»Nicht?« fragte er. »Warum nicht? Du bist doch sonst alle Abende drüben gewesen.«

»Er sieht es nicht mehr gern!«

»Ja, ich habe es bemerkt, als ich Kohlen und Holz von ihm borgte. Höre, Eduard, ich glaube zu wissen, weßhalb!«

»Vielleicht irrst Du Dich!«

»O nein. Er wird denken, daß Du Absicht auf das Engelchen hast.«

»Er mag es denken!«

Das stieß der junge Mann so rasch und rauh hervor, daß sein Vater sofort fragte:

»Wie kommst Du mir vor? Ich selbst und auch die Mutter haben gedacht, daß Du mit ihr einverstanden bist. Ist das etwa nicht der Fall?«

»Nein. Fällt mir gar nicht ein!«

»Na, na! Das Engelchen ist ein gutes und braves Mädchen. Sie wäre uns als Schwiegertochter recht gewesen. Was hat es denn gegeben, daß Du so unwirsch auf sie bist?«

»Hm! Nichts als nur Eins. Aber lassen wir das, Vater! Es muß überwunden werden, und dann denke ich nicht mehr daran.«

»Ah! Sie will Dich nicht? Oder hat sie gar bereits einen Anderen? Nun, ich menge mich nicht gern in solche Angelegenheiten, aber ich will Dir sagen, daß Gott alles Herzeleid zu stillen vermag. Hat man wo sein ganzes Herz gelassen, so mag es wehe thun, wenn es verschmäht wird; aber die menschliche Liebe ist doch nur ein geringes Abbild der Liebe Gottes, und der heilige Apostel sagt ja: An Ihm laßt Euch genügen. Und irgendwo anders, ich glaube, es ist in den Psalmen, sagt die heilige Schrift: Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde, und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist Du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil! Kommst Du mit herein zu uns, Eduard?«

Sie waren, als der Vater diese Worte sagte, bei ihrem Häuschen angekommen.

»Nein, Vater. Ich gehe in den Wald.«

»In den Wald? Was hast Du da zu thun?«

Er fragte das im Tone des Erstaunens. Er hätte beinahe ein Mißtrauen hegen mögen, wenn er es überhaupt für möglich gehalten hätte, daß sein guter, wohlgerathener Sohn falsche Wege gehen könne.

»Ich habe gar nicht daran gedacht, daß ich des Försters Schlitten noch hier habe. Ich will ihn hinausschaffen.«

»Warum heute Abend noch? Es ist ja morgen am Tage noch Zeit!«

»Laß mich, Vater! Wenn ich so allein mit mir bin, kann ich meinen Gedanken ganz anders nachhängen.«

»Ganz wie Du willst. Nur laß uns nicht zu lange auf Dich warten. Bei diesem Schnee ist bald ein Unglück geschehen.«

Der Schlitten stand hinter dem Häuschen. Eduard spannte sich vor und fuhr zum Orte hinaus.

Arndt war direct aus der Versammlung nach Hause gegangen. In der Försterei wartete das Abendbrot auf ihn. Als sie bei demselben saßen, meinte der alte Wunderlich: »Nun, was hat er vorgebracht?«

»Nichts Gescheites und Positives. Ich glaube sehr, daß es auf eine Geldprellerei abgesehen ist.«

»Das mag möglich sein. Diesem Hallunken ist Alles zuzutrauen. Er hat wohl Missionsgelder eingesammelt?«

»Ja.«

»So soll der Teufel den Kerl holen, wenn er die armen Hungerleider um ihre Kreuzer prellt. Ich hänge ihn lebendig bei den Beinen auf, mit dem Kopfe in einen Ameisenhaufen!«

»Das würde Ihnen jetzt im Winter schwer werden, lieber Vetter!«

»So warte ich den Sommer ab; aber hängen muß er! Wohin?«

Diese Frage war an Arndt gerichtet, der sich vom Tische erhob.

»In meine Stube,« antwortete er. »Bekümmert Euch nicht um mich. Es ist möglich, daß ich einmal in den Wald gehe.«

Draußen auf dem Flur begegnete ihm Eduard, welcher dem Förster melden wollte, daß er den Schlitten gebracht habe. Er dankte auf den Gruß, den ihm der junge Mann sagte, und stieg dann die Treppe empor. Droben in seiner Stube trat er an das Fenster und blickte hinaus auf die schneehelle, winterliche Landschaft. Er mußte etwas Auffälliges entdeckt haben, denn er murmelte: »Was ist das? Hm! Täusche ich mich etwa?«

Er trat ein Wenig vom Fenster zurück, um auf keinen Fall gesehen zu werden, und blickte wieder hinaus.

»Ja, das ist eine menschliche Gestalt, in ein weißes Betttuch gehüllt!« fuhr er fort. »Der Kerl scheint das Forsthaus zu beobachten. Oder sollte er vielleicht auf den Eduard Hauser warten? Wollen doch einmal sehen!«

Er öffnete rasch einen Koffer, steckte ein Betttuch und einige Bärte zu sich und nahm auch zwei eigenthümliche Gegenstände hervor, über deren Bestimmung der Uneingeweihte sicherlich nicht in’s Klare gekommen wäre. Es waren nämlich zwei Schneeschuhe, nicht so lang wie die in Norwegen gebräuchlichen, aber desto breiter.

Er eilte hinab, trat durch die vordere Thür und legte da die Schneeschuhe an, mit deren Hilfe man in größter Geschwindigkeit, völlig geräuschlos und ohne eine auffallende Spur zu hinterlassen, über den tiefsten Schnee hinwegzugleiten vermag.

Dann wickelte er das weiße Betttuch um sich und setzte sich in Bewegung. So schnell wie auf Schlittschuhen schlug er einen weiten Bogen um das Forsthaus, in der Absicht, hinter die Gestalt zu gelangen, die er bemerkt hatte.

Hier war der Wald nicht dicht. Der Schnee lag selbst zwischen den Bäumen über eine Elle hoch; darum kam Arndt außerordentlich schnell vorwärts. Als er den Ort erreichte, nach dem er getrachtet hatte, nahm er das Tuch wieder ab. Dieses gewährte auf freiem Feld mehr Schutz, als zwischen den Bäumen. Im freien Felde war es nicht von dem Schnee zu unterscheiden, im Walde aber stach es so von den dunklen Baumstämmen ab, daß der Träger Gefahr lief, bemerkt zu werden. Dies war ja auch schuld gewesen, daß Arndt die Gestalt bemerkt hatte.

Jetzt duckte er sich nieder und bewegte sich nur sehr langsam und vorsichtig weiter. Ja, da stand sie vor ihm, die Gestalt, bis über den Kopf in das Tuch gehüllt, bewegungslos.

»Er scheint auf Hauser zu warten,« dachte Arndt. »Ah, das Gesicht ist verhüllt! Sollte es der Waldkönig sein? Ich darf ihn auf keinen Fall aus dem Auge lassen. Will er mit Hauser reden, so thut er es nicht in der Nähe des Forsthauses, sondern er wird warten, bis der Bursche aus dem Hause tritt und sich dann unter den Bäumen schnell parallel mit der Straße hinabziehen, um dann plötzlich auf diese Letztere hinauszutreten und Hauser zu überraschen. In diesem Falle muß ich aber hören, was er mit ihm zu sprechen hat!«

Seine Vermuthung erwies sich als ganz richtig. Als Eduard nach einiger Zeit drüben aus der Thüre des Forsthauses trat, setzte sich die Gestalt in Bewegung, in weiten, schnellen Schritten durch den tiefen Schnee watend. Arndt folgte ihm, indem er hinter jedem Baume vorsichtig Deckung suchte. Er konnte nicht bemerkt werden, da die hohen Stiefel des Anderen in dem tiefen Schnee ein nicht unbeträchtliches Geräusch hervorbrachten.

Eduard Hauser hatte keine Ahnung davon, daß er beobachtet werde. Er schritt langsam und in Gedanken versunken die Straße hinab, bis ihn plötzlich ein lautes, barsches Halt! aus seinem düsteren Sinnen emporschreckte. Er blieb stehen. Rechts aus dem Walde kam eine schwarze Gestalt über den zugewehten Straßengraben gesprungen und stellte sich vor ihn.

Er erschrak und trat einen Schritt zurück. Die Gestalt war mit einer schwarzen Maske versehen und sah ganz genau so aus, wie man den Pascherkönig zu beschreiben pflegte.

»Was machst Du hier?« fragte der Verhüllte, welcher allerdings jetzt sein Betttuch abgeworfen und hinter sich liegen gelassen hatte.

Seine Stimme klang dumpf und tief unter der Larve hervor. Selbst ein Bekannter hätte ihn an derselben nicht zu erkennen vermocht. Eduard antwortete furchtlos: »Nichts. Ich gehe nach Hause.«

»Wo warst Du?«

»Beim Förster.«

»Was hast Du denn da zu thun?«

»Was geht denn Dich das an?«

»Oho, sehr viel! Kennst Du mich?«

»Nein.«

»Ich bin der Waldkönig und muß wissen, was in meinem Reviere geschieht. Was? Du erschrickst nicht vor mir?«

»Nein. Ich habe ein gutes Gewissen.«

»Wer bist Du?«

»Auch das geht Dich nichts an!«

»Bursche, rede manierlicher, sonst sollst Du bald begreifen, wie man mit mir umzugehen hat! Ich kenne Dich. Du bist der Hausers Eduard. Du arbeitest für den Seidelmann?«

»Jetzt nicht mehr.«

»Ah! Hat er Dich ab gelohnt?«

»Ja.«

»Das ist recht! Ich habe längst ein Auge auf Dich gehabt. Du mußt in meine Dienste treten.«

»Ich muß? Wer sagt das?«

»Ich!«

»So sage ich Dir, daß Du mir nichts zu befehlen hast. Von einem Müssen ist hier gar keine Rede!«

»Nur nicht so hitzig, mein Junge! Hast Du vielleicht einmal gehört, wie wenig ich mir aus einem Menschenleben mache?«

»Ja; Du bist ein gottvergessener Bösewicht!«

»Hallunke! Wenn ich Dir nun für diese Beleidigung eine Kugel durch den Kopf jage!«

»So ist’s aus mit mir, weiter nichts! Was mache ich mir daraus! Uebrigens scheinst Du gar nicht daran zu denken, daß man sich seiner Haut wehren kann!«

»Gegenwehr würde Deine Lage nur verschlimmern. Hier rechts und links stehen meine Leute, die ihre Gewehre auf Dich gerichtet haben. Also, willst Du in meine Dienste treten?«

»Nein!«

»Warum nicht?«

»Weil ich ein ehrlicher Kerl bin, aber kein Spitzbube!«

»Ein dummer Mensch bist Du, aber kein gescheidter Kerl! Hältst Du denn den Schmuggel für ein Verbrechen?«

»Ja.«

»Haha! Warum denn?«

»Weil er vom Gesetze verboten ist.«

»Einfaltspinsel! Warum haben sie diese Gesetze gemacht, um unser gutes Geld in ihre Taschen zu stecken. Ist es etwa Recht, daß das Fleisch, das Leder und andere Dinge hier an einem Punkte doppelt so theuer sind, als eine Viertelstunde davon? Das ist nicht Natur, das will Gott nicht, sondern die Menschen haben es gemacht.«

»So haben sie ein Recht dazu. Der König versteht mehr davon als Du und ich. Er wird schon wissen, was er thut.«

»Nichts weiß er, gar nichts. Nur ärgern will er uns!«

»Laß Dich nicht auslachen! Dem König wird viel daran gelegen sein, ob Du Dich ärgerst oder nicht! Er will haben, daß wir uns Alles, was wir machen können, selbst machen, und nicht das Geld dafür aus dem Lande hinaustragen.«

»Schau, schau, was Du für ein gescheidter Kerl bist! Na, das ist mir lieb, denn solche Leute brauche ich! Ich werde Dich in meine Dienste nehmen!«

»Das magst Du nur bleiben lassen! Mich bekommst Du nicht!«

»Oh, ich werde Dich zwingen!«

»Versuch’s!«

»Ich habe schon manchen anderen Widerspenstigen gezwungen, und dann ist er ein ganz tüchtiger Kerl geworden.«

»Ein Spitzbube ist er geworden! Laß mich! Ich muß nach Hause gehen!«

»Warte noch ein Weilchen! Erst müssen wir fertig sein. Du weißt, daß ich Herr über Leben und Tod bin?«

»Dieses Recht hat Dir Keiner gegeben!«

»So habe ich es mir genommen und werde es ausüben, so lange es mir gefällt. Ich gebe Dir drei Tage Bedenkzeit. Sagst Du bis dahin nicht Ja, so lasse ich Dich erschießen!«

»Das erschreckt mich nicht. Schieße lieber gleich zu!«

»Gut, so lasse ich Deine Eltern und Geschwister sterben!«

»So bist Du der Mörder und nicht ich bin es!«

»Oder ich erschieße Dir die Liebste!«

»Ich habe keine!«

»Oho! Hofmanns Angelica!«

»Die geht mich nichts an!«

Da legte der Waldkönig seine Hand auf die Schulter Eduards und fuhr fort:

»Mensch, bist Du denn nicht gescheidt? Hast Du noch nicht gehört, wie viel bei der Pascherei verdient wird?«

»Ich weiß es nicht.«

»Nun, Du bist kein unebener Kerl, und ich will Dir sagen, daß so Einer, wie Du, sich jährlich wohl an die dreitausend Gulden verdienen kann!«

»Das ist Lüge!«

»Nein; das ist Wahrheit. Und außerdem gebe ich Dir, wenn Du zusagst, auf der Stelle einen Hundertguldenschein als Angeld, als Geschenk.«

»Und was hätte ich da zu thun?«

»Meinen Befehlen zu gehorchen!«

»Und was sind das für Befehle?«

»Davon brauchst Du jetzt nichts zu wissen. Tritt bei, und ich werde Dir antworten.«

»Höre, Pascherkönig, ich bin ein armer Teufel und jetzt ohne Arbeit, meine Eltern und Geschwister sind auf mich angewiesen, und ich kann ihnen jetzt kein Brod schaffen; auch brauche ich wegen anderer Dinge sehr nothwendig Geld, besonders wenn ich es gleich erhalten könnte; aber mein Leben, meine Seele, meine Ehrlichkeit und mein Gewissen verkaufe ich Dir nicht für eine Million. Laß mich fort! Was Du sagst, ist unnütz in den Wind geredet.«

Er wollte fortgehen, aber der Waldkönig hielt ihn zurück und sagte in strengem Tone:

»Halt! So kommst Du mir nicht fort! Es ist das letzte Mal nicht, daß ich mit Dir darüber spreche. Ich muß Dich haben; ich will Dich haben, und ich werde Dich haben! Ich werde Dich schon wieder treffen. Sagst Du aber einem einzigen Menschen, auch Deinem Vater, daß Du mit mir gesprochen hast, so seid ihr Alle unglücklich!«

»Ich bin keine Plaudertasche!«

»So sei froh!«

»Und eine große Ehre ist es auch nicht etwa, mit Dir gesprochen zu haben. Ich werde mich hüten, davon zu reden. Also, gute Nacht und guten Weg.«

Er ging, ohne von dem Pascherkönige zurückgehalten zu werden. Dieser Letztere blieb stehen, ließ ihn eine Strecke fortkommen, drohte ihm sodann mit geballter Hand nach und murmelte: »Warte nur, Hundebursche; mir entkommst Du doch nicht! Pascher mußt Du werden, damit sie Dich fangen, damit Du in das Zuchthaus kommst! Die Engelchen darfst Du nicht bekommen. Geht es nicht freiwillig, so brauche ich Gewalt. Mächtig genug sind wir dazu!«

Als Eduard in das Städtchen zurückkam, war es noch nicht sehr spät am Abende. Er wollte noch nicht nach Hause, denn er wußte, daß er doch noch nicht schlafen könne. Er wollte erst über die Begegnung mit dem Waldkönige nachdenken, und schlenderte also langsam die Gasse hinauf.

Da kam ihm ein Mädchen entgegen, und eben, als sie an ihm vorbei wollte, erkannte er sie, trotzdem sie wegen der Kälte ein Tuch um den Kopf geschlagen hatte.

»Engelchen!« sagte er.

»Was giebt’s?« fragte sie kurz und schnippisch, indem sie zwar stehen blieb, sich aber nicht zurückwendete.

Er trat zu ihr und sagte:

»Bleibt’s bei dem, was Du gesagt hast?«

»Ja.«

»Du gehst wirklich auf den Ball?«

»Ja.«

»Gut, so gehe ich auch!«

»Auf den Ball?«

»Nein, sondern anderswohin!«

»Wohin denn?« fragte sie neugierig.

»Unter die Pascher!«

Sie erschrak doch. Aber im nächsten Augenblicke sagte sie sich, daß der ehrliche Bursche das niemals thun werde.

»Ja,« antwortete er.

»Geh! Wie wolltest Du das anfangen?«

»Sehr leicht und einfach. Ich habe soeben mit dem Waldkönige gesprochen!«

»Herjesses! Und er hat Dir nichts gethan?«

»Nein. Er ist sogar sehr freundlich mit mir gewesen. Er hat mir mehrere tausend Gulden für’s Jahr versprochen.«

»Das hast Du nicht angenommen! Nein, gewiß nicht!«

»Aber dann hat er gesagt, wenn ich nicht in seine Dienste trete, so müsse ich sterben, Vater und Mutter auch, die Geschwister und endlich auch noch Du?«

»Ich?« meinte sie erschrocken. »Warum ich?«

»Weil er geglaubt hat, Du bist meine Geliebte. Er hat gedacht, daß Du mir höher stehst als meine Ehrlichkeit.«

Da trat sie ihm einen Schritt näher und fragte:

»Hat er da Recht?«

»Nein.«

»So stehe ich Dir nicht so hoch?«

»Nein.«

»Also Du würdest mich lieber ermorden lassen, als daß Du zu dem Waldkönige gingst?«

»Ich würde Dich zu beschützen suchen, aber zu den Paschern würde ich auf keinen Fall gehen.«

»Es ist gut! Gute Nacht!«

Sie ging. Es war ihr gar nicht so ums Herz. Sie freute sich über seine Ehrlichkeit; aber ihre Selbstliebe hätte es gern gesehen, wenn er gesagt hätte, daß sie ihm höher als alle moralischen Bedenken stehe. Das mußte ihrer Meinung nach bestraft werden.

»Engelchen!« rief er ihr nach.

Sie wendete sich noch einmal zurück und fragte:

»Bist Du noch immer nicht fertig?«

»Willst Du wirklich so zornig von mir gehen?«

»Meinst Du etwa, daß ich Dir nachlaufe? Das hast Du bereits gestern gedacht, aber ich thue es nicht!«

»Gestern? Wann denn?«

»Als Du von mir fort warst. Da hast Du an der Ecke gewartet und geglaubt, ich solle gute Worte geben.«

Bei diesen Worten drehte sie sich um und eilte mit schnellen Schritten davon. Er blickte ihr kopfschüttelnd nach.

»Sie ist auf einmal ganz anders als früher!« sagte er leise und traurig vor sich hin. »Denkt sie wirklich, daß Einer vom Casino sie heirathen wird? Sie geht ihrem Verderben entgegen. Ich muß auf den Ball, um sie zu beschützen!«

Er schritt langsam weiter und fuhr fort:

»Aber wenn ich richtig mitmachen will, so kostet das Geld, viel Geld. Ich muß mit essen und mit trinken, vielleicht theuern Wein, und ich habe doch nichts übrig! Hätte ich bei dem Waldkönige Ja gesagt, so hätte ich jetzt hundert Gulden. Herrgott, welch ein großes Geld! Aber nein! Ich bleibe ein ehrlicher Kerl!«

Als Arndt dem Waldkönige gefolgt war, hatte er bemerkt, daß dieser das Tuch von sich geworfen hatte und dann über den Graben gesprungen war. Rasch hatte er sich so weit wie möglich herangeschlichen und, hinter dem Stamme eines Baumes versteckt, jedes Wort der Unterhaltung verstanden.

Dabei hatte das Betttuch neben ihm gelegen. Diesen Umstand mußte er benutzen. Er betrachtete die Zipfel des Tuches und bemerkte in der einen Ecke bei dem Scheine des Schnees die beiden Buchstaben T.M.

Er sah, daß die Unterredung zu Ende gehe, und zog sich schleunigst zurück. Eduard ging. Der Lauscher bemerkte, daß der Waldkönig ihm mit der Faust nachdrohte und dann das Tuch holte und über sich wegwarf.

»Er wickelt sich wieder ein,« dachte er. »Ich könnte ihn sofort abfangen; aber was nützt das? Er muß auf der That ertappt werden, und ich will auch seine Complicen kennen lernen. Uebrigens weiß ich gar nicht einmal, ob er auch wirklich der Pascherkönig ist. Er giebt sich zwar für ihn aus, aber das kann ja auch seine Gründe haben. Fort, ihm nach!«

Er verfolgte den König in der angegebenen Weise immer tiefer in den Wald hinein, ganz genau in der Richtung auf die Eiche zu. Dort beobachtete er, daß derselbe sich an dem Stamme zu schaffen machte und dann wieder weiter ging.

Schnell glitt auch er zur Eiche und untersuchte den Stamm in der Gegend, in welcher er die Hände des Verhüllten gesehen hatte, leider aber konnte er nichts entdecken.

Das nahm einige Zeit in Anspruch. Er bemerkte, daß der Waldkönig dadurch einen bedeutenden Vorsprung gewonnen hatte, den Wald verließ und die Richtung nach dem Städtchen einschlug. Draußen im Freien nahm Arndt das Tuch wieder über und hielt sich so nahe als möglich an den König.

Sie erreichten die ersten Gärten und da, ja da war der Verfolgte ganz plötzlich verschwunden. Arndt konnte suchen, wie er wollte; es war vergebens, da es hier verschiedene Fußspuren gab.

»Fatal!« murmelte er. »Na, ein anderes Mal werde ich vorsichtiger sein! Hoffentlich treffe ich ihn wieder!«

Er veränderte seine Kleidung, so daß er nun wieder den Vetter Arndt vorstellte, knüpfte das Betttuch unter die Jacke und ging nach der Gasse, um durch den unteren Theil des Städtchens zurückzukehren, da er durch den Wald einen Bogen gemacht hatte.

Da kam ihm eine Männergestalt entgegen. Er erkannte sogleich Eduard Hauser. Dieser hatte ihn auch erkannt und wollte höflich grüßend vorüber, aber Arndt blieb stehen, gab ihm die Hand und sagte: »Nun, haben Sie Wort gehalten in Beziehung auf die Verschwiegenheit, welche ich forderte?«

»Ja, Herr. Nur der Vater weiß es.«

»Und es war große Freude vorhanden?«

»O, wie große! Der liebe Gott vergelte es Ihnen!«

»Na, Sie können es jetzt gebrauchen. Wie ich erfahren habe, hat sich heute Ihre Familie verdoppelt?«

»Freilich! Aber das macht keinen Schaden. Wir bekommen es bezahlt. Denken Sie sich, der Herr Pfarrer hat meinem Vater fünfzig Gulden gegeben!«

»Das ist wohl viel!«

»Ungeheuer viel!«

»Und dennoch brauchen Sie Geld!«

»Ich? Wieso.«

»Nun, Sie haben es doch vorhin gesagt!«

»Davon weiß ich kein einziges Wort!«

»Zu mir allerdings nicht.«

»Zu wem sonst? Ich war in der Försterei; aber auch da wüßte ich nicht, etwas Derartiges gesagt zu haben.«

»Aber auf dem Nachhausewege!«

»Dort? Ah – zu – wem?« fragte Eduard stockend.

»Haben Sie da mit Niemand gesprochen?«

»Nein – ja – ja – doch – aber, woher wissen Sie das?«

»Ich sah Sie mit einem Manne auf der Straße stehen.«

»Kannten Sie ihn?«

»Nein. Aber ich hörte jedes Wort, was gesprochen wurde. Herr Hauser, Sie sind aus dieser Versuchung glanzvoll hervorgegangen. Ich freue mich sehr.«

Da trat Eduard zurück, betrachtete den Sprecher genau und sagte in beinahe erschrockenem Tone:

»Sapperlot, Sie sind doch nicht etwa gar der Waldkönig?«

»Nein, mein Lieber. Ich will Ihnen vielmehr offen gestehen, daß ich ihn fangen will.«

»Fangen? Sie? Ah!«

»Ja. Ich habe erkannt, daß ich Ihnen trauen darf. Sie haben es abgeschlagen, ihm zu dienen. Jetzt will ich einmal sehen, ob Sie auch mir den Antrag, den ich Ihnen stellen will, abschlagen werden. Wollen Sie sich tausend Gulden verdienen?«

»Tau – tau –! Mein Gott! Natürlich, ja! Ich lecke alle zehn Finger darnach! Aber womit soll ich mir eine solche Summe verdienen?«

»Ich sagte bereits, daß ich den Waldkönig fangen will, aber nicht allein, sondern mitten im Neste und umgeben von allen seinen Spießgesellen. Wenn dies durch Ihre Hilfe geschieht, zahle ich Ihnen eine Prämie von tausend Gulden.«

»Ist das wahr? Herr, da mache ich mit, auf der Stelle!«

»Halt, nicht so schnell! Es wird Zeit dazu gehören, und wovon wollen Sie bis dahin leben?«

»O, wir brauchen jetzt nicht zu hungern!«

»Ganz recht; aber Sie werden Extraausgaben haben. Ich werde Ihnen also wöchentlich zwanzig Gulden Löhnung geben.«

»Zwanzig Gul – wöchentlich!«

Das Wort Gulden blieb ihm im Munde stecken. Eine solche Summe pro Woche, das war unerhört.

»Ja, zwanzig Gulden! Ich glaube, daß Sie da reich werden.«

»Natürlich, natürlich! Da kann ich ja leben wie ein Fürst oder wie der Herrgott in Frankreich! Aber, was habe ich zu thun?«

»Zunächst nichts. Ueberlegen Sie es sich einmal, wie wir es anfangen müßten, zu erfahren, wer der Pascherkönig ist. Sobald Sie einen guten Gedanken haben, kommen Sie nach der Försterei, um ihn mir mitzutheilen.«

»Darf der Förster davon wissen?«

»Nur er allein, sonst weiter kein Mensch.«

»Ich werde verschwiegen sein. Es wird keine Silbe über meine Lippen kommen.«

»Das ist allerdings die erste Bedingung, welche ich habe. Und sodann suchen Sie zu erfahren, welcher Name hier im Orte, nämlich Vor-und Zuname, mit den beiden Buchstaben T. und M. beginnt.«

»Steht das im Zusammenhange mit dem Waldkönige?«

»Ja. Und dann weiter verlange ich auch in allen übrigen Angelegenheiten die vollste Aufrichtigkeit.«

»Darauf können Sie sich verlassen.«

»Gut! Ich werde Sie da gleich einmal auf die Probe stellen. Sagten Sie nicht zu dem Waldkönige, daß Sie Geld brauchten?«

»Ja, zum Leben, weil ich keine Arbeit habe.«

»Nicht blos zum Leben. Es war mir, als hätten Sie gesagt, daß Sie auch außerdem, für etwas Anderes, Ausgaben nöthig haben?«

»Hm! Ich darf nicht lügen. Aber es ist eine eigene Sache!«

»Seien Sie immerhin offen. Sie dürfen Vertrauen zu mir haben!«

»Nun gut, so will ich Ihnen gestehen, daß – daß ich – daß ich einen Maskenball besuchen muß.«

»Einen Maskenball? Besuchen muß, sagen Sie? Sie wollen nicht nur, sondern Sie müssen sogar?«

»Ja.«

»Warum?«

»Um – um – ein – um ein Mädchen zu retten.«

»Ah! Siehe da! Kommt hier wirklich das Engelchen in’s Spiel, welches von dem Waldkönig genannt wurde?«

»Ja. Sie ist zu dem Balle geladen.«

»Ich errathe. Und Sie wohl nicht?«

»Nein. Nämlich das Casino aus der Nachbarstadt hält übermorgen hier in der Schänke eine Maskerade ab. Ein Mitglied hat Engelchen geladen und ihr sogar den Anzug einer Italienerin geschickt, den sie anlegen soll.«

»Ist er ihr Geliebter?«

»O nein! Sie ist meine Nachbarstochter und hat noch niemals einen Geliebten gehabt. Sie ist ein schönes Mädchen. Sie sticht diesem Kerl in’s Auge; er will sie jedenfalls nur verführen.«

»Alle Wetter! Da müssen Sie sich allerdings in das Mittel legen! Geht sie denn gern?«

»Wie es scheint, ja.«

»O weh, da hat sie Sie entweder nicht lieb, oder sie schmollt aus irgend einem Grunde mit Ihnen und will Sie auf diese Weise bestrafen.«

»Sie würde nur sich selbst bestrafen.«

»Das sieht so ein Mädchen nicht ein, wenigstens nicht eher, als bis es zu spät ist. Ich will mich nicht neugierig in Ihre Herzensangelegenheiten eindrängen; thun Sie ganz, was Ihnen Ihr Herz und Ihr Verstand eingiebt. Hören Sie, nicht nur allein Ihr Herz, sondern auch Ihr Verstand. Hier haben Sie die zwanzig Gulden für die erste Woche, und hier sind noch fünfzehn für den Maskenball!«

Er drückte ihm das Geld in die Hand. Eduard wollte gar nicht glauben, was er hörte.

»Herr,« sagte er. »Sie müssen ungeheuer reich sein!«

»Ich habe gerade so viel, wie ich für mich und Andere brauche, keinen Kreuzer mehr, mein Lieber.«

Damit entzog er sich den Dankesausbrüchen des jungen Mannes, der ganz glücklich war, von seinen Sorgen befreit zu sein. –Also, eine Truppe von Athleten und Taschenspielern war in der Nachbarstadt eingezogen. Es war am nächsten Tage, an welcher die Vorstellung sein sollte.

Die Leute haußten für die kurze Zeit ihres Aufenthaltes auf dem Trockenboden, welchen sie gewählt hatten, weil sie da ungestört und unbeobachtet ihre Uebungen vornehmen konnten.

Jetzt saßen vier männliche Personen und eine Frau da oben um ein Mittagsmahl, welches aus gekochten Rüben in Mehlwasser bestand. Die Leute hatten Hunger, das sah man an der Gier, mit welcher sie das Essen verschlangen.

Der älteste, der Dirigent der Truppe, war eine klotzartige Gestalt, sieben Schuh hoch und im Verhältnisse breit, mit niedriger Stirn, wulstigen Lippen, kleinen, tückischen Augen und einer rothblauen Schnapsnase. Die anderen waren jedenfalls Brüder von ihm, ebenso klotzig, wulstig und tückisch. Sie alle Vier hatten etwas Rücksichtsloses, Grausames in ihren Zügen.

Die Frau war lang und hager, man möchte sagen, spindeldürr. Sie hatte vielleicht bessere Tage gesehen, jetzt aber sprach sich in ihrem ganzen Habitus eine vollständige Gleichgiltigkeit gegen Alles aus.

Obgleich es in dem Bodenraume bitter kalt war, hatten diese Leute sich doch nicht vollständig angekleidet. Vielleicht hatten sie keine vollständige ›Civilkleidung‹ oder sie fühlten die Kälte nicht, weil sie sich soeben einige Stunden hindurch in ihren Künsten geübt hatten.

Tricots, mit Flittern und Flimmern versehen und hier und da durchlöchert, lagen in der Nähe, und aus einem nebenan befindlichen Verschlage ertönte ein leises, unterdrücktes Wimmern, wie aus Kindermund, welches zuweilen in ein ängstliches Röcheln überging.

»Heiliges Donnerwetter!« sagte der Director, indem sein Auge tückisch aufleuchtete. »Ob der verdammte Junge wohl einmal schweigen will!«

»Haue ihm Eins auf!« rieth ihm der eine Bruder.

»Aber tüchtig,« sagte der Dritte. »Der Affe will sich nicht an uns gewöhnen.«

»Haut ihn lieber todt, so sind wir ihn los!« meinte der Vierte, indem er einen großen Löffel voll Rübenschnitte in den Mund schob, den man wohl eher einen Rachen hätte nennen können.

»Er ist noch zu schwach,« sagte die Frau, in ihrer Art begütigend. »Der Knoten wird wohl noch reißen.«

»Ja, wie bei Dir. Bei Dir ist er so gerissen, daß Du ganz aus Rand und Band gegangen bist, alte Schlumpe! Ich habe für den Jungen zehn Thaler gegeben; die soll er mir abarbeiten, und wenn er sich alle Knochen bricht! Der Bengel hat schon seinem vorigen Herrn Unglück gebracht. Der hat ihn für eine Heidensumme von einem Geistlichen oder Missionar erhandelt, der aber nur ein Lausegeld an die Eltern bezahlt hat, wie er später zufällig erfuhr. Hört ihr den Vagabunden? Der jammert und quiekt wie ein Rattenkönig! Na, warte, Bursche, ich werde Dir das Flennen einstreichen!«

Er stand auf und öffnete die Thür des Verschlages. In demselben war nichts als altes, unbrauchbares Gerümpel zu sehen. Und in der Mitte hing an einem Balken ein lockenköpfiger, splitternackter Knabe an einem Stricke. Er war auf den Bauch gelegt worden, dann hatte man ihm die Beine nach aufwärts auf den Rücken gepreßt, so daß die Gelenke eine ganz unnatürliche Lage angenommen hatten. Die Arme waren über die Schultern hinweg über die Füße gezogen worden und mit ihnen fest verbunden. Nun hatte man starke Leinen um die kleinen Gliedmaßen gewunden, damit sie ihre Stellung ja nicht verändern konnten, den Knaben wagerecht an den Balken gehängt und ihm noch zwei schwere Ziegelsteine auf dem Rücken befestigt.

Vor Frost sah der nackte Körper blauroth aus; blauroth sah das kleine, hübsch geformte, jetzt nach unten gekehrte Gesichtchen, in welches alles Blut stieg, und blauroth hing dem armen Kleinen auch die Zunge aus dem Halse. Vielleicht war er dem Verschmachten oder dem Ersticken nahe.

An einem Nagel hing eine Hundepeitsche mit sechsfachen Riemen.

»Verdammte Kröte, willst Du wohl aufhören mit dem Stöhnen!« rief der Riese, indem er eintrat.

Er riß die Peitsche herab und schlug mit ihr dem Kleinen ein-, zwei-, dreimal von unten herauf über den fest angespannten Unterleib. Das Kind schloß die Augen und zuckte nicht.

»Hund! Du willst wohl gar thun, als ob Du schon crepirt wärst? Ich werde Dich lebendig machen! Warte! Wie ist’s? Thun Dir die Glieder weh?«

Der Kleine antwortete nicht. Der Unmensch versetzte ihm noch mehrere Hiebe und drohte dabei:

»Ich schlage so lange, bis Du redest! Thun Dir die Glieder weh?«

»Nein,« stöhnte der Gemarterte.

»Laut!«

»Nein!« versuchte das Kind in soviel wie möglich gewöhnlichem Tone zu sagen.

»Das ist Dein Glück, Du Wechselbalg! Ich hätte Dich zu Fetzen zerhauen!«

Seine Frau war hinter ihm eingetreten und sagte:

»Willst Du ihn nicht losmachen? Er hängt bereits seit drei Stunden hier. Das muß doch genug sein?«

»Für die Oberschenkel eigentlich nicht. Er muß ein Kautschuckmann werden, wie es noch nie einen gegeben hat. Ich habe ihn gekauft und will Geschäfte mit ihm machen. Eigentlich sollte er noch zwei Stunden hängen, fünf Stunden täglich, wie bisher immer; aber da er heute Abend mit arbeiten soll, so wollen wir ihn losmachen. Er mag ein halbes Stündchen ausruhen, und dann wollen wir probiren, ob die Pyramide noch geht.«

Der Kleine wurde von seinen Stricken, Banden und Steinen befreit. Er lag wie leblos auf der Diele. Der Mann stieß ihn mit dem Fuße von sich und ging hinaus; die Frau hockte sich zu ihm nieder und brachte ihr Ohr dem Mündchen nahe, um dem Athem zu lauschen.

»Mutter, meine gute Mutter!« flüsterte der Kleine.

»Ja, ich bin Deine Mutter,« antwortete sie in einer Art von Gefühlsregung.

Da schlug er matt die Augen auf, schüttelte den Lockenkopf und sagte leise und mit sichtlicher Anstrengung:

»Nein; Du bist meine Mutter – meine Mutter nicht. Ihr habt – habt mich gekauft.«

»Aber doch bin ich nun Deine Mutter!«

»Nein! Meine Mutter ist – eine Waschfrau und mein Vater ist ein – ein Holzhacker. Er hat sich – sich in das Bein gehackt, und wir hatten Hunger. Da, da kam der fromme Mann, und ich – ich wurde – wurde verkauft.«

»Nun ja! Nun gehörst Du uns und mußt uns gehorchen.«

Er schüttelte das Köpfchen und entgegnete, indem in seine Augen dicke Thränen traten:

»Ich will zu meinem Vater und – zu meiner Mutter!« Und vor Angst leise, ganz leise fügte er hinzu: »Mich friert – mich hungert – ich habe Durst – oh, mein Kopf, mein Leib, meine Arme, meine Beine!«

»Schweige um Gottes willen! Sonst kommt er und hängt Dich wieder auf! Zu Deinem Vater und Deiner Mutter kannst Du nicht mehr, die sind gestorben die liegen im Grabe.«

»Im Grabeloch? Hat man da auch Hunger?«

»Nein.«

»Bekommt man da auch Schläge? Wird man da auch zusammengebunden zum Kautschuckmann?«

»Nein.«

Da verschwand der Ausdruck der Schmerzen aus seinem Gesichte; ein glückliches Lächeln trat an die Stelle desselben, und das Kind flüsterte: »So will ich auch in das Grabeloch, wo der Vater und die Mutter sind.«

Was mußte das arme, unschuldige Kind erduldet haben, daß es sich nach dem finsteren Loche sehnte, vor welchem es ein jedes andere Kind fröstelt und schauert?

»Komm her!« sagte die Frau. »Hier ist Nordhäuser. Ich will Dich einreiben; dann schmerzen Dir die Glieder nicht mehr.«

Sie that das; aber man sah es dem Kleinen an, wie höchst qualvoll ihm das war. Sein ganzes Körperchen war voller Striemen und Schwielen.

Nach einiger Zeit wirkte die Einreibung aber doch; denn er vergaß für einige Augenblicke die Schmerzen und sagte: »Mich hungert! Ich kann nicht mehr warten.«

Da ging sie hinaus und kehrte mit einer Handvoll gekochter Rübenstückchen zurück. Er verschlang dieselben mit der Gier eines Raubthieres.

»Noch mehr!« bat er.

»Um Gotteswillen! Nein! Erst mußt Du noch turnen!«

Er schrak sichtlich zusammen und fragte:

»Turnen soll ich noch? O Gott!«

»Ja. Heute Abend haben wir Vorstellung vor vornehmen Herrschaften; da wird die hohe Pyramide gemacht, und Du mußt oben darauf.«

»Das ist so hoch! Muß ich da auch Complimente machen?«

»Natürlich!«

»Und lächeln?«

»Ja freilich!«

»O Christus! Was werde ich da vorher wieder für Schläge erhalten!«

Da rief der Director außen:

»Na, seid ihr fertig? Heraus mit dem Jungen!«

Der Kleine erhob sich zitternd vom Boden und eilte trotz seiner malträtirten, schmerzenden Gliederchen so schnell wie möglich hinaus, wo der Herrscher stand, die Hundepeitsche in der Hand.

»Hierher, Kröte! So! Heute Abend trittst Du mit auf; da verlange ich eine zierliche Verbeugung und ein reizendes, glückliches, bezauberndes Lächeln. So ein Kinderlächeln reißt die Zuschauer hin. Kannst Du noch lächeln?«

»Jaaaaa!« stöhnte der Kleine, bereits an allen Gliedern zitternd.

»Gut! So lächle! Eins – zwei – drei! Kreuzmohrendonnerwetter, das soll ein Lächeln sein! Warte, Affenpintsch, Dir werde ich die Fratze zurechthauen!«

Er faßte den Knaben und holte dann mit der Peitsche zum fürchterlichen Schlage aus. Dieser Hieb konnte tödtlich werden. Das Kind hatte viel, o, viel Schläge erhalten, aber so einen fürchterlichen Hieb noch nicht. Es sah und fühlte ihn bereits kommen, und da, da that es vor entsetzlicher Angst gerade das, was es früher bei den Eltern gethan hatte, wenn es in Furcht gerathen war. Der Kleine faltete nämlich die Hände und schrie zeternd: »Christi Blut und Gerechtigkeit ist mein Schmuck und Ehrenkleid. Damit will ich bei Gott bestehn, wenn ich in den Himmel werd’ eingehn. Amen!«

Was war es, was bei diesen Gebetsworten über den riesigen Mann kam? Der Arm mit der Peitsche blieb erhoben; seine Augen starrten in das angstvoll verzogene Antlitz des Kindes hernieder. War es eine Erinnerung aus seiner eigenen Kinderzeit, welche ihn ebenso plötzlich wie gewaltig überkam, so daß er zögerte, mit der dem armen, unglücklichen Kinde zu gedachten unmenschlichen Züchtigung zu beginnen?

»Laß ab!« bat auch die Frau. »Hau ihn doch nicht schon wieder. Sein Leib ist eine einzige Beule! Wenn Du so fort machst, wirst Du ihn noch todtschlagen!«

Das war sehr unklug von ihr gehandelt. Die gute Regung, welche seinen Arm starr gemacht hatte, verließ ihn sofort wieder. Er drehte sich zu der Sprecherin um und schrie: »Weib, was fällt Dir ein! Was hast Du mir zu befehlen? Wer ist hier der Herr und Gebieter? Du oder ich? Ich werde es Dir gleich zeigen! Hier hast Du!«

Er holte aus und schlug sie mit solcher Gewalt über die Achsel, daß sie zusammensank. Wäre sie nicht augenblicklich ein Wenig zurückgewichen, so wäre sie von der Peitsche über Kopf und Gesicht getroffen worden. Dann wendete er sich voll erneuter Wuth wieder zu dem Knaben: »Nun ist Dir Dein Brod erst recht gebacken, Bube! Ich haue Dich, daß die Funken springen!«

Er schlug auf ihn los. Die fürchterlichen Hiebe fielen hageldicht auf den kleinen, unschuldigen Kerl. Dieser weinte nicht; er ahnte oder wußte aus Erfahrung, daß dies den Grimm seines Peinigers nur erhöht haben würde. Aber die Schläge thaten so sehr weh, und die Angst des Kindes war so groß, daß es sich keinen anderen Rath und keine andere Hilfe wußte, als unter jammernder Geberde die kleinen Händchen zu falten und wie im Gebete empor zu heben. In seiner Angst fiel es ihm ein, daß er ein Lied, abermals ein Gebet wisse, welches von Unrecht und von Verzeihung handelte. Es rief also laut und bittend:

»Müde bin ich, geh zur Ruh,

Schließe meine Augen zu.

Vater, laß das Auge Dein

Ueber meinem Bette sein!«

 

»Was? Schlafen will der Balg?« schrie der Mann. »Zu Bette gehen will er? Das werde ich ihm anstreichen!«

Die Hiebe klatschten von Neuem auf das hilflos dieser Roheit anheimgegebene Kind. Es betete, um sich doch vielleicht zu retten, angstvoll weiter.

 

»Hab ich Unrecht heut gethan,

Sieh es, lieber Gott, nicht an;

Habe noch mit mir Geduld,

Und vergieb mir meine Schuld!«

 

»Geduld?« Hohnlachte der Kerl. »Ja, die habe ich gehabt! Wahrhaft unmenschliche Geduld! Aber jetzt ist sie alle; jetzt geht sie mir aus! Ich schlage Dich in Stücke, ich schlage Dich todt, wenn Du nicht machst, was ich will! Also, lächle! Lächle, Bube!«

Der Kleine zitterte am ganzen Körper; aber er nahm sich mit wahrhaft bewundernswerther Selbstbeherrschung zusammen, fuhr sich mit den Händchen einmal über die thränenden Augen und versuchte dann, das verlangte Lächeln hervor zu bringen.

»Besser!« gebot der Wütherich.

Der Knabe that sein Möglichstes.

»Immer besser! Noch freundlicher!«

Das Gesicht des Kleinen verzog sich zu einer möglichst freundlichen Miene.

»So recht! Und nun die Verbeugung!«

Der Gequälte gehorchte dem Befehle.

»Nicht nach einer Seite, sondern rundum! Schnell, schnell!«

Diesem Befehle wurde sofort Folge geleistet, denn der Sprecher hatte bereits wieder den Arm erhoben.

»Schau, wie gut es geht!« höhnte er. »Ja, die Peitsche muß nur dabei sein; da ist der gute Wille sogleich da! Also wieder lächeln! So! Jetzt die Verbeugung! Noch besser! Rundum!«

Das Exercitium wurde so oft wiederholt, bis der Herr des Knaben zufrieden gestellt war.

»So!« sagte er dann. »Jetzt wollen wir die Pyramide probiren.«

Da überlief den Kleinen ein eisiger Schauer.

»O, nicht die Pyramide!« bat er flehend.

»Nicht? Ah! Warum nicht Nichtsnutz?«

»Ich fürchte mich so sehr!«

»So, so! Warte, diese Furcht will ich Dir sogleich austreiben! Fürchtest Du Dich wirklich?«

»Ja! Sehr!«

»Hier!«

Die Peitsche fuhr mit einem gewaltigen Hiebe auf den Kleinen nieder. Dann fragte sein Henker:

»Fürchtest Du Dich noch?«

»Es ist so hoch!« weinte der Knabe, aber nicht laut, sondern gewaltsam unterdrückt, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen.

»So machen wir es tiefer! Nicht hinauf, sondern von oben herab! So, wie jetzt!«

Ja, von oben herab sauste die Peitsche nieder.

»Ist’s noch zu hoch?« brüllte dann der Mann.

»Nein!« jammerte der Kleine.

»Fürchtest Du Dich noch?«

»Nein!«

»Endlich! Ja, die Peitsche hilft! Na, vorwärts also, Bursche!«

Er stellte sich mit ausgespreizten Beinen hin, und die beiden Anderen traten hinzu. Sie balancirten sich auf seine Schultern und standen nun, je Einer mit einem Beine auf seiner Achsel und mit dem anderen auf seinem Kopfe.

»Nun der Junge!« kommandirte er. »Aufgepaßt! Gieb die Hände her, Nichtsnutz!«

Er ergriff die Händchen des Knaben und schwang ihn empor. Dort wurde der Kleine von den beiden Anderen erfaßt und noch höher geschwungen. Er sollte auf ihren Achseln stehen. Aber man hatte die Höhe des Raumes nicht berechnet; es gab nicht den nöthigen Platz mehr für das Kind, es flog mit dem Kopfe an die Decke und stürzte herab.

Die beiden Burschen sprangen zu Boden und bückten sich zu dem Kleinen nieder. Der Beherrscher der Truppe aber ergriff die Peitsche, welche er fortgelegt hatte, und schrie: »Weg! Fort von ihm, Ihr Naseweise! Den Kerl kenne ich! Er hat es mit Fleiß gethan! Ich werde ihn aber sogleich wieder lebendig machen!«

Er schlug zu. Der Knabe war glücklicher Weise weder verletzt noch ohnmächtig. Er war nur vor Schmerz und Schreck regungslos liegen geblieben. Bei dieser erneuten Züchtigung stand er auf.

»Willst Du das wieder thun?« fragte der Barbar.

»Nein,« erklang es jammernd.

»Das will ich mir auch ausbitten! Aber damit Du nicht sogleich wieder auf diesen Gedanken kommst, werde ich Dir einen Denkzettel auf den Rücken geben!«

Er faßte den Knaben beim Haar und schlug auf ihn ein. Keiner der Anwesenden bemerkte, daß sich die Thür geöffnet hatte. Dort erschien ein Mann. Er war nicht groß und nicht klein, nicht alt und nicht jung, und trug eine blaue Brille, was ihm mit Hilfe des Schnittes seines Anzuges das Aussehen eines Gelehrten gab.

»Was geht hier vor?« fragte er, einige Schritte näher herbei tretend.

Sie wendeten sich Alle nach ihm um. Der Director der »Künstlertruppe« maß den Fremden mit zornigen Blicken und sagte: »Geht Ihnen das vielleicht Etwas an?«

»Natürlich!« antwortete der Gefragte. »Haben Sie vielleicht einmal Etwas von Thierschutzvereinen gehört?«

»Wozu diese alberne Frage?«

»Sie ist hier sehr am Platze! Wenn ich sehe, daß ein Thier mißhandelt wird, so habe ich nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, den Thäter anzuzeigen, und er wird bestraft. Ist dies bei einem bloßen Thiere der Fall, so habe ich, wenn ich sehe, daß ein Mensch grausam behandelt wird, das doppelte Recht und die erhöhte Verpflichtung, mich um den Fall zu bekümmern.«

Der Künstler, welcher ja eine wahrhaft riesige Gestalt besaß, musterte den Sprecher mit einem höchst verächtlichen Blicke von oben herab und fragte: »Was hat das mit Ihrer Anwesenheit zu thun?«

»Ich befand mich im Gastzimmer und hörte Ihr Gebrüll, nebst den Schlägen, welche fielen.«

»Was geht das Sie an? Wollen Sie etwa auch Prügel haben?«

Der Fremde erwiderte den musternden Blick des Riesen. Er schien irgend etwas Bekanntes in den Zügen desselben entdeckt zu haben.

»Davon kann wohl keine Rede sein,« antwortete er leichthin. »Ich las in dem Blatte Ihre Annonce. Sie heißen Bormann?«

»Geht auch das Sie Etwas an?«

»Hm! Man kann ja fragen. Ob man eine Antwort bekommt, ist freilich abzuwarten. Haben Sie einen Bruder in der Residenz?«

»Ich sage Ihnen, daß Sie sich um andere Dinge bekümmern sollen, als um meine Angelegenheiten!«

»Welchen man den Riesen Bormann nennt?« fuhr der Andere unbeirrt fort.

»Herr!« brauste der Künstler auf. »Packen Sie sich hinaus! Sie haben hier Nichts zu suchen! Verstanden?«

»Meinetwegen! Ich werde gehen, aber sobald ich höre, daß Sie dieses Kind abermals schlagen, komme ich wieder!«

»Donnerwetter! Was dann?«

Seine Augen funkelten. Er trat mit geballten Fäusten und in drohender Haltung auf den Fremden zu.

»Pah!« antwortete dieser ruhig. »Das würden Sie erfahren!«

»Ah! Sie wollen mir drohen? Sie wollen mir Angst machen? Sie? Sie Knirps? Ich werde Ihnen zeigen, ob ich mich vor Ihnen fürchte! Komm her, Junge! Lächle, und mache eine Verbeugung! Aber gut, sonst schlage ich Dir die Knochen aus dem Leibe!«

Seine Frau und die beiden Anderen standen erwartungsvoll in der Nähe. Der Knabe schlich herbei, vor Angst bebend.

»Nun lächle!« gebot der Unmensch.

Das Kind versuchte ein Lächeln. Es gelang nicht zur Zufriedenheit des Riesen. Dieser erhob den Arm mit der Peitsche und rief: »Besser! Ah, will es nicht gehen? Nun, da hast Du es!«

Er holte zum Schlage aus; aber der Fremde that einen raschen Schritt herbei, ergriff seine Faust und sagte:

»Sie werden nicht schlagen!«

Diese Worte klangen nicht zornig, nicht drohend, nicht selbstbewußt. Man hätte sagen können, daß sie fast leise, bittend ausgesprochen worden waren. Der Riese stieß ein lautes, höhnisches Gelächter aus und rief: »Wie? Was? Sie wollen mich hindern? Das ist lustig! Fort mit dem Arme!«

Er wollte die Hand des Fremden abschütteln, aber eigenthümlich, er, der Simson, vermochte das nicht. Die feinen, weißen Finger, welche ihn gepackt hielten, schienen aus Stahl zu sein.

»Verdammt!« schrie er. »Ich frage Sie, ob Sie fort wollen! Sie fallen mich an! Da, haben Sie das dafür!«

Da ihm die Rechte so fest gehalten wurde, holte er mit der linken Faust aus. Er wollte den Fremden auf den Kopf schlagen, stürzte aber in demselben Augenblicke wie ein schwerer, voller Sack zu Boden.

Wie das gekommen war? Was der Fremde gethan hatte? Niemand konnte es sagen. Nur das wußten die anderen Anwesenden, daß er nicht geschlagen hatte. Sie hatten nur gesehen, daß er mit der freien Hand, als der Künstler zuschlagen wollte, eine blitzesschnelle Bewegung an dessen Gesicht vorüber gemacht hatte. Sie standen dabei und wußten nicht, was sie davon denken oder sagen sollten.

»So!« sagte er, indem er sich zu ihnen wendete. »Der hat einstweilen genug. Wagt es einer von Euch, mir nahe zu treten, so geht es ihm ebenso!«

Die Frau blickte auf ihren Mann nieder. Er lag regungslos am Boden. Seine Augen waren geschlossen.

»Gott! Er ist todt!« rief sie.

»Nein,« antwortete der Fremde kaltblütig. »Er wird nach einigen Stunden erwachen, ohne Schaden davon erlitten zu haben. Wem gehört das Kind?«

»Uns.«

»Hm! Ich dachte es bereits einmal gesehen zu haben. Es ist Ihr leibliches Kind?«

»Ja.«

Sie antwortete so aus Furcht vor ihrem Manne. Sie durfte ja Nichts verrathen. Der Fremde blickte ihr forschend in das Gesicht und sagte in warnendem Tone: »Ich sehe es Ihnen an, daß Sie die Unwahrheit sagen! Ich muß dieses Kind schon irgendwo gesehen haben, aber bei Ihnen nicht. Ist es wirklich Ihr eigenes Kind?«

»Ja, gewiß.«

»Und Ihr Mann heißt Bormann?«

»Ja.«

»Ist der Riese Bormann mit ihm verwandt?«

»Er ist sein –«

»Halte das Maul, Alte!« rief ihr da der eine Bursche entgegen. »Was geht es diesem Fremden an, wer wir sind und welche Verwandtschaft wir haben?«

Und sich zu dem blau Bebrillten wendend, fuhr er fort:

»Herr, Sie werden hier bleiben! Sie werden diesen Ort nicht eher verlassen, als bis Dieser da wieder aufgewacht ist! Sie haben ihn getödtet. Wir arretiren Sie! Ich werde sogleich nach der Polizei schicken!«

»Thun Sie das! Die Polizei wird mich unten im Gastzimmer finden!«

Er wendete sich zum Gehen. Sofort aber befanden sich die beiden Künstler bei ihm und ergriffen, Einer hüben und der Andere drüben, seine Arme.

»Sie bleiben!« rief der vorige Sprecher.

»Unsinn, ihr Zwerge!«

Eine kleine, rasche Bewegung, und sie flogen von ihm fort. Sie wollten ihn wieder fassen; aber mit der Schnelligkeit des Blitzes fuhr er ihnen mit der Rechten an der Nase vorüber, erst dem Einen und dann, fast in demselben Augenblicke dem Anderen. Beide stürzten sofort leblos zu Boden nieder.

»Herrgott!« schrie die Frau. »Auch sie sind todt!«

»O nein!« antwortete er abermals. »Sie sind nur betäubt! Sie werden erwachen, kurz vor der Vorstellung heute Abend. Mögen sie es sich zur Warnung dienen lassen.«

Während sie sich bei den Bewußtlosen niederknieete, verließ er den Raum. Draußen, als er die Thüre zugeschlagen hatte, hielt er Das, was er in der Hand gehalten hatte, gegen das Treppenfenster. Es war eine goldene Kugel, mit einem beweglichen Knopfe zum Oeffnen und Verschließen.

»Ein prächtiges Mittel!« nickte er vor sich hin. »Es wirkt augenblicklich und unfehlbar. Selbst ein wildes Thier würde wohl kaum widerstehen!«

Er steckte die Kugel in die Tasche und schritt die Treppe hinab. Als er unten in die Gaststube trat, nickte ihm der Wirth froh entgegen.

»Sie kommen heiler Haut zurück?« fragte er. »Das hätte ich nicht gedacht, und darum hielt ich es für meine Pflicht, Sie zu warnen.«

»Ist dieser Kerl denn gar so schlimm?«

»Er ist roh und hat Bärengewalt in seinen Füßen.«

»Das habe ich nicht bemerkt.«

»O, er hat gestern Abend hier Kraftstücke zum Besten gegeben, die ganz erstaunlich waren. Mich dauert das arme Kind.«

»Warum dulden Sie die Mißhandlung desselben?«

»Herr, Jeder trachtet nach seinem Brode! Diese Künstler werden mir heute Verdienst bringen; da darf ich es doch nicht mit ihnen verderben!«

»Hm! Der Grund ist derjenige eines Menschen, aber er ist nicht menschlich. Ich möchte den Kerl anzeigen.«

»Thun Sie das nicht! Es würde aus der Vorstellung nichts, und ich käme um meine Gäste für heute.«

»Na, eigentlich geht mich die Sache auch nicht viel an!«

»Gar nichts. Sie sind ja fremd hier. Darf ich fragen, woher Sie sind?«

»Von drüben herüber.«

Er deutete mit dem Daumen nach rückwärts, in der Richtung, in welcher die Grenze lag.

Da kniff der Wirth die Augen zusammen, blinzelte ihn ein Weilchen verständnißinnig an und fragte dann:

»In Geschäften etwa?«

»Möglich.«

»Bedeutend?«

Der Fremde zuckte die Achsel und antwortete zurückhaltend:

»Hm! Je nachdem es ausfällt.«

»Ah, richtig! Je nachdem es ausfällt. Das heißt, es ist bei dem Geschäfte eine kleine Unsicherheit vorhanden?«

»So ist es.«

»Nun, so haben Sie keine Sorge! Der, an den Sie sich ja halten werden, ist ein sicherer Mann.«

Der Fremde merkte, daß der Wirth den Pascherkönig meinte. War dieser Gasthofsbesitzer etwa auch mit im Geheimnisse? Das mußte erforscht werden.

»Glauben Sie wirklich, daß er sicher ist?«

»Unbedenklich!«

»Aber ich sage Ihnen gerade das Gegentheil. Mir ist er vollständig unsicher.«

»Das glaube ich nicht.«

»Und doch ist es so. Ich suche ihn ja erst.«

»Ah so! Sie haben noch nie Etwas mit ihm zu thun gehabt?«

»Nichts; gar nichts.«

»Und Sie sind Kaufmann?«

»Ich habe mich erst vor Kurzem etablirt.«

»Wo?«

»Hm! Das ist ja wohl Nebensache. In solchen Dingen muß man vorsichtig sein.«

»Das ist richtig. Aber wenn Andere ebenso vorsichtig sind, werden Sie nicht erfahren, was Sie wissen wollen.«

»Das sollte mir leid thun! Ich suche bereits seit einigen Tagen.«

»Wo denn?«

»Ueberall! In Kneipen und auf Straßen. Ich dachte, ich würde vielleicht ein Gesicht finden, so ein echtes Pascherges – wollte sagen, ein Gesicht, dem ich es gleich ansehen würde, daß ich mich bei ihm erkundigen kann.«

Da lachte der Wirth auf, blickte sich vorsichtig um und sagte:

»Da können Sie sich ewig und vergeblich umsehen! Was haben Sie denn von den Pasch – ah, von Denen, die Sie suchen, für eine Meinung? Zerrissene Kleider und das Gesicht voller Bart? Unsinn! Es sind die feinsten und zartesten Leute darunter.«

Da rückte der Fremde näher und sagte:

»Sie scheinen unterrichtet zu sein?«

»Hm!«

»Würden Sie mir Vertrauen schenken?«

»Hm!«

»Sakkerment! Mit diesen Ihren Antworten komme ich nicht von der Stelle!«

»Ja. Aber Sie sind vorsichtig, und da muß ich es auch sein. Soll die Waare herüber oder hinüber?«

»Herüber.«

»Ist’s viel?«

»Viel und kostbar.«

»Ei, ei! Sie sehen mir gar nicht so verwegen und riskant aus. Sie scheinen eher ein Dorfschulmeister als ein Kaufmann zu sein.«

»Jeder ganz so, wie ihn der liebe Gott erschaffen hat.«

»Freilich, gegen sein Gesicht und seine Figur kann kein Mensch. Aber Den, mit dem Sie reden wollen, werden Sie wohl nicht gleich treffen.«

»Warum nicht?«

»Es kennt ihn Keiner.«

»Aber seine Leute müssen ihn doch kennen?«

»Nein, auch nicht. Man sagt, daß sie ihn des Nachts an einem Worte erkennen. Sein Gesicht aber hat noch Keiner gesehen.«

»Sakkerment! Wer dieses Wort wüßte!«

»Die Mitglieder wissen es alle.«

»Was nützt mir das?«

»Auch das Wort würde Ihnen nichts nützen, wenn Sie ihn nicht selbst treffen!«

»Aber wie wäre er zu treffen?«

»Zunächst trifft man Einen seiner Leute. Dieser besorgt alles Uebrige.«

»Gut! Da brauchte man ja blos zu wissen, auf welche Weise oder an welchem Orte man mit einem solchen Manne sich begegnen könnte.«

Der Wirth kniff die Augen abermals zusammen, machte ein höchst pfiffiges Gesicht und antwortete:

»Vielleicht sind Sie Einem begegnet, ohne es zu wissen.«

»Das ist allerdings möglich.«

»Oder Sie haben bei Einem gesessen, ohne ihn für einen Eingeweihten zu halten.«

»Hm! Auch das könnte sein. Ich müßte nicht mit ihm gesprochen haben. Hätte ich mich aber mit ihm unterhalten, so hätte ich sicher geahnt, wer oder vielmehr was er ist.«

»Wären Sie wirklich so scharfsinnig? Sie sehen mir gar nicht so gewitzt aus!«

»Versuchen Sie es!«

»Nun, was zum Beispiele denken Sie von mir? Mich halten Sie doch nicht etwa für einen Pascher?«

»Direct für einen Schmuggler allerdings nicht.«

»Was soll das heißen? Giebt es etwa auch indirecte Schmuggler?«

»Natürlich! Jeder Eingeweihte, jeder Hehler ist ein solcher.«

»Donnerwetter! So halten Sie mich für einen Hehler?«

»Ja.«

»Herr, soll ich Sie hinauswerfen?«

Aber sein Gesicht hatte gar nicht etwa ein so sehr grimmiges Aussehen. Er schien vielmehr ganz befriedigt über die Ansicht zu sein, welche der Fremde von ihm hatte. Dieser nickte ihm freundlich zu und antwortete: »Das werden Sie bleiben lassen!«

»Oho! Was Sie sagten, ist eine Beleidigung.«

»Ganz das Gegentheil! Ein Hehler muß ein gescheidter Kerl sein. Aber sagen Sie doch, mein Bester, auf welche Weise kommt man doch am Besten zum Ziele?«

»Auf die jetzige Weise.«

»Ah, wir verstehen uns also?«

»Gewiß! Ein Unterschied ist es natürlich, in welcher Art man sich am Geschäft betheiligen will. Wer Träger werden will, hat andere Maßregeln zu ergreifen, als wer die Waaren liefern oder empfangen will. Sie beabsichtigen also, Lieferant zu werden?«

»Ja.«

»Nun, dann müssen Sie sich an irgend ein Mitglied wenden, welches Ihnen zuerst in den Weg kommt. Dieser Mann wird Sie dann melden.«

»So müßte ich meinen Namen sagen?«

»Ja oder nein! Es kommt das auf Umstände an.«

»Darf ich diese Umstände kennen lernen?«

»Ja, natürlich! Sie sagen, daß die Sendung kostbar sei, welche Sie beabsichtigen?«

»Ja.«

»Wie hoch?«

»Fünftausend Gulden?«

»Hm! Der Mann, welcher Sie meldet, hat für Sie gut zu sagen, hat für Sie Bürge zu sein. Er muß Sie entweder persönlich kennen; er muß also Ihren Namen wissen, oder Sie müssen, wenn Sie den verschweigen wollen, eine Caution erlegen.«

»Wie hoch ist diese?«

»Den zehnten Theil der ersten Sendung haben Sie zu bezahlen.«

»Das wären also fünfhundert Gulden?«

»Ja.«

»Sie sind eingeweiht. Wollen Sie mich melden?«

»Wollen Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Nein.«

»Oder wollen Sie die fünfhundert Gulden erlegen?«

»Ja. Natürlich aber werden Sie mir zunächst beweisen, daß Sie wirklich Mitglied sind.«

»Gewiß werde ich das.«

»Wann? Ich habe keine Zeit!«

»Heute Abend. Kommen Sie Punkt zwölf Uhr an die letzte Scheune, welche an der Bergstraße steht. Nachdem Sie mir da die Summe behändigt haben, werde ich Sie zum Waldkönige bringen.«

»Er ist dann in der Nähe?«

»Ja. Ich werde ihn benachrichtigen.«

»Und wann erhalte ich das Geld zurück?«

»Sobald Ihre Sendung in die Hände der Unsrigen gelangt.«

»Gut, so sind wir einig. Ich werde jetzt gehen. Hier ist das Geld für das Bier.«

Er entfernte sich. Auch der Wirth stand vom Tische auf. Er rieb sich die Hände und schritt in der Stube auf und ab.

»Donnerwetter!« kicherte er vor sich hin. »Das kam mir aber gelegen! Die Gnädige schreibt mir, daß ein Geheimer kommen werde, um nach dem Pascherkönig zu forschen. Ich soll ihn unterstützen. Ich wußte gar nicht, wie ich das anfangen könne, und da bringt mir der Zufall einen Menschen, der mit den Paschern ein Geschäft machen will. Ihn brauche ich als Lockspeise. Sie sollen denken, daß ich das Geschäft mache; er aber bleibt im Hintergrunde. Nun kann der Geheime kommen.«

Er hatte kaum diese Worte gesagt, so ging die Thür auf, und es trat ein Mann ein, den er in seinem Leben noch gar nicht gesehen hatte. Er trug einen grauen Anzug und eine ebensolche Wintermütze. Einen Ueberzieher hatte er am Arme hängen. Er hatte blondes Haar und einen eben solchen Schnurrbart.

»Willkommen, mein Herr!« sagte der Wirth. »Was wünschen Sie?«

»Ein Glas Grog,« antwortete der Fremde mit tiefer Baßstimme, indem er Ueberzieher und Mütze an den Nagel hängte und sich dann plazirte.

Der Wirth eilte fort, und da heißes Wasser vorhanden war, so brachte er den Grog in kürzester Zeit. Der Fremde schlürfte wie ein Kenner von dem Getränk und fragte dann: »Ist heute vielleicht ein Mann bei Ihnen gewesen, welcher eine blaue Brille trug?«

»Ja, mein Herr.«

»Schwarzen Anzug?«

»Jawohl.«

»Er war nicht ganz meine Statur und hatte beinahe das Aussehen eines Schulmeisters?«

»Ja, das stimmt auffällig.«

»Was wollte er hier?«

»Er trank ein Glas Bier.«

»Weiter beabsichtigte er nichts?«

»Nein.«

»Wirth, Sie lügen!«

Der Wirth erschrak. Er trat einen Schritt zurück und sagte:

»Herr, wie kommen Sie zu der Ansicht?«

»Weil Sie ganz genau wissen, daß dieser Mann ein Geschäft im Betrage von fünftausend Gulden mit dem Pascherkönig machen wollte. Ist es nicht so?«

Der Wirth mußte sich sehr zusammen nehmen, um seinen Schreck zu verbergen.

»Ich weiß wirklich kein Wort davon!«

»Nun, so werde ich die Sache untersuchen!«

Er ließ seinen Grog stehen, griff nach Ueberrock und Mütze und ging schnell fort. Der Wirth trat an das Fenster, um zu sehen, wohin er gehe, bemerkte ihn aber nicht.

»Er ist nach rechts hinunter,« sagte er sich. »Wer mag er gewesen sein? Etwa ein Bekannter von dem Gesuchten? Hm! Er sprach aber doch davon, daß er die Sache untersuchen wolle! Donnerwetter! Es wird doch nicht etwa gar ein Grenzer in Civil gewesen sein? Ich muß hinaus an die Thür, um ihn noch zu erblicken. Ich muß wissen, wohin er geht!«

Er wollte eiligst die Stube verlassen, aber da öffnete sich die Thür und Der mit der blauen Brille trat ein.

»Ah, Sie wieder?« fragte der Wirth ganz betreten. »Warum kommen Sie zurück?«

»Weil ich Etwas vergessen habe. Es wird nämlich ein Herr nach mir fragen.«

»Schön!«

»Er ist blond und geht ganz grau mit schwarzem Ueberzieher.«

»Donner noch einmal!«

»Was ist’s? Sie verwundern sich?«

»Natürlich!«

»Warum?«

»Er war bereits hier. Soeben ist er hinaus.«

»Und hat nach mir gefragt?«

»Ja. Ich habe Sie gar nicht kommen sehen. Kommen Sie von rechts herauf?«

»Ja.«

»So müssen Sie ihm unbedingt begegnet sein!«

»Ganz und gar nicht. Also soeben ist er fort?«

»Vor zwei Augenblicken erst. Ich kann wirklich nicht begreifen, daß Sie ihn nicht gesehen haben!«

»So muß ich ihm sogleich nach. Adieu!«

»Halt! Wenn Sie ihn nun nicht treffen, und er kommt wieder, was soll ich ihm da sagen?«

»Daß er sich den Teufel um mich zu bekümmern hat! Adieu!«

Bei diesem Gruße eilte er zur Thüre hinaus.

»Den Teufel um ihn bekümmern!« brummte der Wirth. »Jedenfalls sind es keine guten Freunde. Ich will einmal sehen, wo er hinläuft.«

Er ging hinaus vor das Hausthor. Er blickte nach rechts und nach links, konnte aber keinen Menschen sehen.

»Der muß außerordentlich gelaufen sein, daß er bereits um die Ecke ist,« brummte er und kehrte nach dem Zimmer zurück. »Da steht noch der Grog. Schade darum, wenn er kalt wird; ich werde ihn trinken.«

Er hob das Glas bereits an den Mund, da aber rief es hinter ihm:

»Halt! Mein Grog! Was fällt Ihnen ein!«

Er drehte sich um. Fast wäre ihm das Glas aus der Hand gefallen, denn dort an der Thür stand der blonde Graue.

»Donnerwetter!« fragte er. »Ich denke, Sie sind fort!«

»Ja, ich war fort, aber ich bin wieder hier, wie Sie sehen!«

»Ich war ja gleich draußen und hätte Sie doch also kommen sehen müssen!«

»Sind Sie denn kurzsichtig?«

»Ganz und gar nicht!«

»Wer weiß, wo Sie da hingeguckt haben! Aber, sagen Sie, war der Schwarze mit der blauen Brille wieder da?«

»Ja, soeben.«

»Sakkerment! Was sagte er?«

»Sie hätten sich den Teufel um ihn zu kümmern!«

»Dieser Grobian! Den will ich Mores lehren! Wo ist er hin?«

»Nach rechts!«

»So muß ich ihm gleich nach!«

Er ging eilig wieder zur Thür hinaus.

»Wunderbar!« sagte der Wirth zu sich. »Das begreife, wer da will! Aber dieses Mal sehe ich doch hinterdrein!«

Auch er eilte hinaus. Als er das Thor erreichte, war auf der Straße, gerade wie vorher, kein Mensch zu sehen.

»Muß der Kerl gerannt sein! Oder bin ich so plötzlich kurzsichtig geworden, wie er sagte?«

Er kehrte in die Stube zurück und sah den Grog noch stehen.

»Er verdirbt; er wird kalt. Aber ich muß gewärtig sein, dieser Unbekannte kommt noch einmal retour. Ich werde –«

Er hielt mitten in der Rede inne, denn er sah, daß die Thür sich abermals öffnete. Das Gesicht mit der blauen Brille und dem schwarzen Barte blickte herein und fragte: »War er da?«

»Wer denn?« fragte der Wirth, vor Ueberraschung ganz perplex.

»Nun, der Blonde mit dem grauen Anzuge.«

»Ja; er war da. Er ist vor einer halben Minute wieder fort.«

»Was sagte er denn?«

»Er will Ihnen Mores lehren!«

»Wart! Diesem Burschen werde ich zeigen, was das Wort Mores zu bedeuten hat! Adieu!«

Der Kopf fuhr zurück, und der Wirth blickte ganz betreten nach der Thür, welche wieder zugemacht wurde.

»Donnerwetter, das begreife, wer da will!« fluchte er. »Sie müssen sich doch begegnet sein! Aber diesesmal komme ich gleich hinterher, und wenn ich halb blind sein sollte!«

Er wollte fort; aber da wurde die Thür abermals geöffnet und der blonde Kopf mit der grauen Mütze erschien.

»War er da?« ertönte die hastige Frage.

»Der Schwarze?«

»Ja.«

»Sie müssen doch draußen im Flur mit ihm zusammengerannt sein!«

»I, Gott bewahre! Was sagte er denn?«

»Er wollte Ihnen zeigen, was das Wort Mores zu bedeuten hat, meinte er.«

»Wart, Hallunke, Dich kriege ich doch!«

Der Kopf verschwand mit größter Eile.

»Das ist stark, nein, das ist noch mehr als stark!« rief der Wirth. »So Etwas ist mir in meinem ganzen Leben – Himmelbataillon! Was ist denn wieder?«

Der Schwarze guckte nämlich wieder herein.

»Ist er noch da?« fragte er.

»Der Blonde? Nein!« antwortete der Wirth, indem er ganz entsetzt die Augen aufriß.

»Ich sah ihn doch hereingehen! Bitte, halten Sie ihn fest, wenn er wiederkommen sollte!«

Damit verschwand er wieder.

»Bin ich denn verrückt?« fragte sich der Wirth. »Das ist ja gerade, als ob der Teufel sein Spiel – – – Alle guten Geister! Sie auch wieder?«

Der blonde Kopf fuhr nämlich durch die sich wieder öffnende Thür hinein und fragte im Tone der höchsten Eilfertigkeit: »Haben Sie ihn gesehen? Er muß noch da sein!«

»Nein! Gerade in diesem Augenblicke ist er –«

Er hielt inne, denn der Kopf hatte sich schnell wieder zurückgezogen. Der Wirth fuhr sich mit den Händen in die Haare und stöhnte: »Bin ich denn verrückt? Ach, ich sollte ihn ja nicht fortlassen! Wart, den kriege ich noch!«

Er eilte hinaus. Als er das Thor erreichte, trat ihm von der Straße her – der Schwarze entgegen.

»Nun, haben Sie ihn festgehalten?« fragte er.

Da ergriff der Wirth ihn am Arme und rief:

»Herr, lassen Sie sich anfassen, damit ich mich überzeuge, ob Sie Fleisch und Blut sind! Ja, Gott sei Dank! Die Knochen fühle ich, und die Menschenhaut sehe ich!«

»Ich glaube, Sie sind nicht recht disponirt!«

»Der Kukuk mag da disponirt sein, wenn Einer immer nach dem Andern fragt, ohne daß Sie sich sehen, obgleich sie eigentlich unter der Thür mit den Köpfen zusammen stoßen müßten!«

»Nun, so muß ich ganz sicher gehen. Ich werde hier bleiben, bis er wiederkommt.«

»Ja, thun Sie mir den Gefallen! Ich weiß sonst gar nicht, ob ich einen Kopf habe oder nicht. Kommen Sie herein!«

»Schön! Geben Sie mir noch ein Bier!«

Er trat mit in die Gaststube und setzte sich nieder. Der Wirth trat an das Faß, füllte das Glas und fragte dabei: »Kennen Sie ihn denn nicht?«

»Hm! Eigentlich sollte ich es nicht verrathen! Aber da Sie dabei betheiligt sind, will ich Ihnen sagen, daß er ein Polizist ist.«

»Ein Polizist?«

»Ja. Aus der Residenz.«

»Alle Teufel. Wie heißt er?«

»Arndt, glaube ich.«

»Arndt?« rief der Wirth im höchsten Erstaunen.

Das war ja gerade der Mann, der ihm angemeldet worden war, angemeldet von seiner guten, verehrten Baronesse!

»Ja. Er will sich, wie man hört, bei dem alten Förster Wunderlich einquartiren.«

»Das ist freilich wunderbar!«

»Wunderbar?« fragte der Schwarze. »Warum? Kennen auch Sie ihn vielleicht?«

»Ganz und gar nicht,« antwortete der Wirth mit gut gespielter Treuherzigkeit.

»Na, da hüten Sie sich wenigstens vor ihm!«

»Warum denn?«

»Weil Sie ein Eingeweihter sind. Er kommt nur, um den Waldkönig zu fangen.«

»Das soll ihm wohl schwer werden, denn – ah, die Uhr!«

Er war verlegen geworden, und um das zu verbergen, wendete er sich gegen die Uhr, welche allerdings stehen geblieben war, aber nicht erst jetzt. Er nahm den Schlüssel, stieg auf einen Stuhl und begann, sie aufzuziehen. Er bemerkte gar nicht, daß der Schwarze sich dabei mit seinem Rocke und Barte zu schaffen machte; auch die Mütze wurde umgewendet, und dann strich er sich mit einem Läppchen, welches er aus der Tasche gezogen hatte, über das Gesicht. Das Alles geschah mit einer geradezu bewundernswerthen Schnelligkeit. Dabei aber ließ er das Gespräch nicht fallen, sondern fragte: »Sie meinen also nicht, daß es ihm gelingt?«

»Auf keinen Fall!«

»Es wäre auch jammerschade um unser projectirtes Geschäft!«

»Ja! Fünftausend Gulden! Ich werde ihn irre leiten.«

»Thun Sie das, mein Lieber! Er hat übrigens gar nichts Kluges im Gesicht!«

»Nein; sein Gesicht ist vielmehr ein sehr dummes!«

»Dümmer noch als das meinige? Sie sagten doch, daß ich gar nicht etwa gescheidt aussehe!«

»O, Der noch viel weniger. Wenn Der den Waldkönig fangen will, so muß er früh aufstehen! Ich bin neugierig, ob er wiederkommen wird. Mir liegt gar nichts daran. Polizisten hat man nicht gern im Hause, besonders wenn man so ein ausgebackener Pascher ist wie ich! So, da geht die Uhr wieder und nun wollen wir –«

Er war vom Stuhle herabgestiegen und hatte sich wieder herumgedreht. Das Gesicht, welches er machte, war gar nicht zu beschreiben. Er stand mit ganz erstarrten Zügen und offenem Munde da, denn Der, welcher da vor ihm beim Biere saß, war kein Anderer als Derjenige, von dem er soeben in nicht ehrenvoller Weise gesprochen hatte – der Blonde.

»War er da?« fragte dieser, als ob er sich soeben erst niedergesetzt hätte.

Und nun klang auch seine Stimme ganz anders, als diejenige des Schwarzen, welche der Wirth noch im letzten Augenblicke gehört hatte.

»We – we – wer?« stammelte dieser.

»Nun, der Schwarze!«

»Der sa – saß doch gerade jetzt noch hi – hi – hier!«

»Ach was! Das war ja ich!«

»Sie? Sie? Unmöglich! Ich habe ja ihn gesehen. Sie aber nicht!«

»Unsinn!«

»Und mit ihm gesprochen!«

»Nein, mit mir!«

»So weiß ich freilich nicht mehr, wer ich bin!«

»Nun, Sie sind Binder, der Wirth dieses Hauses, früher Diener beim Baron Otto von Helfenstein, dessen Tochter mich zu Ihnen sendet.«

»Mir saust’s um die Ohren, als ob ich unter einem Baume stände, von welchem man Kürbisse schüttelt!«

»So machen Sie den Mund zu! Fällt ja ein Kürbis hinein, so ist es schwer, ihn wieder herauszubringen!«

»Mir ist’s ganz so, als ob ich ihn schon verschluckt hätte!«

»Na, dann verdauen Sie ihn gesund! Jetzt aber setzen Sie sich her, und sagen Sie mir, ob Sie in letzter Zeit einen Brief von der Baronesse Alma von Helfenstein erhalten haben!«

»Ja, ich habe ihn.«

»Was stand darin?«

»Daß ein Geheimpolizist, Herr Arndt, aus der Residenz kommen, beim Förster Wunderlich absteigen und auch mich besuchen werde. Ich soll ihm allen Vorschub leisten.«

»Dieser Mann bin ich, mein lieber Binder!«

»Donnerwetter! Dann ist’s aber nicht mehr geheim!«

»Wieso?«

»Der Schwarze wußte es bereits!«

»Das hat nicht viel zu sagen. Er verräth kein Wort.«

»Aber er will paschen!«

»Das ist möglich; aber wenn er wirklich pascht, so thut er es nur, um den Waldkönig zu fangen.«

Da wurde dem Wirthe das Herz leicht.

»Jetzt, jetzt geht mir ein Licht auf!« rief er. »Sie sind wohl gar Collegen?«

»Ja, und noch mehr als das.«

»Dann ist Alles gut! Ich dachte, daß er wirklich paschen wollte. Ich beabsichtigte, ihn zu täuschen, und habe daher ihn gegen Sie und Sie gegen ihn schlecht gemacht.«

»Gewiß!« lachte der Blonde. »Sie haben die Ansicht, daß er kein geistreicher Kerl sei, und ich noch viel weniger.«

»Verzeihung! Es war gut gemeint! Aber wo ist er hin?«

»Hier in meinem Ueberzieher steckt er.«

Der Wirth schüttelte den Kopf.

»Das begreife, wer es begreifen kann!« meinte er.

»So passen Sie auf!«

Er schlug die Schöße des Ueberrocks ein und zog ihn an, that einen Griff an den Gürtel, und sofort gingen zwei schwarze Hosenbeine nieder, ein schwarzer Bart aus der Tasche mit dem blonden vertauscht, eine blaue Brille aufgesetzt und die Mütze umgewendet – der Schwarze stand vor dem Wirthe. Sogar die Gesichtszüge schienen ganz andere geworden zu sein. Binder schlug die Hände zusammen und rief: »Nein! Wer läßt sich so Etwas träumen! Es ist ganz Derselbe! Auf diese Weise allerdings war es möglich! Aber ich bin Ihnen ja nachgelaufen und habe Sie nicht auf der Straße gesehen! Dort konnten Sie übrigens diese Prozedur auch gar nicht vornehmen!«

»Das ist natürlich! Ich bin gar nicht auf die Gasse gekommen.«

»Wohin sonst?«

»Ich bin allemal eiligst in Ihre Küche gelaufen.«

»Dort ist aber meine Frau, mein Sohn und meine Tochter!«

»Allerdings! Die haben mir geholfen.«

»Was! Die haben es gewußt?«

»Längst vor Ihnen; noch bevor ich hinauf zu den Künstlern ging. Als ich hier ankam, waren Sie nicht anwesend, und so stellte ich mich den Ihrigen vor. Die drollige Umwechslung unternahm ich nur, um mich zu überzeugen, ob meine Verkleidung sich bewährt oder nicht.«

»So, so ist es! Also eine Verschwörung zwischen Ihnen und meiner Familie! Ich mußte getäuscht und dupirt werden! Na, wartet nur, jetzt komme ich!«

Er rannte in die Küche, aus welcher bald ein vierstimmiges, lustiges Lachen erscholl. Dann kehrte er zurück.

»Sind Sie nun befriedigt und beruhigt?« fragte Arndt.

»Ja, vollständig.«

»So nehmen Sie bei mir Platz! Ich freue mich, daß wir allein sind, Wir können also ohne Sorgen sprechen.«

»Ganz ohne Sorgen. Jetzt kommen keine Gäste, außer es fällt droben den Künstlern ein, herabzukommen.«

»Das werden sie bleiben lassen! Höchstens die Frau könnte Veranlassung nehmen, uns zu stören. Die Baronesse von Helfenstein hat mich an Sie adressirt, weil sie Ihre Anhänglichkeit und Treue kennt und darum überzeugt ist, daß wir uns nicht vergeblich an Sie wenden werden.«

»Diese Ueberzeugung kann sie vollständig hegen. Ich weiß zwar noch nicht genau, um was es sich handelt, glaube aber, es errathen zu können, da Sie mir bereits eine Andeutung gegeben haben.«

»Nun, was denken Sie?«

»Sie wollen den Pascherkönig fangen?«

»Das ist allerdings das Richtige, lieber Binder. Halten Sie es für möglich, daß ich ihn bekomme?«

»Für möglich wohl, aber für sehr schwer und gefährlich.«

»Das darf mich nicht zurückhalten.«

»Aber, was hat die Baronesse dabei zu thun?«

»Sie interessirt sich für die Sache um eines Mannes willen, den auch Sie gekannt haben; ich meine Gustav Brandt.«

»Ah, Brandt! Der brave, arme Kerl! Herr, ich kenne Sie nicht und weiß auch nicht, wie das zusammenhängt; aber wenn es sich um Brandt handelt, so thue ich für Sie Alles, was mir nur möglich ist!«

»Es handelt sich in Wirklichkeit um ihn.«

»Lebt er denn noch?«

»Man hofft es. Und herzlich wünschenswerth wäre es, da sich eben jetzt erwarten läßt, daß seine Unschuld doch noch an den Tag kommen wird.«

»Herrgott! Welch eine Freude wäre das! Und nicht nur für mich, sondern auch für Wunderlich, den alten Förster. Werden Sie es ihm auch sagen?«

»Er weiß es bereits. Ich wohne ja bei ihm. Ich habe eine Ahnung, daß der Mörder des Barons und des Hauptmanns sich jetzt unter der Schmugglerbande des Waldkönigs befindet.«

»Das wäre! Herrgott, wenn man es herausbringen könnte!«

»Hoffen wir es! Der König aber muß auf alle Fälle mein werden! Ich gehe nicht eher von hier fort!«

»Wie aber wollen wir das anfangen?«

»Ich habe bereits eine Art von Plan fertig, kann mich aber darüber noch nicht verlauten.«

»Und was habe ich dabei zu thun?«

»Jetzt fast nichts. Ich erscheine in verschiedener Kleidung; ich muß bald hier, bald dort sein, bald in dieser und bald in jener Gestalt. Darum bedarf ich an einigen Orten bei verschwiegenen Leuten eines Absteigequartiers.«

»Das wünschen Sie auch von mir?«

»Ja.«

»Sie sollen es haben!«

»Ein Zimmer, welches außer mir kein Mensch betritt?«

»Kein Mensch nicht einmal ich.«

»Den Hausschlüssel, um zu jeder Minute hereinzukommen?«

»Gern, sehr gern!«

»Das ist Alles, was ich, außer dem tiefsten Stillschweigen, jetzt verlange. Lassen Sie mir das Zimmer vorrichten. Ich habe verschiedene Verkleidungsstücke mitgebracht, welche da aufbewahrt werden müssen. Uebrigens, wenn Sie einen fremden Menschen in Ihrem Hause sich bewegen sehen, so brauchen Sie nur leise das Wort ›Fürst‹ zu ihm zu sagen; antwortet er ›des Elendes‹, so bin ich es. Es ist das gewisser Vorkommnisse wegen. Theilen Sie das auch den Ihrigen mit!«

»Fürst des Elendes? Ah, kennen Sie ihn vielleicht?«

»Ja. Ich bin sogar in seinem Auftrage hier.«

»Wirklich? Herrjesses, ist das eine frohe Ueberraschung! Vielleicht bekommen wir da hier den mächtigen, geheimnißvollen Herrn auch einmal zu sehen?«

»Sehr wahrscheinlich, aber nur, wenn Sie die größte Verschwiegenheit beobachten.«

»Daran werden wir es gewiß nicht fehlen lassen.«

»Das erwarte ich. Jetzt gehe ich. In vielleicht einer Stunde bin ich wieder da. Es würde mir lieb sein, wenn dann mein Zimmer bereit stände. Ich will da ein Wenig schlafen und gehe erst am Abende wieder fort.«

Er ging. Jetzt endlich konnte der Wirth ihn über die Straße schreiten sehen. Sein Weg führte ihn nach dem Gerichtsamte, wo er sich nach dem Beamten erkundigte, welcher die Untersuchung gegen den Schreiber Beyer und dessen Tochter zu führen hatte. Da derselbe gerade nicht bei einem Verhöre beschäftigt war, so wurde Arndt sogleich vorgelassen.

Der Actuar betrachtete den Eintretenden, bot ihm einen Stuhl und fragte dann:

»Was wünschen Sie?«

»Ich komme in der Angelegenheit des Schreibers Beyer, welcher gestern hier eingeliefert wurde.«

»Haben Sie vielleicht Etwas für oder gegen ihn zu den Acten zu geben?«

»Nein. Ich möchte mir nur die Erkundigung gestatten, ob er und seine Tochter nicht auf Handgelöbniß entlassen werden könnten.«

Das Auge des Beamten ruhte wieder forschend auf dem Sprecher; dann fragte er:

»Welches Interesse haben Sie dabei?«

»Ein rein menschliches, kein persönliches.«

»Wer sind Sie?«

»Erlauben Sie mir, Ihnen dies noch zu verschweigen! Aber fragen möchte ich dürfen, ob Sie wissen, was gestern nach der Abführung der beiden Gefangenen geschehen ist?«

»Die Frau ist gestorben.«

»Das ist das Eine. Und das Andere?«

»Das Eine ist höchst traurig und das Andere im höchsten Grade interessant. Der sogenannte Fürst des Elendes soll beim Pfarrer gewesen sein, und zwar im Interesse der betreffenden Familie.«

»Soll? Er ist wirklich dagewesen!«

»Ich erfuhr es nicht amtlich, sondern nur gesprächsweise.«

»Ich komme in seinem Auftrage.«

Da fuhr der Actuar vom Stuhle auf.

»Im Auftrage des Fürsten des Elendes?«

»Ja, mein Herr.«

»So kennen Sie ihn?«

»Ich habe keine Erlaubniß, mich über diesen Punkt zu äußern. Vielleicht bin ich ein Diener von ihm oder einer seiner Agenten. Er hat mich beauftragt, die vorhin ausgesprochene Frage an Sie zu richten.«

»Welchen Grund hat er dazu?«

»Wie ich bereits sagte, einen rein menschlichen. Er fühlt inniges Mitleiden mit der Familie.«

»Wissen Sie, daß ich Ihnen nicht zu antworten brauche?«

»Ich weiß das, hoffe aber dennoch, eine Antwort zu erhalten.«

»Oder daß ich Sie für verdächtig erklären und in Folge dessen festhalten könnte?«

»Wer sich für Untersuchungsgefangene interessirt, kann allerdings verdächtig erscheinen. Von einem Festhalten aber ist keine Rede. Hier meine Legitimation!«

Er zog eine Karte hervor, welche nur die Worte enthielt: »In meinem Auftrage.« Darunter aber stand der wohlbekannte Namenszug und das Siegel des Justizministers.

»Das ist allerdings etwas Anderes, mein Herr!« sagte der Actuar, indem er die Karte mit einer tiefen Verbeugung zurückgab. »Ich vermuthe also in Ihnen einen Collegen?«

»Vielleicht vermuthen Sie nicht unrichtig. Also bitte, die Antwort auf meine Frage.«

»Hm! Nach dem, was das erste Verhör ergeben hat, sind beide Gefangene schuldig.«

»Welcher Verbrechen oder Vergehen?«

»Er des Widerstandes gegen die Staatsgewalt und sie des Diebstahls, vielleicht nicht einmal des einfachen. Das Mädchen kann auf keinen Fall entlassen werden, wenigstens nicht, bevor die Zeugen vernommen sind.«

»Aber der Vater?«

»Er ist geständig; er hat vor Aufregung nicht recht gewußt, was er that. Er könnte gegen eine Caution entlassen werden.«

»Wie hoch würde dieselbe sein?«

»Ich müßte mit dem Vorstande sprechen, glaube jedoch, daß hundert Gulden genügen werden. Wünschen Sie, daß ich diese Erkundigung einziehe«

»Ich bitte darum.«

»Wie soll ich Sie nennen, wenn ich nach Ihrem Namen gefragt werde?«

»Nennen Sie mich gar nicht, sondern zeigen Sie diese Karte vor, welche ich Ihnen zu diesem Zwecke wieder einhändige.«

»Und wenn der Vorstand Sie zu sehen und zu sprechen wünscht?«

»Ich glaube, ein amtlicher Grund zu diesem Wunsche ist nicht vorhanden!«

»Ich verstehe! Sie wünschen Ihr Incognito zu bewahren. Erwarten Sie mich hier.«

Er ging und kehrte bereits nach kurzer Zeit zurück.

»Ihr Wunsch ist erfüllt,« sagte er, »und zwar soll Beyer gegen die Hälfte der von mir vermutheten Caution auf Handgelöbniß entlassen werden.«

»Also blos fünfzig Gulden?«

»Ja.«

»Hier sind dennoch die hundert. Die übrige Hälfte soll ein Geschenk für ihn sein. Der Arme wird des Geldes bedürfen.«

Der Actuar betrachtete lächelnd den Hundertguldenschein, schob ihn leicht zurück und meinte:

»Wenn Sie wirklich ein College von mir sind, so müssen Sie wissen, daß ich dieses Geld nicht annehmen darf.«

»Ah! Warum?«

»Ich weiß nicht, von wem es ist.«

»Vom Fürsten des Elendes, wie ich die Ehre hatte, Ihnen zu sagen.«

»Dieser geheimnißvolle Mann ist keine gerichtlich oder amtlich legitimirte Persönlichkeit. Ich brauche einen Namen.«

»Ja, die Obrigkeit hat ihre streng vorgeschriebenen Wege und Gebräuche. Aber da der Fürst des Elendes sich eben in’s Geheimniß hüllt, und auch ich nicht befugt bin, mich zu nennen, so denke ich, daß wir uns an meine Legitimation halten müssen. Schreiben Sie also, daß die fünfzig Gulden gezahlt sind im Auftrage Sr. Excellenz des Herrn Justizministers!«

»Das wäre allerdings ein Ausweg.«

»Gut! So darf ich unsere Conferenz wohl als beendet betrachten?«

»Noch nicht, denn ich habe Ihnen erst noch die Empfangsbescheinigung auszustellen.«

»Und wann wird der Gefangene entlassen?«

»Sofort. Ich werde ihn vorführen lassen, sobald Sie die Bescheinigung erhalten haben.«

Dies geschah aber doch nicht, sondern als Arndt kaum die Thür hinter sich zugemacht hatte, eilte der Actuar zunächst zu dem Vorstande.

»Er geht!« sagte er, hastig bei diesem eintretend. »Schnell, wenn Sie ihn sehen wollen!«

Der Vorstand trat rasch an das Fenster. Arndt ging langsam über den Platz.

»Dieser ist es,« erklärte der Actuar.

»Dieser also!« nickte der Vorstand. »Und Sie haben ihn genau angesehen?«

»Ja. Er war verkleidet.«

»Wieso?«

»Er trug Beinkleider nach Art der Kunstreiter, wenn diese sich im Sattel verwandeln. Ein einziger Zug genügt, die Hose erscheinen und verschwinden zu machen. Ich kenne das.«

»Sonderbar, höchst sonderbar! Waren Haar und Bart echt?«

»Wenn sie nicht echt waren, so war doch die Fälschung eine meisterhafte. Die Farbe derselben paßte genau zu dem Teint, doch schien gerade dieser mir ein Werk der Kunst zu sein, obgleich ich es zu beschwören nicht vermöchte.«

»Und diese Legitimation von unserer Excellenz! So ganz außerordentlich. Das läßt mich vermuthen, daß er der Fürst des Elendes selber ist.«

»Auch meine Ansicht.«

»Merken Sie sich den Mann genau. Vielleicht sehen wir ihn wieder. Jetzt aber ist er verschwunden. Entlassen Sie den Gefangenen!«

Der Actuar folgte dieser Weisung. Er kehrte in sein Zimmer zurück und ließ den Schreiber vorführen. Dieser trat herein, todtesbleich und mit niedergeschlagenen Augen. Der Actuar musterte ihn mit mitleidigem Blicke und fragte: »Ich vermuthe, daß Sie sich nach der Freiheit sehnen, Beyer?«

»Oh, wie sehr, Herr Actuar!« antwortete der Gefragte. »Was soll aus meiner Frau und den Kleinen werden, wenn ich gefangen bin!«

»Sie sind Alle versorgt.«

»Versorgt? Wieso?«

»Die Kinder befinden sich in Pflege beim Weber Hauser. Ein Wohlthäter hat die nöthigen Gelder gespendet.«

»Bei Hauser? Der ist brav. Aber warum sind sie nicht daheim?«

»Hm! Ich werde es Ihnen doch sagen müssen, damit Sie bei der Heimkehr nicht zu sehr erschrecken.«

»Erschrecken? Worüber? Mein Gott, was ist geschehen, was werde ich hören müssen!«

»Fassen Sie sich! Leid und Freud treffen sehr oft zusammen. Es hat Sie allerdings ein schwerer Verlust betroffen, aber Gott hat für den rechten Trost gesorgt. Ihre Kinder werden nicht mehr Hunger zu leiden brauchen!«

»Ein schwerer Verlust!« sagte der arme Mann. »Spannen Sie mich nicht lange auf die Folter, Herr Actuar! Sagen Sie es lieber gleich! Nicht wahr, meine Frau ist gestorben?«

»Ich kann diese Frage leider nicht verneinen!«

Da sank der Gefangene auf den Stuhl, neben welchem er stand, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte laut. Der Beamte ließ ihn einige Zeit gewähren, mahnte aber dann: »Fassen und trösten Sie sich! Bei der langwierigen Krankheit der Verstorbenen mußten Sie immer auf den Tod gefaßt sein. Das müssen Sie bedenken!«

»Ja,« schluchzte der Arme. »Auf ihren Tod gefaßt, auf ein sanftes, leises Einschlafen in Gegenwart ihres Mannes und ihrer Kinder; auf ein Einschlafen, nachdem sie uns Gute Nacht gesagt hatte. Aber wie anders ist das gekommen!«

»Ein rascher Tod ist auch ein Glück!«

»So aber nicht! Sie ist vor Schreck gestorben! Ihre Tochter eine Diebin, und ihr Mann ein Aufrührer; Beide gefangen, in den Händen des Gensd’armes! Das hat ihr den Tod gegeben! Was liegt mir nun an der Freiheit und am Leben! Ich möchte mich zu ihr in den Sarg legen und auch sterben!«

»Fassen Sie Muth! Auch dieser Schmerz wird sich überwinden lassen!«

Beyer schüttelte den Kopf und sagte:

»Und wie wird man sie gebettet haben! In ein altes Tuch gewickelt, wird sie im Communesarg liegen! Herrgott! Eine Frau wie diese, und in einem solchen Sarge!«

»Sie irren! Der bereits erwähnte Wohlthäter hat auch für das Begräbniß der Todten gesorgt.«

»Wer ist er?«

»Man nennt ihn den Fürsten des Elendes.«

»Dieser? Gott segne es ihm; Gott lohne es ihm in alle Ewigkeit! Könnte ich die Todte doch noch einmal sehen!«

»Sie können es. Es ist eine Caution für Sie erlegt worden. Ich kann Sie auf Handschlag entlassen, wenn Sie mir Ihr Wort und Ihre Unterschrift geben, sich der Urtheilsvollstreckung nicht durch die Flucht zu entziehen.«

»Wie gern, wie gern will ich es geben! Aber, wie wird meine Strafe ausfallen?«

»Sie werden eine kurze Kerkerhaft erhalten.«

»Und meine Tochter? Darf sie auch mit?«

»Nein.«

»Herrgott! Sie soll ihre Mutter nicht noch einmal sehen?«

»Es ist das leider nicht möglich!«

»So gehe ich auch nicht, Herr Actuar!«

»Handeln Sie nicht unsinnig! Bedenken Sie doch, daß Sie noch andere Kinder haben!«

»Andere Kinder! Ja! Aber ihre Mutter ist todt; ihre Schwester ist eine Diebin, und ihr Vater wird im Kerker sitzen.«

»Vielleicht nimmt die Untersuchung gegen ihre Tochter ein unerwartet besseres Ende.«

»Herr Actuar, ich erwarte Nichts. Sie ist unschuldig, unschuldig wie die liebe Sonne am Himmel; aber ich kenne Die, welche sie verderben wollen. Ich bin so unvorsichtig gewesen, von dem Ringe zu plaudern, und da sind sie mir zuvorgekommen. Sie kennen weder Gnade noch Barmherzigkeit.«

»Man soll die Hoffnung nicht sinken lassen. Sehen Sie diesen Hundertguldenschein! Die Hälfte davon gehört Ihnen.«

»Mir. Von wem?«

»Auch vom Fürsten des Elendes.«

Der arme Mann blickte freudlos auf das Geld.

»Herr,« sagte er, »was nützt mir alles Geld! Mein Weib ist todt, und unsere Ehre ist dahin. Kann die Todte auferstehen? Kann die Ehre wiederkommen?«

»Sie sehen zu schwarz. Die Arretur hat Sie erschreckt, und im Kerker ist Ihnen der Lebensmuth verloren gegangen. Sobald Sie hinauskommen, werden Sie Hoffnung schöpfen.«

»Ich will es versuchen. Also ich darf gehen?«

»Nachdem Sie das Entlassungsprotocoll unterschrieben und mir dazu Ihren Handschlag gegeben haben!«

Dies geschah. Er wurde entlassen und erhielt vom Actuar eine Anweisung über fünfzig Gulden an die Amtskasse. Als er die Thür bereits in der Hand hatte, fragte er nochmals: »Also, Herr Assessor, meine Tochter darf nicht mit mir gehen?«

»Leider nein.«

»Und ich darf sie auch jetzt nicht sehen?«

»Nein, das darf ich nicht gestatten.«

»So sei der liebe Gott mit ihr!«

Er senkte den Kopf und ging. Er vergaß, sich nach der Kasse zu verfügen. Er dachte gar nicht daran. Er ging nicht durch die Stadt, sondern machte einen weiten Umweg um dieselbe. Er, der noch in Untersuchung stand, der Vater einer Diebin, wollte sich nicht sehen lassen.

Es war Winter, und die Tage waren noch kurz. Noch aber war es hell, und daher mied er die gebahnte Straße. Kein Mensch sollte ihn sehen, ihn, der gestern gefesselt fortgeschleppt worden war.

Er watete durch den tiefen Schnee. Die immer steigende Kälte drang durch seine schlechten Stiefel und das dünne, abgetragene Röckchen. Er fühlte es nicht.

»Todt! Todt! Vor Schreck gestorben!« murmelte er immer vor sich hin. »Auch ich bin todt! Moralisch gestorben! Ich habe keine Ehre mehr! Ich muß in den Kerker!«

Er hatte nichts gegessen; er hatte ja stets, stets gehungert! Er wurde müde; er setzte sich. Der Schlaf, der gefährliche Schlaf wollte ihn übermannen, aber ein Gedanke war stärker noch als die Müdigkeit: »Sie ist todt!« flüsterte er. »Sie hat mit mir gedarbt und gehungert, mit mir gelitten und gekummert, und nun ist sie gestorben ohne mich. Ich muß zu ihr, hin zu ihr!«

Er raffte sich auf und schleppte sich weiter. Die Nacht brach herein. Die Luft war still, aber die Kälte wurde schneidig. Er bog nach der Straße ein. Kaum als er diese erreicht hatte, kam ein Schlitten gesaust. Beyer trat auf die Seite; aber der Lenker des Schlittens hielt vor ihm an; er hatte die schlotternde Gestalt des Frierenden erkannt.

»Donnerwetter! Kennst Du den, Onkel?« fragte er.

Es war Fritz Seidelmann. Sein Oheim, der fromme Schuster, saß neben ihm, Beide in warme Pelze gehüllt. Sie wollten die »Künstlervorstellung« besuchen.

»Der?« fragte der Vorsteher der Seligen. »Ah! Ist das nicht Euer Schreiber?«

»Der Gewesene natürlich! Kerl, wo kommst Du her? Du bist doch nicht etwa aus der Gefangenschaft entflohen?«

»Man hat mich entlassen,« antwortete Beyer monoton.

»Und Ihre Tochter mit, die Sünderin?« fragte der Oheim.

»Nein.«

»So laß ihn, Fritz! Das Böse ist mächtig in der Welt, aber die Gerechtigkeit ist schneller. Siehst Du, wie er bebt, wie er zittert? Hörst Du das Klappern seiner Zähne? Das böse Gewissen hat ihn gepackt und wird ihn nicht wieder fahren lassen. Es wird für ihn sein Heulen und Zähneklappern jetzt und in alle Ewigkeit. Fahr zu!«

Der Schlitten setzte sich wieder in Bewegung. Beyer sagte Nichts und dachte Nichts; er schlotterte taumelnd weiter. Er wollte umsinken vor Hunger und vor Müdigkeit, aber der eine Gedanke, der Gedanke an die Todte trieb ihn vorwärts.

So erreichte er das Heimathstädtchen. Der Athem stockte ihm in der Brust vor Kälte.

»Bei Hausers sind die Kinder,« murmelte er. »Ich muß sie einmal hören, einmal sehen. Aber mich sehen, nein, das soll man nicht!«

Auch hier ging er um den Ort herum und stieg von hinten über den Zaun in Hausers kleines Gärtchen ein. Der Schnee ging ihm bis über die Kniee empor. Er näherte sich dem Fensterladen, in welchem sich ein Astloch befand. Er blickte durch dasselbe. Die Familie saß beim Abendessen; seine Kinder waren dabei. Auf dem Tische dampfte eine Suppe, in welche die Löffel fleißig langten.

»Sie essen!« flüsterte er. »Oh, sie werden satt, satt, satt! Ich habe – keinen Hunger, keinen, keinen!«

Und doch hielt er sich an der Ladenquerstange fest, um nicht umzufallen. Er beobachtete jede Bewegung seiner Kinder. So verging eine Viertelstunde, dann flüsterte er: »Horch, jetzt betet er! Jetzt liest er vor!«

Und da erscholl die Stimme des alten, frommen Webers:

 

»O laß den Gram nicht mächtig werden,

Du tief betrübtes Menschenkind!

Wiß, daß die Leiden dieser Erden

Des Himmels beste Gaben sind.

Und daß, wenn Sorgen Dich umwogen,

Und Dich umhüllt des Zweifels Nacht,

Dort am vom Glanz umflossnen Bogen

Ein treues Vaterauge wacht!«

 

Einige Augenblicke blieb es still. Der Alte räusperte sich und mochte seine Brille zurecht rücken. Dann fuhr er fort:

»O, laß Dir nicht zu Herzen steigen

Die lang verhaltne Thränenflut!

Wiß, daß grad in den schmerzensreichen

Geschicken tiefe Weisheit ruht.

Und daß, wenn sonst Dir nichts verbliebe,

Die Hoffnung doch Dir immer lacht,

Da über Dich in ewger Liebe

Ein treues Vaterauge wacht!«

 

»Ein treues Vaterauge!« flüsterte Beyer. »Ja, Kinder, ein Vaterauge hat Euch gesehen, ohne daß Ihr es ahnt. Gute Nacht! Schlaft wohl! Gottes Vaterauge wird weiter über Euch wachen!«

Seine Beine, seine ganzen Gelenke waren steif geworden. Er vermochte kaum, sich zu bewegen. Endlich ging es. Er stieg über den Zaun zurück und watete weiter fort.

»Wo wird sie sein?« fragte er. »Auf dem Gottesacker! Im Leichenhause! Hin, hin zu ihr!«

So arbeitete er sich weiter, immer weiter! Er erreichte die Pforte des Friedhofes. Sie war nicht verschlossen. In jenen Gegenden haben die Todten vor den Lebenden Ruhe; man braucht die Thore, welche aus dem Dasein führen, nicht mit Schlüsseln zu versperren. Er trat ein und schritt auf das Leichenhaus zu.

Auch dieses war nicht verschlossen. Der Mond schien hell, und als Beyer die Thür öffnete, fielen die falben Strahlen in das Innere.

»Da liegt sie, da!« sagte er.

Es gab in dem kleinen Städtchen kein Sargmagazin, also keine fertigen Särge zu kaufen. Starb Jemand, so wurde der Sarg beim Tischler bestellt, und dieser hatte sich zu sputen, um ihn bis zur Stunde des Begräbnisses fertig zu bringen. Die Leiche lag auf einer Bank, zugedeckt mit einem Leinentuche.

Beyer trat hinzu, zog die Bank dahin, wo der Schein des Mondes sich an der Mauer abzeichnete, und nahm das Tuch hinweg. Er fürchtete sich nicht vor dem hageren, ausgemergelten, eiskalten und steifen Körper, auch nicht vor den starren Zügen, welche ihm im Mondscheine scharf entgegentraten.

Er nahm die Todte in seine Arme, preßte sie an sich und weinte leise, als ob er sie erwecken könne.

»Martha, Martha,« flüsterte er dann. »Weißt Du, wie ich Dich zum ersten Male in den Armen hielt? Du warst so lieb und so gut, und wir waren so glücklich, so selig! Unsere Herzen waren warm, und wir glaubten an die Menschen. Dann kam es anders, anders, anders! O Gott, Du lieber, lieber Gott, ist es denn möglich, daß es so ganz, ganz anders kommen kann? Wir haben gehungert, damit die Kinder nicht verhungern sollten! Die Entbehrung, das nackte Elend hat an unserem Leben genagt, und Andere, die reich wurden durch uns, schwelgten im Ueberfluß und stießen uns mit Füßen. Dich warf der Hunger auf das Krankenlager, der Hunger, der Hunger allein, o Gott! Und ich stand am Pulte, summirte die Reichthümer und schlang meine glühenden Thränen hinab. Nun sind wir die Eltern einer Diebin, und ich soll in den Kerker zurück. Dich hat der Schreck erschlagen, und ich halte Dich zum letzten, zum allerletzten Male in den Armen. Was einst so glücklich war, so warm, das Herz, es ist jetzt so starr, so kalt, kalt, kalt! Komm, ich will Dich fester umfassen; ich will Dich umschlingen, umarmen! Du bist mein Weib, mein treues, gutes Weib, und wir verlassen uns nicht, weder im Leben noch im Tode!«

Er drückte sie an sich und küßte sie auf den bleichen, starren Mund, als ob sie noch am Leben sei. Dann fuhr er fort: »Horch, Martha! Hörst Du, wie ich für uns bete? Ich sollte nicht beten, sondern fluchen! Aber nein! Ich denke an Niemand; ich habe jetzt Dich, nur Dich allein, und ich segne Dich! Ja, Du Gute, Du Liebe, Du Treue! Der Herr segne und behüte Dich! Der Herr erleuchte sein Angesicht auf Dich und sei Dir gnädig! Der Herr erhebe sein Angesicht über Dir und gebe Dir Frieden! Amen!«

Nun wurde es still in der Todtenhalle. Nur zuweilen erklang ein leises Rascheln wie von steif gefrorenen Kleidern. Der Mond ging seinen Gang; sein Schein glitt von der Gruppe fort, nach rechts, immer an der Wand hin und endlich zur Thür hinaus, durch welche die grimmige Kälte der Wintersnacht hereindrang. –Am Morgen erzählte man sich im Orte eine seltsame Kunde. Der Todtengräber hatte das Grab der Schneidersfrau beginnen wollen und war dabei in die Leichenhalle gekommen. Dort hatte er die Todte gefunden – – in den Armen ihres Mannes liegend. Auch er war todt. Aber noch vor dem Scheiden hatte er seinem Weibe die Anweisung auf fünfzig Gulden in die erstarrte Hand gedrückt.

Viele, viele gingen hinaus auf den Kirchhof, um das seltsame Paar zu sehen. Auch der Arzt kam. Er constatirte, daß der Schreiber erfroren sei – ob seit Jahren langsam verhungert? Pah! Niemand glaubt mehr, daß ein Mensch wirklich verhungern kann! – –Das Weib des Akrobaten hatte, während der Knabe vor Schwäche, Jammer und Weinen in Schlaf versunken war, bei den drei Bewußtlosen gesessen, um ihr Erwachen ruhig abzuwarten. Zuerst allerdings hatte sie ernstlich besorgt, daß sie todt seien; aber bald hatte sie bemerkt, daß ihr Athem ruhig ging und ihre Pulse deutlich schlugen. Dadurch war sie beruhigt worden.

Und gerade so, wie der Fremde es gesagt hatte, so geschah es. Eine Stunde vor der Kassenöffnung zu der beabsichtigten Vorstellung erwachte Einer nach dem Anderen. Keiner konnte sich zunächst auf Das besinnen, was geschehen war; als aber die Frau ihrem Gedächtnisse zu Hilfe kam, konnte sich der Riese vor Wuth kaum lassen. Er fluchte und tobte. Er schlug mit der Peitsche auf den Kleinen ein, dem er die Schuld an dem Vorgefallenen ganz allein beimaß. Dann begab er sich in den Saal, wo noch einige Vorbereitungen zu treffen waren. Er ließ sich hier Branntwein geben, um seinen Ärger hinab zu spülen, wie er sich ausdrückte, und trank so schnell und viel, daß ihm die beiden Anderen die Flasche endlich wegnahmen, da sie befürchteten, er möchte so betrunken werden, daß die Vorstellung nicht stattfinden könne.

Während dann die Frau sich an die Kasse setzte, begaben die Anderen sich hinauf, um ihre Flitter anzulegen.

In abgelegenen Gegenden ist es selten, daß sich einmal ›Künstler‹ sehen lassen; geschieht dies aber doch, dann ist diesen herumziehenden Wanderern fast immer ein zahlreicher Besuch gewiß. So auch hier.

Der Saal war nicht sehr groß. Er füllte sich nach kurzer Zeit, und die Frau wagte es sogar, einige kleine Silberstücke für heimlichen Gebrauch zu annectiren.

Da, wo sich sonst das Orchester öffnete, war heute ein Vorhang zu sehen, zwar nicht aus Meisterhand stammend, aber doch von Leinwand und mit hübschen, bunten Farben bemalt. Das Publikum, welches vor diesem Vorhange zu warten hatte, war ein ungeduldiges. Noch war die Zeit des Beginnes nicht gekommen, als man bereits durch Pochen, Klopfen und Strampeln den Anfang zu beschleunigen versuchte.

Die Herrschaften, welche auf den vorderen Bänken saßen, nahmen an dieser Demonstration allerdings nicht theil. Strampeln kann nur der Plebs. Sie aber, die Honoratioren des Ortes, die Angehörigen des Casino, wußten, wie man an öffentlichen Orten seine Distinction zu bewahren habe. Sie blieben ruhig, bis der heisere Ton einer Schelle ertönte und der Vorhang sich in die Höhe bewegte.

Man erblickte einen schwarz verhängten Tisch, auf welchem verschiedene Gegenstände, Büchsen, Gläser, Messer, Kugeln, lagen, mit denen die Künstler ihre Productionen begannen. Dann folgten Karten-und andere Kunststücke, bis im letzten Theile die eigentlichen Leistungen der Athletik beginnen sollten. Dieser Theil sollte, wie das Programm verkündete, mit der weltberühmten und erstaunlichen ›Pyramide‹ anfangen.

Der Knabe erschien, in glitzernde Tricots gekleidet. Er sollte, nach der Ankündigung, die Vorstellung durch seine eminenten Kautschukkünste beschließen. Der Eindruck, welchen er auf die Zuschauer machte, war ein recht guter.

»Der kleine Junge! Ein hübscher Knabe! Ein allerliebstes Kind!« konnte man flüstern hören. »Wie gut gewachsen! Wie blaß er aussieht! Er scheint sich vor dem Riesen zu fürchten!«

Dieser Letztere hatte während der ganzen Vorstellung eine auffallende Unsicherheit gezeigt. Er wankte stark; er taumelte sogar zuweilen, und schließlich hatte die Ansicht, daß er betrunken sei, im Publikum Wurzel geschlagen. Jetzt verkündete er mit beinahe lallender Stimme den Beginn der Pyramide.

Er stellte sich breitspurig auf, wankte aber.

»So steh doch fest!« hörte man ihm von dem Einen zuraunen.

Dies mochte dem Knaben Muth geben. Man hörte seine zwar nur halblaute, aber doch klare Stimme bitten:

»Oh, nicht da hinauf! Ich fürchte mich so sehr!«

Der Riese faßte ihn bei den Haaren, riß ihn hin und her und antwortete, auch ziemlich vernehmlich:

»Verfluchte Kröte! Soll ich Dich endlich todtschlagen? Hinauf mußt Du, und wenn Du zehnmal den Hals brichst!«

Und mit lauter Kommandostimme fügte er hinzu:

»Achtung! Eins! Zwei! Drei!«

Bei Eins und Zwei sprangen ihm seine Gefährten auf die Achseln. Bei Drei erfaßte er den Knaben und schnellte ihn empor. War’s sein Zorn oder seine Betrunkenheit oder auch Beides zugleich – er hatte zu viel Kraft angewendet. Der Knabe flog hoch bis zur Decke empor, ohne daß er von den Beiden ergriffen werden konnte.

Ein einziger Schrei, aber aus allen Kehlen, erscholl im Saale; dann that es einen lauten, fürchterlichen Krach. Der Kleine war aus dieser Höhe herabgestürzt, und zwar mit dem Kopfe auf das Geländer des Orchesters.

Einen Augenblick lang gab es die Stille des Todes. Dann aber gab es ein geradezu fürchterliches Durcheinander von Stimmen und Personen. Alle wollten nach der Stelle hin, wo der Knabe ohne Bewegung lag, und ein Jeder und Jede wollte der oder die Erste sein. Einige der vorn Sitzenden hatten die Geistesgegenwart, die Menge zurück zu drängen und mit lauter Stimme zur Ruhe zu ermahnen. Unter ihnen befand sich auch Doctor Werner, der bekannte Knappschafts-und Armen Arzt. Er näherte sich dem Knaben und that, als ob er ihn untersuche. In Wahrheit aber war es nur ein gleichgiltiger Blick, den er auf ihn warf.

Auch der Amtmann war anwesend. Er hatte sich herbeigedrängt und kniete vor dem Kleinen nieder.

»Ohnmächtig nur! Nicht wahr, Herr Doctor?« fragte er.

Der Arzt zuckte die Achsel, bückte sich nieder, befühlte den Hals des Knaben und antwortete:

»Todt!«

»Um Gotteswillen! Das wollen wir nicht befürchten!«

»Pah! Den Hals gebrochen!«

»Ist das gewiß und wirklich wahr?«

»Glauben Sie, daß ich ein Pfuscher bin, Herr Amtmann?«

Der Genannte legte dem Knaben in der Gegend des Herzens die Hand auf den dünnen Trikot-Stoff. Er fühlte nicht die mindeste Bewegung dieser Lebensmuskel.

»Wahrhaftig, er ist todt!« rief er. »Welch ein entsetzlicher Fall!«

Alle Anwesenden hörten es, und der Aufruhr, welcher jetzt entstand, war unbeschreiblich. Einige Damen fielen in Krämpfe oder hysterisches Lachen. Sie mußten entfernt werden. Der Bürgermeister, als Inhaber der höchsten Polizeigewalt im Städtchen, eilte herbei, gefolgt von dem anwesenden Schutzmann und Gensdarmen.

»Der Todesfall muß constatirt werden, gerichtlich constatirt!« sagte er. »Man hat nach dem Gerichtsarzte zu senden!«

Dadurch fühlte sich Doctor Werner beleidigt:

»Herr Bürgermeister,« sagte er, »meinen Sie vielleicht, daß ich einen Todten von einem Lebendigen nicht zu unterscheiden vermag?«

»So habe ich das nicht gemeint,« erklärte das Oberhaupt der Stadt. »Aber der Herr Amtmann wird auch sagen, daß ich hier meine Pflicht zu thun habe. Sie aber sind nicht Gerichtsarzt!«

»Ah, so halten Sie eine gerichtliche commission für nöthig?«

Bei diesen Worten des Arztes blickte der Bürgermeister betroffen empor.

»Ah,« sagte er, »so allerdings habe ich das nicht gemeint!«

»Wie sonst?«

»Ich meine nur, daß der Tod zu constatiren sei.«

»Dazu ist das Zeugniß eines jeden Arztes zureichend.«

»Außer es handelt sich um ein Verbrechen!«

Diese letzteren Worte hatte ein Herr gesagt, dem es gelungen war, sich durch die Menge herbei zu drängen. Die drei Herren blickten ihn an; sie kannten ihn nicht. Der Bürgermeister betrachtete ihn mit einem forschenden Blicke, zuckte die Achseln und fragte abweisend: »Sie meinen?«

»Daß nur im Falle eines Verbrechens eine gerichtliche Leichenschau nothwendig sein würde.«

»Das wissen wir auch. Dazu bedürfen wir keines fremden Rathes. Oder wollen Sie sagen, daß hier ein Verbrechen vorliege?«

»Ja,« nickte der Fremde.

»Herr, bedenken Sie, was Sie thun!«

»Herr Bürgermeister, ich weiß ganz genau, was ich sage.«

»Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Wir Alle sind Zeugen des Ereignisses gewesen. Wir Alle haben gesehen und müssen gesehen haben, daß hier nur ein höchst unglückseliger Zufall vorliegt.«

»Ich denke, daß Sie sich irren,« sagte der Fremde in kaltem Tone.

»Herr, wer sind Sie?«

Es war still im Saale geworden. Alles schwieg, um der Unterhaltung zu lauschen. Auch die Künstler standen starr und lautlos, noch unter dem Einflusse des Schreckes. Der Riese war augenblicklich nüchtern geworden. Aller Augen waren auf den Fremden gerichtet. Er hatte rothes Haar, rothen Vollbart, trug die gewöhnliche Kleidung der dortigen Gegend, machte aber doch nicht den Eindruck, als ob er ein Mitglied der arbeitenden Klasse sei. Die Frage des Bürgermeisters machte ihn nicht im Geringsten verlegen. Er zuckte die Achseln, ganz so wie dieser vorhin, und antwortete: »Ich werde nachher die Ehre haben, mich zu legitimiren. In Gegenwart so vieler Zeugen habe ich das natürlich nicht nothwendig. Haben Sie gehört, was der unglückliche Knabe vor Beginn der Production sagte, Herr Bürgermeister?«

»Allerdings!«

»Und was ihm sein Gebieter antwortete?«

»Auch.«

»Der Knabe wollte sich nicht an der Pyramide betheiligen!«

»Es schien so!«

»Sein Herr aber zwang ihn!«

»Hm!«

»Das Kind besaß jedenfalls nicht die Uebung und Körperkraft, welche zu einer solchen Schaustellung unumgänglich nothwendig ist.«

»Was geht das uns an?«

»Ihnen jedenfalls wenigstens ebenso viel wie mir. Ich ersuche Sie, sich dieser sogenannten Künstler zu bemächtigen.«

»Was fällt Ihnen ein?«

»Nur das, was Ihnen bereits vor mir eingefallen sein sollte!«

»Herr!« braußte der Bürgermeister auf.

»Bitte, bleiben wir ruhig! Es versteht sich ganz von selbst, daß diese Leute unter die Anklage der fahrlässigen Tödtung zu stellen sind. Ich nehme an, daß dies auch Ihre Ansicht ist, Herr Amtmann?«

Dieser nickte zustimmend. Der Fremde fuhr fort:

»Wir Alle haben gesehen, daß dieser Chef der Künstlertruppe, welcher sich Bormann nennt, betrunken war.«

»Das ist wahr!« ließen sich einige Stimmen vernehmen.

»Er wankte und taumelte zusehends.«

»Wir sind Zeugen!« riefen noch mehrere.

»Er warf den Knaben zu hoch. Dies konnte eben nur ein ganz Betrunkener thun!«

»Herr!« rief jetzt Bormann, in dem er näher trat. »Ich bin nüchtern, vollständig nüchtern! Oder wollen Sie mich untersuchen?«

»Pah!« antwortete der Fremde. »Sie stinken nach Schnaps. Der Schreck hat Sie nüchtern gemacht.«

»Was geht Sie überhaupt die ganze Sache an?«

»Sehr viel, wie Sie sogleich sehen werden!«

Er bückte sich nieder, knöpfte die Tricotjacke des Kleinen auf, entblößte den Rücken, deutete mit der Hand nach demselben und rief mit erhobener Stimme: »Sehen Sie her, meine Herren! Ist das menschlich?«

Ein dunkelblaues, blutrünstiges Fleisch war zu sehen.

»Herrgott!« sagte der Amtmann. »Wovon ist das?«

»Von den Schlägen, welche das arme Kind erhalten hat. Enthüllen wir die Leiche weiter.«

Dies geschah, und hundert Rufe des Entsetzens ließen sich rundum hören. Nicht nur der Rücken des armen, gemarterten Kindes, sondern der ganze Körper zeigte die Spuren der fürchterlichen Peitsche. Hieb lag neben Hieb, und es gab Stellen, an denen die dicken Schwielen aufgeplatzt waren, so daß das rohe Fleisch zwischen den Hautrissen hervorblickte. Es war ein scheußlicher Anblick.

»Wollen Sie auch jetzt noch diese Unmenschen frei laufen lassen, Herr Bürgermeister?« fragte der Fremde.

»Nein,« antwortete der Gefragte. »Aber wie haben Sie von diesen Mißhandlungen erfahren können?«

Da ließ der Fremde ein geheimnißvolles Lächeln sehen und antwortete:

»Ich bin allwissend, mein Herr.«

»Allwissend? Wie meinen Sie das?«

»Der Herr Amtmann mag es Ihnen unter vier Augen sagen. Hier, wollen Sie meine Legitimation lesen?«

Er griff in die Tasche, zog eine Karte hervor und gab dieselbe dem Amtmanne. Dieser las, wie bereits heute einmal: »In meinem Auftrage. Der Justizminister.«

Der Beamte warf einen Blick des Erstaunens auf den Fremden.

»Herr,« sagte er. »Es ist mir heute schon eine solche Karte gezeigt worden.«

»Eine solche? Nein. Es war ganz dieselbe.«

»Dieselbe? Wie? Dient sie denn mehreren Personen als Legitimation?«

»Nur einer einzigen.«

»Aber Der, in dessen Hand ich sie erblickte, war ein Anderer als Sie!«

»Wohl nicht, ich selbst hatte die Ehre, sie dem Herrn Actuar zu präsentiren, der sie nachher Ihnen zeigte.«

»Aber der Herr, von dem Sie sprechen, war doch –«

Er hielt inne, denn ein lauter Schrei war erschollen.

Der riesige Künstler war nämlich jetzt zu der Ansicht gekommen, daß seine Lage eine gefährliche sei. Er blickte sich um und wischte sich dabei auf eine eigenthümliche Weise im Auge. Das hatte ganz und gar das Aussehen, als ob er mit dieser an und für sich bedeutungslosen Bewegung eine besondere Absicht verbinde. Diese Absicht schien erreicht zu sein, denn er nickte heimlich nach einer bestimmten Gegend hin.

Heimlich? Er dachte es wohl, aber es war doch bemerkt worden. Das scharfe Auge des Fremden hatte, trotzdem er mit dem Amtmanne und dem Bürgermeister sprach, die Bewegung und das Nicken gesehen. Rasch drehte er sich nach der Richtung um, welche der Blick des Riesen genommen hatte und gewahrte – Fritz Seidelmann, welcher ganz ebenso sich das Auge wischte.

Kannten sich die Beiden? Oder war das im Auge Wischen ein Erkennungs-, ein geheimes Zeichen? Der Fremde hatte keine Zeit darüber nachzudenken, da er gerade jetzt im Begriffe stand, dem Amtmanne seine Karte abzunehmen.

Der Riese wendete sich zu seinen beiden Collegen und raunte ihnen zu:

»Wir lassen uns nicht arretiren! Schnell durch die beiden Fenster und hinauf auf den Boden!«

»Aber da fangen sie uns!« flüsterte Einer der Beiden.

»Dummkopf! Können wir in den Tricots fort? Eins! Zwei! Drei!«

Dies war der Augenblick, an welchem der vielstimmige Schrei im Saale erschollen war. Von dem Platze aus, welcher als Bühne diente, führten zwei Fenster hinaus in den Hof. Sie waren zwar verschlossen, aber der Riese that einen Satz nach dem Einen, holte aus und zertrümmerte mit einem einzigen Schlage das Fensterkreuz. Ein Sprung, und er stand im Hofe.

Der Zweite folgte ihm. Der Dritte war an das andere Fenster getreten, hatte einen Flügel desselben aufgerissen und sprang auch hinaus. Bis jetzt war es gelungen.

»Sie fliehen! Sie reißen aus!« rief es rundum.

»Haltet sie fest!« schrie der Bürgermeister.

Er wendete sich nach der Saalthüre.

»Halt! Nicht dort hin, sondern ihnen durch’s Fenster nach!« rief der Fremde in gebieterischem Tone. »Das geht schneller!«

Er riß dem Amtmanne, welcher vor Ueberraschung ganz steif dastand und die Karte in der Hand hielt, dieselbe aus den Fingern, steckte sie ein und sprang zum Fenster hinaus. Er kam gerade zur rechten Zeit, um zu sehen, daß der Letzte der Drei in der Thüre verschwand, welche nach dem Boden führte, auf welchem die Künstler wohnten.

Im Hofe stand auf einer leeren Tonne eine brennende Laterne. Er ergriff sie um nachzueilen. Aber als er die Thüre erreichte, bemerkte er, daß dieselbe von Innen verriegelt sei. Er trat mit dem Fuße dagegen; aber sie war stark und gab nicht nach.

Unterdessen kamen Andere dazu, unter ihnen der Wirth.

»Wo sind sie hin?« fragte er.

»Hier hinein.«

»Dann rasch nach!«

»Sie haben die Thür hinter sich verriegelt.«

»Dann dort durch den Stall! So kommen wir auch hinauf! Sie werden durch das Seiten-nach dem Hauptgebäude wollen. Man mag ihnen im Hausflur und auf der Straße den Weg verlegen, damit sie dort nicht zu den vorderen Fenstern herausspringen können!«

Dies geschah augenblicklich. Er glaubte, einen guten Rath gegeben zu haben, und doch war es der schlechteste, den es gab.

Die Drei waren nämlich die Treppe emporgesprungen. Sie hatten die Bodenkammer erreicht, welche ihnen als Aufenthalt diente. Dort brannte ein kleines Lämpchen.

»Was nun?« fragte der Eine.

»Zunächst die Thüre verrammeln!« gebot der Riese. »Sie werden nicht lange auf sich warten lassen; wir aber müssen sie aufhalten.«

Er ergriff einige starke Stangen, welche in einer Ecke lehnten, und legte sie gegen die Thür, während er sie an die nahe Fenstermauer stemmte. Jetzt war es schwer, den Eingang zu erzwingen.

»Die Kleider und Stiefel an!« gebot er dann.

Die Anzüge wurden in fieberhafter Eile über die Tricots geworfen. Dabei fragte der Eine:

»Aber ohne Geld?«

»Donnerwetter! Die Alte ist mit der Abendeinnahme unten!«

»Und Kasse haben wir nicht!«

»Macht Euch keine Sorge! Kasse wird! Rasch dort die Wäschleine herab und zum Fenster hinaus!«

»Ah! So geht es! Das ist das Beste!«

»Ja. Wir sind dann in den Gärten, und ich möchte Den sehen, der uns fängt!«

Die Leine war stark. Sie konnte mehr als nur einen Menschen tragen. Sie wurde an einem Balken befestigt, und eben als die Drei sich anschickten, aus dem Fenster zu steigen, hörten sie die polternden Schritte ihrer Verfolger, welche mit den Fäusten und Füßen an die Thür polterten.

»Umgekehrt!« rief Einer. »Sie wollen hinten hinab in die Gärten!«

»Verdammt!« flüsterte der Riese. »Das ist dieser unbekannte Hallunke! Der Kerl hat tausend Teufel im Leibe! Macht rasch!«

Es bedurfte seiner Mahnung nicht. Eine Minute später hatten sie glücklich den Boden erreicht, sprangen über mehrere Zäune und hatten dann das freie Feld vor sich.

»Wohin jetzt?« lautete die Frage.

»Dort hinüber in den Wald,« antwortete der Große. »Da sind wir sicher. Aber lauft Galopp, damit sie uns auch nicht von Weitem erblicken, wenn sie in den Garten kommen!«

Es begann ein Dauerlauf, der sie nach zehn Minuten durch den tiefen Schnee unter die schützenden Bäume des Waldes brachte. Dort blieben sie stehen. Ihr Athem flog.

»Verdammte Geschichte!« fluchte der Eine. »Was nun machen? Wir sind flüchtig, ohne Geld und ohne Alles!«

»Dummkopf!« antwortete der Riese. »Denkst Du denn nicht an den Hauptmann?«

»An den? Der ist ja in der Residenz? Wie sollte der uns helfen können?«

»Und doch wird er uns helfen! Er ist überall!«

»Unsinn!«

»Ich weiß, was ich sage. Er ist überall, das heißt, er hat allüberall seine Verbündeten.«

»Mag sein! Aber wir kennen sie leider nicht.«

»Das ist nicht nöthig, denn wir werden sie kennen lernen.«

»Aber wie? Es ist überhaupt eine ganz verfluchte Patsche, in welcher wir da stecken! Und wer ist schuld daran?«

»Nun, wer?« fragte der Riese in giftigem Tone.

»Du natürlich!«

»Ich? Ah! Wie meinst Du das, he?«

»Hättest Du den Jungen nicht so malträtirt!«

»Der Bube verdiente es. Uebrigens, bin ich es allein gewesen, der ihm die Peitsche hat kosten lassen?«

»Aber nicht in der Weise wie Du! Und warum hast Du heute gesoffen, bis Du nicht mehr konntest?«

»Hört, macht mir den Kopf nicht warm! Ihr wißt, daß ich in dieser Weise nicht mit mir reden lasse! Man muß die Pflaumen nehmen, wie sie wachsen. Wir gehen über die Grenze, bis die Geschichte vergessen ist.«

»Das wird lange dauern. Und die Alte?«

»Pah! Die macht, was sie will! Ich bin ganz glücklich, daß ich sie losgeworden bin.«

»Das ist noch das einzig Gute bei der Geschichte. Aber woher nun Geld nehmen? Denn ohne dieses geht es nicht.«

»Das werden wir womöglich heute noch bekommen.«

»Möchte wissen, von wem?«

Der verlorne Sohn
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