»Was soll mit ihm werden? Ihm können sie gar nichts anhaben; er ist nicht dabei gewesen.«

»Das meine ich auch gar nicht. Sein Mädchen hat Dich bei der Maskerade sitzen lassen – – –«

»Ärgerliche Geschichte!«

»Sie hat heute auf Dich geschossen – – –«

»Das danke ihr der Teufel!«

»Ihr Vater ist kein guter Arbeiter. Du hast nur wegen seines Mädchens Nachsicht mit ihm gehabt.«

»Das ist wahr. Das hört aber nun auf!«

»Eben deshalb frage ich, was mit ihm werden soll.«

»Nun, was weiter als ein Hungerleider! Ich gebe ihm ganz natürlich keine Arbeit mehr. Ich werde gleich früh zu ihm gehen und es ihm sagen. Hat er noch nicht angefangen, so lasse ich das Material gleich wieder holen. Er mag einsehen, daß es nicht vortheilhaft ist, der Vater eines dummen Mädchens zu sein.«

»Meinetwegen gehe zu ihm! Das Beste bei der ganzen Sache ist, daß man den Hauser für den Pascherkönig hielt. Wir werden einige Zeit lang mit allergrößter Sicherheit operiren können.«

»Das war ja eben meine schlaue Berechnung! Man wird natürlich annehmen, daß nun, wo der Anführer gefangen worden ist, die Pascher gar nicht daran denken können, etwas zu unternehmen.«

»Darum bin ich überzeugt, daß morgen Alles auf das Prachtvollste gelingen wird. Und aus diesem Grunde ärgerte ich mich, daß Du gar nicht kamst!«

»Du brauchst mich doch nicht!«

»Sogar nothwendig! Wir wollen morgen zwei Fliegen auf einen Schlag fangen, und zwar was für Fliegen! Da müssen wir alle Schlauheit anwenden. Die beiden anderen Waldkönige müssen benachrichtigt werden.«

»Der Schmied Wolf in Tannenstein?«

»Ja, und der Wagner Hendschel in Obersberg. Sie Beide müssen zu gleicher Zeit operiren, damit sie die Grenzer auf sich ablenken.«

»Dann brauchen wir die beiden Boten.«

»Ja. Ich kann nicht zu ihnen; das ist Deine Sache, und darum hätte ich gern gesehen, Du wärst eher gekommen.«

»Es ist noch immer Zeit. Den Hundejungen hätte ich ja vor Mitternacht gar nicht zu Hause getroffen.«

»Hat er heute Tagesschicht?«

»Ja. Er fährt erst morgen um Mitternacht an und hat also Zeit, nach Tannenstein zu gehen. Ich werde ihm aber den Brodkorb höher hängen müssen. Am letzten Male verlangte er zwei Gulden. Ist das nicht unverschämt?«

»Zwei Gulden? Also gerade noch einmal so viel!«

»Ja. Bis Tannenstein ist es vier Stunden zu gehen. Zwar ist es jetzt ein mühsamer Weg, denn der Schnee liegt über einen Meter hoch; aber wenn so ein Kerl sich in acht Stunden einen Gulden verdienen kann, so muß er seinem lieben Gott dafür danken.«

»So nimm ihn heute etwas schärfer an!«

»Das werde ich ganz sicher thun. Noch mehr zu schaffen macht mir Wilhelmi.«

»Der Musterschläger! Das glaube ich nicht!«

»O, er gehorcht nur widerwillig. Es hat den Anschein, als ob er mich bei Gelegenheit abschütteln will.«

»Das wird er sich nicht unterstehen. Du hast bereits davon gesprochen, und darum habe ich mir heute Mühe gegeben, ihn gefügig zu machen.«

»Was hast Du gethan?«

Seidelmann Senior erzählte, daß er die Muster nicht für Originale erklärt und in Folge dessen dem Musterzeichner kein Geld gegeben habe.

»Das war klug gehandelt,« sagte sein Sohn. »Jetzt hat er nichts zu essen und wird gehorsam sein.«

»So kannst Du aufbrechen, sonst geht er schlafen.«

»Der? Glaube das nicht! Er hat kein Geld; er will und muß leben; er wird also heute Nacht arbeiten; er wird ein neues Muster in Angriff nehmen.«

»Vielleicht hast Du Recht, und es ist besser, wenn Du etwas später gehst.«

»Ich bin sogar dazu gezwungen. In der Schänke sitzen noch Leute. Hauser’s Arretur hat das ganze Nest in Aufruhr gebracht. Die Nachbarn stecken bei einander, um dieses Ereigniß zu besprechen. Wie leicht kann ich Einem begegnen. Ich muß warten, bis man nach Hause gegangen ist.«

Sein Vater gab das zu, und so legte Fritz erst eine Stunde später die Jacke und die Maske an. Er ging durch den Garten und stieg über den Zaun. Dann lauschte er. Es war kein Mensch zu sehen und zu hören. Er hielt sich möglichst in dem Schatten der Gebäude und begab sich zunächst nach einem Häuschen, welches neben demjenigen lag, in welchem der Musterzeichner Wilhelmi wohnte.

Auch hier gab es ein kleines Oberstübchen, welches ein blutarmer Teufel inne hatte. Dieser hieß Schulze. Er war früher Hauer gewesen, hatte aber bei einem Einsturze des Stollen einen Arm verloren und konnte jetzt weiter nichts thun, als Hunde schieben.

Hunde heißen diejenigen vierrädrigen Karren, in denen in Bergwerken auf Schienen das Losgeschlagene transportirt wird. Einer, dessen Arbeit es ist, Hunde zu schieben, wird Hundejunge genannt.

Schulze hatte heute Tagesschicht gehabt und kam in Folge dessen erst nach Mitternacht nach Hause. Auch in seiner Wohnung sah es elend aus. Seine Frau saß bei einem Lämpchen am Klöppelsacke und arbeitete. Auf einer harten Bank lag ein bleiches Kind, ein Mädchen, welches nicht laufen konnte, trotzdem es bereits drei Jahre war. Es litt an der englischen Krankheit, eine Folge der vollständig ungenügenden Ernährungsweise. Und in der Ecke hockte ein älterer Knabe, vorn und hinten ausgewachsen. Bei ihm waren, auch infolge Nahrungsmangels, die Knochen weich geblieben und hatten sich in ihre jetzige Lage gebogen.

Als der Mann nach Hause kam, grüßte er mürrisch und sagte pustend:

»Eine wahre Heidenkälte! Es ist geradezu, als wollte es Einem die Finger wegschneiden. Wie steht es mit dem Feuer?«

Die Frau seufzte und bückte sich tiefer auf die Arbeit. Der Mann legte die Hand an den Ofen und meinte dann: »Kalt! Habt Ihr denn kein Feuer gehabt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Wir hatten kein Holz. Ich konnte nicht in den Wald, weil ich sonst nicht fertig geworden wäre. Ich muß übermorgen liefern, wenn ich Geld haben will.«

»Aber der Junge konnte doch in den Wald!«

»Ich bin gestürzt!« sagte der Verwachsene.

»Ja,« erklärte die Frau. »Ich schickte ihn fort. Er sollte sehen, ob er im Wald ein Wenig Abgebrochenes finden könne. Er ist über eine Wurzel gestürzt, die unter dem Schnee gewesen ist, und hat sich den Fuß verstaucht. Der alte Barbier hat ihn gefunden und nach Hause gebracht.«

»Wieder Mallör! Es wird immer schlimmer. Ich dachte, schlafen zu können; nun aber muß ich jetzt in der Nacht hinaus in den Wald. Was giebt’s zu essen?«

»Kartoffelsuppe.«

»Ich denke, Ihr habt kein Feuer gehabt?«

»Ich habe sie beim Wirth gekocht. Der ging vor fünf Minuten zu Bette; da habe ich sie geholt; sie wird vielleicht noch warm sein.«

Sie stand auf, schüttete die Suppe in eine thönerne Schüssel, stellte diese auf den Tisch und legte einen Löffel dazu. Der Mann setzte sich und begann. Aber als er den ersten Löffel voll hinuntergeschluckt hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Das ist Kartoffelsuppe?«

»Ja.«

»Woher hast Du denn die Kartoffeln?«

Die Frau antwortete nicht sogleich; darum sagte das kleine Mädchen:

»Es waren Schalen!«

Der Mann legte den Löffel weg und faltete die Hände, aber nicht etwa zum Gebete.

»Suppe aus Kartoffelschalen!« sagte er. »Wie hast Du denn das fertig gebracht?«

Die Frau strich sich mit der Hand über die Augen und antwortete mit stockender Stimme:

»Ich war beim Bürgermeister. Das Dienstmädchen fütterte gerade die Ziege. Es waren Brodrinden und Schalen, an denen noch Brocken hingen. Ich gab gute Worte und habe die Schalen und Rinden erhalten. Die Rinden haben die Kinder bekommen; die Schalen aber habe ich in Salzwasser gekocht und dann durch ein Tuch geseiht. Das ist Deine Kartoffelsuppe.«

Sie sagte das so eintönig hin. Sie gab sich alle Mühe, den Kummer, welcher ihr Herz erfüllte, nicht merken zu lassen.

»Und Du?« fragte Schulze. »Was hast Du gegessen?«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Oho! Das machst Du mir nicht weiß. Gleich kommst Du her! Du ißt die Suppe mit.«

Sie machte keine Miene, diesem Gebote nachzukommen. Er kannte sie; darum sagte er:

»Wenn Du nichts issest, mag ich auch nichts. Ich schütte also die Suppe zum Fenster hinaus!«

Er nahm die Schüssel und ging zum Fenster.

»Halt! Warte!« rief sie ängstlich.

Sie holte sich einen Löffel und setzte sich mit ihm an den Tisch. Aber sie langte so langsam zu, daß auf ihren Mann viermal mehr kam als auf sie. Während des Essens erinnerte er sich ihrer Worte. Darum fragte er: »Du warst also beim Bürgermeister?«

»Ja. Bereits am Vormittage.«

»Warum?«

»Wegen der Steuern.«

»Steuern? Schon wieder! Was denn für welche?«

»Communalanlagen.«

»Diese Herren wissen wirklich nichts weiter, als Geld verlangen! Sie mögen doch vorher dafür sorgen, daß man das, was man braucht, auch wirklich verdient!«

»Wir sind volle zwei Jahre schuldig!«

»Nicht möglich!«

Sie hustete, obgleich ihr wohl kein Krümchen in die unrechte Kehle gekommen war.

»Die Zeit vergeht,« sagte sie leise. »Der Bürgermeister wurde barsch. Er sagte, daß er uns auspfänden lassen werde, wenn wir nicht bezahlen.«

Schulze musterte den Inhalt seiner Stube und lachte grimmig vor sich hin:

»Sie mögen kommen! Was da ist, können sie mitnehmen, mich, Dich und die Kinder gleich auch mit! Wann wollen sie denn zur Auspfändung kommen?«

»Er hat mir noch acht Tage Zeit gegeben.«

»Wie barmherzig! Aber, ich habe auch meine Ehre. In das Armenhaus lasse ich mich nicht stecken. Ich werde also sehen, daß ich wenigstens einen Theil bezahlen kann. Du sagtest, daß Du übermorgen Geld bekommst?«

»Ja. Ich habe zu liefern, volle siebzig Ellen.«

»Siebzig Ellen! So hast Du täglich zehn Ellen fertig gebracht?«

»Ja.«

In diesem Ja lag aber eine ganze Welt von Kummer, Sorge, Entbehrung und Anstrengung. Sie hatte auch des Nachts gearbeitet; ihre geschwollenen Augen konnten davon erzählen.

»Wieviel bekommst Du da?«

»Für die Elle anderthalb Kreuzer.«

»Blos?!« fragte er erstaunt.

»Ich habe die letzte Nummer. Meine Augen thun so wehe; sie sind ganz schwach geworden. Ich kann nur noch die geringste Sorte fertig bringen, die nur für die Anfänger ist – anderthalb Kreuzer für die Elle.«

»Und da wollen wir Abgaben bezahlen?«

»Du bekommst ja Sonnabend auch Lohn!«

»Ja, als Hundejunge!«

Sie legte den Löffel weg und ging hinaus, um die Thränen zu verbergen, welche ihr auf die schmerzenden Lider traten. Als sie wieder herein kam, setzte sie sich nicht abermals an den Tisch, sondern an ihren Klöppelsack, aber sie fragte: »Wieviel wird man Dir auszahlen?«

»Pro Tag einen halben Gulden – also drei Gulden!«

»Da können wir keine Abgaben bezahlen.«

Er legte den Löffel weg, obgleich er das armselige Kartoffelschalenwasser noch nicht ganz verzehrt hatte. Hungrig war er, ja; aber die Lust zum Essen war ihm vergangen. Er gab das Uebriggebliebene den Kindern und schaffte diese dann zu Bette – wenn hier überhaupt von Betten gesprochen werden konnte.

Jetzt, nun, als er mit der Frau allein war, sagte er:

»Es giebt nur noch ein Mittel, ein paar Kreuzer mehr zu verdienen.«

»Was?«

»Du weißt es.«

Da erhob sie den Kopf und sagte:

»Das nicht! Nur das nicht!«

»Andere thun es auch!«

»Aber es ist dennoch Diebstahl!«

»Das weiß ich wohl, und ich habe mich darum auch nicht leicht dazu entschließen können. Aber – wollen wir verhungern?«

»Gott wird helfen!«

Er schüttelte den Kopf, blickte seiner Frau in das bleiche, abgesorgte Angesicht und antwortete:

»So hat es schon lange geheißen.«

»Und es bleibt auch wahr!«

»Ja: Gott wird helfen; das bleibt wahr. Er wird nämlich helfen. Wir werden sterben; dann ist uns geholfen.«

»Sprich nicht so!« sagte sie bittend.

»Nun, Gott kann helfen, so heißt es; aber ich begreife ihn nicht, daß er es gar nicht thut. Wir hungern; wir frieren; wir sollen gepfändet werden! Unsere Kinder sind elend und krank; Du hast Dich fast um das Augenlicht gebracht, und ich bin um einen Arm gekommen, ohne daß man mir einen Kreuzer Entschädigung angeboten hat. Es wird Zeit, daß Gott hilft. Ich werde in den Wald gehen und einen Baum umsägen. Den mache ich klein und verkaufe das Brennholz. Ein Brod oder zwei giebt das doch gewiß.«

»Es ist Forstdiebstahl!«

»Aber der Hunger!«

Sie wollte antworten, aber da erklangen halblaute Schritte auf der Treppe, und dann klopfte es auf eine eigenthümliche Weise an die Thüre. Die Frau erschrak.

»Herrgott! Der Waldkönig!« sagte sie.

»Ja, das ist er!« bestätigte ihr Mann.

Er ging zur Thür und öffnete.

»Sind die Kinder zu Bette?« fragte es draußen.

»Ja. Kommen Sie!«

Der Waldkönig trat ein, das Gesicht mit einer Maske verhüllt. Die Frau hatte ihr Gesicht tief auf die Arbeit niedergebeugt. Die Gegenwart dieses Mannes war ihr entsetzlich. Sie wollte ihn gar nicht sehen.

»Haben Sie Zeit?« fragte er.

»Ich bin gleich erst nach Hause,« antwortete Schulze.

»Ich wußte, daß Sie bis Mitternacht Schicht haben. Sie müssen mir einen Brief besorgen.«

»Wieder nach Tannenstein?«

»Ja.«

»Wann?«

»Bis zum Mittag.«

»An wen?«

»Wieder an Denselben wie stets.«

»Ich möchte Sie bitten, lieber einen Anderen zu schicken.«

»Ah! Warum?«

»Es ist mir zu gefährlich!«

»Was fällt Ihnen ein! Jemandem einen Brief zu bringen, kann doch nicht gefährlich sein?«

»Wenn er vom Waldkönige ist, doch!«

»Kein Mensch wird sie verrathen!«

»Und doch ist dies möglich!«

»Nun, ich sage doch jedenfalls nichts, und der Andere auch nicht!«

»Man kann nie wissen, was passirt. Und das, was ich wage, ist zu viel gegen das, was ich dafür bekomme!«

»Ach so! Ist’s das?«

»Ja. Ein Gulden ist zu wenig.«

»Ich halte es für mehr als genug.«

»Ich nicht. Denken Sie, acht Stunden Weg!«

»Im Schacht bekommen Sie für zwölf Stunden nur einen halben Gulden!«

»Der Schnee – die Kälte!«

»Man laufe rasch, da wird man warm!«

»Meine Stiefelsohlen sind durch!«

»Der Gulden reicht hin, sie ausbessern zu lassen!«

»Und außerdem die Gefahr!«

»Die existirt gar nicht.«

»Wenn sie doch zwei Gulden geben wollten!«

»Das kann ich nicht.«

»Sie verdienen so viel! Sie machen Geschäfte, bei denen es sich um Tausende von Gulden handelt!«

»Und bei denen ich aber auch Tausende verlieren kann, wie es jetzt einige Male geschehen ist.«

»Sie wissen, wie blutarm ich bin!«

»Ich gebe keinen Kreuzer mehr! Wollen Sie, oder wollen Sie nicht?«

Der Mann blickte verlegen vor sich nieder. Er wußte, was kommen werde; dennoch antwortete er:

»Ich möchte lieber zu Hause bleiben.«

»Gut! Bleiben Sie! Aber ich werde dafür sorgen, daß sie den Sonnabend abgelohnt werden. Sehen Sie dann, wo Sie sich Ihre Gulden verdienen können.«

Er that, als ob er gehen wollte; da sagte Schulze:

»Geben Sie den Brief her!«

Der Waldkönig drehte sich wieder um und legte den Brief auf den Tisch.

»Hier!« sagte er. »Er kommt natürlich sicher und richtig an seinen Mann!«

»Ich garantire dafür!«

»Das versteht sich ganz von selbst! Kommt er in falsche Hände, so haben Sie es mit mir zu thun! Gute Nacht!«

Er ging. Man hörte ihn leise die Treppe hinabsteigen.

»Das ist der Teufel!« klagte die Frau.

»Ja, ein Teufel ist er!« stimmte der Mann bei.

»Und zwar unser Teufel!«

»Ich habe mir schon den Kopf zermartert, wie ich ihn los werden kann, ohne in Schaden zu kommen; aber es will mir nichts, gar nichts einfallen!«

»Auch mir nicht. Ich würde gern Alles ertragen, wenn nur diese Sclaverei von uns genommen wäre.«

»Einen Gulden, einen lumpigen Gulden für so einen Weg! Und dabei riscire ich vielleicht das Zuchthaus. Ich weiß ja nicht einmal, was in den Briefen steht!«

»Du wirst also gehen?«

»Ich muß ja; ich muß! Du hast es doch gehört, daß ich die Arbeit verlieren werde, wenn ich nicht gehorche!«

Der Waldkönig hatte unten die Hausthür leise geöffnet und hinaus auf die Gasse gespäht. Er bemerkte keinen Lauscher und huschte mit raschen Schritten an die Thüre des Nachbarhauses. Auch diese war nicht mit einem richtigen Schlosse, sondern nur mit einem Holzriegel versehen, wie sie in jener Gegend gebräuchlich sind. Wer diese Einrichtung kennt, kann von der Gasse aus eine jede Hausthüre öffnen. Es wohnen hier ja nur arme Leute, welche keine Veranlassung haben, ihr armseliges Eigenthum hinter complicirten Schlössern zu verwahren.

Der Waldkönig war auch in diesem Hause bekannt. Er stieg die Treppe empor und klopfte an. Nach einigen Augenblicken wurde die Thüre geöffnet. Ein fürchterlicher Dunst schlug ihm entgegen.

»Sapperment!« sagte er. »Welch ein Gestank!«

»Das bringt die Krankheit so mit sich,« antwortete Wilhelmi. »Wollen sie nicht eintreten?«

»Nur für einen Augenblick.«

Als er die Thür hinter sich zugezogen und durch die Maske einen Blick auf die Patienten geworfen hatte, sagte er: »Ich bringe einen Brief.«

»Schön.«

»Sie werden ihn bis Mittag besorgen.«

»Gern! An wen ist er adressirt?«

»Wie immer! Es ist dieses Mal sehr wichtig. Sie werden dafür sorgen, daß er zur rechten Zeit in die rechten Hände kommt! Verstanden?«

»Sehr wohl!«

»Gute Nacht!«

»Gute Nacht,« antwortete der Musterzeichner, welcher in der Stube zurückblieb, ohne den Waldkönig auch nur bis an die Treppe zu begleiten.

Dieser Letztere blieb unten an der Hausthüre stehen und murmelte ganz verwundert:

»Der war heute ganz anders als gewöhnlich! So höflich und willig. Vater hat doch dafür gesorgt, daß der Kerl Respect bekommen hat!«

Er kehrte nach Hause zurück, ohne seine beiden Botenleute bezahlt zu haben. Sie erhielten den Gulden nicht im Voraus, sondern erst dann, wenn der Waldkönig den Beweis hatte, daß sie die Briefe richtig bestellt hatten.

Kurz vorher kam der Hundeschlitten mit dem Förster und dem Vetter Arndt durch das Städtchen gesaust. Der alte Wunderlich saß vorn und Arndt hinten. Dieser Letztere ließ im Vorüberfahren seinen Blick über die halb im Schnee versunkenen, ärmlichen Häuschen schweifen. Da auf einmal griff er nach vorn und ergriff den Förster am Arme.

»Halt!« sagte er »Nicht weiter!«

Der Alte zog die Leine an und fragte:

»Warum? Was ist’s?«

»Bleiben die Hunde stehen, wenn wir für einen Augenblick absteigen?«

»Ja. Sie sind gut abgerichtet; sie laufen nicht fort.«

»Dann rasch einmal einige Schritte zurück!«

Er sprang ab, und der Förster folgte ihm. Bereits nach einer kurzen Strecke blieb er stehen und sagte: »Es ist mir da im Vorüberfahren Etwas aufgefallen. Ah, da steht er noch! Sehen Sie hier hinüber nach der Oberstube!«

Wunderlich folgte mit dem Auge dem ausgestreckten Arme Arndt’s.

»Donner und Doria!« sagte er. »Das ist eine Entdeckung!«

»Kennen Sie ihn?«

»Der Waldkönig!«

»Ja. Höchst unvorsichtig und leichtsinnig von ihm! Stellt er sich da hinauf und läßt sich von der Lampe anleuchten! Er hat ganz vergessen, daß hier die Oberstuben keine Fensterläden haben.«

»Er spricht mit Jemand!«

»Natürlich! Wer wohnt da oben?«

»Ein gewisser Schulze, welcher als Hundejunge draußen im Kohlenschachte arbeitet.«

»Was ist er für ein Kerl?«

»Ich habe ihn für ehrlich gehalten. Seine Frau arbeitet Tag und Nacht, fast zum Erblinden. Er hat zwei elende Kinder.«

»Schön! Fahren Sie weiter.«

»Allein? Ohne Sie?«

»Ja.«

»Sie bleiben hier?«

»Natürlich. Ich muß den Kerl beobachten.«

»So thue ich mit!«

»Das geht nicht.«

»Oho! Ich habe auch Augen, und zwar was für welche!«

»Aber Sie haben den Schlitten und die Hunde!«

»Sapperment! Das ist wahr!«

»Also machen Sie sich fort! Ich darf keine Zeit verlieren! Ein Glück, daß ich noch vom Abend her das Betttuch unter der Weste habe!«

»Na, ich werde nicht schlafen gehen, sondern warten, bis Sie nach Hause kommen.«

Er setzte sich wieder auf den Schlitten und fuhr davon. Arndt nahm das weiße Tuch über und huschte an den Zaun, welcher Schulze’s Wohnung gegenüber stand. Es war ein Heckenzaun, vollständig mit Schnee bedeckt, welcher sogar Etwas überhing. Arndt streckte sich auf den Boden aus und konnte nun von dem Schnee gar nicht unterschieden werden. So wartete er.

Seine Geduld wurde auf keine lange oder vielmehr auf gar keine Probe gestellt, denn kaum hatte er auf der Erde Platz genommen, so bemerkte er, daß drüben die Thür geöffnet wurde. Der Mann mit der Maske trat heraus und huschte rasch zum Nachbarhause hinüber, wo er eintrat.

Auch dort gab es in der Oberstube Licht, und Arndt erkannte an dem sich bewegenden Schatten des Musterzeichners, daß diesem der Besuch des Waldkönigs gegolten habe.

Es vergingen kaum zwei Minuten, so kehrte der Letztere zurück und schlich sich von dannen. Arndt erhob sich rasch von der Erde und huschte ihm nach. Es gelang ihm, unbemerkt hinter dem Waldkönige her bis an Seidelmanns Gartenzaun zu kommen, über welchen der Verfolgte stieg, um durch die hintere Thür zu verschwinden.

»Endlich!« dachte Arndt. »Also, ich habe mich nicht geirrt. Seidelmann ist’s! Was wollte er in den beiden Häusern? Morgen soll der Schmugglercoup ausgeführt werden; auf diesen bezieht es sich jedenfalls. Ich kann nicht warten! Pah, wer rasch handelt, der handelt gut!«

Er nahm das Tuch ab, faltete es zusammen und knöpfte es wieder unter die Weste. Sodann wendete er den Rock um, wechselte den Bart und begab sich nach dem Hause, aus welchem der Waldkönig zuletzt gekommen war.

Er hatte die eigenthümlichen Thürriegel dieser Gegend bereits kennen gelernt, und darum gelang es ihm, die Thür zu öffnen. Er machte sie hinter sich wieder zu und brannte ein Wachshölzchen an, mit welchem er sich die Treppe emporleuchtete. Er war ganz leise aufgetreten und lauschte an der Thür. Es war ganz still in der Stube, und er legte die Hand an den Drücker, um möglichst geräuschlos zu öffnen.

»Guten Abend!«

Wilhelmi fuhr erschrocken von seinem Reißbrete auf, an welches er sich wieder niedergesetzt hatte. An der Thüre stand ein alter Mann mit grauem Haar und Bart. Der Musterzeichner vergaß ganz, den Gruß zu erwidern.

»Was ist das?« fragte er. »Wer sind Sie? Was wollen Sie? Ich habe Sie ja gar nicht kommen gehört!«

Arndt musterte die Stube mit einem langen, forschenden Blicke und sagte dann in mildem Tone:

»Verzeihen Sie! Es ist jetzt allerdings keine Besuchszeit; aber ich werde meine Anwesenheit doch vielleicht zu rechtfertigen wissen. Erlauben sie mir!«

Er setzte sich auf einen Stuhl und richtete das Auge auf Wilhelmi. Diesem war es, als ob der Blick des unbekannten nächtlichen Besuchers ihm so tief in das Innere dringe, daß Nichts, gar Nichts vor demselben versteckt und verborgen bleiben könne. Auf dem Tische lag noch der Brief des Waldkönigs mit der Adresse: »An den Wagnermeister Hendschel in Obersberg.« Rasch langte der Musterzeichner darnach und steckte ihn in die Tasche. Arndt folgt dieser hastigen, fast ängstlichen Bewegung mit einem leisen Lächeln und sagt dann: »Erlauben Sie mir, unsere Unterhaltung auf eine andere Art und Weise zu beginnen, als Sie vielleicht vermuthen dürften. Eigentlich hätte ich zuerst Ihnen zu sagen, wer ich bin und was ich zu so ungewöhnlicher Stunde bei Ihnen will; aber ehe ich dies thue, möchte ich vorher wissen, bei wem ich mich befinde. Ich bin nämlich hier im Orte unbekannt. Bitte, Ihren Namen.«

»Ich heiße Wilhelmi.«

»Sie sind Musterzeichner, wie ich an Ihrer Arbeit bemerke?«

»Ja.«

»Für wen arbeiten Sie?«

»Für die Firma Seidelmann und Sohn.«

»So, so! Wie viel verdienen Sie da pro Woche?«

»Fünf Gulden ist das Höchste. Oft erhalte ich noch weniger und zuweilen auch gar nichts, wie zum Beispiel in dieser Woche.«

»Warum gar nichts?«

»Weil meine Arbeit nicht convenirte. Herr Seidelmann meinte, daß sie nicht originell sei.«

»Oh weh! So sind Sie also ohne Bezahlung geblieben?«

»Ich habe keinen Kreuzer erhalten, obgleich ich doch so nothwendig Geld brauche. Sind Sie vielleicht Fabrikant, Herr?«

Arndt that, als ob er diese Frage überhört habe, und sagte seinerseits:

»Wie ich sehe, haben Sie Patienten hier?«

»Patienten und eine Leiche. Dort das Mädchen ist todt.«

»Mein Gott! Und kein Geld! Weiß Seidelmann auch von dieser Krankheit?«

»Er weiß Alles und noch mehr.«

»Und unterstützt Sie nicht?«

»Er hat mir sogar einen Vorschuß verweigert. Ich habe vier Tage lang nichts gegessen.«

Da griff Arndt in seine Tasche, zog ein Portefeuille hervor, entnahm demselben einen Cassenschein und reichte denselben hin.

»Hier nehmen Sie!« sagte er. »Für Nahrung und Begräbniß.«

Wilhelmi warf einen Blick auf den Schein und sagte erstaunt:

»Hundert Gulden! Herr, Sie scherzen!«

»Nein, es ist mein Ernst.«

»Hundert Gulden verschenkt man nicht so leicht.«

»Ich kann diese Summe jedenfalls noch viel leichter verschenken, als Sie einen Kreuzer!«

»Aber wie komme ich dazu?«

»Weil Sie im Dienste des Waldkönigs stehen.«

Wilhelmi erschrak.

»Herr, was sagen Sie! Wo denken Sie hin!« rief er.

»Wollen Sie das etwa in Abrede stellen?«

»Ganz gewiß!«

»Und doch weiß ich es genau!«

»Sie irren!«

»O nein! Grüßen Sie den Wagnermeister Hendschel in Obersberg auch von mir, nachdem Sie ihn vorher von dem Waldkönige gegrüßt haben!«

Er hatte nämlich die Adresse des Briefes gelesen. Wilhelmi befand sich in einer großen Verlegenheit. Er brachte nichts anderes heraus als die Frage: »Herr, wer sind Sie?«

»Ein Geheimpolizist,« antwortete Arndt.

Der Musterzeichner entfärbte sich. Er wurde von einer großen Angst ergriffen.

»Ein Polizist?« sagte er. »Und Sie kommen zu mir? Ich bin mir keines Grundes bewußt, daß ein Polizist mich Nachts um Mitternacht besuchen könnte.«

»O doch! Ich komme ganz aus demselben Grunde zu Ihnen, aus welchem ich nachher auch Ihren Nachbar Schulze besuchen werde. Jetzt begreifen Sie wohl! Hier, sehen Sie sich doch einmal diese Medaille an!«

Er hielt sie dem Musterzeichner hin, welcher die Inschrift las und nur noch ängstlicher wurde, da er ganz wohl wußte, daß Schulze von dem Waldkönige zuweilen auch als Bote benutzt wurde.

»Ja, Sie sind Polizist, Herr, und zwar aus der Residenz« sagte er. »Was wünschen Sie von mir?«

»Die Wahrheit!«

»Worüber?«

»Ueber den Waldkönig.«

»Ich weiß nichts von ihm!«

»Er war soeben bei Ihnen. Nicht?«

Da setzte sich Wilhelmi, welcher bisher stehen geblieben war, wie ganz matt auf seinen Stuhl nieder und sagte: »Das war der Waldkönig nicht.«

»Wer denn?«

»Ein guter Freund von mir.«

»Ganz gewiß! Denn ich muß natürlich annehmen, daß Sie und der Pascherkönig gute Freunde sind.«

»Nein, nein! Der Mann, welcher jetzt bei mir war, ist nicht der Waldkönig.«

»Nicht? Also nur ein Freund von Ihnen?«

»Ja.«

»Wohnt er hier im Orte?«

»Ja.«

»Wie heißt er?«

»Warum fragen Sie?«

»Weil ich zu ihm gehen will, um mich zu erkundigen, weshalb er so unnöthiger Weise eine Larve aufsetzt, wenn er seinen guten Freund Wilhelmi besucht.«

Der Musterzeichner wußte weder aus noch ein. Seine Verlegenheit war auf das Äußerste gestiegen. Noch lag der Hundertguldenschein auf dem Tische, wohin ihn Arndt gelegt hatte. Wilhelmi schob ihn fort und sagte: »Sie geben soviel Geld und sind doch nur Einer, der Andere unglücklich macht.«

»Jetzt sind Sie es, der sich irrt. Ich bin zwar Polizist, aber ich komme nicht als solcher, sondern als Privatmann zu Ihnen. Ich will nicht Ihr Unglück, sondern Ihr Glück. Ich will Ihnen meine Hand bieten, um von dem Waldkönige loszukommen, der Sie immer tiefer in das Verderben führt.«

»Herr, wer sagt Ihnen, daß ich zum Waldkönige gehöre, und daß ich wünsche, von ihm loszukommen?«

»Mein Auge. Ich sehe Ihnen an, daß Sie kein Pascher, kein Verbrecher sind; sie arbeiten Ihrer kranken Familie wegen des Nachts; Sie sind ein braver Mann!«

»Gott sei Dank!« seufzte der Musterzeichner. »Der Herr im Himmel weiß es, daß Sie Recht haben.«

»Nicht wahr? Dennoch kommt der Waldkönig zu Ihnen. Er will Sie bestricken; er will Sie zu seinem Sclaven machen. Vielleicht sind Sie ein brauchbarer Mann, und er kommt nun, um Sie zu verleiten oder gar zu zwingen, für ihn zu arbeiten. Nicht?«

»So ist es, ganz nur so!«

»Ich dachte es mir. Ich sehe es Ihnen an, daß Sie erschrocken und ängstlich sind; ich will die Sorge von Ihnen nehmen. Ich nehme an, daß Sie meinen Namen kennen. Wenn ich Ihnen denselben nenne, werden Sie sich beruhigen.«

»Ich kenne keinen Namen eines Polizisten aus der Hauptstadt.«

»O doch! Den Namen des bekanntesten Geheimpolizisten haben Sie auch gehört. Oder wären Sie noch nicht dabei gewesen, wenn vom Fürsten des Elendes gesprochen wurde?«

Wilhelmi fuhr empor. Sein Gesicht erheiterte sich, und sein Auge leuchtete freudig auf.

»Vom Fürsten des Elendes?« sagte er. »Herr, ja, von dem habe ich gehört, und nach ihm sehne ich mich.«

»Sehnen? Warum?«

»Weil er der einzig richtige Mann wäre, das zu thun, wovon Sie vorhin sprachen, nämlich uns zu befreien von dem Waldkönige. Ich habe erst heute von ihm gesprochen.«

»Zu wem?«

»Zu meinem Bruder. Ich hatte mir ausgesonnen, wie ich es anfangen wollte, mit dem Fürsten des Elendes einmal sprechen zu können.«

»Ah! Wie wollten Sie das anfangen?«

»Er ist einmal bei dem hiesigen Pfarrer gewesen.«

»Ich weiß das. Er hat da eine arme Familie unterstützt.«

»Und die Kinder dieser Familie zu einem gewissen Hauser hier thun lassen. Ganz gewiß erkundigt er sich einmal nach diesen Kindern. Und wo wird er das thun? Entweder bei Hausers oder bei dem Pfarrer.«

»Das steht allerdings zu erwarten.«

»Darum wollte ich den Pfarrer und den alten Hauser bitten, mich zu erwähnen, wenn er einmal zu ihnen kommt.«

»Hm! Nicht übel ausgedacht, obgleich es nicht nöthig ist.«

»Warum nicht nöthig?«

»Weil er bereits bei Ihnen ist.«

Da schlug der Musterzeichner die Hände zusammen und fragte:

»Wie? Wäre es die Möglichkeit? Sie, Sie selbst sind der Fürst des Elendes?«

»Ja, ich!«

»Herrgott, ich danke Dir! Noch heute war davon die Rede, daß man sich auf den lieben Gott verlassen könne; ich wollte daran zweifeln, nun aber sehe ich, daß es wahr ist!«

Er eilte hin zu seiner Frau, kniete neben ihr nieder und schrie ihr in das von Pocken verstopfte Ohr:

»Der Fürst des Elendes ist da! Hörst Du? Der Fürst des Elendes!«

Sie mochte ihn doch so leidlich verstanden haben, denn sie legte die dick verschwollenen Hände zusammen und machte eine Bewegung, als ob sie sich erheben wolle.

»Lassen Sie die arme Frau!« sagte Arndt. »Es thut ihr jede Bewegung weh.«

»Aber meine Schwiegermutter muß ich holen! Das erlauben Sie mir doch?«

»Warum diese?«

»Sie wird sich freuen, als ob sie im Himmel wäre! Und das hat sie verdient.«

»Wo ist sie?«

»Sie liegt ganz oben unter dem Dachfirste. Da schläft sie!«

»So warten Sie noch. Jetzt möchte ich mit Ihnen allein sprechen. Sie wissen nun, wer ich bin. Ich frage Sie, ob Sie offen und wahr mit mir sein wollen.«

»Gewiß, gewiß! Fragen Sie nur immer zu! Ich werde ganz ehrlich antworten.«

»Wie sind Sie in den Dienst des Waldkönigs gekommen?«

»In seinem Dienste stehe ich eigentlich nicht. Er hat mich durch Drohungen gezwungen ihm zuweilen einen Brief zu besorgen.«

»Gegen Bezahlung?«

»Ja, er bezahlte einen Gulden.«

»An wen gingen diese Briefe?«

»Alle an Denjenigen, an welchen auch der heutige adressirt ist.«

»So, so! Hm! An keinen Andern?«

»Nein.«

»Haben Sie vielleicht einen dieser Briefe gelesen?«

»Wie hätte ich das wagen können! Der Waldkönig bestraft jede Verletzung eines Geheimnisses mit dem Tode.«

»So werden wir uns heute einmal in die Gefahr begeben, von ihm bestraft und ermordet zu werden!«

»Sie meinen doch nicht etwa –?«

Er deutete auf die Tasche, in welche er vorhin den Brief des Waldkönigs gesteckt hatte.

»Jawohl, das meine ich!«

»Sie wollen den Brief lesen?«

»Gewiß!«

»Herr, das ist zu gefährlich.«

»Haben Sie keine Sorge um mich. Der Waldkönig ist nicht mir, sondern ich bin ihm gefährlich! Bitte, zeigen Sie!«

Wilhelmi zog den Brief zögernd hervor und gab ihn hin.

»Aber ich stehe für nichts!« bemerkte er.

»Ich dagegen für Alles! Ah, ein ganz gewöhnliches Couvert, so wie ich welche einstecken habe. Das paßt ganz gut. Und die Schrift? Sie ist nicht schwer nachzuahmen. Sehen wir also nach.«

Er machte das Couvert auf. Es enthielt einen halben Bogen Briefpapier, auf welchem mehrere Reihen von Ziffern standen.

»Eine Geheimschrift,« sagte der Musterzeichner.

»Ja, aber sie ist nicht geistreich erfunden. Ich habe bereits Gelegenheit gehabt, ihren Schlüssel zu entdecken. Wollen einmal sehen, was diese Ziffern zu bedeuten haben.«

Er nahm einen Bleistift vom Tische weg und ein Stück Papier, schrieb das Alphabet auf und setzt dann von A bis Z zurück die Ziffern 1 bis 25 unter die Buchstaben. Jetzt begann er, zusammen zu stellen. Wilhelmi fühlte sich von einer ungewöhnlichen Neugierde erfaßt.

»Werden Sie es bringen?« fragte er.

»Ja, ganz leicht; ich werde sogleich fertig sein. Da haben Sie! Es ist ein Befehl.«

Er reichte ihm den Zettel hin. Die Dechiffration lautete:

»Heute ein großer Streich. Ziehen Sie die Grenzaufseher möglichst zu sich hinüber.«

»Ein Streich also!« meinte Wilhelmi. »Ach so! Also darum hat man allemal von einer bedeutenden Schmuggelei gehört, wenn ich einen Brief zu besorgen gehabt hatte.«

»Haben Sie das wirklich beobachtet?«

»Stets.«

»Wie lange dienen Sie dem Waldkönige?«

»Ich habe ihm ungefähr zehn bis zwölf Briefe besorgt.«

»Und darauf hat es allemal ein bedeutenderes Unternehmen gegeben? Der Waldkönig fängt das gar nicht so übel an. Das wundert mich beinahe, da er doch sonst keineswegs unter die Schlauköpfe zu zählen ist.«

»Nicht? O, da beurtheilen Sie ihn falsch. Er ist listiger als ein Fuchs!«

»Pst, pst! Wenn das ein Fuchs hörte, würde er es Ihnen sehr übel nehmen, da es für ihn die größtmöglichste Beleidigung ist. Der Pascherkönig ist ein Dummkopf! Aber bitte, sprechen wir zunächst von Ihren Verhältnissen! Ich hoffe, daß Sie Vertrauen zu mir haben?«

»Gewiß. Dennoch aber muß ich mir eine Frage erlauben.«

»Fragen Sie nur immerzu!«

»Wird es mir nicht schaden, wenn ich offen mit Ihnen bin?«

»Wie sollte es Ihnen schaden?«

»Ich habe für den Pascherkönig Briefe ausgetragen; das ist doch wohl strafbar!«

»Und da denken Sie, ich könnte davon sprechen oder gar Sie anzeigen?«

»Ich wollte Sie bitten, das nicht zu thun.«

»O nein, das fällt mir gar nicht ein! Sie befinden sich in Noth; ich werde der Fürst des Elendes genannt; ich will Sie diesem Elende entreißen, und das erreiche ich doch nicht damit, daß ich Sie zur Anzeige und Bestrafung bringe.«

»Wenn das so ist, dann will ich Alles, Alles thun, was Sie von mir verlangen!«

»Gut! So machen Sie mich zunächst mit Ihren Verhältnissen bekannt, Herr Wilhelmi.«

Der Musterzeichner kam dieser Aufforderung nach. Er erzählte von sich und von seiner Familie, und kam dann auch auf seinen Bruder zu sprechen. Arndt hörte ihm still bis zu Ende zu, gab ihm dann die Hand und sagte: »Sie sind ganz der Mann, wie ich Sie gleich von Anfang an beurtheilt habe. Was Sie mir da sagen, ist mir ziemlich werthvoll. Ich muß Sie da auf etwas aufmerksam machen. Doch vorher die Frage: Wissen Sie, was für ein Schloß die Kellerthür Ihres Bruders hat?«

»Nein.«

»Sie waren nie in diesem Keller?«

»O, sehr viele Male!«

»Nun, so müssen Sie doch auch das Schloß kennen!«

»Ich habe es mir niemals genau betrachtet.«

»Das ist auch nicht nöthig. Ich möchte nur wissen, ob es ein Kastenschloß oder ein Hängeschloß ist.«

»Ein Kastenschloß.«

»Das genügt. Und Ihr Bruder hat den Schlüssel bereits an den Waldkönig abgegeben?«

»Ja.«

»Das ist mir gar nicht lieb.«

»Warum?«

»Weil ich mir den Keller gern einmal angesehen hätte.«

Da schien der Musterzeichner sich auf etwas zu besinnen.

»Was das betrifft, so hat es keine Noth,« sagte er. »Es fällt mir ein, daß ein früherer Knappe den Keller mit dem Schlüssel seiner Kammerthür öffnen konnte.«

»Ob aber dieser Kammerschlüssel noch da ist?«

»Jedenfalls.«

»Dann werde ich Sie bitten müssen, mich einmal zu Ihrem Bruder zu führen!«

»Sehr gern. Aber wann?«

»Noch heute Nacht!«

»Ah! Wirklich?«

»Gewiß. Morgen wird der Pascherstreich ausgeführt; der Waldkönig hat den Keller unter irgend einer Absicht gepachtet, welche mit der Schmuggelei in Beziehung steht. Ich muß wissen, ob dieser Keller vielleicht morgen eine Rolle zu spielen hat, und da ich am Tage nicht in dieser Gegend bin, muß ich bereits in dieser Nacht nach der Mühle!«

»Mir ist natürlich auch das ganz recht; ich gehe mit.«

»Haben Sie denn noch nicht darüber nachgedacht, wer der Pascherkönig sein mag?«

»O, wer hätte sich darüber nicht bereits Gedanken gemacht!«

»Nun, haben Sie vielleicht eine Ahnung?«

»Nicht die geringste.«

»Das wundert mich!«

»Das wundert Sie? Warum soll ich eine Ahnung haben!«

»Weil Sie mir vorkommen wie ein Mensch, der gelernt hat, zu vergleichen und zu berechnen, und weil auch gerade Sie Gelegenheit gehabt haben, das Richtige zu treffen.«

»Wann hätte ich diese Gelegenheit gehabt?«

»Erst heute wieder, und sogar zwei Mal.«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Nun, Sie sagten doch, daß der Waldkönig Sie mit Fesseln umstrickt. Die sicherste Fessel ist die Noth, in der Sie sich befinden. Wenn er Sie festhalten will, muß er also dafür sorgen, daß Sie von dieser Noth nicht befreit werden, sondern daß sich dieselbe womöglich noch vergrößert.«

»Wie soll er das anfangen?«

»O, er hat es bereits sehr gut angefangen!«

»Das begreife ich nicht. Meine gegenwärtige Noth habe ich zwar der Krankheit, in erster Linie aber den Seidelmanns zu verdanken.«

»Sehr richtig! Also sagen Sie: Wer wünscht, Sie in Noth zu sehen?«

»Der Waldkönig.«

»Und wer bringt Sie in Noth?«

»Seidelmanns.«

»Halten Sie das fest. Ferner: Wer hat Ihrem Bruder versprochen, daß es ihm von jetzt an gut gehen soll?«

»Der Waldkönig.«

»Und wer hat ihm auch sofort Arbeit und Hilfe gebracht?«

»Seidelmann.«

»Halten Sie auch das fest! Sind das nicht zwei Fälle?«

Der Musterzeichner hielt den Mund geöffnet und starrte Arndt wie abwesend an.

»Herr,« sagte er endlich. »Verstehe ich Sie richtig?«

»Denken Sie nach!«

»Was der Waldkönig wünscht oder verspricht, das thun die Seidelmanns?«

»Wie es den Anschein hat!«

»Sie stehen also in Beziehung zu ihm!«

»Ich mag das ganz und gar nicht in Abrede stellen.«

»Dann sind sie gar seine Verbündeten.«

»Hm!«

»Und sie haben mit Absicht, mit Ueberlegung und Berechnung gehandelt, wenn sie mich immer tiefer in die Noth hinabdrückten?«

»Ich bin überzeugt davon. Ich behaupte sogar, daß Ihre letzten Musterzeichnungen ganz ausgezeichnet gewesen sind.«

»Seidelmann hätte gelogen?«

»Ja, um Ihnen kein Geld zu geben. Sie haben dem Waldkönige einige Male opponirt; diese Opposition mußte gebrochen werden, darum gab er Ihnen kein Geld.«

»Mein Gott! Welche Schlechtigkeit! Das ist ja gerade so, als ob Seidelmann selbst der Waldkönig wäre!«

»Na, endlich!«

»Was endlich?«

»Treffen Sie das Richtige!«

»Himmel! Sie meinen, daß Seidelmann der König ist?«

»Ja.«

Da schlug Wilhelmi die Hände zusammen und rief:

»Jetzt wird es hell, jetzt wird es licht, jetzt wird es Tag! O, nun begreife ich nicht nur Vieles, sondern geradezu Alles! Aber, Herr, jetzt ist es aus! Ich werde Rechenschaft fordern; ich werde zu Seidelmann gehen und – – –«

»Nichts, gar nichts werden Sie!« fiel Arndt ihm in die Rede. »Morgen Abend wird der Waldkönig gefangen, auch ohne daß Sie sich in Gefahr begeben. Hier, bitte, nehmen Sie jetzt den Cassenschein! Er ist Ihr Eigenthum!«

»Ja, Herr, nun nehme ich ihn, denn ich weiß, daß Sie ihn geben können. Aber, darf ich meine Schwiegermutter holen?«

»Es ist besser, wir unterlassen es noch. Es darf Niemand wissen, daß ich bei Ihnen gewesen bin. Erführe es der Waldkönig, so würde er Verdacht schöpfen und uns entgehen. Ihre Schwiegermutter wird mich schon noch zu sehen bekommen.«

»Aber wecken muß ich sie doch. Ich darf, während wir nach der Mühle gehen, meine Kranken nicht allein lassen.«

»Bevor wir nach der Mühle aufbrechen, gehen wir zu Ihrem Nachbar. Was ist er für ein Mann?«

»Ein ganz braver Kerl, aber unglücklich. Ich glaube, daß diese armen Leute sich jahrelang nicht ordentlich satt gegessen haben.«

»Welch ein Elend! Ja, es sieht im Leben doch noch ganz anders aus, als Tausende sich denken. Es giebt der Noth und des Jammers so viel, daß man erschrecken möchte. Ziehen Sie sich an. Wir wollen gehen!«

Der Musterzeichner zog den Rock an und ging hinauf zu seiner Schwiegermutter, um sie zu wecken; dann kehrte er zurück, um mit Arndt sich in das Nachbarhaus zu begeben. Unterwegs erkundigte er sich noch vorher: »Darf Schulze wissen, was Sie zu mir von den Seidelmanns gesagt haben?«

»Das weiß ich noch nicht. Wenn ich nichts sage, so schweigen natürlich auch Sie.«

»Und mein Bruder?«

»Das wird sich zeigen. Also nicht wahr, Schulze ist von dem Waldkönige auch als Bote gebraucht worden?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wohin?«

»Ich weiß es.«

»Und ich weiß nichts davon; aber ich möchte wetten, daß ich es errathe.«

»Das wäre viel!«

»O nein. Man muß nur nachdenken. Der Waldkönig will einen Streich ausführen. Um dabei freie Hand zu bekommen, schickt er Sie nach Obersberg, damit die Grenzbeamten von hier weg dorthin gezogen werden. Es läßt sich denken, daß es noch vortheilhafter ist, die Grenzer nach zwei Seiten auseinander zu ziehen. Obersberg liegt im Westen von hier; ich vermuthe, daß Schulze an einen ähnlichen Ort nach Osten geschickt wird. Habe ich Recht?«

»Ja, Herr. Aber den Ort können Sie unmöglich wissen!«

»O doch!«

»Welchen rathen Sie?«

»Helfen-oder Tannenstein.«

»Wahrhaftig, Sie haben das Richtige getroffen!«

»Ich errathe sogar, an wen der Brief gerichtet ist.«

»Wer soll das sein?«

»Der Schmied Wolf.«

»Herr, sind Sie allwissend?«

»Nein, aber ich pflege scharf zu beobachten. Also kommen Sie. Wollen sehen, ob Schulze noch wach ist.«

Sie hatten diese letzteren Reden unter der Hausthüre ausgetauscht. Jetzt sahen sie, daß beim Nachbar noch Licht brannte, und der Schatten eines Mannes bewegte sich hin und her.

»Er ist noch auf,« meinte Wilhelmi. »Wie wird er sich über den Besuch wundern!«

»Weiß er so gut wie Sie von ihm, daß Sie für den Waldkönig Botenwege gegangen sind?«

»Ja.«

»Nun, so halten Sie später gegenseitig reinen Mund, damit Sie sich nicht in Schaden bringen!«

Wilhelmi öffnete. Eben als sie die Treppe erreichten, ging oben die Thür auf, und Schulze schickte sich an, die Treppe herabzusteigen. Es war dunkel, und die Drei sahen sich also nicht, konnten sich aber hören.

»Ist Jemand da unten?« fragte Schulze.

»Ja, ich bins, Nachbar.«

»Wilhelmi? So spät? Was giebt es denn noch?«

»Ich bringe Jemanden, der mit Ihnen sprechen will.«

»Na, da kommt herauf und herein.«

Er öffnete die Thür, und die Beiden konnten sehen, daß er eine Säge in der Hand hatte. Er blickte, als sie sich in der Stube befanden, die Beiden verwundert an und sagte: »Setzen Sie sich. Ich bin neugierig, wer heute noch mit dem Hundejungen zu sprechen hat.«

»Sind wir ungestört?« fragte Wilhelmi.

»Ja. Die Frau ist zu Bette. Sie wollte noch arbeiten, aber ich litt es nicht, weil sie sich die Augen ruinirt und weil – na, ich hatte einen Gang vor, von welchem Sie nichts wissen sollte.«

Sein Auge fiel dabei unwillkürlich auf die Säge. Arndt bemerkte das. Sein Combinationstalent ahnte sofort das Richtige: darum sagte er: »So ist es gut, daß wir kommen und Sie abhalten, etwas zu unternehmen, was Sie in Strafe bringen könnte.«

»So? Was habe ich denn unternehmen wollen?«

»Einen Holzdiebstahl im Walde.«

»Herr, wer sagt Ihnen das?«

»Sie selbst.«

»Da dürften Sie sich ganz außerordentlich auf dem Holzwege befinden! Ueberhaupt muß ich es mir verbitten –«

»Still, still!« fiel Wilhelmi ein.»Dieser Herr meint es gut mit Ihnen. Er ist gekommen, um Ihres eigenen Vortheiles willen.«

»Meines Vortheils? Wer soll das glauben? In jetziger Zeit ist ein Jeder nur auf seinen eigenen Vortheil bedacht.«

»Es giebt auch Ausnahmen,« bemerkte Arndt, »und vielleicht bin ich eine solche. Ich sehe es Ihnen an, daß es am Besten ist, ich lasse es Ihnen wissen, wer ich bin. Herr Wilhelmi, sagen Sie es ihm.«

Das paßte dem Musterzeichner. Er war ganz stolz darauf, das überraschende Wort aussprechen zu dürfen. Er deutete auf Arndt und sagte zu Schulze: »Nachbar, sehen Sie sich diesen Herrn einmal genau an, und sagen Sie mir dann, für wen Sie ihn ungefähr halten!«

Der Angeredete musterte Arndt und antwortete:

»Er scheint ein Dorfschulmeister zu sein.«

»Fehlgeschossen! Rathen Sie höher!«

»Lassen Sie mich mit Ihrem Rathen in Ruhe, und sagen Sie es mir lieber sogleich; dann sind wir im Klaren.«

»Gut! Dieser Herr ist – erschrecken Sie nicht! – der Fürst des Elendes.«

Schulze fuhr gleich ein paar Schritte zurück.

»Machen Sie keinen dummen Spaß!« sagte er.

»Es ist nicht Spaß, sondern Wahrheit!«

»Wahrheit? Wirklich Wahrheit?« fragte er Arndt.

»Ja, mein Lieber. Man hat mir den Namen Fürst des Elendes gegeben.«

»Also doch, doch, doch! Herr das ist eine Freude, eine Freude, wie ich seit langen, langen Jahren keine gehabt habe. Alle Welt sehnt sich, Sie einmal zu sehen. Ich hatte nicht gedacht, daß es gerade mir passiren würde, und zwar heute Nacht, wo ich im Begriffe –«

Er stockte verlegen. Arndt fuhr fort:

»Wo Sie im Begriffe standen, ein klein Wenig den Holzspitzbuben zu spielen.«

»Na, ja; da Sie es sind, will ich es eingestehen. Ich verdiene drei Gulden und meine Frau nicht viel über einen. Das macht vier Gulden in der Woche. Sie mögen ausrechnen, ob man davon leben kann. Wir sollen wegen rückständiger Abgaben ausgepfändet werden. Ich weiß wahrhaftig nicht, woher ich das Geld nehmen soll, und so kam mir der Gedanke, in den Wald zu gehen.«

»Sie mit Ihrem einen Arm! Einen Baum umsägen!«

»Pah! Hätte er mich getroffen und todtgeschlagen, so wäre es aus! Ich habe das Leben satt!«

»Das dürfen Sie nicht sagen! Es giebt keine Noth, aus der nicht Hilfe möglich wäre.«

»Das sagt meine Frau auch; dabei aber essen wir Suppe von Kartoffelschalen!«

»Sie werden bald etwas Kräftigeres essen. Ich will Ihr Arzt sein und Ihnen Ihre Diät vorschreiben. Was meinen Sie, Herr Wilhelmi, soll ich ihm so ein Recept geben, wie auch Sie bekommen haben?«

Der Gefragte nickte lachend mit dem Kopfe und antwortete:

»Ich würde es ihm gönnen. Bessere Recepte kann wohl kein Arzt verschreiben.«

»Nun, so wollen wir sehen, ob es auch ihm Hilfe bringt!«

Er zog eine Banknote von hundert Gulden hervor und gab sie dem Hundejungen. Dieser betrachtete den Schein mit weit aufgerissenen Augen und sagte: »Alle guten Geister! Das sind ja hundert Gulden!«

»Nun ja!« lachte Wilhelmi.

»Das heißt, ein ganzes Vermögen!«

»Und das gehört Ihnen.«

»Mir? Was? Wie? Mir?«

»Ja. Dieser Herr schenkt es Ihnen, ja.«

»Ist das wahr, wirklich wahr?« fragte er Arndt.

»Gewiß, gewiß, mein Lieber. Nehmen Sie diese Summe, und versuchen Sie, Ihre augenblickliche Noth damit zu lindern.«

»Herrgott, welch eine Freude, welch ein Glück! Herr, ich danke Ihnen! Sie machen damit glückliche Menschen! Ein solches Geld habe ich all mein Lebtage nicht in der Hand gehabt. Jetzt frage ich den Teufel mehr nach dem Waldkö –«

Er hielt bestürzt inne. Er hatte sich von seiner Freude hinreißen lassen, einen Namen zu nennen, den in solcher Beziehung auszusprechen außerordentlich gefährlich war.

»Sprechen Sie nur weiter,« sagte Arndt.

»O, ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte,« antwortete Schulze ganz verlegen.

»So will ich Ihnen helfen. Sie wollten sagen, daß Sie nun nicht mehr nach dem Waldkönige fragen wollen.«

»Nach dem? O, der ist mir gar nicht in den Sinn gekommen!«

»Nicht? Bitte, besinnen Sie sich! Warum sollte er Ihnen nicht in den Sinn kommen, da er doch schon zu Ihnen in die Stube gekommen ist?«

»In die Stube?«

»Ja, in diese Stube.«

»Wann denn?«

Man sah es ihm an, daß er sich ganz bestürzt fühlte.

»Heute,« antwortete Arndt, »vor kaum drei Viertelstunden.«

»Herr, ich begreife Sie nicht! Ich weiß gar nicht, was Sie sagen wollen.«

»Ich habe ihn ja bei Ihnen gesehen?«

»Sie? Sie waren ja gar nicht da?«

»Er gab Ihnen einen Brief, den Sie morgen dem Schmied Wolf überbringen sollen.«

Schulze fuhr zurück, als ob er auf eine Schlange getreten sei, und rief abwehrend:

»Wo denken Sie hin! Ich weiß nichts von einem Briefe!«

Da meinte Wilhelmi begütigend zu ihm:

»Fürchten Sie sich nicht, Nachbar! Dieser Herr weiß Alles. Auch ich habe ihm gestanden, daß der Pascherkönig zu mir gekommen ist. Er wird ihn fangen und uns von ihm befreien.«

»Fangen? O, den fängt Keiner!«

»Auch der Fürst des Elendes nicht?«

»Ah, ja, ich dachte daran nicht! Ja, Herr, wenn Einer ihn fangen kann, so sind Sie es; das gebe ich zu.«

»Aber allein bringe ich das nicht fertig; ich muß mir Ihre Mithilfe erbitten. Wollen Sie?«

Schulze blickte Wilhelmi fragend an. Dieser sagte:

»Ich kann Ihnen nur rathen, offen zu sein. Ich bin es ja auch gewesen.«

»Aber wenn der Waldkönig es erfährt!«

»Pah!« antwortete Arndt. »Sie überschätzen diesen Menschen in hohem Grade. Was man sich von ihm erzählt, ist entweder ganz Erfindung oder wenigstens übertrieben.«

»Da irren Sie sich! Er ist so listig und verwegen, wie wohl selten ein Zweiter.«

»Meinen Sie wirklich? Man sagt, daß Keiner ihn kennt, und daß auch seine Leute sich nicht untereinander kennen –«

»Das ist wahr.«

»O nein! Niemand kennt ihn? Ich kenne ihn aber! Und seine Leute kennen sich nicht? Kennen Sie Beide sich denn nicht? Wissen Sie nicht von einander, daß Sie ihm dienen? Ist das etwa klug von ihm gehandelt? Hat er Sie dadurch nicht in die größte Gefahr gebracht? Ist er nicht sogar in Gegenwart Ihrer Frauen zu Ihnen gekommen? Kann man die Unvorsichtigkeit weiter treiben? Ich nenne das nicht nur unvorsichtig, sondern geradezu leichtsinnig!«

Schulze nickte jetzt doch nachdenklich mit dem Kopfe und sagte in zustimmendem Tone:

»Was Sie da sagen, hat allerdings Hand und Fuß. Ich habe gewußt, daß ich in Gefahr war, aber konnte ich anders? Er drohte, und da muß man gehorchen. Ich habe mich erst heute Abend wieder geweigert, den Brief zu besorgen; aber er sagte, daß er es soweit bringen wolle, daß ich nächsten Sonnabend im Schachte abgelohnt werde. Was will man dann anderes machen?«

»Ich begreife ganz gut, daß Sie sich von ihm beängstigen ließen. Jetzt aber stehen die Sachen anders. Jetzt bin ich bei Ihnen, und Sie stehen unter meinem Schutze. Wollen Sie mir einmal den Brief zeigen, den Sie zur Besorgung erhalten haben?«

Und als Schulze doch ein bedenkliches Gesicht machte, munterte Wilhelmi ihn auf:

»Immer her damit! Der Herr hat ja den meinigen auch gelesen!«

»Ist’s wahr?«

»Ja,« antwortete Arndt. »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie nicht den kleinsten Schaden dadurch haben sollen.«

»Nun, da Sie das versprechen, so will ich es wagen.«

Er brachte den Brief, erschrak aber doch, als Arndt sein Messer hervorzog und das Couvert aufschnitt. Es enthielt ganz denselben Inhalt, wie der andere Brief. Arndt steckte den Bogen und das Couvert ein; das rief abermals die Bestürzung des Bergarbeiters wach. Er sagte: »Sie stecken das ein? Das kann ich nicht zugeben!«

»Warum nicht?«

»Ich habe den Brief abzugeben.«

»Ich werde es an Ihrer Stelle thun. Mit Tages Anbruch muß ich nach Helfenstein. Ich werde dem Schmied den Brief geben.«

»Aber ich soll ihn ja bringen!«

»Das ist nicht mehr nöthig. Uebrigens bleiben Sie am Tage hübsch daheim, damit der Waldkönig Sie nicht sieht und also erfährt, daß Sie nicht nach Helfenstein sind.«

»Er würde das bemerken? Wohnt er denn hier?«

»Ja.«

»Herrgott! Wer ist es denn?«

»Das werden Sie in ganz kurzer Zeit erfahren.«

»Aber noch Eins: Sie haben ja das Couvert zerschnitten!«

»Ich mache ein anderes darüber mit ganz derselben Schrift.«

»Das hätten wir bei dem meinigen auch machen sollen,« meinte Wilhelmi. »Wir haben es vergessen.«

»Vergessen nicht. Wir haben noch Zeit. Wir kommen ja wieder in Ihre Wohnung, wo ich den Brief dann so fertig machen werde, daß der Wagner Hendschel sicherlich nichts merken wird.«

»Wollen Sie auch diesen Brief selbst besorgen?«

»Nein. Sie bringen ihn hin. Sie lassen sich aber ja nicht merken, daß die Verhältnisse andere geworden sind!«

»Und ich? Wie verhalte ich mich, wenn der Waldkönig von mir Rechenschaft fordert?« fragte Schulze.

»Er wird gar nicht wieder zu Ihnen kommen. Morgen wird er gefangen. Man wird ihn zwingen, alle seine Mitschuldigen zu nennen. Danken Sie Gott, daß ich zu Ihnen gekommen bin. Das giebt Ihnen Grund, sich zu rechtfertigen. Nehmen Sie Ihre hundert Gulden, Herr Schulze, und thun Sie im Uebrigen ganz so, als ob Sie von gar nichts wüßten!«

Schulze steckte die Banknote zögernd ein. Er hätte vor Arndt niederknieen mögen, um ihm zu danken, und doch hegte er auch ganz bedeutende Besorgnisse über die Folgen dieser gegenwärtigen Zusammenkunft. Arndt schnitt ihm alle Einwendungen und Bedenken ab, indem er sich zum Gehen anschickte, um sich mit Wilhelmi nach der Mühle zu begeben.

Als sie dieselbe noch nicht einmal von Weitem erkennen konnten, hörten sie bereits das laute Klappern.

»Er ist noch wach,« sagte der Musterzeichner. »Er ist ganz glücklich, daß er Arbeit hat.«

Die Thür war von Innen verriegelt; sie mußten also pochen. Nicht Wilhelmi’s Bruder, sondern seine Schwägerin öffnete. Sie leuchtete die Beiden mit der Laterne an und sagte im Tone des Erstaunens: »Du, Schwager? Um Gotteswillen! Es ist doch nicht etwa daheim etwas Schlimmes passirt?«

»Nein. Ist der Bruder wach?«

»Ja. Er ist in der Mühle.«

»Rufe ihn! Wir haben mit ihm zu reden.«

»So geht hinein in die Stube! Ich werde ihn holen.«

Als sie dann ihren Mann brachte, machte er ein ebenso erstauntes Gesicht, wie vorhin sie. Er betrachtete Wilhelmi und meinte dann im Tone der Erleichterung: »Gott sei Dank! Ich hatte schon Sorge! Aber Du machst ein so glückliches Gesicht, daß ich beinahe denke, es ist Dir etwas Gutes passirt, anstatt etwas Schlimmes!«

»Du hast Recht; Du bist überhaupt ein gescheidter Kerl! Ich gestehe, daß mir etwas höchst Glückliches passirt ist. Das werde ich Dir auch sofort beweisen. Du hast mir heute zwanzig Gulden besorgt. Hier hast Du sie wieder! Gieb mir achtzig heraus!«

Er warf seinen Hundertguldenschein mit einer Miene auf den Tisch, als ob ihm solche Papiere nur so zugeflogen kämen.

»Hundert Gulden!« sagte der Müller. »Mensch, wie kommst Du bei Deiner Armethei zu diesem Gelde?«

»Hier steht mein Kassirer!«

Er zeigte dabei auf Arndt. Der Müller musterte diesen und fragte:

»Dein Kassirer! Rede nicht in solchen Räthseln!«

»Na, das ist doch kein Räthsel, sondern ein sehr selbstverständliches Ding: Dieser Herr hat mir das Geld geschenkt.«

»Geschenkt? Bist Du von Sinnen?«

»Ich nicht, vielleicht er, da er es verschenkt hat! Ja, guckt ihn Euch nur richtig an! Wißt ihr, wer er ist?«

Und als sie ihm die Antwort schuldig blieben, fuhr er fort:

»Wir haben heute von ihm gesprochen, und als ich ihm von Euch erzählte, ist er selbst mit hergekommen.«

Der Müller wußte noch immer nicht, was er denken solle; Frau Pauline aber wurde von ihrem weiblichen Scharfsinne auf die richtige Spur geführt.

»Ah! Du warst bei dem Herrn Pfarrer?« fragte sie.

»Noch nicht.«

»Also bei Hauser’s?«

»Auch nicht.«

»So!« sagte sie enttäuscht. »Da habe ich mich also geirrt. Ich freute mich bereits, denn ich dachte –«

»Nun, was dachtest Du?«

»Du brächtest uns den – den – den Fürsten des Elendes.«

»Na, das ist er ja auch.«

»Mach keinen Spaß! Du bist ja noch gar nicht bei Pastor’s und Hauser’s gewesen.«

»Das war auch nicht nöthig, denn der Herr kam zu mir.«

Es gab nun eine Erklärung, welche weit kürzer war, als die freudige Aufregung, welche dann folgte. Die brave Müllerin wollte den Tisch decken, natürlich zu Ehren des vornehmen Gastes, und dieser hatte sich alle Mühe zu geben, sie davon abzuhalten. Sie war voller Wonne, als sie hörte, daß der Waldkönig gefangen werden solle. Dadurch kam ja ihr Mann von dem gefährlichen Pachte los. Arndt bat, den Keller sehen zu dürfen, und die Müllerin holte, von ihrem Schwager aufmerksam gemacht, den bereits erwähnten Kammerschlüssel herbei.

Der Keller lag nicht zwischen den Grundmauern des Hauses, sondern er war hinter der Mühle in den Felsen gegraben. Der Schlüssel öffnete das Schloß, und mit Hilfe einer Laterne nahm Arndt den Keller in Augenschein.

Es war ein langer, viereckiger Raum, dessen Wände, Decke und Fußboden ganz aus Felsen bestanden. Arndt sah sich enttäuscht; dennoch untersuchte er jeden Zollbreit des Raumes, doch ohne Erfolg.

»Was suchen Sie?« fragte der Müller.

»Ich hatte eine Vermuthung, welche sich leider nicht bestätigt hat. Darum brauchen wir auch nicht weiter darüber zu sprechen. Gehen wir wieder fort.«

»Aber, was rathen Sie mir?«

»Lassen Sie die Sache so, wie sie ist. In zwei oder drei Tagen werden wir besser als jetzt wissen, woran wir sind.«

Das war der Bescheid, welchen er geben konnte. Als er dann mit dem Musterzeichner die Mühle verließ, ahnte er nicht, welche Bedeutung dieser Keller, in welchem er heute nichts Auffälliges bemerkt hatte, noch für ihn erlangen werde.

Er ging nochmals mit zu Wilhelmi, um dem Brief ein anderes Couvert zu geben, dessen Aufschrift er täuschend nachahmte; dann machte er sich auf den Weg zur Försterei.

Der alte Wunderlich hatte Wort gehalten. Er war noch wach. Ja, er hatte sogar seine Barbara geweckt, damit sie mit ihm auf Arndt’s Heimkehr warten solle. Dieser sollte sofort erzählen. Er berichtete so viel, als er für nöthig hielt und sagte dann: »Nun habe ich morgen eine ganz wichtige Reise. Haben Sie Zeit oder nicht, Vetter?«

»Warum?«

»Ich möchte Sie gern mit mir haben.«

»Wohin?«

»Nach Helfenstein.«

»Sakkerment! Was wollen Sie dort? Brauchen Sie mich?«

»Ich muß einen Schlitten nehmen, und doch würde mir der Fuhrmann im Wege sein, da ich vielleicht Veranlassung finde, mich einige Male umkleiden zu müssen. Daher hätte ich es gern, wenn Sie den Kutscher machten. Ich weiß, Sie bekommen ganz gern Schlitten und Pferde anvertraut.«

»Das ist die geringste Sorge. Wann soll es fortgehen?«

»Um acht Uhr. Zunächst geht es nach der Amtsstadt von Helfenstein. Ich muß auf das Gerichtsamt.«

»Wohl in Angelegenheit des Waldkönigs?«

»Nein, sondern in Gustav Brandt’s Angelegenheit.«

Das electrisirte den Förster. Er sagte:

»Was? Ist’s möglich! Was soll da geschehen?«

»Es soll eine Exhumation vorgenommen werden.«

»Wie? Exhumiren heißt, eine Leiche ausgraben. Sie wollen ein Grab öffnen lassen?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Um zu sehen, ob es eine Leiche enthält.«

»Donnerwetter! Jedes Grab enthält eine Leiche! Was denn sonst Anderes? Etwa ein Puppentheater oder einen Leierkasten?«

»Hm! Es kann auch einmal vergessen werden, die Leiche in das Grab zu legen.«

»Dann würde die ganze Leichengevatterschaft betrunken sein, und der Todtengräber gar verrückt, wenn er das Grab zuschaufelt, und es ist kein Sarg darin.«

»Oder es kann auch vorkommen, daß die Leiche aus dem Sarge gestohlen wird.«

»Alle Teufel! Leichenräuberei?«

»Ja.«

»Das ist mein Geschmack nicht. Lieber würde ich mir, wie die alten Römer, ein hübsches, junges Mädchen rauben, anstatt eine Leiche.«

»Appetitlicher ist das freilich. Doch kann es auch Verhältnisse geben, welche es verzeihen lassen, sich mit einer Leiche zu beschäftigen, anstatt mit einem hübschen Mädchen. Also, Vetter, fahren Sie mit?«

»Das versteht sich! Sie wünschen es, und da muß ich doch. Außerdem macht mich Ihre Exhumirung ganz neugierig. Darf man nach den näheren Umständen fragen?«

»Die werden Sie schon noch kennen lernen. Jetzt thut es Noth, eine Stunde oder zwei zu schlafen.«

»Thun Sie das, Vetter! Ich werde mich nur ein Bischen auf das Canapee herlegen, denn ich muß eher wach sein, als Sie, da ich das Geschirr besorgen muß.«

Früh punct acht Uhr fuhr ein Schlitten vom Forsthause ab. Der Förster lenkte die Pferde. Neben ihm saß Arndt, das Äußere ganz so, wie er sich im Forsthause zu zeigen pflegte.

Kurz vor Helfenstein lenkten sie links ab nach der Amtsstadt zu. Es war dies dieselbe Stadt, auf deren Bahnhof einst Alma von Helfenstein, der »Sonnenstrahl«, so gastfreundliche Aufnahme gefunden hatte, als sie unter der Nachricht, daß ihr Bruder verbrannt sei, zusammengebrochen war.

Vor der Thür des Amtsgebäudes stieg Arndt aus und begab sich, während der Förster beim Schlitten blieb, nach dem Anmeldezimmer.

»Zu wem wollen Sie?« fragte der Expedient.

»Zum Herrn Amtmann.«

»Der hat jetzt keine Zeit.«

»Meine Sache ist nothwendig!«

»Sind sie bestellt?«

»Nein.«

»So warten Sie!«

»Geben Sie diese Medaille sofort beim Herrn Amtmann ab!«

Das wirkte. Der Mann nahm die Medaille, betrachtete sie, machte Arndt eine tiefe, respectvolle Verbeugung und verschwand. Schon nach kurzer Zeit kehrte er zurück und complimentirte ihn in das Zimmer des Amtmannes.

Dieser war selbst gespannt, was der Inhaber dieser Medaille bei ihm wolle. Etwas Gewöhnliches konnte es doch wohl nicht sein. Er bot Arndt einen Stuhl an und fragte: »Muß ich mich mit der Medaille begnügen?«

»Ich bitte darum.«

»Aber einen Namen dürfen Sie doch wohl sagen? Ich muß Sie ja nennen können, wenn ich mit Ihnen reden soll.«

»Ich heiße jetzt Arndt.«

»Schön, Herr Arndt. Ich stelle mich zur Verfügung.«

»Ich möchte ein Grab öffnen lassen, Herr Amtmann.«

»Ah! Liegt ein Antrag vor?«

»Nein.«

»Haben Sie Genehmigung?«

»Die hoffe ich von Ihnen zu erhalten.«

»Ich bin nicht competent. Ueber Exhumirungen hat das Kreisamt zu bestimmen.«

»Und doch wende ich mich an Sie. Ich habe nämlich keine Zeit, den gewöhnlichen Bureauweg einzuschlagen.«

»Das thut mir leid. Ich bin auf keinen Fall befugt, die Erlaubniß zur Oeffnung eines Grabes zu geben.«

»Auf keinen Fall?«

»Ich kenne keinen einzigen.«

»Auch diesen nicht?«

Er zog die Karte des Ministers hervor. Der Amtmann las die wenigen Worte, prüfte die Unterschrift auf das Sorgfältigste, zog ein höchst unterthäniges Gesicht, machte eine tiefe Verbeugung und sagte: »Dieser Fall ist allerdings selten und mir noch nie vorgekommen. Ich habe zu gehorchen. Darf ich mich erkundigen?«

»O, gewiß.«

»Der Ort?«

»Helfenstein.«

»Ah! Wessen Leiche?«

»Eine Kindesleiche – –«

»Ah, ein Kindesmord?«

»Nein, sondern vielleicht das Gegentheil.«

Der Amtmann machte ein sehr frappirtes Gesicht und fragte:

»Das Gegentheil eines Kindesmordes? Was könnte das wohl sein?«

»Der von mir gebrauchte Ausdruck klingt allerdings räthselhaft, ist aber trotzdem der richtige. Wie lange amtiren Sie bereits hier, Herr Amtmann?«

»Ich wurde erst vor vier Wochen nach hier versetzt.«

»So sind Ihnen die hiesigen Verhältnisse noch unbekannt. Vor ungefähr zwei Dezennien nämlich verbrannte der einzige Sohn des Barons von Helfenstein – –«

»O, davon habe ich sehr wohl gehört. Solche Fälle sprechen sich weit herum und werden im Gedächtnisse behalten. Es war am Tage jener Verhandlung gewesen, in welcher ein Doppelmörder zum Tode verurtheilt wurde. Er entkam leider!«

»Er entkam – leider? Wer ist das gewesen?«

»Ein gewisser Brandt, schlechter, unbrauchbarer Polizist, Schwindler, Spieler und zuletzt Mörder.«

»Hm! Scheint ein famoser Galgenstrick gewesen zu sein!«

»Gewiß! Sogar sein eigener Vater hatte kein Mitleid mit ihm gehabt, sondern verlangt, daß er nicht begnadigt, sondern hingerichtet werde.«

»Herzlos!«

»Pah! Der Sohn hatte es verdient. Ja, an jenem Tage ist Schloß Hirschenau abgebrannt. Der junge Baron konnte nicht gerettet werden.«

»Lebt aber vielleicht noch.«

»Sapristi!« entfuhr es dem Beamten. »Verbrannt, und lebt doch noch?«

»Entweder ist er verbrannt, oder er lebt noch. Nur Eins von Beiden kann der Fall sein, mit dessen Aufklärung ich betraut bin.«

»Ich bin erstaunt – fast consternirt!«

»Mein Beileid!« sagte Arndt mit einer Verbeugung.

»Das scheint also ein celebrer Fall zu werden!«

»Vielleicht.«

»Höchst secret zu behandeln!«

»Natürlich. Auf Ihre Discretion kann ich natürlich bauen, da Sie ja bereits amtlich dazu verpflichtet sind.«

»Ganz natürlich! Aber bitte, erklären Sie weiter!«

»Ich habe nicht die Befugniß, eine Erklärung abzugeben. Ich darf nur sagen, daß ich wünsche, ohne Aufsehen und ganz im Geheimen mir ein Grab öffnen zu lassen, um zu sehen, ob sich in demselben ein Leichnam befunden hat.«

»Befunden hat? Unbegreiflich.«

»Leider darf ich mir nicht die Mühe geben, es Ihnen begreiflicher zu machen. Ich bedarf eines Zeugen, den ich mit habe, und einer Gerichtsperson, welche mir zu bestimmen, ich Sie höflichst ersuche – vielleicht ein Actuar oder Assessor.«

»O nein! Bei einem so hochwichtigen Falle lasse ich mich nicht vertreten. Ich gehe selbst mit.«

»Sehr erfreut! Sind Sie dem Helfensteiner Todtengräber bekannt?«

»Ich glaube nicht, daß er mich bereits gesehen hat.«

»So gilt es, sich mit den nöthigen amtlichen Documenten auszurüsten, damit dieser Mann nicht im Stande sei, uns den Gehorsam zu verweigern.«

»Ich werde das besorgen. Soll ein Actenstück über den Befund angefertigt werden?«

»Gewiß.«

»So sind die dazu nöthigen Materialien mitzunehmen. Wann wünschen Sie den Aufbruch?«

»Baldigst.«

»In einer Stunde kann ich zur Verfügung stehen.«

»Schön! Mein Kutscher, welcher zugleich mein Zeuge ist, wird unten an der Thüre bereit sein. Mich treffen Sie auf dem Kirchhofe an.«

»Ah! Sie warten nicht hier auf mich?«

»Nein. Wir müssen alles Aufsehen vermeiden. Daher möchte ich bitten, vor dem Dorfe auszusteigen und sich möglichst unbemerkt nach dem Gottesacker zu begeben. Der Kutscher wird den Schlitten im Gasthofe einstellen und dann nachkommen. Für jetzt meine Empfehlung.«

Er ging und gab unten dem Förster den Befehl, sich in einem Gasthofe zu verweilen und den Amtmann nach einer Stunde abzuholen. Auch ertheilte er ihm seine Weisungen, wie er sich sodann in Helfenstein zu verhalten habe.

»Aber Sie? Was thun Sie jetzt?« fragte Wunderlich.

»Ich gehe voran nach Helfenstein.«

»Zu Fuße, in diesem Schnee?«

»Pah!«

Was machte er sich aus einer Wanderung durch den Schnee! Er befand sich in der Heimath, und indem er so die Straße dahinschritt, welche nach dem Forsthause führte, in welchem er geborden worden war, kam die Erinnerung an vergangene Zeiten mit aller Macht über ihn.

Als er die Stelle erreichte, an welcher er, der Flüchtling damals seinem Sonnenstrahl begegnet war, ohne daß sie ihn erkannt hatte, blieb er stehen und faltete die Hände.

»Welch ein Tag damals!« flüsterte er. »Und, ist es jetzt etwa besser?«

Er sah das alte Forsthaus, an welchem er vorüberschritt; er erblickte das neue Schloß, nun auch bereits zwanzig Jahre alt, und dann sah er das Dorf vor sich liegen.

Unter den letzten Waldbäumen stehend, machte er Toilette. Er sah ganz aus wie ein einfacher Landbewohner. Er schritt durch das Dorf und blieb vor der Schmiede stehen. Die Thür stand offen. Funken sprühten vom Ambosse. Der alte Wolf stand dabei und handhabte den großen, schweren Schlaghammer wie ein Junger, und sein Sohn sekundirte ihm. Während einer Pause warf der Alte einen neugierigen Blick auf den Fremden. Dieser wischte sich mit der rechten Hand das rechte Auge. Sofort trat Wolf heraus.

»Heda, Landsmann,« fragte er. »Wo da her?«

»Von dort.«

Dabei zeigte Arndt nach der Richtung hin, aus welcher er gekommen war.

»Und wo da hin?«

»Wieder zurück.«

»Brauchst Du Cigarrenfeuer?«

Der Alte hatte das Zeichen verstanden und wollte ihn in die Schmiede haben. Darum antwortete Arndt:

»Deshalb kam ich her.«

»So komm herein!«

Das wurde so gethan wegen einiger halbwüchsigen Burschen, welche sich in der Nähe mit Schneeballen warfen.

Als Arndt sich in der Schmiede befand, warf der Alte die Thüre zu und fragte:

»Wohl Botschaft?«

»Ja.«

»Von welchem?«

»Wirst’s sehen. Da.«

Er zog den Brief heraus und gab ihn hin. Wolf öffnete ihn und las den Zettel, ohne sich eines geschriebenen Schlüssels zu bedienen. Das war ihm so geläufig, daß man annehmen mußte, er habe solche Briefe bereits in großer Anzahl erhalten. Er nickte dann mit dem Kopfe und sagte: »Es ist gut und wird besorgt. Warum kommt heute der gewöhnliche Bote nicht?«

»Ist krank.«

»Hoffentlich bist Du ebenso sicher, he?«

»Denke es wohl. Auch soll ich eine Quittung mitbringen.«

»Quittung? Wieso? Warum?«

»Zum Zeichen, daß Du den Brief erhalten hast.«

»Ach so! Weil Du ein Neuer bist. Wie soll diese Quittung beschaffen sein?«

»Gleich auf den Brief, den ich wieder mitnehmen soll, und darunter Dein Name.«

»Schön! Wird besorgt. Warte einen Augenblick!«

Er begab sich nach der Stube und brachte dann die Quittung. Sie bestand, wie Arndt begehrt hatte, aus dem Briefe, den er überbracht hatte, und aus den von dem Schmiede mit starken Buchstaben darunter geschriebenen Worten: »Gelesen. Wird geschehen. Wolf, Schmied in Helfenstein.«

»So!« sagte der Alte. »Bist Du zufrieden?«

»Ja.«

»So gehe in die Stube und trinke einen Schnaps! Komm!«

Arndt ging mit und goß sich mit Todesverachtung den schlechten Kornbranntwein in den Mund.

»Hoffentlich weißt Du, was so ein Auftrag zu bedeuten hat?« meinte der Schmied.

»Das versteht sich!«

»Und läßt meine Quittung nicht in falsche Hände kommen?«

»Wer sollte sie bekommen, als nur der König?«

»Kennst Du ihn?«

»Nein.«

»Das heißt, gesehen hast Du ihn und auch mit ihm verkehrt; aber wer er ist, das weißt Du nicht?«

»So ist es.«

»Hat er noch Anderen geschrieben?«

»Ja.«

»Wem?«

»Dem Obersberger.«

»Das weißt Du?«

»Warum nicht?«

»Hm! So ist der König mit Dir vertrauter als mit Deinem Vorgänger. Warst Du beim letzten Male dabei?«

»Ja.«

»Das soll eine ganz verdammte Geschichte gewesen sein!«

»Weil Du gefehlt hast. Der König ist teufelswild.«

»Ich kann nichts dafür und werde übrigens diese Schlappe bald auswetzen.«

»Dann adieu.«

»Adieu! Laß Dich nicht erwischen!«

Arndt wendete sich jetzt dem Kirchhofe zu. Hinter einer dicht beschneiten Hecke veränderte er sein Äußeres, so daß er wieder das vorige Aussehen bekam.

Als er in das Wohnhaus des Todtengräbers trat, fand er diesen mit seiner Frau beim Mittagsmahle sitzen. Er wurde nach seinem Begehr gefragt.

»Sie sind der Todtengräber?« erkundigte er sich.

»Ja.«

»Haben Sie Familie?«

»Nein. Wir sind allein und kinderlos.«

»Haben Sie das Gräberverzeichniß da?«

»Natürlich. Von welchem Jahre wünschen Sie es?«

»Vor zwanzig Jahren, den dritten Juli.«

»Gleich. Oder dürfen wir erst essen?«

»Geben Sie mir das Buch. Ich werde selbst nachschlagen.«

Er erhielt das Verzeichniß und fand den Tag, an welchem das Kind der Botenfrau begraben worden war. Die Nummer des Grabes stand dabei.

»Wie lange bleiben hier die Gräber unberührt?«

»Wieso?« fragte der Mann, welcher gar nicht wußte, was gemeint war.

»Ich wollte fragen, wie viele Jahre es hier dauert, ehe die Gräber wieder geöffnet werden?«

Der Todtengräber schob einen höchst umfangreichen Bissen in den Mund, kaute ihn, schluckte und antwortete dann: »Hm! Ich bin nun eine ziemliche Zeit im Amte und habe nur wenige Gräber zu öffnen brauchen. Im letzten, welches ich aufmachte, lag eine Frau, die wohl vor vierzig Jahren gestorben war.«

»Ist dies bei Kindern auch der Fall?«

»Ja, die Kinder haben ihre besondere Abtheilung, die ich noch gar nicht angerührt habe. Das Dorf ist klein und der Friedhof im Verhältnisse so groß, daß wir unsere Todten lange in Ruhe lassen können.«

»So ist also wohl auch das Kind, nach welchem ich fragte, noch nicht wieder ausgegraben worden?«

»Nein. Ich habe es nicht nöthig gehabt. Aber, warum fragen Sie so? Ist etwas mit diesem Kinde?«

»Ja. Es steht nämlich zu vermuthen, daß dieses Kind gar nicht begraben worden ist.«

Der Todtengräber stand im Begriffe, wieder einen Bissen in den Mund zu schieben, blieb aber vor Erstaunen mit demselben vor den weit geöffneten Lippen halten.

»Wie?« fragte er. »Was? Gar nicht begraben?«

»Ja.«

»Das ist doch unmöglich!«

»Warum?«

»Es muß doch eine jede Leiche begraben werden?«

»In der Regel, ja. Bei der Beerdigung des betreffenden Kindes scheint aber Etwas vorgekommen zu sein, in Folge dessen man das Grab ohne die Leiche zugeschüttet hat.«

»O, das kann ja gar nicht passiren?«

»Doch, mein Lieber!«

»Nein. Ich muß das kennen, denn ich bin Todtengräber. Die Leiche wird gebracht; man legt den Sarg in das Grab, und dann, wenn die Leidtragenden sich entfernt haben, wird fast immer sofort mit dem Zuschütten begonnen. Ein Todter kann doch nicht gut ausreißen.«

»Aber er kann ausgerissen werden.«

»Sapperlot! Das wäre ja Leichenraub!«

»Allerdings!«

»Der mit Zuchthaus bestraft wird.«

»Sogar mit einer sehr hohen Zuchthausstrafe. Kurz und gut, ich will Ihnen sagen, daß man den Verdacht hat, die Leiche dieses Kindes sei geraubt oder unterschlagen worden.«

»Donnerwetter! Doch nicht etwa von dem Todtengräber, meinem Vorgänger?«

»Nein. Ich bin gekommen, um mich zu überzeugen, ob das Grab leer ist.«

»Was? Es soll also geöffnet werden?«

»Ja.«

»O, lieber Herr, das geht nicht so schnell! Dazu ist die Anwesenheit der Obrigkeit nöthig.«

»Das wird auch der Fall sein. In spätestens einer halben Stunde wird der Amtmann mit noch einigen Herren kommen, um die Ausgrabung vornehmen zu lassen.«

»Herrgott! Eine Leiche ausgraben! Hier, in Helfenstein, in unserem kleinen Orte! Was werden die Leute dazu sagen! Was für ein Aufsehen wird das machen!«

»Gar keines!«

»Denken sie? O doch! So Etwas ist doch hier noch gar nicht vorgekommen! Und die Botenfrau! Oh!«

»Lebt diese noch?«

»Ja. Sie ist jetzt ein steinaltes Mütterchen und kann kaum noch laufen. Hier bei uns werden nämlich die Leute vor der Zeit alt. Die Armuth zehrt am Leben.«

»Nun, sie soll zunächst nichts erfahren, und auch den Anderen darf nichts gesagt werden. Die Exhumirung soll nämlich in aller Verschwiegenheit vorgenommen werden. Verstanden?«

»Ja. Also auch noch verschwiegen? Also wirklich ein Verbrechen! Ich bin ganz starr vor Erstaunen!«

»Das sehe ich. Sie haben Ihren Bissen noch immer nicht in den Mund gesteckt. Essen Sie zunächst. Ich werde unterdessen hinausgehen und mir das Grab suchen. Es ist Nummer Einundfünfzig.«

»Fangen Sie gleich hinter meinem Häuschen an zu zählen, da ist die Nummer Eins.«

Arndt ging hinaus. Zwar war der Kirchhof beschneit, aber er lag hoch und den Lüften so ausgesetzt, daß der Wind die Erhöhungen kahl gefegt hatte. Man konnte die Gräber deutlich erkennen.

Nummer Einundfünfzig lag in der zweiten Reihe. Arndt bemerkte auf den ersten Blick, daß dieses Grab noch tiefer eingesunken war, als alle anderen. Das war ein Umstand, der ihm zu denken gab. Er kehrte nach kurzer Zeit wieder zum Todtengräber zurück.

Gerade als er durch die hintere Thüre in das kleine Häuschen trat, kam Förster Wunderlich zu der vorderen herein.

»Pünktlich gewesen?« fragte der Alte. »Sie haben bereits da draußen recognoscirt?«

»Ja. Aber Sie hätte ich jetzt noch nicht erwartet.«

»Warum?«

»Ich habe geglaubt, der Richter werde eher kommen. Er sollte doch aussteigen, und dann hatten Sie das Geschirr nach der Schänke zu bringen.«

»Er hatte keine Lust dazu.«

»Keine Lust? Ah! Bei solchen Angelegenheiten ist doch nicht etwa die augenblickliche Stimmung eines Beamten maßgebend. Wo befindet er sich denn jetzt?«

»Er ist mit nach der Schänke gefahren, um ein Glas Grog zu trinken, ehe er hierher kommt.«

»In die Schänke? Ich glaube, es giebt nur eine einzige hier?«

»Ja.«

»Deren Besitzer der Schmied ist?«

»Er ist der Wirth.«

»Sapperment, wie unvorsichtig! Gerade dieser sollte am Allerwenigsten von unserer Anwesenheit erfahren. Na, kommen Sie herein in die Stube. Nun haben wir auf den Amtmann zu warten.«

Als sie in die Stube traten, war der Todtengräber nicht zu sehen, und als Arndt nach ihm fragte, antwortete die Frau: »Er ist schnell einmal fortgegangen, wird aber sehr bald wiederkommen.«

»Er hatte sich nicht zu entfernen! Glaubt er etwa, daß wir uns nach ihm richten müssen?«

»Entschuldigen Sie, lieber Herr! Es war wegen der Werkzeuge.«

»Die hat er doch jedenfalls zu Hause?«

»Ja, aber jetzt im Winter ist der Boden so hart, daß Sie lange warten müßten, bis das Grab geöffnet ist. Er ist daher gegangen, sich die Spitzhaue schärfen zu lassen.«

Arndt zog die Brauen zornig zusammen.

»Die Spitzhacke schärfen?« sagte er. »Nicht wahr, das macht doch nur der Schmied?«

»Ja.«

»Na, so steht sehr zu vermuthen, daß wir heute ein ganz gehöriges Fiasko zu verzeichnen haben werden.«

»Weshalb?«

»Das werden Sie schon erfahren, meine Beste. Setzen wir uns!«

Sie nahmen auf der alten Holzbank Platz, welche an dem Kachelofen stand, und hatten ziemlich lange zu warten, bis der Amtmann eintraf. Dieser grüßte und fragte dann: »Haben Sie diese Leute hier schon verständigt?«

»Natürlich!« antwortete Arndt, und sein Ton ließ errathen, daß er sich nicht in der rosigsten Laune befinde. »Ich höre, daß Sie mit nach der Schänke gefahren sind?«

»Ja. Es war unterwegs so kalt; ich mußte mir einen Schluck Grog geben lassen.«

»Hm! Sie sind allein?«

»Nein. Ich habe noch einen Mann mit, um das Protocoll aufsetzen zu lassen.«

»Wo befindet sich dieser?«

»Er wird gleich kommen.«

»Ah! Auch er verspürte Appetit nach Grog?«

»Nur nach Kaffee. Er traf, eben als wir aus der Schänke kamen, den Ortsvorsteher und hatte in amtlicher Angelegenheit einige Erkundigungen einzuziehen. Ich bin unterdessen natürlich weitergegangen.«

Arndt drehte sich scharf auf dem Absatze herum und stieß die zornigen Worte hervor:

»So! Das ist ja recht schön!«

»Wieso?« fragte der Amtmann, über den Ton erstaunt, in welchem dies gesagt worden war.

Arndt drehte sich wieder um. Er sah gar nicht so aus, als ob er geneigt sei, Rücksicht auf die Stellung des Richters zu nehmen, sondern er antwortete ebenso zornig wie vorher: »Das fragen Sie noch?«

»Herr! Ich verstehe Sie nicht! Ich begreife Sie nicht!«

»Ich Sie ebenso wenig! Bitte, beantworten Sie mir die Frage: Wir sind zum Zwecke einer Exhumirung hier?«

»Ja.«

»Dieselbe soll eine geheime sein?«

»Gewiß!«

»Daher sollten Sie bereits vor dem Dorfe aussteigen und sich direct hierher verfügen?«

»So war ausgemacht. Aber die Kälte –«

»Pah! Ein Beamter muß wissen, was er zu thun hat, wenn er vor der Wahl steht, zwischen seiner Pflicht und einem Glase Bauerngrog!«

»Herr! Ich hoffe, daß Sie wissen, welches Amt ich bekleide!«

»Eben weil ich das weiß, habe ich geglaubt, daß Sie thun, was Ihres Amtes ist.«

Der Richter kaute am Barte. Er war verlegen und zornig zugleich, doch unterdrückte er möglichst seinen Ärger.

»Das hat mir noch Niemand gesagt,« meinte er.

»So thut es mir leid, daß gerade ich es sein muß, der voraussichtlich den Nachtheil trägt, welcher Ihnen diese erste Rüge einbringt.«

»Rüge?«

Bei diesem Worte röthete sich das Gesicht des Beamten.

»Ja, Rüge,« antwortete Arndt.

»Herr, eine Rüge nehme ich nur von einem meiner Vorgesetzten entgegen.«

»Nun, ich habe mich Ihnen gegenüber legitimirt und glaube, genugsam nachgewiesen zu haben, daß ich, wenn auch nicht für immer, so doch in der gegenwärtigen Angelegenheit Derjenige bin, dessen Weisungen Sie nachzukommen haben. Ich bat Sie, mir einen Actuar mitzugeben; Sie entschlossen sich, selbst mitzukommen, und haben es sich also gefallen zu lassen, wenn ich Sie, falls von Ihrer Seite ein so bedeutender Fehler begangen wird, eben als Actuar, als subaltern anrede. Oder wünschen sie vielleicht, daß ich vorher Ihre Vorgesetzten frage, wie ich mich in diesem Falle zu Ihnen zu stellen habe? Diese Herren würden dann erfahren, daß ich jetzt nicht Veranlassung habe, mit Ihnen zufrieden zu sein.«

Der alte Förster hatte alle Achtung vor seinem Vetter Arndt; jetzt aber leuchteten seine Augen vor stolzer Freude auf. Er bemerkte jetzt ja noch viel deutlicher als bisher, daß dieser vermeintliche Verwandte ein ganzer Kerl sein müsse.

»Donnerwetter!« dachte er im Stillen. »Der Kerl thut ganz so, als ob er Hahn im Korbe sei. Einen Amtmann auf diese Weise abzukanzeln, dazu gehört schon Etwas!«

Der Beamte seinerseits fand keine Worte. Er mußte freilich zugeben, daß er in der vorliegenden Angelegenheit sich nach Arndt zu richten habe; aber er sah doch nicht ein, warum er einen so scharfen Verweis hinnehmen müsse.

»Sie sprechen von einem bedeutenden Fehler,« meinte er endlich. »Bitte, wollen Sie die Güte haben, mir nachzuweisen, daß ein solcher in Wirklichkeit von mir begangen worden ist?«

»Ich habe nicht geglaubt, daß ein solcher Nachweis wirklich nothwendig ist. Die Ausgrabung der Leiche sollte ja, wie schon wiederholt erwähnt wurde, im Geheimen stattfinden.«

»Das wird sie ja auch!«

»Meinen Sie? Ah! Das möchte ich beinahe naiv nennen! Sie waren, wie Sie schon sagten, noch niemals hier?«

»Nein.«

»Desto mehr wird Ihre Anwesenheit auffallen.«

»Aber man wird nicht wissen, weshalb ich anwesend bin.«

»Man wird es erfahren, weil man neugierig sein wird.«

»Nun, wird das so großen Schaden machen?«

»Einen Schaden, der wohl nie wieder gut zu machen sein wird, Herr Amtmann!«

»Hm! Darf ich um die Erklärung bitten?«

»Sie liegt so nahe, daß ich mich sehr wundere, um sie angegangen zu werden. Wir exhumiren, um einem vermuthlichen Verbrechen auf die Spur zu kommen. Wo ist das Verbrechen geschehen?«

»Hier.«

»Und wo wird sich der Thäter befinden, falls er noch lebt, Herr Amtmann?«

»Vielleicht auch hier.«

»Schön! Dieser Mann erfährt, was wir thun; er wird wissen, welches Grab wir öffnen; er sieht, daß es dasjenige ist, welches mit seiner That im Zusammenhange steht; diese That muß also verrathen, entdeckt worden sein; er ist gewarnt, er fühlt sich unsicher –«

»Hm! Verflucht! Daran habe ich nicht gedacht!« sagte der Amtmann, der sich jetzt sehr verlegen zeigte.

»Aber ich! Und darum bat ich Sie, sich nicht sehen zu lassen!«

»Vielleicht läßt es sich wieder gut machen, indem wir den Thäter festnehmen.«

»Ah! Wie wollen Sie das anfangen? Kennen Sie ihn?«

»Leider nein!«

»Also! Wir wollen heute feststellen, daß die That geschehen ist; aber die Person ist noch zu suchen. Ich habe Ihnen mitgetheilt, daß die Angelegenheit mit der freiherrlichen Familie von Helfenstein in Beziehung zu bringen sei. Sie mußten daraus schließen, daß wir es nicht mit gewöhnlichen Verhältnissen und Personen zu thun haben werden, und darum war Geheimniß doppelt und zehnfach geboten. Hier kommt ein Herr. Ist er Ihr Begleiter?«

»Ja, der Amtsschreiber Reichelt.«

Der Betreffende war eingetreten und grüßte höflich. Arndt fragte ihn scharf:

»Ist der Kaffee gut bekommen?«

Der Mann kannte den Grund dieser Frage nicht und antwortete ganz verdutzt:

»Ja, sehr gut!«

»Na, das freut mich! Voraussichtlich wird er mir desto schlechter bekommen! Doch, Sie können ja nichts dafür, daß ich lieber friere als mich in meinen Obliegenheiten irre machen lasse. Wenn nur nicht, um die Sache noch schlimmer zu machen, auch der Todtengräber davon gelaufen wäre!«

Die Frau dieses Letzteren hörte das nicht. Es war ihr in der Nähe der Herren doch etwas schwül geworden, und darum hatte sie das Zimmer verlassen.

Der Amtmann freute sich darüber, jetzt Einen zu haben, auf den er den Zorn Arndt’s leiten konnte. Er fragte: »Fortgelaufen? Wohin?«

»Zum Schmiede.«

»Auch in die Schänke also? Warum?«

»Um seine Spitzhacke schärfen zu lassen.«

»Sie hätten ihn nicht fortlassen sollen.«

»Er ist gegangen, ohne mir von seinem Vorhaben ein Wort zu sagen. Uebrigens habe ich ihm glücklicher Weise vorher die größte Verschwiegenheit eingeschärft.«

»Nun, so wird er hoffentlich wohl das Plaudern unterlassen.«

»Meinen Sie? Da kennen Sie die Bewohner solcher kleinen Orte nicht. Hier weiß ein Jeder ganz genau, was der Andere thut und treibt; man lebt, so zu sagen, in Familie; man kennt keine Geheimthuerei, und wenn ja einmal Jemand irgend Etwas verheimlichen will, so gelingt es ihm nicht. Sie Beide waren beim Schmiede; jetzt kommt auch der Todtengräber zu ihm; da ist die Klatschgevatterei sofort fertig. Und das Schlimmste dabei ist –«

Er hielt inne und blickte sich vorsichtig um.

»Wohin ist die Frau?« erkundigte er sich.

»Ich höre sie draußen Holz hacken,« antwortete der alte Wunderlich.

»Nun, so wird sie nichts hören. Das Schlimmste dabei ist, daß ich gerade den Schmied in Verdacht –«

Da ging die Thür auf, und der Todtengräber trat ein, ganz athemlos vom schnellen Laufen.

»Verzeihen Sie!« sagte er. »Es ging nicht so rasch, wie ich dachte. Das Feuer war fast ausgegangen.«

»Hinaus mit Ihnen!« herrschte ihn Arndt an.

Der erschrockene Mann machte sich schleunigst davon. Arndt aber wendete sich an den Amtmann:

»Sie saßen natürlich im Gastzimmer der Schänke?«

»Ja.«

»Waren Gäste da?«

»Nein.«

»Wer bediente Sie?«

»Die Wirthin, ich glaube, die Frau des Schmiedes junior

»Der Herr Senior kam nicht hinein?«

»O doch!«

»Kennt er Sie?«

»Ich glaube nicht. Aber diesen Herrn kennt er von der Gerichtsschreiberstelle her, und aus dessem Verhalten mir gegenüber mag der Schmied wohl gemerkt haben, daß ich der Vorgesetzte bin.«

»Hat er ein Gespräch mit Ihnen begonnen?«

»Er machte den Versuch.«

»Worüber?«

»Ueber das gewöhnliche Thema: das Wetter. Aber ich hielt ihn fern von mir.«

»Nun, wollen sehen. Gehen wir nach dem Kirchhofe!«

Der Todtengräber hatte ganz und gar nicht daran gedacht, daß es seine Pflicht sei, vorher zu fragen, ob er sich entfernen dürfe. Er hatte, als Arndt hinausgegangen war, an die jetzige Frosthärte des Erdreiches und an die stumpfe Hacke gedacht, und war also in größter Eile zum Schmiede gegangen.

In der Werkstatt fand er nur den jungen Schmied, da dessen Vater in der Gaststube war und sich Mühe gab, von dem Amtmann Etwas über den Grund von dessen Anwesenheit zu hören. Als der Alte aber merkte, daß er nichts erfahren werde, kehrte er verdrießlich in die Schmiede zurück, wo er den Todtengräber antraf. Er sah die Hacke in dessen Hand und fragte: »Was soll es mit dem Dinge?«

»Schärfen.«

»Es hat doch Zeit? Wir schlagen noch ein paar Nägel und lassen dann das Feuer ausgehen. Morgen ist auch noch ein Arbeitstag. Da kommt die Hacke daran.«

»Das geht nicht. Ich brauche sie augenblicklich.«

»Augenblicklich?« fragte der Schmied verwundert.

»Ja. Ich habe keine Minute zu viel Zeit.«

»Wozu denn?«

»Ein Grab zu öff-zu graben.«

»Es ist doch Niemand gestorben!«

»Ich muß doch und dennoch ein Loch aufmachen!«

Das war ungewöhnlich. Ungewöhnlich war auch die Anwesenheit des Amtmannes. Der Alte war ein Schlaukopf und hatte zudem ein böses Gewissen. Er brachte sofort Beides in Verbindung. Er beschloß, auf den Busch zu klopfen. Darum warf er dem Todtengräber einen überlegenen Blick zu, lachte höhnisch vor sich hin und sagte: »Nur nicht so geheimnißvoll gethan!«

»Thue ich denn geheimnißvoll?«

»Ja. Aber ich weiß doch bereits, was es ist.«

»O, das glaube ich nicht!«

»Nicht? Der Amtmann sitzt drin bei mir!«

»Der Amtmann? Hm! Ja, der soll ja kommen!«

»Also! Und nicht er allein, sondern noch Einer. Nun, weiß ich es oder nicht?«

»Aber es soll ja geheim bleiben!«

»Dummkopf! Ich bin ja Mitglied beim Gemeindevorstand!«

»Ach so! Das ist etwas Anderes! Na, ich bin wirklich förmlich erschrocken!«

»Erschrocken? Das ist kein Grund dazu! Die Sache ist ja so einfach wie nur möglich!«

»Ja, einfach ist sie, aber doch erstaunlich. Ich glaube, so lange Helfenstein existirt, ist so Etwas nicht passirt. Ein Grab zu öffnen, weil man sehen will, ob das Kind fehlt!«

Jetzt waren es die beiden Schmiede, welche erschraken, obgleich der Alte vorher gesagt hatte, daß die Sache gar nicht zum Erschrecken sei. Wären ihre Gesichter nicht so rußig gewesen, so hätte der Todtengräber bemerken müssen, wie blaß sie geworden waren. Aber der Alte hatte sich zu sehr in der Gewalt. Er warf seinem Sohne einen warnenden Blick zu, nickte mit dem Kopfe und fragte dann: »Ja, ein Kind. Ist die Nummer eingeschrieben?«

»Einundfünfzig. Das Kind der Botenfrau.«

Jetzt wußten die Beiden, woran sie waren und daß es ihnen galt. Der Alte heuchelte die größte Gleichgültigkeit und sagte nur: »Aber wie kannst Du es schon wissen? Der Amtmann ist ja vorhin erst gekommen?«

»Es ist Einer bei mir.«

»Wer?«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Er ist jedenfalls vom Amte.«

»Nein. Von unserem Gerichtsamte ist er nicht. Ich sage Euch, der Kerl hat Augen, ja, Augen, denen man es anmerkt, daß sie durch zehn eiserne Thüren sehen können, so die echten, rechten Polizei-und Gensd’armerieaugen. Er hat gar nicht etwa feine Kleider an, muß aber dennoch, wie ich vermuthe, ein vornehmer Kerl sein.«

»Warum?«

»Weil er gar keinen Summs mit mir machte.«

»Na, denkst Du denn, die Herren von der Polizei sollen Dich mit gelben Glaceehandschuhen beim Barte zupfen?«

»Das nicht; aber ich bin doch auch, so zu sagen, Beamter.«

»Hm! Ja! Und was für einer!«

»Oho! Ein Todtengräber ist auch eine eingesetzte und verpflichtete Person! Wer zu mir kommt, um Etwas zu erfahren, hat sich in der richtigen Weise zu erkundigen.«

»Und das hat er wohl nicht gethan?«

»Ist ihm gar nicht eingefallen! Er hat mich ausgefragt, ungefähr so, wie der Schulmeister einen Jungen vernimmt!«

»Das ist freilich unhöflich!« meinte der Schmied ironisch.

»Im Buche hat er selber nachgeschlagen.«

»Auch noch!«

»Ja. Und dann ist er ganz allein hinaus zum Grabe gegangen, gerade so, als ob ich gar nicht da wäre!«

»Es ist doch Dein Recht, ihm das Grab zu zeigen.«

»Ganz gewiß!«

»Hat er sich denn vor Dir ausgewiesen?«

»Ausgewiesen? Wieso denn?«

»Ich meine, legitimirt?«

»Legitimirt? Nein. Sapperment!«

»Dummkopf! Das hätte ich nicht sein dürfen! Da könnte ein Jeder kommen und in meine Bücher gucken!«

»Das ist wahr! Da hast Du Recht! Ich brauche eigentlich keinen Menschen auf den Kirchhof zu lassen.«

»Na, Du sagtest ja, daß Du auch ein Beamter bist, und Du scheinst stolz darauf zu sein. Verhalten hast Du Dich aber ganz und gar nicht darnach.«

»Nur keine Sorge! Ich werde es nachholen!«

»Schön! Laß Dir nur die Legitimation vorzeigen! Du mußt doch wissen, wer der Kerl ist!«

»Das werde ich thun! Ganz gewiß werde ich es thun!«

»Na, da gehe einstweilen in die Küche und laß Dir von meiner Frau einen Schnaps geben.«

»Warum nicht in die Gaststube?«

»Weil da der Amtmann sitzt, Dummkopf! In zehn Minuten ist die Hacke spitz!«

Der Todtengräber ging. Die beiden Schmiede blickten sich eine Weile dumm an, und dann fragte der junge:

»Warum schickst Du ihn hinein?«

»Du bist eben so dumm wie er! Soll er hören, was wir reden?«

»Es kann ihm aber auffallen! Was wir zu reden haben, kann ja nachher gesprochen werden!«

»Dann ist keine Zeit dazu. Wir müssen rasch handeln!«

»Was denn?«

»Das müssen wir eben berathen. Ich war wirklich ganz steif und starr vor Schreck.«

»Ich auch!«

»Ein Glück, daß er es uns nicht ansehen konnte! Ich denke, diese alte Geschichte ist längst vorüber.«

»Na, daß das Grab leer ist, mußte doch einmal bemerkt werden; das ist sicher und gewiß.«

»Aber man hätte sich gewundert und weiter nichts. Nun kommen die Herren vom Gerichte. Weißt Du, was das heißt?«

»Daß die Sache verrathen ist.«

»Natürlich! Aber wie ist sie verrathen worden? Ich kann die Möglichkeit gar nicht einsehen. Donnerwetter! Ich hoffe doch nicht, daß man an uns denken wird?«

»Ah, wie sollte man!«

»Aber der Amtmann steigt gerade hier bei uns aus!«

»Doch nur, weil hier die Schänke ist!«

»Er behandelte mich so kurz, so von oben herab. Ich hätte ihn gar nicht gekannt, aber Deine Frau hat ihn einmal gesehen. Und was das Unbegreiflichste ist: der alte Wunderlich macht den Kutscher.«

Der Sohn hatte die Spitze der Hacke in das Feuer gesteckt; sie war glühend geworden. Er zog sie heraus, legte sie auf den Ambos und sagte, mit dem Hammer einen wütenden Schlag auf dieselbe ausführend: »Ich möchte in diese Geschichte hauen, gerade so wie hier auf das Eisen! Der Teufel hole sie!«

»Mit Fluchen erreichen wir hier nichts. Wir müssen gleich hinter dem Todtengräber her.«

»Wohin? Auch hinauf?«

»Ja. Wir müssen zusehen.«

»Donnerwetter! Daß sie uns gleich fassen können!«

»Unsinn! Ich muß den fremden Menschen sehen, ob ich ihn kenne. Und ich muß die Leute beim Graben beobachten, um vielleicht errathen zu können, wie die Sache steht.«

»Wie willst Du das bemerken?«

»Auf irgend eine Weise. Man braucht vielleicht gar nicht zu hören, was die Leute reden. Es läßt sich oft aus einer Bewegung oder einer Miene mehr schließen, als aus Worten. Und was ich nicht sehe, das siehst Du. Meine Augen sind nicht mehr so scharf wie früher.«

»Was, ich soll mit?«

»Natürlich! Zwei sehen mehr wie Einer.«

»Aber, man muß uns doch bemerken?«

»Nein, gar nicht. Wir gehen natürlich doch nicht etwa mit in den Kirchhof, sondern wir gucken über die Mauer.«

»Die ist zu hoch!«

»Aber hinten, wo der Gottesacker an den Wald stößt, ist eine Lücke. Weißt Du, da, wo innen die Hollundersträucher stehen. Die Jungens sind auf die Mauer gestiegen, um sich die Beeren zu holen, und da sind nach und nach einige Steine abhanden gekommen. Dort können wir stehen und, von dem Hollunder versteckt, Alles beobachten. Wenn das der Baron wüßte!«

»Sollte das etwa damit zusammenhängen, daß er heute hier angekommen ist und Dich zu sich bestellt hat?«

»Nein. Wo denkst Du hin? Er hat ja gar keine Ahnung. Und in seinem Interesse läge eine Oeffnung des Grabes doch wohl am Allerwenigsten. Na, schlag zu, damit wir fertig werden! Horch! Da kommt er wieder!«

Der Todtengräber kehrte zurück und meldete, daß der Amtmann sich mit seinem Begleiter entfernt habe. Nach kurzer Zeit erhielt er seine Hacke und eilte heim. Er wurde in der beschriebenen Weise von Arndt empfangen und flüchtete sich zu seiner Frau, gegen welche er über die Grobheit des Fremden raisonnirte.

Bald kamen die vier Herren aus der Stube und forderten ihn auf, mit an das Grab zu kommen. Er erinnerte sich an Das, was ihm der Schmied gesagt hatte; darum nahm er allen seinen Muth zusammen und sagte: »Das geht nicht so schnell, wie Sie denken!«

»Ah! Warum nicht?«

»Ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie denn eigentlich?«

Arndt legte ihm die Hand auf die Achsel und antwortete:

»Wer ich bin, das wird Ihnen sehr gleichgiltig sein; aber, kennen Sie vielleicht diesen Herrn?«

Er deutete dabei auf den Amtmann, welcher ein gerichtliches Document aus der Tasche zog.

»Nein,« antwortete der Todtengräber.

»Nun, so lesen Sie die Schrift, die er in der Hand hat.«

Der Mann sah das Amtssiegel, buchstabirte die Zeilen zusammen und meinte dann:

»Ja, wenn das so ist, so muß ich gehorchen! Haben Sie die Güte, meine Herren; kommen Sie!«

Arndt hielt, während sie ihm folgten, sein Auge scharf auf ihn gerichtet. Draußen, als sie die ersten Gräber erreichten, hielt er ihn beim Arme und sagte: »Halt, warten Sie einmal! Ehe wir beginnen, gestehen Sie zunächst Ihre Plauderhaftigkeit ein!«

Der Todtengräber warf einen erschrockenen Blick auf den strengen Sprecher und antwortete:

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr?«

»Ah, Sie verstellen sich! Sie haben dem Schmiede erzählt, wozu Sie Ihre Hacke schärfen ließen?«

»Kein Wort?«

»Sie lügen!«

Der Mann stammelte in höchster Verlegenheit:

»Ich sage die Wahrheit.«

»Schön! Haben Sie einmal als Angeklagter vor Gericht gestanden?«

»Nein.«

»Nun, so wird es Ihnen jetzt passiren. Ich werde sogleich nach dem Schmiede senden, um sie mit ihm zu confrontiren. Lügen Sie, so stelle ich Sie wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses unter Anklage, und Sie werden nicht nur bestraft, sondern Sie verlieren auch Ihre Stelle!«

»Herrgott!« entfuhr es dem Manne, mit welchem es Arndt jedenfalls nicht so schlimm meinte, als es den Anschein hatte.

»Ja, nun erschrecken Sie! Ich würde vielleicht nachsichtig sein, wenn Sie aufrichtig sprechen wollten.«

»Ich versichere, daß ich – habe – daß ich bin –«

»Unsinn! Schwatzen Sie nicht! Wir haben hier nicht Zeit, Ihre Unwahrheiten anzuhören. Soll ich Sie etwa arretiren lassen? Heraus mit der Wahrheit!«

Der Todtengräber befand sich in der schauderhaftesten Verlegenheit. Arretirt werden, bestraft werden, seine Stelle verlieren – das wollte er nicht. Er stammelte: »Ich habe es nicht böse gemeint!«

»Ah! So! Also geschwatzt?«

»Er wußte es schon!«

»Das heißt, er schlug auf den Strauch?«

»Nein, er wußte es wirklich!«

»Pah! Er war gescheidter als Sie; das ist Alles. Was haben Sie ihm erzählt?«

»Daß ein Grab geöffnet werden soll.«

»Auch welches?«

»Ja.«

»War sein Sohn dabei?«

»Sie waren Beide in der Schmiede.«

»Sagten Sie nicht vorhin, daß das Feuer beinahe ausgegangen gewesen sei?«

»Ja; sie wollten aufhören.«

Ueber das Gesicht Arndt’s blitzte es wie ein heller Gedanke. Er warf einen raschen, forschenden Blick über die vier Kirchhofsmauern. Dieser Blick blieb an der Lücke, von welcher die beiden Schmiede gesprochen hatten, haften. Dann wendete er sich an den Richter: »Herr Amtmann, ich werde mich jetzt dort unter jene Lücke legen.«

»Ah, warum?«

»Das werde ich Ihnen später erklären. Jetzt giebt es keine Zeit dazu. Ich bitte Sie, die Arbeit beginnen zu lassen und während derselben keinen Blick nach der Stelle, an welcher ich mich befinde, zu werfen.«

»Aber ich frage dennoch, warum?«

»Ich kann es nicht sagen, ich habe keine Zeit dazu. Also, meine Herren, die Richtung, in welcher ich liege, lassen Sie ganz unbeachtet. Sie drehen ihr den Rücken zu. Davon hängt wahrscheinlich das Gelingen unseres Vorhabens ab!«

Während die Anderen sich sein Verhalten nicht zu erklären vermochten, entfernte er sich, aber keineswegs in der Richtung, welche er Ihnen angedeutet hatte, sondern er kehrte nach dem Wohnhause zurück.

»Das begreife, wer da will!« sagte der Amtmann, indem er den Kopf schüttelte. »Ich nicht!«

»Das ist auch nicht nothwendig!« sagte der alte Wunderlich. »Wenn nur er es begreift.«

»Aber warum geht er denn nach dem Hause, wenn er sich nach einem ganz anderen Ort begeben will?«

»Sakkerment! Das ist seine Sache! Er ist zehnmal gescheidter als wir alle zusammen. Das können Sie glauben. Es sind Fehler gemacht worden, und ihm ist irgend eine Idee gekommen, wie diese Fehler ausgewetzt werden können. Darum – ah, siehe da! Dort schleicht er sich an der Mauer hin, nach den Hollundern zu! Ich glaube gar, daß er dort Jemand belauschen will, der die Absicht hat, uns zu belauschen! Meine Herren, ein Schuft, wer von jetzt an nach der Lücke blickt! Er hat es verboten, er hat seine guten Gründe dazu, und so dürfen wir ihm das Spiel nicht verderben. Vorwärts! Gehen wir endlich an die Arbeit!«

Wie der alte Förster gesagt hatte, war Arndt nur scheinbar nach dem Häuschen zurückgekehrt. Wie eine Erleuchtung war der Gedanke über ihn gekommen, daß der Schmied den Vorgang belauschen werde. Dies war nur an der Stelle möglich, wo einige der obersten Steine in der Mauer fehlten.

Vielleicht aber befand sich der Lauscher bereits dort. Darum machte Arndt den scheinbaren Umweg. Das Geräusch, welches seine schleichenden Schritte im Schnee hervorbrachten, wurde von dem Schalle der in das harte Erdreich nur schwer eindringenden Hacke übertönt. Er erreichte die Stelle und duckte sich hart an dem Stamme des Hollunders nieder.

So sehr er sein Gehör anstrengte, war doch zunächst nichts zu vernehmen. Schon glaubte er, daß seine Combination diesmal eine irrthümliche gewesen sei, da hörte er draußen an der Mauer den Schnee knirschen, und bald darauf erklang eine gedämpfte Stimme: »Siehst Du! Sie haben bereits angefangen!«

»Ja, aber wohl erst seit Kurzem. Der Todtengräber ist noch beim Anfange. Verdammter Weg hier herauf durch den tiefen Schnee!«

»Es ging nicht anders. Den rechten Weg durften wir ja nicht gehen. Hol’s der Teufel, sie haben das richtige Grab!«

»Hast Du es Dir gemerkt?«

»Und wie! Sooft ich auf dem Gottesacker war, hat es mir die Augen hingezogen. Es ist ein armseliges Gefühl, zu wissen, daß ein Grab leer ist.«

»Pah, Vater! Du wirst seit einiger Zeit von Grillen geplagt, die Du Dir vertreiben mußt!«

»Vertreibe sie, wenn Du kannst!«

»Gefährlich kann doch diese Geschichte für uns ja gar nicht werden.«

»Sehr gefährlich im Gegentheile.«

»Warum? Du hast, um einen Mord zu verhüten, den der Baron von Dir verlangte, eine Leiche verbrennen lassen. Das ist doch weiter nichts als das Zeichen eines guten Herzens!«

»Aber ein Leichenraub dabei!«

»Hm!«

»Und Unterschlagung eines Kindes oder so ähnlich!«

»Es wird nicht entdeckt werden!«

»Das habe ich bisher auch gedacht. Aber wie kommen diese Menschen auf den Gedanken, daß hier ein Grab leer sei, und gerade dieses?«

»Das ist freilich ein Wunder.«

»Und zwar ein Wunder, welches wir vielleicht sehr theuer zu bezahlen haben werden.«

»Wie soll man auf uns kommen?«

»Das weiß nur der Teufel, der dabei jedenfalls sein Spiel hat. Sollte der alte Uhlig etwas gemerkt haben?«

»Gewiß nicht. Der hätte mit uns davon gesprochen.«

»Dann ist es mir ein Räthsel. Aber wenn es herauskommt, so steht noch mehr auf dem Spiele.«

»Du siehst zu schwarz!«

»Hm! Wer dieses todte Kind gestohlen hat, der hat auch das Feuer an das Schloß gelegt und den kleinen Baron fortgeschafft. Das wird man wohl herausfinden.«

»So schnell geht das nicht. Und da, da fällt mir ein höchst probates Mittel ein.«

»Welches?«

»Wir stehlen noch ein Kind.«

»Was fällt Dir ein?«

»Na, so dumm ist der Gedanke denn doch nicht. Weißt Du, ich denke, daß diese Herren sich zunächst nur überzeugen wollen, ob das Grab leer ist. Den Thäter wissen sie nicht.«

»Woraus willst Du das schließen?«

»Wäre er ihnen bekannt, so hätten sie ihn arretirt und mit hierher gebracht.«

»Sapperment, das ist wahr! Aber wenn sie einmal erst gesehen haben, daß die Leiche fehlt, dann werden sie weiter forschen. Anhaltspunkte haben sie jedenfalls.«

»Das ist sicher.«

»Ich ahne, daß sie zu uns kommen werden.«

»Ich glaube nicht daran. Aber man muß sich dennoch vorbereiten. Wenn sie uns arretirten, so würden sie uns auch hierher an das Grab führen.«

»Natürlich! Um uns zu beweisen, daß es leer ist.«

»Ja. Aber wie nun, wenn es nicht leer ist.«

»Es ist aber ja leer!«

»Jetzt! Verstehst Du?«

»Donner und Doria! Du sagtest vorhin, daß wir noch ein Kind stehlen sollten – ah!«

»Nun, ist der Gedanke gut oder nicht?«

»Sehr gut! Diese Herren würden aber Gesichter schneiden und lange Nasen machen!«

»Und wir wären natürlich unschuldig.«

»Das muß aber bald geschehen.«

»Freilich, freilich! Heute noch. Heute ist hier das Erdreich noch locker und es wird auch ziemlich dunkel sein.«

»Aber wir haben doch den Brief vom Könige. Wir sollen mit unsern Paschern –«

»Das unterlassen wir. Jeder ist sich selbst der Nächste!«

»Gut! Woher aber das Kind nehmen? Von hier nicht, das geht unmöglich an. Man würde es bemerken.«

»Wo anders leider auch! Ja, wenn wir Sommer hätten! Der Schnee verräth Alles!«

Es trat eine Pause ein. Wie froh war Arndt, auf den kostbaren Gedanken gekommen zu sein, sich hier zu verstecken! Nach einiger Zeit sagte der alte Schmied: »Sie sind schon ziemlich tief hinab. Der Alte arbeitet, daß ihm der Schweiß von der Stirn läuft. Aber, Du, wo ist denn der Fremde, von dem er redete?«

»Den sehe ich nicht.«

»Ich auch nicht. Da ist der Amtmann, der Schreiber und auch der Förster, dem ich schon noch Eins auswischen werde; aber der Fremde – hm!«

»Er wird noch in der Stube sein.«

»Möglich, daß es ihm hier zu kalt ist. Er wird warten wollen, bis sie auf den Sarg treffen. Dann kommt er, und es wird sich zeigen, ob wir ihn kennen.«

»Vielleicht zeigt es sich dann, ob wir Angst zu haben brauchen oder nicht. Aber, da kommt mir ein guter Gedanke, nämlich wegen des Kindes vorhin!«

»Heraus damit!«

»Wie wäre es denn mit dem alten Gottesacker vor der Stadt?«

»Alle Teufel! An den habe ich nicht gedacht! Dort wird ja kein Mensch mehr begraben, seit der neue angelegt wurde.«

»Wir könnten also ganz sicher arbeiten.«

»Und was die Hauptsache ist, die Leiche würde alt genug sein.«

»Und es käme kein Mensch, um am Tage zu bemerken, was da gemacht worden ist!«

»Gut, gut! Wir holen also heute eine Kindesleiche und legen sie hier herein. Was geschehen soll, muß gleich geschehen, denn wir können nicht wissen, ob wir morgen noch Zeit dazu haben.«

»Und noch Eins: Hacken nehmen wir nicht mit. Das macht zu viel Lärm. Wir nehmen spitze Eisenstangen, mit denen wir die gefrorene Erde leicht aufbrechen können. Das geht so ruhig ab, daß wir keine Gefahr laufen. Wenn Alles klappt, so können wir um Mitternacht fertig sein.«

»Ja, das war ein ausgezeichneter Gedanke! Geradeso, als wenn man dem Gegenspieler eine falsche Karte in die Hand spielt, so daß er verlieren muß. Donnerwetter, es war mir ziemlich angst geworden!«

»Gefährlich sieht es aus. Und je weniger wir wissen, was diese Leute im Schilde führen, desto vorsichtiger müssen wir sein und desto schneller müssen wir handeln. Jetzt wird man alt, und die vergangenen Zeiten kehren in den Kopf zurück. Man kann doch nicht Alles so recht verwinden und verdauen!«

»Besser ist’s, man macht sich keine Gedanken.«

»Die braucht man sich gar nicht zu machen; sie kommen ganz von selbst. Wenn ich jetzt im Bett liege und nicht einschlafen kann, so sehe ich ihn daliegen in seinem Blute – verdammt!«

»Wen? Den Hauptmann?«

»Ja, den Hellenbach! Wie mir der arme Brandt leid gethan hat! Aber es ging nicht anders.«

»Wir bekamen den Baron in die Hand, und an dem Brandt hast Du es ja wieder gut gemacht!«

»Wo er nur stecken mag?«

»Der ist todt, sonst hätte man doch wohl wieder einmal etwas von ihm gehört.«

»Das ist’s ja eben! Wenn wir damals mit der Wahrheit hervorgetreten wären, so wäre er gerettet gewesen und hätte nicht aus dem Lande gemußt.«

»Laß die alten Sachen ruhen! Schau, sie müssen auf den Sarg getroffen sein. Die Herren treten näher. Nun wird wohl auch der Fremde erscheinen.«

Dieses Gespräch war nicht etwa zusammenhängend geführt worden, sondern es hatte Zwischenpausen gegeben, in denen die Beiden sich ihre Bemerkungen über Das, was vor ihren Augen vorging, mittheilten. Es hatte eine lange Zeit bis jetzt gedauert, und der Todtengräber schien wirklich mit seiner Arbeit ziemlich zu Ende zu sein. Da hörte Arndt einen leisen Ruf des Schreckens. Nämlich der junge Schmied sagte: »Donnerwetter! Schau, da drüben!«

Und nach einem kurzen Augenblicke antwortete sein Vater:

»Das ist verflucht! Kommen die Jungens Holz lesen bei diesem Schnee. Wenn sie uns sehen!«

»Wir müssen fort. Sie kommen gerade auf uns zu!«

»Höchst fatal! Gerade jetzt, wo wir den Fremden zu sehen bekommen! Aber die Buben haben wirklich die gerade Richtung auf uns zu, und sehen lassen dürfen wir uns nicht.«

»Jammerschade! Aber es geht nicht anders. Also fort! Da rechts zwischen die Büsche hindurch!«

Arndt hörte den Schnee knirschen. Er erhob sich, hielt das Auge vorsichtig, so daß sein Kopf von draußen nicht gesehen werden konnte, an die erwähnte Mauerbresche und erblickte auf der einen Seite die beiden sich fortschleichenden Männer und auf der anderen drei Knaben, Kinder armer Leute.

Sie waren beschäftigt, sogenanntes Leseholz aus dem Schnee hervor zu suchen und zu sammeln, und es hatte wirklich den Anschein, daß sie näher kommen würden.

Jetzt war es genug. Er begab sich nach dem Grabe, jedoch nicht in gerader Richtung, sondern auf einem Umwege, so daß von der Mauer aus seine Fußtapfen nicht gesehen werden konnten. Er war ein vorsichtiger Mann und hielt es immerhin für möglich, daß die Schmiede nach der Entfernung der Knaben zurückkommen könnten.

»Jetzt aber nun erklären Sie mir, warum Sie sich versteckten!« empfing ihn der Amtmann.

»Später!« antwortete er, indem er auf den Todtengräber winkte. »Wir sind nicht unter uns.«

»Ah ja! Ich bin neugierig.«

»Wie weit sind wir hier?«

»Sogleich!« antwortete der Todtengräber. »Da kommt schon Holz. Es ist schneller gegangen, als ich dachte. Die Kindergräber sind glücklicher Weise nicht tief.«

Noch einige Spatenstiche, und dann war der kleine Sarg blosgelegt. Man konnte ihn zwischen den ausgebreiteten Beinen des Todtengräbers, welcher unten im Grabe stand, sehen.

Er deutete erstaunt auf den Sarg und sagte:

»Nicht verfault in dieser langen Zeit! Das Holz muß außerordentlich harzig gewesen sein.«

»Und es hat sich keine Leiche darin befunden, wie ich denke,« fügte Arndt hinzu. »Sonst wäre er dennoch schon in Moder verwandelt. Oeffnen Sie!«

Das Holz war aber doch so morsch, daß es in der Hand des Todtengräbers zerbrach. Der Deckel wurde entfernt, und nun zeigte es sich, daß der Sarg wirklich leer war.

Ein Ruf des Erstaunens erscholl aus dem Munde des Amtmannes und des Schreibers.

»Ich dachte es!« bemerkte Arndt einfach.

»Ja,« bemerkte der Förster, »es ist geradezu unbegreiflich: Was dieser Mensch sich denkt, das trifft stets zu. Und wenn er einmal sagen würde, daß mein Bärbchen seine Schwiegertochter sei, so verwettete ich meinen Kopf, daß sie es auch wirklich ist. Dieser Vetter ist rein allwissend!«

»Aber wie ist das zugegangen?« fragte der Richter. »Sie müssen gewisse Haltepunkte haben, Herr!«

»Die habe ich allerdings. Ich werde mir das Vergnügen machen, sie Ihnen später noch mitzutheilen. Für jetzt aber ist die Hauptsache: Meine Herren, haben Sie sich überzeugt, daß dieses Grab keine Leiche enthält?«

»Ja, vollständig, jawohl,« lautete die mehrstimmige Antwort rundum.

»Sind Sie bereit, das zu beschwören?«

Der verlorne Sohn
titlepage.xhtml
karl-may-der-verlorne-sohn.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019358-0019457.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019458-0019555.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019556-0019587.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019588-0019687_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019588-0019687_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019588-0019687_split_002.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019688-0019786_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019688-0019786_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019787-0019886.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019887-0019986_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019887-0019986_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019887-0019986_split_002.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019987-0020086_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019987-0020086_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020087-0020185.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020186-0020283_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020186-0020283_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_002.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_003.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_004.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_005.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020384-0020399.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020400-0020495.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020496-0020595.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020596-0020695.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020696-0020794_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020696-0020794_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020795-0020891.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020892-0020991_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020892-0020991_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020892-0020991_split_002.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020992-0021028.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021029-0021124_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021029-0021124_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021125-0021224.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021225-0021321.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021322-0021392.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021393-0021492.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021493-0021588.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021589-0021688_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021589-0021688_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021689-0021734.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021735-0021834.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021835-0021932.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021933-0022030.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022031-0022130.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022131-0022228.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022229-0022328.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022329-0022363.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022364-0022463.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022464-0022560.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022561-0022660.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022661-0022759.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022760-0022859.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022860-0022882.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022883-0022982.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022983-0023077.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023078-0023177.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023178-0023259.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023260-0023359_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023260-0023359_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023360-0023456.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023457-0023556.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023557-0023656.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023657-0023753.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023754-0023845.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023846-0023914_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023846-0023914_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023915-0024013.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0024014-0024112.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0024113-0024207.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0024208-0024306.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0024307-0024330.xml