»Dann erlauben Sie mir, zu meiner Entschuldigung noch ein Zweites zu meiner Legitimation beizutragen. Hier, bitte!«
Er zog sein Notizbuch hervor und nahm aus demselben ein mit einem großen Siegel versehenes Schreiben, welches er auseinander faltete und dem Beamten entgegen hielt. Dieser nahm es und las Folgendes:
»An sämtliche Civil-und Criminalbehörden des Landes.
Inhaber gegenwärtiger Legitimation ist mit einer Aufgabe höchst secreter Natur betraut. Es werden hiermit sämmtliche Behörden angehalten, ihm alle Hilfe und jedweden Beistand, den er begehrt, zu leisten, ohne weitere Fragen an ihn zu stellen. Vielmehr ist ihm in der Weise zu begegnen, wie man mir selbst begegnen würde!«
Nun folgte der Name der Residenzstadt, das Datum und die Unterschrift des Justizministers.
Der Staatsanwalt machte ein höchst erstauntes Gesicht. Er erhob sich ehrerbietig von seinem Stuhle, machte eine Verbeugung und entschuldigte sich: »Verzeihung, mein Herr! Das habe ich natürlich nicht ahnen können.«
»Ich weiß das recht wohl,« antwortete Arndt. »Ich wollte Ihnen nur beweisen, daß Sie es mit keiner Person zu thun haben, welche Sie vielleicht einer Bagatelle wegen Ihres so kostbaren Schlafes beraubt.«
Der Beamte fühlte die Ironie. Er erröthete vor Verlegenheit und antwortete: »Ich bin jeden Augenblick bereit, meine Pflicht zu thun. Aber bitte, wenn ich auch keine Erkundigung aussprechen darf, so ist es doch vielleicht nöthig, den Namen zu wissen, mit welchem bezeichnet zu sein Sie wünschen.«
»Ich gelte als der Vetter Arndt unseres guten Försters hier. Nennen also auch Sie mich immerhin bei diesem Namen!«
»Ganz wie Sie befehlen, Herr Arndt. Wir scheinen uns in einer eigenthümlichen Zeit zu befinden. Sie sind nicht die einzige geheimnißvolle Person, welche hier auftaucht.«
»Wer noch?«
»Nun, zunächst der Waldkönig –«
»Ich hoffe, daß dessen Geheimniß bald durchschaut sein wird.«
»Auch ich hoffe das, zumal ich glaube, bereits einen Zipfel des Vorhanges ergriffen zu haben.«
»Wirklich? Dann gratulire ich und wünsche, daß wir Hand in Hand gehen mögen. Aber, wen meinen Sie unter der zweiten geheimnißvollen Person?«
»Den Fürsten des Elendes!«
»Den! Kennen Sie ihn?«
»Nein. Aber er ist hier gesehen worden.«
»Von wem?«
»Vom Gerichtsdirector, von einem Actuar und vom Pfarrer unseres Nachbarstädtchens.«
»Nur von diesen Dreien?«
»Ja. Ich weiß keinem Vierten.«
»Ich weiß sogar einen Vierten und Fünften. Der Vierte nämlich ist hier Freund Wunderlich, und der Fünfte sind Sie selbst, Herr Staatsanwalt.«
»Ich?« fragte dieser verwundert.
»Jawohl.«
»Wie? Ich sollte den Fürsten des Elendes gesehen haben?«
»Ja. Aber sprechen wir nicht in der vergangenen Form, sondern in der gegenwärtigen: Sie sehen den Fürsten.«
Da machte der Beamte eine Bewegung des allergrößten Erstaunens und rief:
»Wäre es möglich! Sie selbst sind es?«
»Ja,« antwortete Arndt einfach.
»Ah! Nun begreife ich auch die ganz außerordentliche Vollmacht, welche Sie von Seiner Excellenz besitzen. Herr Arndt, ich stelle mich Ihnen natürlich in jeder Weise zur Verfügung.«
»Danke! Ich werde mich Ihres freundlichen Anerbietens gern bedienen. Und da fällt mir sogleich ein, was Sie vorhin in Beziehung auf den Vorhang sagten: Sie glauben, einen Zipfel desselben bereits in den Händen zu haben?«
»Ja. Freilich ist es auch sehr leicht möglich, daß ich mich irre.«
»Darf ich etwas über diesen interessanten Zipfel erfahren?«
»Gewiß! Zumal ich vorhin von Ihnen hörte, daß Sie sich hier befinden, um den Waldkönig zu fangen. Ich habe nämlich so eine kleine Ahnung, wer die Rolle des Pascherkönigs spielt.«
»Wirklich? Das wäre entweder ein Beweis Ihres Scharfsinns oder ein Fingerzeig, daß Sie mit dem Zufalle glücklich gespielt haben.«
Der Beamte zuckte einigermaßen stolz die Achsel, antwortete aber doch in möglichst bescheidenem Tone: »Es wird wohl das Letztere sein.«
»Also Zufall?«
»Ja, obgleich es nicht einem Jeden gegeben ist, einen glücklichen Zufall schnell und vollständig auszunützen.«
»Da stimme ich Ihnen bei, bin aber auch überzeugt, daß Sie der Mann sind, einen guten Zufall energisch bei den Hörnern zu fassen.«
»Das habe ich allerdings gethan, oder vielmehr, ich stehe noch im Begriffe, es zu thun.«
»So zögern Sie ja nicht! Aber, wollten wir nicht von dem erwähnten Zipfel sprechen?«
Der Anwalt warf einen bezeichnenden Blick auf den alten Förster Wunderlich und antwortete: »Ist das nicht auch eine secrete Angelegenheit?«
»Allerdings. Aber vor meinem alten, guten Vetter hier brauchen wir uns nicht zu geniren. Er ist mit in das Geheimniß gezogen und darf Alles hören, was wir zu besprechen haben.«
»Auch in Beziehung auf den Waldkönig?«
»Ja. Gerade in dieser Beziehung ist er meine rechte Hand gewesen, er und der Weber Eduard Hauser.«
»Dieser? Der Hauser?« fragte der Staatsanwalt erstaunt.
»Ja.«
»Eigenthümlich!«
»Wundert Sie das?«
»Gewiß! Haben Sie gehört, daß dieser Hauser arretirt worden ist?«
»Ja.«
»Kennen Sie auch den Grund dieser Arretur?«
»Ich hörte davon sprechen.«
»Und dennoch sagen Sie, daß er Ihr Verbündeter sei!«
»Er war es und ist es noch. Gerade seinetwegen sind wir Beide mitten in der Nacht zu Ihnen gekommen.«
»Ja, nur seinetwegen!« fiel der Förster mit seinem kräftigen Basse ein. »Wissen Sie, mit welcher Gelegenheit wir gekommen sind, Herr Staatsanwalt?«
»Mit Extrapost.«
»Ah! Warum?«
»Weil wir den Hausers Eduard gleich mitnehmen wollen.«
»Gleich mitnehmen? Das ist doch wohl ein etwas sanguinischer Vorsatz, mein lieber Herr Wunderlich!«
»Das Sanguinische geht mich den Teufel an. Ich weiß auch gar nicht, was dieses Wort zu bedeuten hat; aber mitgenommen wird der Hauser, das versteht sich ganz von selbst.«
»Sie werden sich aber doch noch für einige Zeit in Geduld fassen müssen, lieber Freund!«
»In Geduld? Der Kukuk hole die Geduld! Es giebt in allen Sprachen der Welt keinen so dummen Ausdruck wie das Wort Geduld! Der Hauser ist unschuldig!«
Der Beamte machte eine halb abwehrende Handbewegung und fragte, zu Arndt gewendet: »Sind auch Sie dieser Meinung, mein Herr!«
»Ehe ich die meinige ausspreche, möchte ich zuvor die Ihrige kennen, Herr Staatsanwalt. Es ist mir in dieser Angelegenheit so Manches unklar geblieben, daß ich erst von Ihnen den Zusammenhang hören muß. Hatten Sie Verdacht auf Hauser in Beziehung auf Schmuggelei oder auf den Waldkönig?«
»Nein. Ich kannte den jungen Mann ja gar nicht.«
»So hat man Ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt?«
»Ja, so ist es.«
»Wann?«
»Heute – oder vielmehr schon gestern, da Mitternacht jetzt bereits vorüber ist.«
»Wer hat das gethan?«
»Fritz Seidelmann.«
»Also doch! Ich hörte davon.«
»Er kam kurz nach Mittag zu mir und zeigte mir einen Brief, welchen Hauser unter dem Namen des Waldkönigs an den hiesigen Kaufmann Strauch geschrieben hat.«
»Ich wußte von diesem Briefe.«
»Ah, das ist nicht nur interessant, sondern sogar sehr wichtig. Wie haben Sie davon erfahren?«
»Hauser selbst hat es mir erzählt.«
»Wirklich? Und Sie haben ihn nicht gewarnt?«
»Es war bereits geschehen. Er hatte Sorge, daß dieser Brief ihm Ungelegenheiten bereiten könne, ich aber habe ihn beruhigt.«
»Hm! Die Ungelegenheiten haben sich doch eingestellt!«
»Sie sind vorübergehend. Man wird nicht im Stande sein, amtlicher Seits ein großes Gewicht auf den Brief zu legen.«
»Ich für meine Person lege allerdings keines darauf.«
»Man muß nur wissen, daß er ihn in einer gewissen Herzensangst geschrieben hat!«
»Ich weiß das.«
»Wie? Sie kennen sein Verhältniß zu Angelica Hofmann?«
»Ja. Sein Vater hat mir davon erzählt, und dann, als ich mit dem Liebespaare nach hier unterwegs war, haben mir Beide genug erzählt, um mich zu der Ueberzeugung zu bringen, daß Eduard Hauser ein braver Bursche ist.«
»Na, endlich!« rief da der Förster. »Sie sehen also ein, daß er brav ist?«
»Ja.«
»Und unschuldig?«
»Ich bin davon überzeugt.«
»So werden Sie ihn augenblicklich aus dem Loche lassen! Der Schlitten, in dem wir ihn holen wollen, wartet unten an der Hausthür.«
Arndt lächelte, und der Staatsanwalt meinte:
»Langsam, mein Lieber! Ich meinerseits bin zwar von seiner Unschuld vollständig überzeugt, aber das genügt doch noch nicht, ihn frei zu lassen.«
»Donnerwetter! Was genügt denn?«
»Die stehen hier! Da! Hier sind sie!«
Dabei schlug er sich mit den Fäusten auf die breite Brust, daß es ordentlich tönte.
»Das Gesetz verlangt andere Beweise, mein Bester!«
»Andere? Was für welche denn?«
»Positive!«
»Positive? Was heißt das? Was ist positiv? Bin ich nicht auch positiv? Bin ich etwa ein negativer alter Wunderlich?«
»O nein!« lachte der Staatsanwalt. »Gerade in diesem Augenblicke sind Sie ganz außerordentlich positiv!«
»Das will ich mir auch ausgebeten haben!«
»Aber selbst die positivste Persönlichkeit kann nicht als ein Beweis gelten. Ein Beweis ist etwas ganz Anderes.«
»Nun, was ist ein Beweis denn sonst?«
»Ein Beweis ist die logische und unwiderlegbare Begründung der Wahrheit dessen, was man behauptet hat.«
»Nun, bin ich etwa unlogisch?«
»Nein.«
»Können Sie mir meine Meinung widerlegen?«
»Nein.«
»Also bin ich ein Beweis, ein ganz und gar logischer und unwiderlegbarer Beweis von der Wahrheit meiner Behauptung.«
»Ah, gerade jetzt aber werden Sie unlogisch!«
»Wieso?«
»Eine Behauptung kann sich doch nicht selbst beweisen?«
»Der Teufel mag dieses philosophische Gerede verstehen. Ich weiß, was ich weiß: Der Hauser ist unschuldig und muß aus dem Loche heraus, und sollte ich selbst mich an seiner Stelle hineinstecken lassen! Verstanden?«
»Was würde Mutter Bärbchen dazu sagen?« fragte da Arndt.
»Pah! Die würde sagen: Alter, das hast Du sehr recht gemacht! Ich glaube gar, daß sie mir dann einen Kuß geben würde!«
»Im Loche?«
»Donnerwetter! Wollen Sie mich etwa foppen?«
»Nein, sondern ich will Ihnen nur sagen, daß wir doch wohl gezwungen sein werden, allein nach Hause zurückzukehren.«
»Also ohne den Eduard?«
»Ja. Er muß verhört und abgeurtheilt werden. Das Gesetz schreibt eben gewisse Wege vor.«
»So hole der Teufel Euer Gesetz! Das meinige ist besser! Ich handle schnell und augenblicklich. Warum habe ich den Hauser nicht arretirt? Warum habe ich ihn in Freiheit gelassen?«
»Wie?« fragte der Anwalt. »Hatten Sie denn Veranlassung oder Gelegenheit gehabt, ihn zu arretiren?«
»Er hat sich ja selbst bei mir angezeigt!«
»Als was?«
»Als Holzspitzbube.«
»Ah, das wirft ein sehr zweifelhaftes Licht auf ihn!«
»Zweifelhaft? Von zweifelhaft kann da auf keinem Fall die Rede sein. Das Licht, welches da auf ihn fällt, ist so hell und rein wie der liebe Sonnenstrahl!«
»Aber Holzdieb!«
»Verstehen Sie nicht falsch! Er wollte mausen!«
»Wollte?«
»Ja, aber er hat nicht gemaust!«
»Nun, dann konnten Sie ihn ja auch nicht arretiren?«
»O doch! In meiner Instruction steht, daß ich einen Jeden, der sich mit einer Säge im Walde blicken läßt, festnehmen soll.«
»So hatte er also eine Säge mit?«
»Ja. Er hatte Wochen lang gearbeitet, Tag und Nacht, ohne sich nur halb satt zu essen. Als er zu dem Seidelmann kam, gab ihm dieser keinen Lohn. Zu Hause gab es Hunger und Kummer, Kälte und Elend, kein Essen, kein Trinken, kein Oel, kein Holz, keine Kohlen. Das wandte sein Herz um. Er griff zur Säge und ging in den Wald, um sich ein abgestorbenes Stämmchen zu holen, an dem sich seine alten Eltern und seine kleinen, frierenden Geschwister erwärmen könnten. Das war des Abends.«
»Der Ärmste!« entfuhr es dem Anwalte.
»Ja, der Ärmste! Und dann aber, als die Säge das Holz berührte, war es ihm, als ob die Zähne des Sägeblattes ihm durch die innerste Seele gingen – er konnte nicht; er wollte lieber verhungern und erfrieren als ein Holzdieb werden. Was sagen Sie dazu, Herr Staatsanwalt?«
»Daß er ein zartes Rechtsgefühl, ein sehr sensitives Gewissen hat.«
»Ob sein Gewissen sensitiv ist, das weiß ich nicht, denn ich bin kein Thierarzt oder sonst ein Quacksalber; aber daß er ein braver Kerl ist, das weiß ich.«
»Aber was that er dann?«
»Hm! Er traf auf mich. Ich fragte ihn, und er erzählte mir ganz aufrichtig, in welcher Versuchung er sich befunden habe.«
»Nun, da ahne ich, daß Sie ihm geholfen haben.«
»Na, ich weniger als hier der Vetter! Aber das ist einerlei. Die Hauptsache ist, ob Sie zugeben, daß er brav gewesen ist.«
»Das leugne ich nicht.«
»Halten Sie einen so braven Jungen für einen Schmuggler?«
»Donnerwetter! Hier wird gar nicht ge-hmt! Hier wird fein ordentlich gesprochen! Glauben Sie, daß so ein Kerl, dem der Klang der Säge tief in die Seele schneidet, der Waldkönig sein kann?«
»Nein, das glaube ich nicht!«
»Das wollte ich wissen.«
Der Anwalt schüttelte leise den Kopf und bemerkte in beruhigendem Tone:
»Aber, mein Lieber, sie ereifern sich wirklich zuviel!«
»Soll ich das etwa nicht, wenn ich sehe, daß ein braver Kerl so unschuldig eingesteckt und eingesponnen wird? Ist Ihnen etwa oder vielleicht ein Ding bekannt, welches man die Criminalprozeßordnung nennt?«
»Ich sollte meinen,« antwortete der Anwalt lächelnd.
»Nun, ich habe dieses Ding zwar nicht studirt, aber ich muß Sie auf einen Punct aufmerksam machen, den Sie in diesem verwickelten Dinge ganz gewiß finden werden.«
»Welcher Punct wäre das?«
»Nun, nicht wahr, Eduard Hauser ist verdächtigt worden, der Waldkönig zu sein?«
»Ja.«
»Na, dann ist es Ihre Sache, ihm zu beweisen, daß er es wirklich ist; aber nicht seine Sache ist es, zu beweisen, daß er es nicht ist! Verstanden?«
»O, Sie sprechen laut genug, um verstanden zu werden!«
»Spreche ich auch laut genug, um von Ihnen Recht zu erhalten?«
»Ja.«
»Freut mich sehr, Herr Anwalt, zumal ich überzeugt bin, daß es Ihnen sehr schwer werden wird, den erwähnten Beweis zu führen.«
»Ich glaube, es wird mir nicht nur sehr schwer, sondern sogar unmöglich sein.«
»Schön! So lassen Sie ihn frei.«
»Doch nicht sofort?«
»Eigentlich wollte ich ohne ihn nicht fortgehen. Hm! Wenn nur diese verteufelten Spitzen nicht wären!«
»Das ist es ja! Man hat sie bei ihm gefunden.«
»Aber ist das etwa zum Einsperren?«
»Zunächst ist das kein Grund, ihn criminaliter vorzunehmen. Wer schmuggelt und dabei ergriffen wird, der wird gepfändet und muß Strafe zahlen. So auch Hauser. Gefängnißstrafe kann er wegen diesen Spitzen nicht bekommen.«
»Nun, so wiederhole ich: Lassen Sie ihn heraus!«
»Nur nicht so sanguinisch!«
»Donner und Doria! Ich weiß gar nicht, was Sie heute nur mit Ihrem Sanguinisch haben!«
»Das Verfahren muß den geordneten Weg einschlagen. Ich werde den Gefangenen heute gleich vernehmen, und dann wird sich zeigen, was zu thun ist. Ueberhaupt sind die Spitzen, welche man bei ihm gefunden hat, eben jener Vorhangzipfel, von dem ich vorhin sprach.«
»Wieso?« fragte Arndt.
»Er behauptet, nichts von diesen Spitzen zu wissen.«
»Soweit ich ihn kenne, ist er kein Lügner.«
»Auch auf mich hat er nicht den Eindruck eines Menschen gemacht, welcher dummer Weise eine erwiesene Thatsache in Abrede stellt. Aber wenn er wirklich die Wahrheit spricht, wie kommen dann die Spitzen in seinen Rock?«
»Hm!« brummte Arndt, der noch nichts sagen, sondern zuvor die Ansicht des Anwaltes erfahren wollte.
Dieser Letztere fühlte sich von dem gegenwärtigen Gedanken gepackt; er schritt, nachdenklich den Blick auf die Diele gerichtet, langsam im Zimmer auf und ab und meinte dabei: »Man müßte sie ihm heimlich hineinpracticirt haben?«
»So ist es!«
»Aber wer kann dies gethan haben?«
»Ein Feind von ihm.«
»Ganz recht! Wer aber ist dieser Feind?«
»Eine Frage, welche nicht leicht zu beantworten ist!«
»Gewiß! Und dennoch höre ich eine leise, innere Stimme, welche mir unaufhörlich eine Antwort wiederholt.«
»Diese inneren Stimmen haben oft sehr Recht. Der Criminalist soll auf sie hören.«
»Das möchte ich gern thun. Mir ist nämlich dieser Fritz Seidelmann nicht sympathisch.«
»Mir auch nicht,« meinte Arndt.
»Und mir noch weniger,« fügte der Förster hinzu.
»Sein Verhalten ist mir aufgefallen,« fuhr der Staatsanwalt nachdenklich fort.
»Wieso?«
»Fast möchte ich sagen, daß er mir verdächtig geworden ist. Zunächst beobachtete ich ihn nicht. Ich schenkte seinen Worten Vertrauen. Dann aber fiel mir nach und nach der Eifer, mit welchem er gegen Hauser agitirte, immer mehr auf. Sein Verhalten ließ auf einen glühenden Haß schließen. Später hörte ich von seinem Verhalten zu Hofmann’s Tochter, und es trat mir der Gedanke nahe, daß dieser Seidelmann nur unter dem Einflusse einer ungezügelten Rachsucht handle.«
»Wie lautete die Anzeige, welche er Ihnen erstattete? Nur auf den Brief?«
»Nein. Auch den Spitzenschmuggel erwähnte er.«
»Ah! Wie konnte er davon wissen?«
»Er hatte Hauser belauscht.«
»Wann?«
»Am Abende, nach der Maskerade. Er war ihm und dem Mädchen gefolgt, um zu hören, was sie sprechen würden.«
»Und sie haben von dem Spitzenschmuggel gesprochen?«
»Nein. Aber als Hauser von dem Mädchen fortgegangen ist, hat er sich nicht, wie doch zu erwarten gestanden hätte, nach Hause begeben.«
»Wohin sonst?« fragte Arndt gespannt.
»Er ist mit einem Manne zusammengetroffen, mit dem er sich jedenfalls bestellt gehabt hat.«
»So! Hm! Eigenthümlich! Wer ist dieser Mann gewesen?«
»Ein Schmuggler.«
»Woher will Seidelmann das wissen?«
»Aus dem Gespräch, welches er belauscht hat. Hauser hat nämlich mit dem Fremden die Spitzenpascherei besprochen.«
»Und das hat Seidelmann belauscht?«
»Ja.«
»Lüge!«
Der Anwalt blieb, als Arndt dieses Wort stark und mit Nachdruck aussprach, rasch stehen und fragte: »Lüge? Haben Sie einen Grund, Seidelmann’s Aussage für eine Lüge zu halten?«
»Ja.«
»Welchen?«
»Hauser hat mit dem Fremden kein einziges Wort von Pascherei gesprochen. Es ist auch von Spitzen keine Rede gewesen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Sehr einfach: Ich selbst war der Fremde, von welchem Sie soeben gesprochen haben.«
Das machte einen überraschenden Eindruck auf den Staatsanwalt.
»Sie selbst?« fragte er.
»Gewiß! Ich wußte, daß Hauser zur Maskerade gehen werde. Ich ahnte, daß ihm da Gefahr drohe. Ich ging also in die Schänke, um ihm nöthigenfalls beizustehen. Ich kam auch wirklich in die Lage, Fritz Seidelmann zu packen und zurückzuwerfen. Dann ging ich, um mit Hausern zu sprechen.«
»So lügt also Seidelmann?«
»Gewiß.«
»Das, was er erlauscht haben will, ist ersonnenes Zeug?«
»Ohne allen Zweifel!«
»So fällt ein ganz und gar eigenthümliches Licht auf ihn: Er hat die Absicht gehabt, Hauser als Pascher zu verdächtigen.«
»Und um dieser Absicht Nachdruck zu geben, hat er –«
»Hat er die Spitzen in Hauser’s Rock practicirt, wollen Sie sagen?« fiel der Anwalt schnell ein.
»Das will ich allerdings sagen.«
»Dieser Gedanke liegt allerdings sehr nahe. Aber, wie soll Seidelmann das angefangen haben?«
»Hm! Er hat sich in Hauser’s Wohnung geschlichen.«
»Sie sprechen da meine eigene Vermuthung aus. Ich dachte ganz das Ähnliche bereits, als ich mich bei Hauser’s befand, und mich erkundigte, ob man des Nachts unbemerkt in das Haus eindringen könne.«
»Welche Antwort wurde Ihnen?«
»Der Alte sagte, daß Jedermann durch die Hinterthüre herein könne. Aber Eduard Hauser hat seinen Rock stets in der Stube gehabt, und die ist stets verschlossen.«
»Aber außerordentlich leicht zu öffnen.«
»Auf welche Weise?«
»Die Thür hat kein Kastenschloß, sondern eines jener hier in dieser Gegend gebräuchlichen Schlösser, zu welchen nicht ein Schlüssel, sondern ein Drücker gehört, welcher eingeschraubt wird. Alle diese Drücker sind sich ähnlich oder sogar gleich. Ein Jeder kann mit seinem Drücker die Thür eines Andern öffnen.«
»Daran habe ich nicht gedacht. Auf diese Weise hätte Seidelmann freilich sehr leicht in Hauser’s Stube kommen können. Aber hier gelten nur Beweise. Vermuthungen wiegen zu leicht.«
»Gut! Ich werde den Beweis liefern.«
»Sie, Herr Arndt? Das wäre!«
»Ja, ich! Ich habe nämlich ganz genau gesehen, daß Fritz Seidelmann sich an Hauser’s Laden schlich, um in die Wohnstube zu spioniren.«
»Können Sie das beschwören?«
»Ja. Aber ein Schwur wird nicht nöthig sein.«
»Wann ist das gewesen?«
»Nach meiner Unterredung mit Hauser, welche Seidelmann belauscht haben will.«
»Trat er in das Haus?«
»Nein. Er ging nach Hause.«
»O weh! So ist eben nichts bewiesen.«
»O doch! Nun eben kommt die Hauptsache! Ich schlich ihm nach.«
»Und Sie machten vielleicht eine Entdeckung?«
»Eine sehr wichtige. Nämlich Fritz Seidelmann befand sich nebst seinem Vater und seinem Oheim in einem Zimmer, welches nach dem Garten hinaus liegt. Ich fand eine Leiter und legte sie an eines der Fenster dieses Zimmers an –«
»Sie scheinen Ursache zu haben, diese Leute sehr genau unter Ihre Beobachtung zu nehmen.«
»Sie werden darüber noch Weiteres hören. Also, ich lauschte. Was gesprochen wurde, konnte ich nicht hören; aber ich sah, daß ein Bild von der Wand genommen wurde. Hinter demselben war eine Oeffnung, und darinnen befand sich – rathen Sie!«
»Das Rathen würde mir schwer werden!«
»Ist hier aber eigentlich leicht. In dem Loche befanden sich nämlich – Spitzen.«
»Spitzen?« fuhr der Staatsanwalt empor.
»Spitzen?« rief auch der Förster.
»Ja, Spitzen.«
»Weiter, weiter!«
»Von diesen Spitzen wurde ein ziemlich langes Stück abgeschnitten.«
»Wozu?«
»Das sah ich leider nicht. Das Zimmer war hell erleuchtet. Das Licht fiel auf mich. Ich konnte sehr leicht bemerkt werden. Ich zog mich also zurück und ging nach Hause.«
»Wie schade! Jammerschade!«
»O, noch ist nichts aufzugeben! Resummiren wir: Fritz Seidelmann will Hauser’s Geliebte verführen; es gelingt ihm nicht; er will sich rächen; er schleicht sich an Hauser’s Laden und recognoscirt dessen Stube; einige Minuten vorher ist Eduard Hauser nach Hause gekommen und entkleidet sich; er legt seinen Rock auf den Tisch und geht schlafen; das sieht Seidelmann; er eilt nach Hause, holt ein Stück Spitze, schleicht sich in Hauser’s Stube ein und näht die Spitze in Hauser’s Rockfutter. Am anderen Tage geht er zu Ihnen und zeigt Hauser an, zufälliger Weise unterstützt von Hauser’s Brief. Hauser wird arretirt, ohne von den Spitzen eine Ahnung gehabt zu haben.«
Der Staatsanwalt hatte fast athemlos zugehört.
»Welche Combination!« rief er jetzt.
»Halten Sie dieselbe für zu gewagt?«
»Sie ist gewagt; aber doch erscheint sie so natürlich und folgerichtig, daß ich mich Ihrer Meinung unbedingt anschließen möchte. Ich sehe, Herr Arndt, welch ein scharfer Kopf Sie sind.«
»Danke! Lassen wir aber der Combination den Beweis folgen.«
»Sie meinen?«
»Sie sind natürlich im Besitze der Spitze, welche bei Hauser entdeckt wurde?«
»Natürlich! Sie gehört zu den Acten.«
»Diese Spitze muß mit dem Stücke, von welchem sie abgeschnitten wurde, genau zusammenpassen.«
»Gewiß! Man muß sich also zu Seidelmann’s begeben.«
»Das ist unerläßlich. Aber noch Eins: der Zwirn.«
»Wieso dieser?«
»Nun, glauben Sie, daß Fritz Seidelmann bei Hauser’s nach Zwirn gesucht hat?«
»Keinesfalls. Er hat natürlich Zwirn und Nadel von zu Hause mitgenommen.«
»Nun, so gilt es zu entdecken, welche Sorte Zwirn es war. Wie haben Sie Hauser’s Rock geöffnet?«
»Ich habe mit dem Federmesser einen Riß in das Futter geschnitten.«
»Nicht die Naht aufgetrennt?«
»Nein. Dazu gab es im Walde keine Zeit.«
»Das ist gut. Man wird also die Naht ganz unverletzt vor sich haben.«
»Gewiß! Und man wird sehr leicht erkennen, ob die ursprüngliche Naht von fremder Hand aufgetrennt und dann mit einem andern Zwirn wieder zugenäht wurde. Wollen wir das vielleicht jetzt untersuchen?«
»Wo haben Sie den Rock?«
»In meinem Arbeitszimmer. Als ich mit den beiden Gefangenen hier ankam, waren die Expeditionen bereits geschlossen. Ich gab also die Inhaftaten ab und nahm das Andere mit nach meiner Privatwohnung.«
»So bitte, holen Sie ihn! Aber, hat Hauser den Rock nicht anbehalten?«
»Nein; er zog ihn aus, als sein Arm verbunden wurde und legte dann einen anderen an – den sogenannten Sonntagsrock.«
Er entfernte sich. Der Förster fragte:
»Und das, was Sie da erzählt haben, haben Sie wirklich Alles gesehen, Herr Vetter?«
»Aber, zum Donnerwetter! Warum haben Sie mir denn gar nichts davon gesagt?«
»Hatte ich Zeit?«
»Warum nicht?«
»Nun, als ich nach Hause kam, fand ich ja gar nicht Gelegenheit, Ihnen Etwas zu erzählen. Sie hatten es mit Ihrer Hundepost gar zu eilig.«
»Aber unterwegs!«
»Pah! Wir flogen so schnell vorwärts, daß mir fast der Athem versagte. Wer mag da plaudern!«
»Hm! Das ist richtig. Also wollen wir – ah, da kommt der Herr Anwalt mit dem Rocke!«
Der Beamte breitete den Rock auf dem Tische aus und stellte die Lampe so, daß sie das Kleidungsstück hell beleuchtete.
»Sapperment!« meinte der Förster. »Blut! Dieser arme Junge hat wirklich stark geschweißt.«
»Es ist nicht gefährlich. Sorgen Sie sich nicht um ihn,« bemerkte der Anwalt. »Also hier sehen Sie den Schnitt, welchen ich gemacht habe und hier ist der Rand und die Naht.«
»Richtig!« sagte Arndt. »Meine Vermuthung hat mich nicht getäuscht. Der Schneider hat mit Seide genäht; hier unten sehen Sie die Stelle, welche geöffnet worden ist.«
»Und wieder mit Zwirn zugemacht!«
»Und zwar in großen, schlechten, eiligen Stichen.«
»Man wird sehen, ob bei Seidelmanns diese Zwirnnummer zu finden ist. Ich werde mich mit einem Protokollanten und den Polizeiorganen bereits am Vormittage zu ihnen begeben. Es liegt hier eine Gewissenlosigkeit, eine Raffinerie vor, welche ihres Gleichen sucht.«
»Und welche auf noch Weiteres schließen läßt,« meinte Arndt.
»Haben Sie mit diesen Worten etwas Bestimmtes im Sinne?«
»Gewiß. Wozu brauchen Seidelmanns die Spitzen?«
»Für ihren Privatbedarf, werden Sie sagen.«
»Warum verstecken sie diese Spitzen aber in so auffälliger Weise?«
»Hm!«
»Warum giebt Seidelmann sich solche Mühe, Hauser als Waldkönig erscheinen zu lassen?«
»Ich habe allerdings eine Ahnung; aber sie ist mir wirklich zu ungeheuerlich.«
»Ich bitte, sie mir dennoch mittzutheilen.«
»Sollten Seidelmanns pasch en?«
»Ich meines Theils, bin sehr überzeugt davon.«
»Ah! Wirklich? Haben Sie Veranlassung zu dieser Annahme?«
»Gewiß.«
»So sprechen Sie, sprechen Sie! Sie machen ein Gesicht, als ob Sie noch Vieles, Vieles wüßten.«
»Ich weiß allerdings Einiges, was ich Ihnen mittheilen muß. Ich halte die Seidelmanns nämlich nicht nur für Pascher, sondern ich bin sogar beinahe überzeugt, daß Vater und Sohn den Waldkönig spielen.«
Der Staatsanwalt trat erschrocken zurück.
»Herrgott! Wäre das möglich!« rief er aus.
»Es ist sogar sehr wahrscheinlich.«
»Welch eine Voraussetzung! Welch ein Gedanke! Der bedeutendste Kaufmann der Umgegend ist der Pascherkönig! Aber Sie haben bisher einen solchen Scharfblick gezeigt, daß es mir jetzt schwer wird, an Ihnen zu zweifeln. Welch ein Unglück! Welch eine Schande!«
»Unglück? Schande? Für wen? Ich halte es im Gegentheile für ein Glück, wenn der Waldkönig ergriffen wird.«
»Ganz gewiß! Aber ich dachte in diesem Augenblick an eine mir gut bekannte Familie, der ich diesen Schlag unmöglich gönnen kann.«
»Warum ein Schlag für sie?«
»Es sind die Schwiegereltern Seidelmanns.«
»Wohl brave Leute?«
»Sehr. Der Mann ist ein kleiner Beamter, welcher hier seine kärgliche Pension verzehrt. Er heißt Mothes.«
Da hob Arndt den Kopf empor. Als er den Namen hörte, stieg ein plötzlicher Gedanke in ihm auf.
»Mothes?« fragte er. »Sie sagen, daß Sie mit diesen Leuten bekannt sind?«
»Sehr gut.«
»Haben sie Kinder?«
»Nur die eine Tochter, welche mit Seidelmann verheirathet ist.«
»Ist Ihnen vielleicht der Vorname derselben bekannt?«
»Ja. Sie heißt Therese.«
»Ah! Also doch!«
Diese Worte waren mit einem solchen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, daß der Anwalt erkannte, daß sie eine Bedeutung hätten. Er fragte: »Sie haben bei dieser Erkundigung einen gewissen Zweck?«
»Ja, einen Zweck, welcher mit dem Gegenstande unserer Unterredung in inniger Beziehung steht. Vetter Wunderlich, haben Sie den Betttuchzipfel, welchen wir draußen bei den Tannen fanden, bereits abgegeben?«
»Ja. Der Obergensd’arm hat ihn bekommen.«
»Erinnern Sie sich des Buchstabens, welcher darauf stand?«
»Ja; es war ein T.«
»Und dann erzählte ich Ihnen, daß ich das Betttuch untersucht habe, als der Waldkönig mit Hauser sprach?«
»Ja. Da haben in der Ecke die beiden Buchstaben T und M gestanden?«
»Richtig! Wir haben geforscht, wessen Namen mit T und M beginnt, aber vergebens. Jetzt haben wir es.«
»Sakkerment! Was?«
»Nun, haben Sie es nicht gehört? Therese Mothes.«
Der Alte öffnete den Mund, so betroffen fühlte er sich.
»Da schlage doch das Wetter drein!« meinte er. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Frau Seidelmann, die geborene Therese Mothes, der Waldkönig ist!«
»Nein. Aber als wir nach dem Namen forschten, haben wir gar nicht daran gedacht, daß viele Wäschestücke zur Ausstattung gehören und also mit dem Namen der Frau gezeichnet sind. Der Waldkönig hat sich eines solchen Betttuches bedient.«
»Richtig! So muß es sein, anders nicht! Daß wir auch nicht früher auf diesen Gedanken gekommen sind.«
Der Anwalt hatte unter großem Staunen diesen Reden zugehört. Jetzt nun konnte er nicht länger schweigen. Er fragte: »Verstehe ich Sie recht, Herr Arndt? Der Waldkönig hat mit Eduard Hauser gesprochen?«
»Und Sie sind dabeigewesen?«
»Ja.«
»Wo und wann war das?«
»Am letzten Sonntage, im Walde, auf der Straße, welche nach dem Forsthause führt.«
»Und das erfahre ich erst jetzt und nur so nebenbei!«
»Nicht nebenbei. Ich bin vielmehr gekommen, Ihnen das Alles mitzutheilen.«
»So sprechen Sie! Sie sehen mich in einer Spannung, wie ich sie in meinem Leben noch selten empfunden habe. Sie sagten vorhin, daß Sie gekommen seien, den Waldkönig zu fangen. Sie wissen mehr, als Sie mich vermuthen ließen. Ich beginne, zu glauben, daß der Pascherkönig seine Rolle sehr bald ausgespielt haben wird.«
»Sie irren, wenn Sie von dem Pascherkönige sprechen.«
»Wie meinen Sie?«
»Man muß nicht von dem Pascherkönige, sondern von den Pascherkönigen sprechen.«
»Warum?«
»Weil es mehrere giebt.«
Der Anwalt machte ein Gesicht wie Einer, der etwas ganz und gar Unbegreifliches zu hören bekommt.
»Ja.«
»Ich verstehe Sie nicht. Es kann ja nur einen einzigen Pascherkönig geben!«
»Meinen Sie? Haben Sie die Thaten dieses unheilvollen Wesens mit Aufmerksamkeit verfolgt?«
»Natürlich! Es ist das ja meine Pflicht und Schuldigkeit.«
»Kennen Sie auch den Schauplatz seiner Thätigkeit?«
»Es ist die Grenze in ihrer ganzen Ausdehnung.«
»Ist Ihnen nicht zuweilen aufgefallen, daß der König an einem und demselben Tage an zwei verschiedenen Orten, welche wohl zwanzig Meilen von einander entfernt sind, gesehen worden ist?«
»Ja. Es war mir das unbegreiflich. Die niedere Bevölkerung glaubt daher, daß er hexen könne.«
»Die ganze Hexerei besteht einfach darin, daß es mehrere Waldkönige giebt. Der hiesige gehört unbedingt zur Familie Seidelmann.«
»Herr Arndt, Sie setzen mich allerdings in’s größte Erstaunen. Sie befinden sich erst seit einigen Tagen hier und zeigen sich unterrichteter als alle Grenzer und Polizisten, die bereits seit Jahren den Paschern nachgespürt haben!«
»Pah! Ich bin Polizist!«
»Und was für Einer! Die Anderen sind es auch. Ich sehe natürlich ein, daß Sie sehr guten Grund gehabt haben, mich aus dem Schlafe zu wecken. Ihr Verdacht gegen Seidelmanns erscheint mir nicht mehr ungeheuerlich. Und wie ich vermuthe, haben Sie bereits entsprechende Indicien gesammelt?«
»Sie vermuthen richtig. Ich werde Ihnen diese Indicien nicht vorenthalten. Zunächst gebe ich Ihnen die Möglichkeit an die Hand, Seidelmann als den Mörder des Grenzoffiziers, welcher am Freitag erschossen wurde, anzuklagen.«
»Herrgott! Ist’s möglich?«
»Ja. Wir haben einen Zipfel von Seidelmanns Betttuch auf dem Thatorte gefunden, und ich kann nachweisen, daß der Waldkönig, also Seidelmann, sich bei seinen nächtlichen Ausgängen stets eines Betttuches bedient.«
Er erzählte jetzt, daß er mit dem Förster nach den drei Tannen gegangen sei, um den Ort des Verbrechens zu untersuchen, und trug ihm dann seine Erklärungen vor. Der Anwalt hörte ihm in größter Spannung zu und sagte am Ende des Berichtes: »Gewiß, Sie sind ein polizeiliches Genie, Herr Arndt. Woran Keiner von uns gedacht hat, daran denken Sie zuerst, und dann tragen Sie das in einer Weise vor, daß man nicht nur vollständig überzeugt wird, sondern sich auch noch wundert, daß man nicht selbst sogleich darauf gelcommen ist.«
Arndt erzählte weiter. Als er so weit gekommen war, daß er mit Hauser bei der Eiche gelegen hatte, sprang der Anwalt auf und sagte: »Nein, nein! Völlig unbegreiflich! Warum ist denn Keiner von uns auf diesen Gedanken gekommen? Also dieser Bormann befand sich dort?«
»Ja.«
»Und wir haben ihn überall gesucht, nur gerade dort nicht. Haben Sie die Schrift in dem Kästchen enträthseln können?«
»Gewiß. Eduard Hauser hat mitgeholfen. Es hieß, daß man Auskunft bei Laube auf dem Schachte erhalten könne.«
»Wer ist dieser Laube?«
»Der Nachtwächter.«
Und Arndt erzählte immer weiter. Der Anwalt schien vor Erstaunen die Sprache zu verlieren. Erst als Arndt schwieg, weil er nun nichts mehr mitzutheilen hatte, sagte er: »Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit! Was ich da höre, das ist so wichtig und kommt so unerwartet, daß ich mich erst zu fassen habe.«
Er begann seine Wanderung durch das Zimmer wieder. Endlich nahm er abermals auf dem Stuhle Platz und sagte: »Herr Arndt, ich darf nicht fragen, wer Sie sind – –«
»Ich würde es Ihnen auch nicht sagen.«
»Aber ich hoffe, daß die Zeit einmal kommt, in welcher ich es erfahren werde. Seien Sie, wer Sie wollen, das ist gewiß, daß man Ihnen großen Dank schulden wird. Das, was wir trotz aller Anstrengung nicht erreichten, das bringen Sie uns geradezu auf dem Präsentirteller herbeigetragen. Ich bin mir in Allem klar geworden und weiß, was ich zu thun habe. Vorher noch einige Fragen!«
»Ich stehe zur Verfügung.«
»Sie wissen nicht, wohin der Bormann ist?«
»Nein.«
»Der Nachtwächter Laube ist also wirklich eingeweiht?«
»Ja.«
»Sie haben den frommen Schuster gewiß erkannt?«
»Ganz gewiß.«
»Und heute auch seinen Bruder?«
»Vernehmen Sie den Pfarrer und den Gensdarmen.«
»Also der Wächter giebt das Zeichen mit einer Glocke?«
»Er muß viermal klingeln, hatte aber die Anweisung, es heute fünfmal zu thun.«
»Wie aber kommen die Seidelmanns auf den Schacht?«
»Vielleicht durch einen unterirdischen Gang.«
»Sollte es einen Stollen geben, der ihr Haus mit dem Schachte verbindet? Das ist doch kaum anzunehmen.«
»Vielleicht datirt ein solcher Stollen von einem früheren, eingegangenen Werke.«
»Möglich. Wir haben alte Zeichnungen und Sitationspläne in Masse daliegen. Ich werde einmal nachschlagen. Wann soll jener Coup ausgeführt werden?«
»Zwei Uhr nach Mitternacht am diesseitigen Ausgange des Haingrundes.«
»Ah! Wir werden dieses Mal diese Kerle ganz sicherlich ergreifen!«
»Wenn sie Ihnen entkommen, sind Sie selbst schuld.«
»Wollen Sie sich nicht betheiligen?«
»Vielleicht. Ich habe einen Ausflug nach Schloß Hirschenau vor. Kehre ich zur rechten Zeit zurück, so werde ich mich Ihnen gern anschließen.«
»Ich würde mich natürlich sehr freuen, Sie zu sehen. Aber, da fällt mir ja ein, daß ich bereits am Vormittage zu den Seidelmanns wollte!«
»Der Spitzen wegen?«
»Ja. Das werde ich nun freilich unterlassen müssen.«
»Warum?«
»Um keine Sorge bei ihnen zu erwecken.«
»Ganz recht. Wenn Sie nach den Spitzen und dem Zwirn suchen, so muß Seidelmann natürlich auf den Gedanken kommen, daß er sich in Gefahr befindet. Es läßt sich vermuthen, daß er dann den Paschercoup für die Nacht unterläßt.«
»Gewiß. Ich werde also nicht zu ihm gehen.«
»Aber nachdem Sie die Schmuggler im Haingrunde aufgehoben haben, werden Sie sich dann sofort zu Seidelmanns bemühen. Es ist mein Wunsch, daß der unschuldige Hauser möglichst bald entlassen werden könne.«
»Tragen Sie keine Sorge! Ich bin von seiner Unschuld jetzt noch mehr überzeugt als vorher und werde ihm ein Privatstübchen anweisen lassen. Er soll nicht in der Zelle bleiben.«
»Und das Engelchen?« fragte der Förster. »Die steckt auch im Loche! Was wird mit ihr?«
»Darauf kann ich genaue Antwort jetzt noch nicht ertheilen, gebe Ihnen aber die Versicherung, daß ich mein Möglichstes thun werde, ihre Gefangenschaft abzukürzen.«
»So ein gutes, braves Mädchen im Gefängnisse!«
»Sie wird ihre Lage nicht so schwer empfinden, wie Sie dieses meinen. Ich habe ihr eine Zelle angewiesen, in welcher sie passende Gesellschaft findet.«
»Passende Gesellschaft? Donnerwetter, im Loche! Welche Gesellschaft könnte das wohl sein?«
»Auguste Bey er.«
»Ja.«
»Auch eine Unschuldige! Himmeldonnerwetter! Wenn ich daran denke, so läuft mir die Galle über! Na, Sie können ja nichts dafür! Daran ist der Lump, der Seidelmann schuld. Aber wehe ihm, wenn ich ihn einmal so zwischen meine Fäuste bekomme! Er hat dann sicher auf dem letzten Loche gepfiffen!«
»Sie halten also diese Beyer auch für unschuldig?«
»Natürlich! Was soll sie denn sein?«
»Hm? Es wird auch ihr zum Vortheile gereichen, wenn Seidelmann als Waldkönig ergriffen wird. Seine Anzeige verliert dann den größten Theil ihrer Glaubhaftigkeit.«
»So machen Sie nur auch, daß Sie ihn wirklich bekommen!«
»Darüber brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Herr Arndt hat mir Alles so ausführlich erzählt, daß ich meine Vorbereitungen auf das Vortrefflichste einzuleiten vermag. Werden auch Sie mit dabei sein, Herr Wunderlich?«
»Ich möchte wohl.«
»Gut! Um zwei Uhr kommen die Pascher. Gerade um Mitternacht werde ich im Forsthause eintreffen, um zu sehen, wer von Ihnen sich mir anschließen mag. Ich bin so aufgeregt, daß ich nicht mehr schlafen kann. Ich bleibe gleich wach, um meine Arrangements zu treffen. Sie aber werden der Ruhe bedürfen. Ich kann Sie nicht länger aufhalten.«
»Na, ich bin einverstanden. Ich muß zwar ohne den Hauser fort, aber er wird wohl bald nachkommen. Gute Nacht!«
Der Anwalt geleitete sie selbst bis an die Thür. Er wunderte sich nicht wenig, als er das Hundefuhrwerk erblickte.
»Sie sehen, wozu sich ein Polizist verstehen muß,« lachte Arndt. »Das ist heute meine Amtsequipage.«
»Aber ein tüchtiges Gespann!« sagte der Förster. »Ehe wir die Hand umdrehen, werden wir zu Hause sein!«
Eine Minute später flogen sie davon, wie von der Gewalt eines Sturmes getrieben. – –