie so schön sprachen, hätte ich dennoch bald geweint, geweint vor Freude, daß es einen solchen Mann giebt, der vom lieben Gott die Gabe und den Auftrag hat, unsere Noth zu stillen. Geben Sie mir ein Stückchen Brod!«

»Wenn alle Bettler gerade zu mir kommen wollten, weil ich das Wort der Liebe predige, müßte ich bald selbst betteln gehen!«

»Aber bedenken Sie, daß Sie uns singen ließen:

 

›Sollt es gleich bisweilen scheinen

Als verließe Gott die Seinen,

Ei, so weiß und glaub ich dies:

Gott hilft endlich doch gewiß!‹«

 

»Das ist wahr; aber wir haben doch auch gesungen:

 

›So hält Gott doch Maaß und Ziel:

Er giebt, wem und wenn er will!‹«

 

»So meinen Sie, daß ich von ihm nichts bekommen solle?«

»Das nicht. Aber denke Sie an das Wort, welches der Heiland bei der Hochzeit zu Kana sagt: Weib, meine Stunde ist noch nicht gekommen!«

»O, die brauchte auch nicht gekommen zu sein, denn als er das sagte, hatten alle Gäste noch genug Essen und Wein.«

»Ich sehe, daß Sie sehr bibelfest ist, und das freut mich. Aber gerade darum kann ich Ihr kein Brod geben. Gott will helfen und wird helfen; ich darf ihm ja nicht vorgreifen. Gehe Sie nur nach Hause in Ihr Kämmerlein; kniee Sie nieder und bete Sie zu Ihrem Vater im Verborgenen, recht gläubig, recht innig und vertrauend! Es steht in der Bibel, daß das Gebet des Gerechten Berge zu versetzen vermöge. Bete Sie also, anstatt zu betteln, und ich bin überzeugt, daß er Ihr helfen wird.«

»Aber wie soll er mir denn helfen? Doch durch Menschen. Gott kommt nicht mehr auf die Erde herab!«

»Warum nicht? Er kommt auch heute noch. Ich kann, ich darf Ihr nichts geben; ich darf Gott die Freude nicht verderben. Bete Sie, und dann wird er selbst kommen und Ihr helfen, oder er wird Ihr einen seiner Engel senden!«

Da ging ein eigenthümliches Zucken über ihr erfrorenes, blindheitsstarres Gesicht. Sie biß die Zähne zusammen und krümmte die Finger, als ob sie eine Faust machen wolle.

»Gott, mein Gott!« sagte sie. »Hier duftet es nach Braten und Speck, nach Wein und Delicatessen, und ich soll hungrig fortgehen! Denken Sie daran, Herr Pastor, daß wir heute auch gesungen haben:

 

›Trotz den Feinden! Trotz den Drachen!

Ich kann ihre Macht verlachen!

Trotz dem schweren Kreuzesjoch!

Gott, mein Vater, lebet noch!‹«

 

»Was will Sie damit sagen?« fragte er.

»Daß ich Sie für einen Engel gehalten habe, den uns Gott sendet. So dachte ich, als ich Ihre Worte hörte. Nun ich aber Ihre Thaten sehe, erkenne ich, daß ich mich geirrt habe. Ich bin eine arme, schwache und blinde Frau; ich habe im Stillen hilflos gehungert und gedürstet, geklagt und geweint; ich habe mich über Niemand beschwert. Heute aber muß es heraus, und wenn ich daran sterben und untergehen soll!«

»Ah, Sie will sich beschweren? Ueber wen denn?«

»Ueber die Wölfe, die in Schafskleidern zu uns kommen. Es giebt einen guten Gott, der helfen will, aber seine und unsere größten Feinde sind Die, welche seine Worte im Munde führen, aber im Herzen wie die Teufel denken. Das sind die Feinde und die Drachen, von denen wir gesungen haben!«

»Was! Sie raisonnirt!« rief er zornig.

»Ja,« antwortete sie. »Ein solcher Feind, ein solcher Drache sind auch Sie! Aber Gott, mein Vater, lebet noch! Er wird einen Boten senden, der Sie zertritt, wie der Erzengel den Teufel, wie der heilige Georg den Drachen! Das ist es, was ich sagen will. Und nun will ich gehen und weiter hungern!«

Die Worte brachten eine allgemeine Aufregung hervor.

»Welche Unverschämtheit! Freches Weib!« ertönte es rund um den Tisch herum.

»Werft sie hinaus!« gebot der fromme Schuster, indem er seine Hand gegen sie ausstreckte, wie der alttestamentliche Richter über die dem Verderben geweihte Feindesstadt.

Da aber erhob sich der Pfarrer von seinem Stuhle, ergriff die Frau beim Arme und sagte:

»Warten Sie, liebe Frau Löffler! Wer Sie in dieser Weise fortjagt, der treibt auch mich von dannen!«

Er griff nach seinem Hute.

»Was! Sie wollen doch nicht etwa gehen?« fragte Seidelmann.

»Allerdings!«

»Wegen dieses Weibes?«

»Ja. Ich habe Ihnen nämlich zu sagen, meine Herren, daß ihr bereits geholfen ist. Ich werde sie nach meiner Wohnung führen. Ich bin zwar nicht ein Vorsteher der Brüder und Schwestern der Seligkeit; ich bin nur ein arm besoldeter Pfarrer, aber ein Stückchen Brod und ein Schälchen warmen Kaffee habe ich für diese Hungernde doch übrig.«

»Sie greifen Gott vor!« rief der Schuster.

»Ich hoffe, daß er es mir vergeben wird. Uebrigens widersprechen Sie sich ja selbst. Sie haben heute für die Nothleidenden eingesammelt. Darf ich vielleicht fragen, wie viel diese Sammlung ergeben hat?«

»Wir sind Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Sie sind weder ein Mitglied unserer Gesellschaft, noch wurden Sie von der Obrigkeit eingesetzt, die Verhältnisse unserer Casse zu controlliren!«

»Wohl. Aber immer widersprechen Sie sich doch! Warum sammeln Sie, wenn Sie jetzt behaupten, daß man mit Wohlthaten dem Herrn vorgreife?«

»Gottes Befehl wird schon an uns ergehen!«

»Wie und auf welche Weise gedenken Sie solche Befehle von Gott zu empfangen?«

»Durch die Stimme unseres Herzens.«

»Nun gut, so lassen Sie Ihr Herz für diese Frau sprechen, und geben Sie ihr einen Theil der Summe, welche Sie heute eingesammelt haben!«

»Das geht nicht. Wir wirken im Verborgenen. Kein Mensch, der Etwas von uns empfängt, darf wissen, von wem es ist. Christus gebietet ja: Laß Deine linke Hand nicht wissen, was die rechte thut!«

»Sie gebrauchen da dieses Christuswort auf eine vollständig verkehrte Weise. Und sodann: Wenn Sie nur im Verborgenen wohlthun, geben Sie wahrscheinlich auch keinem Menschen Rechnung über Ihren Cassenstand. Ich warne Sie sehr vor der Verantwortung! Unsere allerärmsten Leute haben ihre letzten Kreuzer hergegeben. Es wäre eine fürchterliche Sünde, diese Scherflein anders anzuwenden, als die Spender gedacht haben!«

Da trat der Schuster auf den Pfarrer zu und sagte:

»Herr Pastor, haben Sie heute meinen Vortrag gehört?«

»Ja. Jedenfalls haben Sie gesehen, daß ich anwesend war!«

»So haben Sie wohl auch bemerkt, daß ich wenigstens ein ebenso guter Redner bin wie Sie. Sie sind mir auf keinen Fall überlegen. Ich bin ein Christ, aber Sie gehören nicht zu unserem Vereine. Sie haben hier kein Wort zu sprechen.«

»Sie sind ein Christ, wie Sie sagen, ich aber bin ein christlicher Seelsorger; als solcher habe ich die heilige Pflicht, Sie zu warnen, wenn ich Sie in Gefahr sehe. Uebrigens sind wir einstweilen fertig. Für diese Frau ist gesorgt.«

Seidelmann, der Kaufmann, der sich mit dem Priester doch nicht gern verfeinden wollte, näherte sich und fragte:

»Sie wollen sie doch nicht für immer bei sich behalten?«

»Nein, das ist nicht nöthig. Aber ich werde dafür sorgen, daß die Bewohner des Armenhauses nicht mehr zu betteln und zu hungern brauchen.«

»Na, na, Herr Pfarrer! Wie wollten Sie das anfangen? Unsere Gemeinde ist zu arm, als daß sie mehr thun könnte, als bisher.«

Es war ein wirklich seliges Lächeln, welches sich über das Gesicht des braven Geistlichen breitete, als er jetzt antwortete:

»O, ich habe Geld!«

»Sie? Sie sind ja arm, soviel ich weiß!«

»Das bin ich auch; aber es hat sich ein mildthätiges Herz gefunden, von dem ich eine Summe für unser Armenhaus eingehändigt bekommen habe.«

»Sapperlot! Das wäre! Wie viel?« fragte da rasch der Schuster.

»Ich durfte mich um Ihre Casse nicht bekümmern, mein Herr; ich bitte, auch mit der meinigen machen zu können, was mir beliebt.«

»O, das steht anders. Bei mir handelt es sich um die Casse eines Vereins, bei Ihnen aber um eine communale Angelegenheit. Mein Bruder, der Herr Kaufmann Seidelmann hier, hat das Armenwesen des hiesigen Ortes zu leiten. Unter seiner Direction befindet sich auch das Armenhaus. Sie werden ihm das, was Ihnen eingehändigt wurde, auszuliefern haben.«

»Wohl nicht. Der Geber hat mir die Summe in Verwaltung gegeben; nur ich habe zu bestimmen, in welcher Weise über sie verfügt werden soll.«

»So ist diesem Geber das Gemeindestatut unbekannt. Wer ist der Mann?«

»Auch hierüber bin ich Ihnen keine Auskunft schuldig; aber aus Höflichkeit gegen die übrigen Herren will ich Ihnen sagen, daß heute der Fürst des Elendes bei mir gewesen ist.«

Nach diesen Worten herrschte einige Augenblicke lang tiefe Stille im Zimmer. Diesen Namen hatte Niemand zu hören erwartet. Die Seidelmanns waren Beide bleich geworden. Sie warfen einander einen sehr bezeichnenden Blick zu, und dann endlich sagte der Kaufmann:

»Der Fürst des Elendes? Unmöglich!«

»Warum unmöglich?«

»Der ist ja in der Residenz!«

»Sollten Sie wirklich nicht gelesen haben, daß er seit vorgestern und gestern uns sehr nahe gerückt ist?«

»Es hat sich Jemand einen Spaß gemacht!«

»Das glaube ich nicht annehmen zu dürfen. Eines einfachen Spaßes wegen giebt man nicht Tausende aus.«

»Tausende? Alle Teufel! Soviel haben Sie erhalten?«

»Ja.«

»So muß es allerdings Ernst sein. Wie sah er aus?«

»Ich weiß nicht, ob ich befugt bin, Antwort auf diese Frage zu geben. Der edle Spender hat mir nicht ausdrücklich gesagt, daß ich sein Äußeres beschreiben darf.«

»Aber ausdrücklich verboten hat er es auch nicht?« fragte Seidelmann mit auffälliger Dringlichkeit.

»Nein.«

»Nun also, wie sah er aus?«

»Ich werde doch für jetzt noch davon schweigen. Ich werde mir diese Angelegenheit schnell, aber reiflich überlegen, um in der nächsten Gemeinderathssitzung meine Vorlagen machen zu können. Gute Nacht, meine Herren!«

Er entfernte sich rasch, indem er die Blinde beim Arme nahm und hinausführte. Hinter ihm erschollen laute, lebhafte Stimmen. Mit der Erwähnung des Fürsten des Elendes war ein Thema zur Sprache gekommen, wie so interessant es gewiß kein zweites gab. Dasselbe wurde denn auch auf das Ausführlichste besprochen. Ein Jeder hatte Etwas, was die Anderen noch nicht wußten, von diesem räthselhaften Wesen gehört, und das mußte natürlich Alles erzählt werden.

Darüber kehrte Fritz von seinem Ausgange zurück. Er hatte sich natürlich auf seinem Zimmer wieder aus-und umgezogen. Auch er war nicht wenig betreten darüber, daß der Fürst des Elendes sich im Orte befunden habe oder sich vielleicht sogar noch in demselben befinde. Doch war es ihm unangenehm, sich an diesem Gespräche zu betheiligen, und darum fragte er mit lauter Stimme:

»Apropos, meine Herren, wissen Sie bereits, daß uns morgen ein seltener Kunstgenuß bevorsteht?«

Alle wendeten sich zu ihm und fragten ihn, welcher Kunstgenuß dies wohl sei.

»Es ist eine Gymnastikertruppe angekommen, nämlich in der Nachbarstadt. Die Leute wollen über die Grenze, vorher aber erst eine Vorstellung geben, jedenfalls, um sich das Reisegeld zu verschaffen.«

»Das wird ihnen schwer fallen, zumal bei den jetzigen Zeiten.«

»Warum? Der Pöbel hat allerdings kein Geld zu so Etwas. Hier bei uns sind solche Vorstellungen äußerst selten, und so ist es die Pflicht Derer, welche die Mittel dazu haben, diese Leute zu unterstützen. Ich werde mir die Sache mit ansehen. Du auch, Vater?«

»Ja. Wann ist es?«

»Morgen Abend. Und Du, Onkel?«

»Die Freuden der Welt sind nicht die meinigen. Trachtet am Ersten nach dem Reiche Gottes! Aber vielleicht gelingt es mir, den sogenannten Künstlern, welche doch nur verlorene Seelen sind, ein echtes, rechtes Missionswort an das Herz zu legen. Ich gehe mit, denn ich denke an die Zeilen: Ach Gott, wie muß das Glück erfreun, der Retter einer Seele sein!«

Auch Eduard Hauser hatte mit seinem Vater sich den Vortrag mit angehört. Auf dem Nachhauseweg fragte er diesen:

»Was sagst Du dazu, Vater?«

»Ein rauschendes Wasser, welches keine Mühle treibt. Es glitzert und funkelt im Sonnenlichte, aber es ist nichts nütze.«

»Du hast Recht. Ich kann diesen Schuster nicht leiden, nicht ausstehen. Es ist mir immer, als sei ich, sobald ich ihn sehe, der Vogel, der von einer Klapperschlange angeblickt wird.«

»Er ist ein Heuchler, ein Gottloser. Er mag seine Predigten seinem Bruder, seinem Neffen und dem Baron halten. Die nur allein sind schuld an unserem Elende. Hast Du Geld gegeben?«

»Zehn Kreuzer.«

»Ich auch. Er guckte Einen so an, daß man es gar nicht wagen konnte, gar nichts oder nur einen Kreuzer zu geben. Und wir brauchen das Geld ja selbst so sehr nothwendig.«

»Gott wird helfen, Vater, wenn auch der Schuster nicht!«

»Was thust Du heute Abend noch? Gehst Du vielleicht zum Nachbarn hinüber?«

Eduard schwieg ein Weilchen und antwortete dann:

»Nein.«

Dieses kleine Wörtchen kam so gepreßt zwischen seinen Lippen hervor, daß es dem Vater auffiel.

Der verlorne Sohn
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