Dritte Abtheilung

Die Sclaven der Schande

Erstes Kapitel

Ein Magdalenenhändler

In einer kleinen, stillen Straße der Residenz, wohin das Geräusch der verkehrsreicheren Stadttheile nicht zu dringen pflegte, gab es ein kleines Weinstübchen, welches – früher gar nicht sehr frequentirt – seit einiger Zeit recht lebhaft besucht wurde.

Diese neueren Gäste waren meist junge Leute, Studenten, sonstige Schüler, Commis und Andere. Das hatte seinen guten Grund, und dieser Grund bestand in einer neuen Kellnerin.

Das Mädchen, welches seit einiger Zeit hier bediente, war noch jung, kaum sechszehn Jahre alt, dabei aber ziemlich entwickelt und von einer eigenartigen Lieblichkeit, durch welche die Gäste angezogen wurden, ohne aber es zu wagen, zudringlich zu werden. Es lag über das rosige Gesichtchen ein Hauch von Unschuld und Kindlichkeit ausgebreitet, den Jeder respectiren mußte, der überhaupt das Herz eines nicht rücksichtslosen Menschen besaß.

Heute war es noch früh am Morgen. Das Local bestand aus zwei Stuben. In der hinteren saß – der fromme Herr August Seidelmann, Vorsteher des Vereins der Brüder und Schwestern der Seligkeit. Er verkehrte hier nicht selten. Er war mit dem Wirthe bekannt und auch vorhin mit dem Bemerken, daß die Kellnerin jetzt nicht anwesend sei, von demselben bedient worden.

Nach einiger Zeit trat dieselbe in die vordere Stube. Sie wußte nicht, daß sich in der hinteren ein Gast befinde, und setzte sich, eine Häkelarbeit vornehmend, an ihren Platz.

Es dauerte nicht lange, so kam ein Gast, ein Mann von Vertrauen erweckendem, ja beinahe ehrwürdigem Aussehen, welcher herablassend freundlich grüßte und sich einen Frühschoppen bestellte.

Die Kellnerin bediente ihn und kehrte dann an ihren Platz zurück. Sie vertiefte sich in ihre Arbeit so, daß sie gar nicht bemerkte, in welcher Art die Augen des Gastes auf sie gerichtet waren.

Er hatte nämlich in diesem Augenblicke gar nicht mehr das ehrwürdige Aussehen von vorhin. Sein Mund hatte sich gespitzt wie zum Kusse. Seine Augen leuchteten und ruhten mit einem Blicke auf ihr, der ebenso berechnend wie lüstern genannt werden mußte. Es war ganz so, als wenn ein Gourmand eine Delicatesse betrachtet und bei sich denkt: »Das möchtest Du wohl essen; aber, hm, wie wird es denn mit dem Preise stehen?«

Das Schweigen schien ihm nach und nach unbequem zu werden. Er räusperte sich halblaut, und dabei nahm sein Gesicht wieder ganz den vorherigen, Vertrauen erweckenden Ausdruck an. Er räusperte sich noch einmal und fragte dann: »Kennen Sie mich noch, Fräulein?«

Die plötzliche Anrede brachte eine leichte Röthe auf ihren Wangen hervor; sie antwortete:

»Sie waren gestern Abend hier?«

»Ja. Ich komme gleich heute früh wieder, weil Ihr Wein wirklich exquisit ist.«

»Das sollte der Herr hören.«

»Warum?«

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, als ob sie sich wundere, daß er so etwas Selbstverständliches nicht begreife, und antwortete: »Weil er sich darüber freuen würde.«

»Ach so? Und Sie? Freuen Sie sich nicht auch?«

»Es ist mir lieb, wenn der Herr mit der Einnahme zufrieden ist.«

»Und wenn Sie dabei auch eine Einnahme haben.«

Wieder blickte sie ihn fragend an. Er erklärte:

»Ich meine nämlich die Trinkgelder. Besinnen Sie sich, daß ich Ihnen gestern einen Gulden gab?«

»Es war zu viel!« antwortete sie, indem sie verlegen auf ihre Arbeit niederblickte.

»Zuviel? O nein. Es war gerade genug für ein so allerliebstes, hübsches – Getränk, wie dieser Weißwein ist.«

Er hatte das, was er eigentlich hatte sagen wollen, noch rechtzeitig unterdrückt und beobachtete nun, welchen Eindruck seine Worte gemacht hatten.

Sie schien gar nicht zu ahnen, daß er »Mädchen« anstatt »Getränk« hatte sagen wollen. Sie arbeitete weiter, und es hatte ganz den Anschein, als ob sie das Gespräch nun für abgebrochen und beendigt halte. Er aber fuhr fort: »Es ist darum so sehr schade, daß ich nicht wiederkommen kann.«

»Warum können Sie das nicht?«

»Weil ich nicht von hier bin. Das ist wohl auch der Grund, daß Sie mein Trinkgeld für zu hoch halten. Da, wo ich wohne, ist man nicht knauserig. Wer etwas Gutes genießt, der bezahlt auch gern und anständig.«

Sie antwortete nicht. Wieder verging eine Weile. Er suchte nach einem Anknüpfungspunkte. Sein Auge fiel auf das Pianino, welches an der Wand stand. Er fragte: »Für wen ist dieses Instrument?«

»Für die Gäste.«

»Nicht auch für Sie, Fräulein?«

»Nein.«

»So spielen Sie wohl gar nicht?«

»Ich habe es nicht gelernt.«

»Das ist schade! Clavierspielen gehört jetzt zur Bildung. Eine jede Dame muß es können.«

»Meine Eltern sind zu arm dazu.«

»Ach so! Darf ich fragen, was Ihr Vater ist?«

»Er ist Holzschnitzer.«

»Wo?«

»Droben im Gebirge. Leider aber kann er das Geschäft nicht mehr treiben. Er ist in die Kreissäge gekommen und hat dabei drei Finger der rechten Hand verloren.«

»O weh! Das ist schlimm! Da bedaure ich ihn von Herzen. Nun wird Ihre arme Mutter doppelt arbeiten müssen!«

Es flog ihr feucht über die Augen, als sie antwortete:

»Ich habe keine Mutter mehr. Sie starb vor drei Vierteljahren am Fieber.«

»An welchem Fieber?«

»Die Ärzte nannten es Hungertyphus.«

»Hungertyphus? Haben Sie denn Hunger gelitten?«

»Hunger eigentlich nicht, denn es gab stets etwas zu essen, wenn man auch nicht so recht satt wurde. Aber es wurde gesagt, daß diese Nahrung nicht zureichend sei; man verhungere, trotzdem man esse.«

»Das begreife ich nicht! Haben Sie Geschwister?«

»Noch drei Schwestern.«

»Welche älter sind als Sie?«

»Nein. Ich bin die Älteste.«

»Aber da werden Sie ja zu Hause gebraucht!«

»Eigentlich ja. Aber ich mußte dennoch fort, um Geld zu verdienen. Die nächste Schwester ist vierzehn Jahre alt; sie kommt zu Ostern aus der Schule und muß nun an meiner Stelle die Wirthschaft versorgen.«

»Und was macht Ihr Vater? Womit ernährt er sich?«

»Er handelt ein wenig mit Obst. Das bringt er trotz seiner invaliden Hand fertig.«

»Reich wird er dabei wohl nicht werden!«

»O nein. Aber der liebe Gott hilft doch immer.«

»Und Sie mit. Natürlich müssen Sie Ihren Lohn hergeben?«

Sie nickte. Ein lautes »Ja« zu sagen, das fiel ihr denn doch zu schwer. Sie hatte den Vater und die Geschwister von Herzen lieb. Was sie that, das that sie gern. Arm zu sein, ist keine Schande, aber so offen darüber zu sprechen, das widerstrebte doch ihrem Gemüthe.

Wieder kam eine Pause. Dann begann er von Neuem:

»Wie heißt Ihr Vater?«

»Weber.«

»Und Sie?«

»Ich werde Magda genannt.«

»Das ist doch wohl die Abkürzung von Magdalene?«

»Ja.«

Da glitt ein eigenthümlicher, faunischer Zug über sein Gesicht. Er richtete das Auge scharf auf sie und fragte: »Wissen Sie wohl, was man unter einer Magdalene versteht?«

»Nein,« antwortete sie, indem sie ihm dabei groß und offen in das Gesicht sah.

»Nun, haben Sie nicht von Maria Magdalena gehört?«

»O doch! Ich las von ihr in der Bibel.«

»So wissen Sie doch, wer sie war?«

»Eine Freundin und Anhängerin des Heilandes.«

»Und von der büßenden Magdalena, die gemalt worden ist, haben Sie auch gehört?«

»Nein.«

Sie antwortete offen und ohne Zaudern. Er erkannte, was er wissen wollte: Sie war ein sittlich reines, unverdorbenes Mädchen. Der Gedanke, welcher ihm gestern gekommen war, wurde jetzt zum Entschlusse. Diese Magda war eine wunderliebliche Knospe, welche versprach, sich zur Rose von vollendeter Schönheit zu entfalten.

»Haben Sie bereits an anderen Orten gedient?« setzte er das Gespräch fort.

Dies Gespräch war ein Examen, ohne daß sie es merkte.

»Hier ist meine erste Stelle,« erwiderte sie.

»Wieviel erhalten Sie?«

»Drei Gulden monatlich.«

»O weh! Das ist sehr, sehr wenig! Wie wollen Sie da Ihren armen Vater unterstützen, zumal Sie von den Besuchern dieses Locales keine großen Trinkgelder zu erhalten scheinen?«

»Es wird mir allerdings nicht leicht. Ich muß den ganzen Lohn dem Vater geben und brauche doch auch Geld für Wäsche und Verschiedenes. Vielleicht bekomme ich eine andere und bessere Stelle!«

»Sie wollen also nicht bleiben?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich zuwenig verdiene, und weil die Madame ein anderes Mädchen haben will.«

»Ist sie denn nicht mit Ihnen zufrieden?«

»Das wohl, aber –«

Sie stockte und erröthete.

»Nun, fahren Sie doch fort!«

»Sie zankt sich zuweilen mit dem Herrn.«

»Wohl wegen Ihnen?«

»Ja.«

»Hm! Das ist sehr unangenehm. Haben Sie denn bereits eine andere Stelle?«

»Noch nicht, obgleich ich zu jeder Zeit abziehen könnte.«

»Das ist doch nicht gebräuchlich!«

»Aber ich dürfte doch sogleich fort, wenn ich auf den letzten Monatslohn verzichten wollte.«

»So verzichten Sie doch lieber auf die lumpigen drei Gulden, wenn Sie eine bessere Stelle bekommen können!«

»Das thäte ich gar wohl. Aber ich bekomme eben keine bessere. Ich bin den Leuten zu jung, ich soll erst noch lernen. Man bietet mir gar nicht mehr als drei Gulden.«

»Ja, ja, so ist es hier in der Residenz! Bei uns bezahlt man zehnmal besser. Bei uns würde man Ihnen viel mehr bieten.«

Das electrisirte sie. Sie hob rasch das hübsche Köpfchen und fragte:

»Wo ist das?«

»In Rollenburg.«

»In dem Rollenburg, wo sich die Irrenanstalt befindet?«

»Ja, die Landesirrenanstalt und zwei Privatanstalten. Dort wissen die Leute zu leben. Dort nutzt man das Gesinde nicht so aus wie hier. Ein Mädchen, welches seine Arbeit macht, hat jeden Sonntag frei, einen hohen Lohn und ein sehr nobles Weihnachtsgeschenk.«

»Welchen Lohn bekommt man dort?«

»Hm! Das kommt auf die Stelle an, welche man bekleidet, ob Dienstmädchen, Hausmädchen, Zimmermädchen, Verkäuferin oder Kellnerin. Was würden Sie vorziehen?«

»Kellnerin möchte ich doch nicht gern wieder werden.«

»Warum?«

»Weil –«

»Nun, weil –? Sprechen Sie immerhin aufrichtig mit mir. Ich meine es aufrichtig mit Ihnen.«

»Weil die Gäste oft so zudringlich sind.«

»Ja freilich, da haben Sie Recht. Eine Stelle bei Damen würde Ihnen also lieber sein?«

»Ganz gewiß. Ich wäre ganz glücklich, wenn ich eine solche erhalten könnte!«

»Wirklich? Ah, das trifft sich wunderbar! Aber Sie wollen leider hier in der Residenz bleiben?«

»O nein. Der Ort, an dem ich mich befinde, ist ganz gleichgiltig, wenn ich nur so viel verdiene, daß ich meinem Vater zuweilen eine Erleichterung bereiten kann.«

»Dann ist es gerade, als ob das Schicksal mich hierher geschickt hätte. Ich weiß nämlich eine gute, sehr gute Stelle.«

»In Rollenburg?«

»Ja. Bei einer Verwandten von mir. Wissen Sie, sie ist eine Malerin, eine sehr berühmte Künstlerin. Sie hat eine Anzahl junger Damen in Pension, welche auch Malerinnen werden sollen. Für diese Damen braucht sie ein Stubenmädchen. Ein Dienst-und ein Hausmädchen hat sie bereits. Das Stubenmädchen soll die feineren und leichteren Arbeiten besorgen. Der Lohn ist sehr hoch, und daß diese Künstlerinnen feine Trinkgelder geben, das können Sie sich denken!«

Das unerfahrene Mädchen stand von seinem Platze auf. Die Augen leuchteten vor Freude und die Wangen erglühten wie Schnee, auf den der Strahl der Morgenröthe fällt. Der Gast fühlte sich dem Ziele nahe und fragte darum: »Würde Ihnen diese Stelle recht sein?«

»Wie ist der Lohn?«

»Fünfzehn Gulden monatlich.«

»Fünf – – mein Gott! Fünfzehn Gulden?«

»Ja, ohne die Trinkgelder und Geschenke.«

»O, könnte ich die Stelle bekommen! Welch ein Glück! Wie könnte ich da den Vater unterstützen!«

»Nun, ich will Ihnen sagen, daß meine Verwandte mich gebeten hat, mich hier nach einer passenden Person umzusehen; ich könnte sie gleich mitbringen.«

»Dann bitte, bitte, nehmen Sie keine Andere!«

Sie hielt ihm bittend das kleine Händchen entgegen. Er ergriff und drückte die zarten Finger, und antwortete dann im Tone väterlichen Wohlwollens: »Nun, Sie sind zwar jung –«

»Ich werde mir alle mögliche Mühe geben,« fiel sie voller Eifer ein.

»Schön! Man verlangt besonders Zweierlei. Erstens soll die Betreffende gutwillig sein.«

»O, was das betrifft, so will ich gern Alles thun, was man von mir verlangt.«

Er biß sich auf die Lippen, um ein Lachen nicht merken zu lassen, und sagte weiter:

»Das erwarte ich natürlich von Ihnen. Zweitens aber soll sie auch hübsch sein!«

Sie erröthete bis in den Nacken hinab.

»Hübsch?« fragte sie. »Warum das?«

»Denken Sie, lauter Malerinnen, Künstlerinnen! Solche Damen können häßliche Gesichter nicht dulden. Und außerdem ist es für eine Herrschaft immerhin empfehlend, wohlgebildete Dienerschaft zu haben.«

Sie befand sich sichtlich in einer ungewohnten Verlegenheit.

»Dann – dann werde ich wohl verzichten müssen!«sagte sie.

»Warum?«

Dieser Mensch spielte wirklich grausam mit dem reinen, unschuldigen Kinde. Er war ein Mephistopheles.

»Ich denke, daß ich solche Ansprüche nicht befriedige.«

»Sie meinen, daß Sie nicht hübsch genug sind?«

»Ja.«

»Da irren Sie sich! Sie brauchen gar nicht bange zu sein, denn ich bin überzeugt, daß Sie der Dame gefallen werden. Freilich möchte ich, ehe ich Sie engagire, sicher gehen. Sind Ihre Papiere in Ordnung?«

»Ja.«

»Sie können also augenblicklich fort?«

»Ja. Die Madame sagt es.«

»Aber der Herr?«

»Der ist heute verreist.«

»Aber es muß doch eine Kellnerin hier sein!«

»Die Dame nimmt einstweilen ihre Schwester her.«

»Gut! Also, sind Sie mit dem Lohne zufrieden, den ich Ihnen vorhin geboten habe?«

»Vollständig.«

»Und mit fünf Gulden Draufgeld, welche ich Ihnen jetzt gleich auszahle?«

»Herr, das ist doch zu viel!«

»Was ich Ihnen biete, ist allerdings ungewöhnlich viel; aber ich hoffe, daß Sie mir erkenntlich sein werden!«

»Ganz gern!«

»Schön! So werden Sie mir jetzt eine Bitte erfüllen.«

»Ja, wenn ich kann.«

»Sie können. Verschweigen Sie Ihrer jetzigen Herrschaft, wohin Sie gehen!«

»Warum?«

»Ich habe einen Grund, den ich Ihnen erst später sagen kann.«

»Ich will es thun.«

»Ich fahre mit dem Zuge Nachmittags fünf Uhr fort. Wollen Sie da auf dem Bahnhofe sein?«

»Ja.«

»Natürlich mit Ihren Sachen!«

»Ich habe nicht viel, denn ich bin arm. Eine kleine Lade, das ist Alles, was ich mitbringen werde.«

»Sie werden sich in Rollenburg sehr bald gute Wäsche und schöne Kleider anschaffen können.«

»Wie heißt die Dame, zu der ich komme?«

»Fräulein Melitta. Sie ist nämlich unverheirathet.«

»Und darf ich auch Ihren Namen erfahren?«

»Ich heiße Uhland und bin Rentier. Wissen Sie vielleicht, was das ist?«

»Ja, ein Herr, der von seinen Zinsen lebt.«

»Richtig. Fräulein Melitta ist eben so reich wie ich. Sie werden es dort sehr gut haben! Hier sind die fünf Gulden Draufgeld, welche ich Ihnen versprochen habe!«

»Ich danke!«

Sie nahm das Geld und steckte es ein. Er war dieser Bewegung mit Spannung gefolgt. Jetzt gab er ihr noch einen Gulden, indem er sagte: »Und das ist für den Wein.«

»Zuviel, Herr Uhland!«

»Schon gut! Sie haben das Draufgeld bekommen; die Sache ist abgemacht; ich rechne ganz bestimmt darauf, daß Sie zur rechten Zeit zum Zuge eintreffen!«

»O, ich werde bereits viel eher auf dem Bahnhofe sein!«

»Schön! Also auf Wiedersehen, liebes Kind!«

»Adieu, Herr Uhland!«

Er gab ihr die Hand und ging. Magda fühlte sich außerordentlich glücklich. Sie eilte sogleich zu ihrer Herrin. Diese war eifersüchtig auf sie und hatte gar nichts gegen ihren sofortigen Abzug.

Der fromme Schuster hatte jedes Wort gehört. Als der Fremde das Local verließ, trank auch er seinen Wein schnell aus, legte die Bezahlung neben das Glas und folgte ihm. Er wurde dabei von Magda gar nicht bemerkt, da diese ja gleich zu ihrer Herrin gegangen war.

Der sogenannte Rentier Uhland spazierte gemächlich durch mehrere Straßen und trat dann in ein feines Café, um sich einen Extragenuß zu gewähren.

»Ich habe ein brillantes Geschäft gemacht,« dachte er, »und kann mir eine Güte thun. Wenn nur diese Kleine auch Wort hält!«

Er hatte sich kaum niedergesetzt, so trat Seidelmann ein und schritt demselben Tische zu.

»Mit Erlaubniß?« fragte er.

Uhland warf einen bezeichnenden Blick auf die nahe stehenden leeren Tische, nickte aber doch.

Beide wurden bedient. Seidelmann legte sich bequem in dem Stuhle zurecht und begann:

»Sie scheinen meine Anwesenheit ungern zu bemerken?«

»Es giebt mehrere Tische hier.«

»Ich habe es aber nur auf diesen abgesehen.«

»Warum? Ist es Ihr Stammtisch?«

»Nein.«

»So begreife ich nicht –!«

»Sie werden sofort begreifen. Ich beabsichtige nämlich, hier an diesem Tische einen Herrn Uhland zu treffen.«

»Uhland?«

»Ja. Rentier.«

»Ah!«

»Aus Rollenburg.«

»Mein Herr!«

Uhland schien verlegen geworden zu sein. Seidelmann aber fuhr unbeirrt fort:

»Der eine Verwandte besitzt, welche Malerin ist.«

»Uhland heiße ich. Was wollen Sie von mir?«

»Sind Sie wirklich von Rollenburg?«

»Ja.«

»Aber Rentier sind Sie nicht!«

»Wie kommen Sie mir vor? Habe ich Ihnen denn gesagt, daß ich Rentier bin?«

»Nein; aber Anderen machen Sie es weiß!«

»Wem denn?«

»Einer gewissen Magdalene Weber.«

Der Fremde verfärbte sich. Er musterte den Schuster genauer, konnte sich aber unmöglich entschließen, ihn für einen verkleideten Polizisten zu halten; daher fragte er ziemlich barsch: »Herr, was gehen Ihnen meine Angelegenheiten an?«

»Sehr viel!«

»Lassen Sie mich ungeschoren!«

»Wenn Sie die betreffende Magda ungeschoren lassen!«

»Ich begreife nicht, von welcher Magda Sie sprechen!«

»Von der, welche Sie als Zimmermädchen in das Haus der berühmten Malerin Melitta bringen wollen!«

»Ich weiß von nichts!«

»Pah! Ich habe in dem hinteren Zimmer gesessen und Alles mit angehört.«

»Es war ein Scherz!«

»Unsinn! Aus Spaß giebt man nicht fünf Gulden Draufgeld!«

»Warum nicht? Das Mädchen ist wirklich hübsch.«

Da ließ der Schuster ein heiseres Kichern hören und sagte:

»Ich glaube gar, Sie halten mich für einen Polizisten!«

»Fällt mir gar nicht ein!«

»Warum leugnen Sie da?«

»Läßt man nur Polizisten nicht in seine Angelegenheiten sehen?«

»Sie haben nicht ganz Unrecht. Und meine scheinbare Zudringlichkeit muß Ihnen auffällig erscheinen. Aber ich habe wirklich ganz gute Absichten.«

»Die jedoch mir ganz gleichgiltig sind.«

»Daran zweifle ich. Ich bin gekommen, Ihnen ein sehr gutes Geschäft vorzuschlagen.«

»Was für eins?«

»Genau so eins, wie Sie soeben abgeschlossen haben.«

»Herr, wie wollen Sie wissen, was für Geschäfte ich mache! Lassen Sie mich in Ruhe.«

»Ihre Geschäfte sind allerdings mit gewissen Gefahren verbunden; darum spricht man nicht gern von ihnen. Aber ich hatte in letzter Zeit einige Male in Rollenburg zu thun und machte mir da das Vergnügen, Fräulein Melitta aufzusuchen –«

»Ah, Sie waren dort?«

»Ja. Warum nicht? Es bedarf da gar keiner Anmeldung oder Einführung. Wer kommt, der ist willkommen.«

»Warum erzählen Sie mir das?«

»Weil Fräulein Melitta Ihren Namen nannte.«

»Was? Sie sprach von mir?«

»Ja, sie sprach von Ihnen, allerdings nicht als von einem Rentier, der von seinen Zinsen lebt, sondern als von ihrem Agenten, dessen Geschmack und Talent sie die allerbesten Aquisitionen zu verdanken hat.«

»Sehr verbunden! Verfängt aber bei mir nicht!«

»Wollen sehen! Heute nun belauschte ich Sie mit der kleinen Magda. Ich hörte Wort für Wort.«

»Hole Sie der Teufel!«

»Er mag noch ein paar Jährchen warten! Ich habe gesehen, daß Sie ein zuverlässiger Geschäftsmann sind, und darüber freue ich mich so sehr, daß ich Ihnen noch einen zweiten Gegenstand zuweisen will.«

»Wer sind Sie?«

»Davon später!«

»Sie wollen sich Geld verdienen?«

»Keinen Kreuzer!«

»Das erregt Mißtrauen!«

»Weil Sie die Verhältnisse nicht kennen.«

»So erklären Sie sich!«

»Hören Sie! Es gab einen Mann, dem eine gewisse Marie Bertram unbequem wurde. Er that sie zu einer Dame, bei welcher sie die Vorschule der Liebenswürdigkeit absolviren sollte. Diese Schule fruchtete jedoch nicht viel, denn als diese Marie eine Anstellung in dem eigentlichen Tempel der Liebe erhielt, spielte sie die Vestalin.«

»Wie dumm!«

»Ganz richtig!«

»Ist sie so geblieben?«

»Das läßt sich weder bejahen noch verneinen. Sie wurde oft in Versuchung geführt, konnte aber dabei nicht beobachtet werden. Jetzt ist sie noch unbequemer geworden als vorher. Man will sie los sein.«

»Wie alt ist sie?«

»Achtzehn.«

»Welche Figur?«

»Voll, doch nicht zu sehr. Sie ist die Rose, während Ihre heutige Magda die Knospe ist.«

»Ist sie theuer?«

»Keinen Kreuzer.«

»Sapperment!«

»Nicht wahr, Sie wundern sich!«

»Da muß es aber einen Haken haben.«

»Allerdings. Sie ist nämlich ein Wenig tiefsinnig.«

»Das thut nichts. Man bringt sie in lustige Gesellschaft, da hält der Tiefsinn nicht lange an. Wo ist sie zu treffen?«

»In der Ufergasse, bei der ehrwürdigen Madame Groh, Rentière, ganz so, wie Sie Rentier sind.«

»Ich kenne sie, kenne sie! Eine Etage tiefer wohnt Madame Pauli mit ihrer Damenpension?«

»Ja.«

»Wer hat in diesem Falle die Entscheidung?«

»Ich«

»Sind Sie denn mit dem Mädchen verwandt?«

»Nein. Ich bin aber Vormund.«

»Sapperment! Sie wagen viel!«

»Gar nichts. Ich kenne Sie doch nicht. Sie sagen, daß Sie ein ehrlicher Mann sind, und ich vermiethe Ihnen meine Mündel. Was riskire ich dabei?«

»Sehr viel freilich nicht. Also im Ernste, was wäre zu bezahlen, Herr Vormund?«

»Gar nichts, wie ich bereits gesagt habe.«

»Dann wäre ich ja der größte Esel des Erdbodens, wenn ich mir das Mädchen nicht einmal ansehen wollte. Gehen Sie mit?«

»Ja. Doch trinken wir vorher in Gemächlichkeit aus!«

Nach kurzer Zeit machten sie sich nach der Uferstraße auf den Weg! Zwei Treppen hoch in dem betreffenden Hause klingelte Seidelmann. Ein Dienstmädchen öffnete, erkannte den Schuster und ließ die Beiden in den Salon treten. Dort saß Madame Groh am Fenster und las in einem Buche mit Goldschnitt, welches fromme Communionsbetrachtungen enthielt. Sie legte das Buch weg und erhob sich.

»Störe ich Dich etwa, liebe Adelheit?« fragte Seidelmann.

»Du mich? Niemals. Soeben las ich eine geistreiche Anspielung auf die Hussiten mit ihrer Ziskatrommel. Bei Gelegenheit mußt Du die Stelle sehen!«

»Zeichne sie ein. Jetzt aber gestatte, daß ich Dir den Herrn Rentier Uhland aus Rollenburg vorstelle!«

»Sehr angenehm!«

»Sie müssen nämlich wissen, daß ich der Vorsteher der Brüder der Seligkeit bin, während Madame die Vorsteherin der Schwestern dieses heiligen Bundes ist.«

»Ah, wirklich? Dann kenne ich Sie bereits. Ihr Name ist Seidelmann? Nicht?«

»Ja.«

»Nun, so ist es gut, daß ich Vertrauen zu Ihnen gefaßt habe, denn ich weiß, daß ich zu keinem Verräter gekommen bin.«

»Welch ein häßliches Wort! Ich bin kein Judas Ischarioth; ich arbeite und pflanze auf dem Acker der Frömmigkeit, und Niemand kann mich einer Untreue zeihen. Freilich geht nicht ein jeder Same auf; es giebt auch taube Körner oder harte, welche nicht erweichen wollen. So ein hartes Korn möchte ich Ihrer Hand anvertrauen, Herr Uhland.«

»Ich hoffe, daß ich es zum Keimen bringe.«

»Welches harte Korn meint Ihr denn, lieber August?« fragte die Vorsteherin der Seligkeit.

»Marie Bertram.«

»Ach ja! Diese gleicht dem felsigen Boden, wo die Vögel kommen und davon wegfressen. Sie hat uns bereits sehr viele und sehr schwere Sorge gemacht.«

»Darum müssen wir sie auch ausroden und in ein anderes Land verpflanzen.«

»Wohin?«

»Nach Rollenburg zu Fräulein Melitta.«

»Ich habe von ihr gehört. Sie ist eine gute Gärtnerin und duldet kein Unkraut unter ihren edlen Rosen. Bei ihr wäre der allerbeste Platz für dieses mißrathene Gewächs.«

»Wo ist die Marie?«

»Unten bei Madame Pauli.«

»Bitte, laß sie rufen!«

Das Dienstmädchen wurde geschickt, und nach kurzer Zeit trat Marie ein. Sie hatte sich noch schöner entwickelt. Das Nichtsthun neben dem reichlichen Essen hatte ihre Formen gefüllt. Sie war jetzt wirklich eine Rose, aber eine Rose, in welcher der Wurm saß. Ihr Auge war verschleiert, ihr Blick starr. Um den zusammengekniffenen Mund lag es wie ein todesmuthiger Trotz.

Sie trug ein Gewand, welches gar nicht Gewand genannt werden konnte, da es von ihrem Körper mehr enthüllte, als verbarg.

»Tritt näher!« gebot die Groh in strengem Tone.

Marie gehorchte. Ihre Bewegung war mehr instinctiv, als eine Folge bewußten Wollens.

»Siehe Dir diesen Herrn an!«

Das Mädchen erhob das Auge und richtete es mit halb irrem Ausdrucke auf Uhland.

»Du sollst eine Anstellung bei ihm haben. Willst Du mit ihm gehen?«

»Ja,« klang die Antwort.

Aber dieses Wörtchen machte nicht den Eindruck einer selbstbewußten Zustimmung, sondern es klang wie der Laut, welchen ein Automat von sich giebt, wenn man ihn berührt.

»So kannst Du einstweilen wieder gehen!«

Sie drehte sich mechanisch um und ging zur Thür hinaus.

»Nun, wie gefällt sie Ihnen?« fragte der Schuster.

»Eine schöne Statue ohne Leben.«

»So ist es, ganz genau so. Ist nicht Leben hineinzubringen?«

»Vielleicht. War sie stets so?«

»Nein. Sie soll einmal sehr erschrocken sein oder großen Kummer erfahren haben.«

»So ist sie leicht zu heilen. Sie muß Einem begegnen, den sie lieb haben kann, und für so Einen werde ich sorgen.«

»Sie nehmen sie also?«

»Ja, vorausgesetzt, daß ich nichts zu bezahlen habe.«

»Gar nichts. Ich halte mein Wort.«

»Wie aber bekomme ich sie nach dem Bahnhofe?«

Seidelmann sann einige Augenblicke nach und sagte dann:

»Das Klügste ist, ich bringe sie Ihnen, aber nicht nach dem Bahnhofe, sondern nach der nächsten Haltestelle.«

»Warum?«

»Man soll weder mich noch Sie hier mit ihr sehen.«

»Schlau! Aber Sie müssen zur rechten Zeit eintreffen. Ich kann nicht aussteigen und auf Sie warten.«

»Keine Sorge! Ich stelle mich pünktlich ein und löse das Billett. Sehen Sie zum Coupé heraus, damit ich Sie bemerken kann.«

Am Nachmittage fuhr eine Droschke am Bahnhofe vor. Ein junger Mann, welcher eine Brille trug, stieg aus, bezahlte den Kutscher und schritt den Perron entlang dem Wartezimmer zu. Er hatte nichts bei sich als eine kleine Reisetasche, welche sein ganzes Gepäck enthielt.

Er trat in das Wartezimmer zweiter Classe. Es war noch leer. Nur ein junges Mädchen saß da. Neben ihrem Stuhle lag eine kleine Lade. Sie ging sehr einfach gekleidet, so daß man vermuthen konnte, daß sie hatte in das Wartezimmer dritter Classe gehen wollen, aber irre gegangen war.

Der junge Mann setzte sich und ließ sich ein Glas Bier geben. Während des Trinkens fiel sein Blick schärfer auf das Mädchen und kehrte von da immer und immer wieder zu ihr zurück.

Sie war eine aufknospende Schönheit, eine vielversprechende Blüthe, welche noch keine Hand berührt hatte. Aber nicht das allein zog sein Auge an, sondern in ihren weichen, sanften Zügen fand er ein Etwas, was ihm bekannt und vertraut vorkam.

Und, sonderbar, auch sie blickte wiederholt zu ihm herüber, und wenn sich ihre Blicke dabei begegneten, senkte sich ihre Wimper, aber nicht wie zurückgeschreckt, sondern wie von der Freude bewegt.

Da stand er auf, machte einige rasche, entschlossene Schritte auf sie zu, verbeugte sich leicht und sagte: »Entschuldigung, mein Fräulein! Haben wir uns nicht bereits einmal gesehen?«

Sie erröthete sehr, hob aber ihr schönes Auge frei zu ihm empor und antwortete:

»Sehr oft, Herr Doctor!«

»Wie! Sie kennen mich?«

»Sie aber werden mich vergessen haben.«

»Wo sahen wir uns denn?«

»In der Heimath, in Langenstadt.«

»Ah, Sie sind auch da oben her? Ich bin allerdings fast fünf Jahre nicht daheim gewesen. Aber hm! Ihr Gesicht spricht mich so freundlich und so traulich an, und doch weiß ich auch nicht, welchen Namen ich Ihnen geben soll.«

»Denken Sie an die Kirschen!«

»An welche Kirschen?«

»An die Kirschen, Stachelbeeren, Birnen und Äpfel, welche Sie heimlich zwischen den Zaun steckten, damit sie Jemand finden könnte.«

Er schien nachzudenken.

»Wer war dieser Jemand?«

»Ein kleines, armes Mädchen, welches niemals einen Pfennig hatte, sich solche Früchte zu kaufen. Sie waren damals noch Gymnasiast; dann gingen Sie auf die Universität, wurden Arzt und machten Reisen. Das kleine Mädchen ist inzwischen auch ein Wenig größer geworden.«

»Webers Magda? Das kleine, rosige Geschöpf? Die meinen Sie doch? Nicht wahr?«

»Ja, Herr Doctor.«

»Und die – ah, sind Sie etwa diese Magda?«

»Ja.«

»Nun, das ist mir eine große, große Freude! Erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen setze! Ja?«

Sie nickte nur; aber ihr ganzes, liebes Gesichtchen strahlte vor Freude über die Ehre, die ihr zu Theil wurde. Er holte sein Glas, nahm ihr gegenüber Platz, ließ sein Auge voll und warm auf ihr ruhen und sagte: »Ja, ja, das ist das Gesichtchen, und das sind auch die Augen, die es dem Jungen angethan hatten. Aber sagen Sie einmal, damals fürchteten Sie sich so sehr vor mir?«

»Fürchten? O nein, niemals,« lächelte sie.

»Aber, so oft ich Sie auch rief und lockte, Sie kamen doch nie zu mir heran.«

»O, doch nicht aus Furcht.«

»Weshalb sonst?«

»Ihre Eltern waren so reich und die meinigen so arm.«

»Was thut das?«

»Sehr viel! Ihr Garten kam mir vor wie der Himmel. Ich hegte eine unendliche Ehrfurcht vor Allem, was sich jenseits des Zaunes befand.«

»Ach so! Also nicht Furcht, sondern Ehrfurcht?« lachte er.

»Ja. Und sodann war ich ein ganz kleines, dummes Ding, lief barfuß und aß Grützebrei; Sie aber trugen eine grüne Mütze, waren als ein Ausbund von Gelehrsamkeit bekannt und ritten spazieren. Da durfte man doch nur ganz scheu und verlegen durch den Zaun lauschen.«

»Aber ich baute an diesem Zaune ein Nest und legte manchmal Kirschen hinein –«

»Dann kam der scheue Vogel und – husch, fort waren sie!«

»Ja. Und so war es auch mit den Beeren, Birnen, Äpfeln und Nüssen. Ich habe im Stillen meine helle Freude an Ihnen gehabt, das können Sie mir glauben.«

»Und ich war gewaltig stolz auf die Notiz, welche Sie von mir nahmen.«

»Leider dauerte das nicht lange. Ich ging zur Schule, und später starben die Eltern schnell hintereinander weg. Ich kam nur auf Augenblicke zur Heimath, und dann blieb ich ganz weg. Und Sie?«

»Mir starb die Mutter. Der Vater kam um die Hand –«

»O weh! Wie denn?«

»Die Kreissäge verstümmelte sie ihm. Nun war es natürlich aus mit dem Holzschnitzen. Er fing einen kleinen Obsthandel an.«

»Der ihn aber nur kümmerlich ernährt?«

»Ich habe noch drei Schwestern,« antwortete sie, indem sie den Blick zu Boden senkte.

»Von denen Sie die Älteste sind. Und dennoch – ich vermuthe, Sie haben Langenstadt verlassen, um einen Dienst zu suchen?«

»Ich diente bereits.«

»Wo?«

»In der Residenz.«

»Als was?«

»Als Kellnerin in einer Weinstube.«

Seine Brauen zogen sich finster zusammen. Was ging ihm dieses fremde, arme, ungebildete Dienstmädchen an? Und doch hatte er das Gefühl, als sei irgend eine Saite seines Innern mißtönend angeschlagen worden.

»Dort sind Sie noch jetzt?« fragte er.

»Nein.«

»Wo denn?«

»Ich fahre heute nach Rollenburg, wo ich einen neuen Dienst erhalten habe.«

Sofort erheiterte sich sein Gesicht wieder.

»Nach Rollenburg? Dahin will ich auch.«

»Wohnen Sie dort, Herr Doctor?«

»Noch nicht; aber ich habe einen Ruf dorthin erhalten, als Assistent einer Privatirrenanstalt.«

»Brrr!« schüttelte sie sich.

»Das klingt nun freilich nicht sehr angenehm; aber zu fürchten brauchen Sie sich dennoch nicht vor mir. Ich selbst bin bei vollen Sinnen. Was für eine Stellung haben Sie da gefunden?«

»Bei einer Dame, einer Malerin, welche junge Malerinnen in Pension hat.«

»Wie heißt sie?«

»Fräulein Melitta.«

»Dieser Name ist mir unbekannt. Sonst bin ich auf diesem Felde sehr orientirt. Jedenfalls aber werden wir zusammen in einem Coupé sitzen.«

»Das wird wohl unmöglich sein, Herr Doctor.«

»Warum?«

»Sie fahren jedenfalls in einer anderen Classe als ich.«

»Nein. Sie fahren in der meinigen. Haben Sie bereits ein Billett gelöst?«

»Noch nicht.«

»So bitte ich um die Erlaubniß, es lösen zu dürfen.«

»Auch das ist nicht möglich. Ich reise nämlich mit einem Herrn, welcher –«

»Mit einem Herrn?« fiel er schnell ein.

»Ja.«

»Wie kommen Sie zu einer solchen Begleitung?«

Sie schien gar nicht zu ahnen, welcher Vorwurf eigentlich in seiner Frage lag. Sie blickte ihm frank und frei in das Auge und antwortete: »Ich kann nicht anders. Er ist ein Verwandter meiner neuen Herrin und hat mich gemiethet.«

»Ach so! Ist er jung?«

»Nein, alt.«

»Dann ist es allerdings – dort blickt Einer zur Thür herein. Er scheint Jemand zu suchen.«

»Das ist er. Er winkt. Ich muß hin.«

Sie griff nach ihrer kleinen Lade. Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte:

»Unter diesen Verhältnissen darf ich Sie allerdings nicht zurückhalten. Hoffentlich sehen wir uns in Rollenburg wieder. Oder wünschen Sie das nicht?«

Sie rang mit einer Antwort; dann klang es leise:

»Ich würde mich sehr freuen. Adieu, Herr Doctor!«

»Adieu, Magda!«

Sein Auge folgte ihr, bis sie hinter der Thür zum Wartezimmer dritter Classe verschwunden war. Dort stand Uhland und empfing sie mit finsteren Blicken.

»Was thaten Sie da drin?«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Warum fragen Sie?«

»Weil Sie doch hier in diesen Saal gehören.«

»Ich achtete nicht darauf und habe mich verlaufen. Auch konnte ich doch nicht wissen, in welcher Classe Sie fahren.«

»Natürlich in dritter!«

Dieser Ton verdroß sie. Darum antwortete sie:

»Reiche Rentiers pflegen sonst aber nicht in dritter Classe zu fahren.«

Ah, diese kleine Fliege kann auch stechen! So dachte Uhland. Aber er ließ seinen Ärger nicht merken; die Fliege hätte sonst noch im letzten Augenblick auf den Gedanken kommen können, ihm zu entweichen.

»Ich würde zweiter Classe fahren; aber wir bekommen noch Gesellschaft. Wer war der Herr, mit welchem Sie da draußen sprachen?«

»Er ist aus meiner Heimath.«

»Was ist er?«

»Arzt.«

»Wo?«

»Er kommt nach Rollenburg.«

Sein ehrwürdiges Gesicht wurde von einem hämischen Lächeln entstellt, als er beifügte:

»Nun, so werden Sie ihn wohl wiedertreffen. Jetzt will ich für die Billetts sorgen.«

Eben, als er diese Letzteren brachte, läutete es zum ersten Male. Sie betraten den Perron, um sich in das Coupé zu verfügen. Draußen stand der junge Arzt. Er beobachtete die Beiden, bis sie eingestiegen waren. Dann schritt er, wie unter dem Einflusse eines plötzlichen Gedankens, auf das Coupé zu und zog den Hut.

»Verzeihung, mein Herr!« sagte er. »Mein Name ist Doctor Zander!«

»Schön!« antwortete Uhland, ohne seinen Namen zu nennen, wie es die Höflichkeit erfordert hätte.

»Sie fahren mit dieser Dame nach Rollenburg?«

»Ja.«

»Es ist dritter Classe kalt. Erlauben Sie, daß ich ihr hier meinen Pelz zur Verfügung stelle.«

»Das ist nicht nöthig. Es ist hier warm genug.«

»Die Dame trägt keinen Winteranzug!«

»Das geht Sie nichts an!«

Da trat der Arzt einen Schritt näher an das Coupé heran, blickte dem Anderen erstaunt in das Gesicht und antwortete: »Herr, was fällt Ihnen ein! Ihr Betragen ist geradezu ein flegelhaftes! Ich stelle mich Ihnen vor, und Sie verschweigen mir Ihren Namen –«

»Ich mache mich nicht mit Jedermann bekannt!«

»Auch gut! Ist mir übrigens ganz gleichgiltig. Sie geben sich ganz so, als ob Sie dieser Dame zu befehlen hätten –«

»Das ist auch der Fall!«

»Ich bestreite es!«

»Ich habe sie gemiethet!«

»Aber nicht für sich, sondern für eine andere Person. Uebrigens hat diese Miethsangelegenheit nicht das geringste mit der Reise zu schaffen. Die Dame kann nach Rollenburg fahren, wie und mit wem es ihr beliebt. Ich kenne sie, ich will sie nicht frieren lassen, und wenn Sie den Pelz nicht im Coupé dulden wollen, so nehme ich einfach Fräulein Weber zu mir in das meinige!«

Er zog den Pelz aus, trat auf den Tritt und reichte ihr das warme Kleidungsstück.

»Hier, Magda, hüllen Sie sich hinein!«

Sie erröthete und erbleichte, aber sie wies den Pelz nicht zurück. Der Doctor war gegangen, der sogenannte Rentier schwieg, um seine Beute nicht scheu zu machen. Sie aber lehnte in der Ecke und schloß die Augen. Magda hatte er sie genannt, bei ihrem Vornamen. Eine unendliche Seligkeit durchzitterte sie. Es war ihr noch nie im Leben so gewesen wie in diesem Augenblicke. Sie hätte für ihn sofort sterben mögen, zehnfach, tausendfach!

Als Doctor Zander sein Coupé erreichte, fand er einen Herrn, welcher in demselben saß. Er grüßte höflich. Der Andere dankte kaum. Deshalb nahm Zander nun auch von ihm keine Notiz. Er zog ein Zeitungsblatt hervor und begann zu lesen. Aber bereits auf der ersten Station wurde seine Aufmerksamkeit von der Lectüre abgelenkt.

Neben einem abgelebten, hagern Herrn, der sich fast wie ein Geistlicher trug, stand ein hübsches, junges Mädchen in einer Kleidung, welche gar nicht geeignet war, die jetzige Kälte von dem Körper abzuhalten. Aber nicht dies, sondern ein eigenthümlicher Ausdruck ihres Gesichtes war es, welcher das Auge des Arztes fesselte, nämlich der Ausdruck geistiger Stumpfheit oder gar Leere.

Doctor Zander bemerkte gar nicht, daß auch sein Mitreisender mit gespanntem Auge an den beiden Personen hing, zugleich aber ihn selbst scharf beobachtete. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Zander glaubte, die Beiden seien eingestiegen. Der Andere warf einen Blick hinaus und sah den frommen Schuster auf dem Perron stehen. Mit einem befriedigenden Lächeln zog er den Kopf zurück und wendete sich nach einer kurzen Pause des Schweigens an den Doctor: »Entschuldigung, mein Herr!« sagte er. »Ich sah Ihr Auge an diesem Mädchen hängen. War Ihnen vielleicht die Person desselben bekannt?«

»Nein,« antwortete Zander kurz.

»So war es wohl psychologisches Interesse?«

»Allerdings.«

»Ich sah es Ihrem inquirirenden Blicke an: Sie sind jedenfalls Arzt?«

»Doctor Zander!«

»Baron von Helfenstein!«

Die beiden verbeugten sich vor einander. Dabei ließ sich auf dem Gesichte des Arztes eine kleine Ueberraschung erkennen. Er fragte in höflicherem Tone als vorher: »Dieser Name ist mir bekannt. Sie fahren vielleicht nach Rollenburg zu Herrn Doctor Mars?«

»Ja. Sie kennen ihn?«

»Ich trete als Assistent bei ihm ein. Bei einem kürzlichen Besuche machte ich mit ihm die Runde durch seine Privatirrenanstalt und bekam dabei auch die Frau Baronin zu sehen. Ich bedaure dieses Unglück sehr, Herr Baron!«

Franz von Helfenstein verbeugte sich und fragte dann:

»Was halten Sie von ihrem Zustande, Herr Doctor?«

»Ich kann diese Frage unmöglich schon beantworten. Es gehört ein tiefes Wissen und langzeitige Beobachtung dazu, den Zustand eines solchen Patienten zu beurtheilen. Auf dieses Beides aber kann ich in diesem Falle keinen Anspruch erheben. Vielleicht darf ich später einmal zu Diensten stehen!«

»Ich hoffe und wünsche es sehr!«

Hiermit brach das Gespräch wieder ab. Zander fühlte keine Sympathie für die Physiognomie und das Wesen des Barons, und dieser hielt es nicht für gerathen, sich jetzt mit einem untergeordneten Arzte der Anstalt, in welcher sich seine Frau befand, auszusprechen. Uebrigens wollte ihm dieser junge Mediziner, der nicht einmal einen Pelz oder Ueberrock bei sich hatte, gar nicht imponiren.

Als der Zug in Rollenburg hielt, verabschiedete er sich mit einer kurzen Verbeugung und suchte eine Säule des Perrons auf, hinter welche er sich stellte. Er sah zu seinem Erstaunen, daß Marie Bertram mit einem ihm unbekannten Manne und einem bildhübschen Mädchen ausstieg, welchem Letzteren Doctor Zander einen Pelz abnahm, um sich nach einem fast freundschaftlichen Gruße zu entfernen.

Der Baron ließ den Fremden mit den beiden Mädchen an sich vorüber gehen, ohne selbst bemerkt zu werden, und folgte ihnen vorsichtig. Sie stiegen in eine Droschke, und er nahm eine zweite. Dem Kutscher gab er den Befehl, der ersten zu folgen. Diese hielt vor einem Hause, dessen sämmtliche Fenster mit Tüllgardinen verhüllt waren. Die Drei stiegen aus und traten ein.

»Wer wohnt in diesem Hause?« fragte er den Kutscher.

Dieser zog ein höchst zweideutiges Gesicht und fragte:

»Wissen Sie das nicht?«

»Nein, sonst würde ich nicht fragen. Ich bin hier fremd.«

»Dieses Haus ist berühmt oder vielmehr berüchtigt. Verstehen Sie mich, Herr?«

»Ja. Fahren Sie mich jetzt nach der Heilanstalt des Herrn Doctor Mars!«

Dort war Zander bereits abgestiegen und von dem Director empfangen worden. Später kam der Baron zu ihnen und wurde gebeten, noch zu warten, da die Patientin jetzt eben nicht zu besuchen sei.

Beide, Zander und der Baron, wurden zur Tafel gezogen. Während derselben kam die Unterhaltung auf die Verhältnisse der Stadt. Dies gab Zander Veranlassung zu der Frage: »Haben Sie auch Maler hier, Herr Director?«

»Einen einzigen.«

»Und Malerinnen?«

»Ich kenne keine.«

»Es wurde zu mir von einer Malerin gesprochen, welche andere junge Malerinnen als Schülerinnen in Pension bei sich hat.«

»Wie ist ihr Name?«

»Sie heißt – ah, wie schade! Den Namen habe ich vergessen. Es war ein italienischer oder spanischer.«

»Vielleicht fällt er Ihnen ein. Ich wohne bereits über zwanzig Jahre hier und kann wohl behaupten, daß ich jedes Kind kenne. Aber eine Malerin mit Pensionärinnen ist mir vollständig unbekannt. Ich vermuthe also, daß Sie falsch berichtet worden sind.«

Mit diesem Bescheide mußte sich der junge Assistenzarzt zufrieden geben, obgleich es ihm verwunderlich vorkam, daß eine Malerin, welche eine Pensionsschule leitete, hier in der verhältnißmäßig nicht großen Stadt von dem Director, welcher behauptete, Alles zu kennen, doch nicht gekannt wurde.

Nach der Tafel führte dieser Letztere den Baron zu der Patientin. Diese lag auf dem Ruhebette ihrer Zelle wie eine Leiche. Ihr Puls ging äußerst schwach, und ihr Athem war kaum zu bemerken. Die Farbe des Gesichtes war vollständig gewichen. Die Haut war blutleer und fast wie Glas anzusehen. Sie regte sich nicht und zuckte nicht einmal mit der Wimper ihres geschlossenen Auges.

»Sie schläft,« sagte der Baron.

»O nein, das ist nicht Schlaf,« antwortete der Arzt. »Ihre Frau Gemahlin ist eine Kranke, wie ich sie noch nicht gehabt habe.«

»Geben Sie Hoffnung?«

Der Director zuckte die Achsel und antwortete:

»Ich will offen mit Ihnen sein: Ich kann selbst aus dem Zustande dieser Patientin nicht klug werden. Alles Leben, das körperliche sowohl wie auch das geistige, hat sich nach innen zurückgezogen. Es ist ein Zustand so tiefer Apathie, daß man wirklich nichts Anderes thun kann, als geduldig zu warten, bis freiwillig eine Änderung eintritt.«

»Dann sollten Sie doch einmal andere Ärzte zuziehen!«

»Das habe ich längst und wiederholt gethan.«

»Was meinten die Herren?«

»Ganz dasselbe, was ich Ihnen sagte.«

»Also geduldig warten?«

»Ja.«

»Und was hatten Sie für eine Ansicht über die Ursache dieser unerklärlichen Krankheit?«

»Sie waren darin einig, daß eine tiefgreifende Störung in sämmtlichen Nervencentren eingetreten sei.«

»Und das ist auch Ihre Meinung?«

Der Director trat, bevor er antwortete, zu der Kranken, ergriff ihre Hand, um den Puls zu fühlen, ließ eine Zeit lang seinen stechenden Blick auf ihrem Gesichte ruhen und wendete sich dann wieder zu dem Baron: »Soll ich offen mit Ihnen sprechen?«

»Natürlich!«

Doctor Mars hatte ein eigenthümliches Gesicht. Alles an demselben war scharf und spitz. Scharfsinn und Spitzfindigkeit lagen in diesen Zügen ausgedrückt. Geistige Selbständigkeit, vielleicht sogar Rücksichtslosigkeit waren ihm sicher eigen, und der volle Mund und das dicke Kinn ließen auf eine starke Ausbildung physischer Regungen schließen. Dieser Mann verstand zu rechnen; Edelmuth besaß er sicherlich nicht, sondern man durfte ihm im Gegentheile eine Selbstsucht zuschreiben, welche fähig war, zu ihrer Befriedigung selbst Das zu ergreifen, was von der Stimme des Gewissens zu verurtheilen war.

»Ich bitte, mir einige Fragen zu beantworten,« sagte er.

»Fragen Sie!«

»Stammt Ihre Frau Gemahlin aus einer Familie, in welcher eine ähnliche Krankheit bereits vorgekommen ist?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich darf doch annehmen, daß Sie diese Familie kennen?«

Bei dieser Frage spielte um seine Lippen ein Lächeln, welches dem Baron sagte, daß er Das, wonach er fragte, bereits sehr genau wisse und kenne.

»Natürlich ist sie mir nicht unbekannt,« antwortete der Baron.

»Es giebt adelige Familien, in denen gewisse Leiden fest eingewurzelt sind, meist infolge von Verheirathungen unter Verwandten. Ist das vielleicht auch bei der Familie Ihrer Frau Gemahlin der Fall?«

»Nein. Die Glieder derselben sollen stets sehr robuste und gesunde Leute gewesen sein.«

»Aber adelig waren sie?«

»Warum diese Frage?«

»Der Arzt, welcher Heilung bringen soll, muß eine möglichst genaue Kenntniß alles Dessen haben, was mit der Krankheit in Beziehung steht.«

»Kann denn der Umstand, ob eine Kranke adelig ist oder nicht, auch solchen Einfluß haben?«

»Jawohl.«

»Nun, meine Frau entstammt einer bürgerlichen Familie.«

»So habe ich also recht gehört.«

»Ah! Hat man davon gesprochen?«

»Gewiß. Ihr Name war Ella Werthmann?«

»Ja.«

»Sie hatte nur einen einzigen Verwandten, einen Bruder?«

»Ja.«

»Dieser verunglückte vor Jahren im Walde?«

»Ich kann das nicht in Abrede stellen.«

»Nun, sind Sie überzeugt, daß die Frau Baronin wirklich keine weiteren Verwandten gehabt hat?«

»Ich weiß das sehr genau.«

»Dann hat man eine Fabel erzählt.«

»Eine Fabel? Was hat man erzählt?«

»Nun, es soll ein Oheim der gnädigen Baronin vor langer Zeit nach Amerika gegangen sein. Er ist, wie man sagt, zurückgekehrt.«

»Möglich. Aber was geht das mich an!«

»Ein wenig doch, Herr Baron.«

»Wieso?«

»Dieser Oheim oder dessen Kinder hätten sehr wohlbegründete Erbansprüche auf das Landgut, welches Ihre Frau Gemahlin von ihrem Bruder geerbt hat.«

»Pah! Sie sollen nur kommen!«

»Die Gesetze dieses Landes wären doch auf ihrer Seite.«

»Von wem haben Sie von diesen Leuten erfahren?«

»Ich besuchte kürzlich während meiner Anwesenheit in der Residenz ein Kaffeehaus und hörte dem Gespräche zu, welches von mir unbekannten Herren über dieses Thema geführt wurde.«

»Haben Sie nicht nach den Namen gefragt?«

»Nein. Die Sache ging mich ja gar nichts an.«

»Warum aber erwähnen Sie das jetzt, wo von der Krankheit meiner Frau die Rede ist?«

Es wollte sich ein überlegenes Lächeln auf die Lippen des Arztes drängen; er unterdrückte es jedoch und antwortete: »Das geschah nur so nebenbei.«

»Gut, bleiben wir also lieber bei der Sache! Ich fragte Sie, ob Sie auch der Meinung Ihrer Herren Collegen sind.«

»Und ich bat, aufrichtig sein zu dürfen.«

Er trat einen Schritt zurück, bohrte sein stechendes Auge scharf in das Gesicht des Barons und fuhr fort: »Ihre Frau Gemahlin ist nicht krank!«

Der Baron erschrak sichtlich.

»Nicht krank?« fragte er, da er nichts Anderes zu sagen wußte.

»Nein.«

»Aber sie liegt ja hier, bewegungslos und ohne Bewußtsein? Jeder Laie muß bemerken, daß sie krank ist, sogar sehr schwer krank; wie viel mehr Sie als Fachmann!«

»Eben weil ich Fachmann bin, urtheile ich ganz anders als der Laie. Ist im Winter die Natur krank?«

»Wozu diese Frage?«

»Um Ihnen ein treffendes Gleichniß zu bieten. Ich wiederhole, daß Ihre Gemahlin nicht krank ist.«

»Das begreife ich nicht.«

»Aber ich.«

»Was ist sie dann?«

»Sie ist gelähmt.«

»Und das nennen Sie nicht krank?«

»Nein. Der Mensch, welcher eine Flasche voll Schnaps getrunken hat, ist betrunken. Eine eigentliche Krankheit aber kann ich seinen Zustand nicht nennen, denn der Rausch wird vergehen, sobald die Wirkung des Alkoholes vorüber ist. Der Zustand ist ein künstlich hervorgebrachter.«

»Wie kommen Sie zu diesem Vergleich?«

»Er ist eine sehr treffende Analogie. Ihre Gemahlin ist nicht eigentlich krank, sondern ihr Zustand ist auf künstliche Weise hervorgebracht worden.«

»Sie sehen mich starr vor Erstaunen!«

»Ich sehe allerdings, daß Sie frappirt sind.«

»Wie könnte eine solche Erstarrung hervorgebracht werden?«

»Durch irgendwelche Medicamente?«

»Das wäre ja ein Verbrechen!«

»Allerdings, Herr Baron!«

»Wer könnte so Etwas thun?«

»Doch nur Einer, der ein Interesse daran hat.«

»Alle Teufel!«

»Ja, wir stehen hier vor einer schlimmen Angelegenheit. Ihre Gemahlin ist nur in Beziehung auf die Bewegungsnerven gelähmt, und zwar in Beziehung auf die willkürlichen Bewegungsnerven; die unwillkürlichen sind noch in Thätigkeit, wenn auch in sehr verminderter, wie wir aus Puls und Athmung leicht ersehen.«

»Sie meinen, daß die Empfindungsnerven –«

»Vollständig intact sind?« fiel der Arzt ein. »Allerdings!«

»Also sie empfindet?«

»Ja.«

»Sie fühlt; sie hört; sie sieht?«

»Ja, sie fühlt es, wenn ich sie berühre; sie fühlt jeden, auch den leisesten Luftzug.«

»Und sie hört, was wir sprechen?«

»Jeden Laut. Und sie würde ebenso Alles sehen, wenn ihre Augenlider nicht geschlossen wären.«

»Sie sind überzeugt, sich nicht zu täuschen?«

»Von einer Täuschung kann keine Rede sein.«

»Schrecklich!«

Der Arzt machte ein Gesicht, als ob er sagen wolle: Verstelle Dich, soviel Du willst, ich weiß doch sehr genau, woran ich bin! Doch sagte er: »Es ist allerdings schrecklich, bei lebendigem Leibe todt zu sein. Es liegt hier eine strafbare Handlung vor, und in Folge dessen ist es eigentlich meine Pflicht, Anzeige zu erstatten.«

»Donnerwetter!«

»Ja, der Fall darf nicht nur ärztlich behandelt, sondern er muß auch criminell untersucht werden.«

»Ich glaube, Sie gehen zu weit!«

»O nein. Ich halte vielmehr dafür, daß ich es besonders auch Ihnen schuldig bin, mich an den Staatsanwalt, respective an den Strafrichter zu wenden.«

Es trat eine Pause ein. Der Baron befand sich in größter Verlegenheit; er bemerkte sehr wohl, mit welchem Ausdrucke das Auge des Arztes auf ihm ruhte. Endlich sagte er: »Ich kann unmöglich glauben, daß Sie das Richtige treffen. Ich bin überzeugt, daß Sie sich irren!«

»Und ich kann beschwören, daß man Ihrer Frau irgendein Mittel beigebracht hat. Wer über dreißig Jahre lang den Wahnsinn von seinen einfachsten bis zu seinen erschreckendsten Formen beobachtet und behandelt hat, der weiß, was er zu sagen oder auch zu denken hat.«

»Und Sie sind wirklich gewillt, Anzeige zu erstatten?«

»Ja. Es ist meine Pflicht.«

»Aber, bedenken Sie – meine Stellung, das Aufsehen, welches diese Angelegenheit hervorrufen muß!«

»Davon wird ja nur der Schuldige berührt.«

»O nein! Ich vielleicht noch mehr. Als ich mich verheirathete, erweckte meine Verbindung mit einer Bürgerlichen in den ebenbürtigen Kreisen allgemeine Entrüstung. Die Zeit verging und man begann, zu vergessen. Jetzt würde der Staub von Neuem aufgewirbelt.«

Doctor Mars zuckte die Achseln.

»Meine Pflicht!« sagte er.

»Ich ersuche Sie, sich wenigstens nicht zu übereilen.«

»Ich habe bereits länger gewartet, als ich verantworten kann. Und jetzt tritt ein Umstand hinzu, welcher mich veranlaßt, nicht länger zu zögern.«

»Welcher Umstand?«

»Die Ankunft meines Assistenten.«

»Dieses Doctor Zander?«

»Ja.«

»Sollte dieser Sie in Ihren Entschlüssen und Handlungen beeinflussen können?«

»Ganz gewiß. Zander ist zwar noch sehr jung, aber es geht ihm ein bedeutender Ruf voraus. Er hat sich an mehreren Irrenanstalten treffliche Kenntnisse erworben und ist ganz der Mann, sich nicht zu täuschen.«

»Er hat meine Frau bereits gesehen?«

»Einmal, als ich ihn herumführte.«

»Hat er irgend eine Bemerkung gemacht?«

»Er zog die Augenlider der Patientin empor und meinte dann, daß dieser Fall vielleicht nicht nur vor den Arzt gehöre. Sie sehen, wie scharfsinnig er ist.«

»Hm! Er mag nur vorher beobachten, ehe er ein solches Urtheil fällt! Ich befand mich im Coupé bei ihm und fragte ihn nach seiner Ansicht.«

»Was antwortete er?«

»Daß es ihm jetzt noch an Kenntnissen fehle.«

»Das ist keineswegs der Fall. Uebrigens bin ich ja, wie ich bereits sagte, ganz seiner Meinung.«

»Aber wie wollen Sie Beweise bringen? Sie können nur behaupten.«

»O,« lächelte der Arzt, »ich habe mich nach solchen Beweisen bereits umgesehen.«

»Aber jedenfalls ohne Erfolg.«

»Sie irren sich. Ich behaupte, daß man der Patientin irgend ein Mittel beigebracht hat. Dieses Mittel ist von einem Chemiker zubereitet worden; ein Laie bringt so Etwas nicht fertig. Und im ganzen Lande und weit über die Grenzen desselben hinaus giebt es nur einen Einzigen, der so in die Geheimnisse der Gifte eingedrungen ist, daß es ihm gelingen kann, eine solche Apathie hervorzubringen, ohne daß das Mittel nachzuweisen ist.«

»Wer ist das?«

»Der, welcher in unseren Fachkreisen seit langer Zeit als Giftvirtuos bekannt ist. Vielleicht haben Sie seinen Namen auch einmal gehört.«

Der Blick des Arztes wurde immer stechender und durchdringender. Der Baron fühlte, daß er auf seiner Hut sein müsse.

»Ich kenne keinen Chemiker,« antwortete er. »Unsereines steht diesen Kreisen viel zu fern, als daß man sich einen gleichgiltigen Namen, den man zufälliger Weise einmal hörte, merken sollte.«

»Und doch kehrt zuweilen ein solcher Name in das Gedächtniß zurück. Der Mann wohnt nämlich in der Residenz.«

»So, so!«

»Ihrem Ausdrucke nach scheint Ihnen das freilich nicht von Belang zu sein; mir aber und dem Strafrichter muß es auffallen, daß Beide, nämlich die Patientin und der alte Giftmischer, an demselben Orte wohnen. Ursache und Wirkung sind da viel leichter in Beziehung zu bringen, als wenn die Personen räumlich mehr getrennt wären.«

»Ihre Schlüsse scheinen mir sehr gewagt zu sein.«

»Nicht so sehr als Sie denken. Ich kenne den Betreffenden sogar persönlich. Er war Lehrer der Chemie an dem Gymnasium, welches ich besuchte.«

»Das interessirt mich nicht.«

»Aber mich. Und der vorliegende Fall berührt Sie persönlich ja weit mehr als mich. Der Mann war aus irgend einem für ihn nicht sehr ehrenvollen Grunde gezwungen, seine Lehrerstelle aufzugeben, und wurde Apotheker. Auch das ging nicht sehr lange Zeit; dann begann er, sich durch Quacksalberei zu ernähren. Er heißt Horn.«

So sehr der Baron bemüht war, sich in der Gewalt zu behalten, er fuhr doch höchst bestürzt zurück, als er diesen Namen hörte.

»Horn! Ah!« rief er aus.

»Ja, Horn. Ich sehe, daß der Name Ihnen also doch bekannt ist. Das ist mir höchst interessant!«

»Pah! Ich habe ihn vorübergehend gehört. Er ist mit der Krankheit meiner Frau unmöglich in Beziehung zu bringen.«

»Wir werden sehen. Sobald ich Anzeige erstatte, werde ich zugleich den Antrag stellen, diesen Horn zu arretiren. Man mag ihm die Kranke vor Augen führen.«

»Sie dichten, Herr Doctor!«

»O nein! Zufälliger Weise nämlich liegt ein zweiter Fall vor, welcher ganz geeignet ist, mich nachdenklich zu machen.«

»Welcher Fall?«

»Ist Ihnen der Name Bormann bekannt?«

Der Baron wurde immer unruhiger.

»Nein,« antwortete er.

»Das wundert mich!«

»Wieso?«

»Weil vor Kurzem die ganze Residenz durch diesen Menschen in Aufregung versetzt wurde. Man nennt ihn den Riesen Bormann. Er ist ein sehr gefährlicher Einbrecher und steht mit dem sogenannten Hauptmann in Verbindung. Von diesem Letzteren haben Sie doch gehört?«

»Allerdings.«

»Nun der Hauptmann hat sich alle Mühe gegeben, diesen Bormann zu retten, doch vergebens. Da plötzlich wurde der Riese wahnsinnig Man traute ihm nicht, sondern man nahm an, daß er simulire.«

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

»O, man irrte sich dennoch. Der Riese wurde der hiesigen Landesirrenanstalt zur Beobachtung übergeben, und da hat sich denn herausgestellt, daß er irgendein Medicament erhalten hat, gerade so wie Ihre Frau Gemahlin. Es traten, je länger, desto mehr, bei ihm lichte Stunden ein. Er scheint Reue zu fühlen und gestand, daß eines Nachts Jemand mit Hilfe einer Leiter an sein Gefängnißfenster gekommen sei und ihm Branntwein zu trinken gegeben habe.«

»Sagte er, wer das gewesen sei?«

»Nein. Er behauptete, ihn nicht gekannt zu haben. Natürlich vermuthet man, daß es der Hauptmann gewesen sei. Man hat bereits da ein Auge auf den alten Apotheker Horn geworfen. Kommt meine Anzeige dazu, so wird dieser ganz sicher gefänglich eingezogen.«

»Welch ein Affront! Mein Name in Beziehung zu diesem alten Giftmischer!«

»Es thut mir leid, ist aber kaum zu ändern.«

»Ist die Anzeige denn wirklich unmöglich zu vermeiden?«

»Hm! Es ist immerhin möglich, daß ich mich irre.«

»Nun, also –«

»Aber ich lade eine schwere Verantwortung auf mich. Ich riskire meine Stellung, meinen Ruf, meine Existenz!«

»Ich werde Ihnen für diese Rücksicht gern dankbar sein.«

»Sehr wohl! Aber dennoch kann ich mich kaum entschließen, mich noch einige Zeit wartend zu verhalten.«

»Warum?«

»Die Behandlung und Beobachtung einer solchen Patientin erfordert so außerordentlich geistige Anstrengung und auch so ungewöhnliche andere Opfer, daß –«

»Daß –? Bitte, sprechen Sie weiter!«

»Daß ich Ihnen lieber den Vorschlag machen möchte, mich von den Verpflichtungen, welche ich übernommen habe, zu entbinden.«

»Das heißt, ich soll meine Frau anderen Händen übergeben?«

»Aufrichtig gesagt, ja.«

»Dazu möchte ich mich denn doch nicht entschließen. Ich wiederhole, daß ich gern dankbar sein werde. Erlauben Sie mir, die Pension, welche ich zahle, zu verdoppeln!«

Der Arzt zuckte geringschätzig die Achseln.

»Oder zu verdreifachen!« fügte der Baron hinzu.

Doctor Mars vermochte doch nicht, ein siegreiches Lächeln zu unterdrücken. Er sagte:

»Ich erkenne Ihre Bereitwilligkeit ja gern an, Herr Baron; aber ich übernehme doch ein Risico, zu welchem die dreifache Pension in keinem befriedigenden Verhältnisse steht. Ich bin Irrenarzt aus Beruf, aber ich bin auch Anstaltsbesitzer aus Berechnung. Ich will nicht bloß heilen, sondern ich will auch verdienen.«

Der Baron durchschaute seinen Mann recht wohl. Er wurde von Minute zu Minute besorgter. Er vermochte zwar nicht, klar zu sehen, aber er bemerkte doch, daß der Arzt mehr wisse oder doch wenigstens mehr ahne, als er sich merken lasse. Daraus erwuchsen Gefahren für ihn, denen er nur mit der Waffe des Goldes entgegentreten konnte. Darum antwortete er: »Was Sie da sagen, ist mir ganz begreiflich, und ich freue mich, daß Sie aufrichtig mit mir sind. Ich wünsche keineswegs, daß Sie Schaden von mir haben sollen. Sie wollen heilen und wollen auch verdienen. Gut, betrachten wir die Angelegenheit einmal nur vom geschäftlichen Standpuncte. Wieviel fordern Sie dafür, daß meine Frau Ihrer Behandlung noch weiter anvertraut bleibt.«

»Nun, Sie sprachen von der dreifachen Pension.«

»Ich zahle sie gern.«

»Natürlich glauben Sie, mich damit vollständig befriedigt zu haben?«

»Nein. Sie wollen ein Geschäft machen. Ich bin bereit, mich zu einer Extragratification zu verstehen.«

»In welcher Höhe?«

»Bestimmen Sie!«

»Ich möchte doch lieber Ihnen überlassen, die Summe zu nennen, welche Sie sich denken.«

»Das würde mir peinlich sein. Bestimmen lieber Sie!«

»Ich denke, daß sich jetzt überhaupt noch nichts bestimmen läßt.«

»Ah! Wieso?«

»Weil wir Beide noch gar nicht wissen, was Sie für die Patientin thun werden.«

»Das ist allerdings der Fall. Aber –«

»O bitte, ich pflege Geschäfte coulant zu behandeln. Ich schreibe Ihnen jetzt eine Anweisung auf meinen Bankier.«

Der Arzt verbeugte sich.

»Ich lasse die Stelle, welche die Summe enthalten soll, offen, und Sie füllen dieselbe aus, sobald Sie ungefähr bestimmen können, wie hoch das Äquivalent Ihrer Mühe ungefähr zu sein hat. Sind Sie zufrieden?«

»Gewiß, Herr Baron! Befehlen Sie noch irgend eine Auskunft in Beziehung auf Ihre Frau Gemahlin?«

»Nein. Lassen Sie uns Ihre Expedition aufsuchen.«

Sie gingen. Im Zimmer des Arztes legte dieser Letztere dem Baron Papier vor, und Franz von Helfenstein fertigte die Anweisung aus. Als er damit fertig war, sagte er: »Ich bin überzeugt, daß wir mit einander zufrieden sein werden, Herr Doctor!«

»Jedenfalls. Verweilen Sie diese Nacht in Rollenburg?«

»Nein. Ich fahre mit dem letzten Zuge zurück.«

»Sie wünschen doch, daß ich sie telegraphisch benachrichtige, falls im Zustande der Patientin eine Änderung eintritt?«

»Natürlich! Ich werde sofort kommen.«

»Und – – hm!«

Er stockte künstlich und hielt dabei sein Auge forschend auf den Baron gerichtet.

»Was noch?« fragte dieser.

»Etwas sehr Wesentliches. Es ist möglich, daß ich in ein unbequemes Dilemma gerathe. Ich setze den Fall, es tritt plötzlich eine Krisis ein, in welcher ich mich für ein Wagniß zu entscheiden habe.«

»Welches Wagniß meinen Sie?«

»Es kann möglich werden, das Leben der Patientin zu riskiren, um sie geistig gesund zu machen. Das soll heißen: Die Krise kann ein Mittel erfordern, welches das Leben Ihrer Frau Gemahlin gefährdet.«

»Erwarten Sie das?«

»Ich erwarte und wünsche es nicht, aber möglich ist es doch. Wie habe ich mich in diesem Falle zu verhalten?«

»Thun Sie dann das, was Sie vor Ihrem Gewissen zu verantworten vermögen.«

»Hm! Das ist höchst unbestimmt ausgedrückt, Herr Baron.«

»Und ich glaube, ganz bestimmt geantwortet zu haben.«

»Doch nicht. Für uns giebt es zweierlei Gewissen, nämlich das rein menschliche oder moralische und das ärztliche. Welches nun haben Sie gemeint?«

»Das Letztere natürlich. Sie sollen thun, was Sie als Arzt für recht befinden und verantworten können.«

»Nun, als Arzt sage ich mir, daß ich einen Todten für glücklicher halte, als einen unheilbar Geisteskranken.«

»Ich stimme Ihnen bei.«

»Dann sind wir also einig?«

»Gewiß. Ich wiederhole, daß ich einsehe, die Kranke keinen besseren Händen als den Ihrigen anvertrauen zu können. Also leben Sie wohl, Herr Doctor, und – ah, da fällt mir noch Etwas ein! Kennen Sie einen Herrn Seidelmann?«

»Ja.«

»Er war bei Ihnen?«

»Einige Male.«

»Was wollte er?«

»Er sagte, er komme in Ihrem Auftrage, um sich nach dem Befinden Ihrer Frau Gemahlin zu erkundigen.«

»So, so! Hat er die Patientin gesehen?«

»Ich habe sie ihm gezeigt, da ich annehmen mußte, daß er das Recht habe, es zu wünschen.«

»Unterlassen Sie das von jetzt an. Ich werde diesen Mann nicht mehr schicken.«

»Ganz wie Sie wünschen. Seine Besuche sind mir, wie ich ganz aufrichtig gestehe, keineswegs willkommen gewesen. Anverwandte meiner Patientin kann ich nicht abweisen, aber es ist gegen mein Prinzip, die Kranken mit der Gegenwart ganz fremder Personen zu belästigen.«

»Ich gebe Ihnen vollständig Recht. Handeln Sie ganz nach Ihrem ärztlichen Ermessen.«

Er verabschiedete sich mit einem herablassenden Händedruck und ging. Als er fort war, stieß der Arzt ein kurzes, höhnisches Lachen aus und sagte zu sich selbst: »Zehnfacher Schurke! Ich kann ihn zwar nicht ganz durchschauen, aber daß ich auf den Busch schlug, hat mir die dreifache Pension eingebracht und eine Gratification, die ich selbst bestimmen soll. Sie wird nicht dürftig ausfallen. Also, den Seidelmann schickt er nicht mehr? Nun, der wird wohl ganz von selbst wiederkommen, und ich bin nicht so dumm, ihm die Thür zu zeigen. Von ihm werde ich jedenfalls noch mehr hören, als ich bereits erfahren habe.«

Und der Baron, als er die Privatirrenanstalt hinter sich hatte und langsam die Straße hinschritt, murmelte: »Verdammter Kerl! Er wird mir gefährlich, wenn ich ihn nicht spicke. Seine Vermuthungen hat er nicht aus sich selbst heraus. Ich werde ihn öfters besuchen müssen, um über ihn in’s Reine zu kommen.«

Er wendete sich dem Bahnhofe zu, blieb aber unterwegs halten, zog unter einer Straßenlaterne die Uhr hervor, sah nach der Zeit und meinte dann überlegend: »Noch zwei Stunden Zeit. Sollte ich nicht einmal nach dem Hause gehen, in welches diese Marie Bertram einquartirt worden ist? Zu sehen wird sie heute Abend noch nicht sein; erkannt werde ich also nicht. Das ist wieder so ein Schlich von Seidelmann! Gut, ich gehe hin!«

Er fand das Haus. Der Flur war hell erleuchtet. Ein Diener trat ihm entgegen.

»Sie wünschen?« fragte derselbe.

»Vergnügen.«

»Willkommen! Es ist hier Weinstube. Trinken Sie allein oder in Gesellschaft?«

»Natürlich in Gesellschaft.«

»So kommen Sie in den Salon.«

Er führte ihn nach der ersten Etage und öffnete eine Thür. Der Baron trat in einen hell erleuchteten, reizend ausgestatteten Salon, in welchem sich noch kein Gast befand. Aber auf den sammetnen Divans saßen und lagen mehrere Damen, welche sich bei seinem Eintritte grüßend erhoben. Sie gehörten derjenigen Classe an, welche Heinrich Heine als »verlorene schöne Kinder« bezeichnet.

Kaum hatte der Baron Platz genommen, so schaarten sie sich um ihn herum und verlangten zu trinken. Er bestellte Wein, und bald zeigte es sich, daß diese Vertreterinnen des schönen Geschlechtes wie die Küfer oder Kürassierwachtmeisters zu trinken verstanden.

»Wie viele Damen giebt es in diesem Hause?« fragte er.

»Acht,« wurde geantwortet.

Er zählte nach. Sieben saßen bei ihm, und eine achte war einsam in der fernsten Ecke geblieben.

»Das ist nicht wahr,« behauptete er.

»O doch!«

»Ihr seid zehn!«

»Nein.«

»Freilich. Zwei sind heute angekommen.«

»Ach, diese Beiden! Sie gehören noch nicht zu uns.«

»Kennt Ihr sie schon?«

»Nein.«

»Aber gesehen habt Ihr sie doch?«

»Auch nicht.«

»Das ist doch sonderbar!«

»O nein! Die beiden dummen Mädels glauben nämlich, daß sie hier in Dienst gekommen sind. Sie werden heute noch bei dieser Meinung gelassen; darum durften sie uns noch nicht sehen. Morgen aber werden sie eingekleidet und mit in den Salon commandirt.«

»Und wenn sie sich weigern?«

»Weigern? Das hilft ihnen nichts. Wer einmal hier über die Schwelle getreten ist, der muß gehorchen. Nicht Alle sind so dumm wie die Wally.«

»Wer ist Wally?«

»Die dort hinten.«

Die Sprecherin zeigte auf dasjenige Mädchen, welches, als die anderen den Gast begrüßt hatten, bewegungslos auf seinem Platze sitzen geblieben war. Der Baron warf einen musternden Blick auf diese Gestalt.

Sie saß in die Ecke gedrückt und das Gesicht von der Gesellschaft abgewendet. Er sah nur ihren Hinterkopf, von welchem zwei lange, starke, schwere Zöpfe schwarzen Haares auf das seidene Kleid, welches sie trug, niederfielen. Unter dem Saume dieses Kleides lugte die Spitze eines zierlichen Füßchens hervor, und die Hände, welche er erblickte, waren klein, voll und weiß, so daß sie den Neid mancher vornehmen Dame erwecken konnten. Die Figur war schön gemeißelt und jugendlich voll. Schade, daß er das Gesicht nicht sehen konnte!

»Ihr nennt sie dumm?« fragte er. »Warum?«

»Sie hat auch gedacht, sie käme als Zimmermädchen oder als Zofe her. Und nun läßt sie sich von keinem einzigen Gast berühren.«

»Hm! Ist das wirklich dumm?«

»Was denn anders? Wir geben ihr gute Worte. Wir lachen sie aus. Doch Alles hilft nichts.«

»Also darum bleibt sie so fern?«

»Soll sie mit her?«

»Natürlich! Sie soll auch ein volles Glas erhalten!«

»Wally, geh’ her!«

Die Angeredete blieb in ihrer Ecke sitzen.

»Wally, hörst Du?«

Sie that, als ob sie nichts gehört habe. Sie bewegte sich nicht; sie drehte nicht einmal den Kopf herum.

»So ist sie! Sie wird aber schon noch anders werden.«

»Ich will doch einmal versuchen, ob sie auch mir nicht antwortet,« sagte der Baron.

Er stand auf und trat zu der Schweigsamen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte:

»Mädchen, komm und trinke mit!«

Sie antwortete nur dadurch, daß sie durch eine rasche Bewegung seine Hand von der Schulter schleuderte.

»Sei nicht so ungezogen!« fuhr er fort. »Komm, ich gebe Dir für jeden Kuß einen Gulden.«

Er bog sich nieder und wollte den Arm um sie legen. Da aber fuhr sie empor und drehte ihm ihr Gesicht zu. Es war schön, sehr schön, aber leichenblaß. Ihre großen, dunklen Augen glühten ihm drohend entgegen, aber kein Wort kam zwischen ihren vollen, zusammengekniffenen Lippen hervor. So standen sie sich einige Augenblicke schweigend gegenüber. Dann begann er lachend: »Das sieht ja ganz gefährlich aus! Aber Du machst mich doch nicht bange! Komm, gieb mir einen Kuß!«

Er streckte den Arm nach ihr aus. Sie wich so weit wie möglich zurück und stieß halblaut hervor.

»Fort! Nicht anrühren!«

»Meinst Du? Wozu ist die Schönheit da, als angebetet zu werden? Weigere Dich nicht; es hilft Dir doch nichts!«

Er wollte sie umfassen, erhielt aber in diesem Augenblicke einen Stoß von ihr, daß er zurücktaumelte.

»Donnerwetter!« rief er zornig. »Diese Katze beißt! Bezahlte ich Euch etwa den theuern Wein, um mißhandelt zu werden?«

Da wurde eine Glasthür geöffnet, welche in ein Nebenzimmer führte. Von dort aus war die Scene beobachtet worden. Ein Mann, der Besitzer des Hauses, trat ein.

»Warum zanken Sie, mein Herr,« fragte er den Gast. »Was ist geschehen?«

»Ich bat diese Dame um einen Kuß, erhielt aber anstatt desselben einen Faustschlag.«

»Sie wird das sofort gutmachen. Wally, gieb diesem Herrn einen Kuß!«

Sie hatte sich wieder in die Ecke gesetzt und that so, als ob sie den Befehl gar nicht gehört habe.

»Wally! Schnell! Verstanden?«

Sie regte sich nicht.

»Gut, Du renitentes Weibsbild, Dich werde ich curiren! Vorwärts! Heraus! Oder soll ich nachhelfen!«

Sie schien aus Erfahrung zu wissen, was ihrer wartete. Aber sie gönnte den Anderen die Genugthuung nicht, vor ihren Augen mit roher Gewalt aus dem Salon gestoßen zu werden. Sie stand auf und ging dem Manne in das Nebenzimmer nach. Sie blickte dabei keinen der Anwesenden an, aber auf ihrem bleichen Gesichte lag der Ausdruck einer ganz unbeschreiblichen Verachtung.

Die Anderen lachten.

»Horchen Sie!« sagte Eine zum Baron, als sich die Glasthüre hinter dem Manne und Wally geschlossen hatte.

»Was?«

»Jetzt bekommt sie den Lohn.«

Wirklich, er hörte jenes Geräusch, welches gar nicht mißzudeuten war – das unglückliche Mädchen erhielt Ohrfeigen.

»Das ist ihr ganz recht,« lachte Eine. »Sie wird schon noch gescheidt werden.«

»Ist sie schon lange hier?« fragte der Baron.

»Zwei Monate.«

»Und ist stets so ungehorsam gewesen.«

»Ja. Erst weinte sie. Sie hat aber eingesehen, daß ihr das nichts hilft. Nun ist sie verbissen und bekommt Ohrfeigen. Das wird sie curiren.«

»Wo ist sie denn her?«

»Aus der Hauptstadt.«

»Was war sie denn dort?«

»Auch nichts Anderes als jetzt. Aber sie ist schon dort so sehr obstinat gewesen. Darum hat man sie zu uns gebracht. Das dumme Ding sieht uns über die Achsel an und spricht kein Wort mit uns. Sie hat aber gar keine Ursache, stolz zu thun. Wir wissen ja, wo ihr Vater ist.«

Wally hatte auf den Baron einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht. Als sie so stolz und verächtlich an ihm vorübergeschritten war, um der entehrenden Strafe entgegen zu gehen, hatte er mit gierigen Augen ihre bewunderswerthe Gestalt umfaßt. Sie war eine Schönheit in der Gewalt der schlimmsten Menschen.

»Wo ist ihr Vater denn?« fragte er.

»Droben auf der Burg.«

»Auf Schloß Rollenburg? Also im Zuchthause?«

»Ja.«

»Was hat er denn verbrochen?«

»Diebstahl, Betrug, Fälschung, Unterschlagung, die allergemeinsten Verbrechen hat er begangen und dafür fünf Jahre Zuchthaus bekommen.«

»Was ist er denn gewesen?«

»Gutsinspector, glaube ich.«

»Und wie heißt er?«

»Petermann.«

»Hat er noch weitere Verwandte?«

»Nein. Diese Wally braucht sich also gar nichts einzubilden. Wer den Vater im Zuchthause hat, der kann froh sein, von so einem feinen Herrn, wie Sie sind, einen Kuß zu bekommen. Habe ich nicht Recht?«

Und dabei legte die Sprecherin dem Baron die Arme um den Hals und küßte ihn, was er sich wohl oder übel gefallen lassen mußte. –Die Stadt Rollenburg hatte ihren Namen von dem Schlosse erhalten, welches sich über ihr auf dem Felsen erhob. Die Rollenburg war im dreizehnten Jahrhundert erbaut worden und lange Zeit von einem berühmten Raubrittergeschlecht bewohnt gewesen. Spätere Besitzer hatten sie vergrößert. Mehrere Flügel waren nach und nach angebaut worden, und als sie schließlich in fiscalischen Besitz überging, machte man aus den weiten Hallen und Sälen enge Zellen, in welche geistig und moralisch Kranke, Irrsinnige und Verbrecher untergebracht wurden. Die größere Hälfte des Schlosses wurde in ein Zucht-und die kleinere in ein Irrenhaus umgewandelt.

Seit dieser Zeit hieß, nach Rollenburg kommen, nichts Anderes als in’s Zucht-oder in’s Irrenhaus kommen.

Die Strafanstalt war nach dem gemischten Systeme eingerichtet. Es gab Zellen für Isolir-und Arbeitssäle für Collektivhaft. Der Director war ein Hauptmann außer Dienst, entstammte einem alten, adeligen Geschlechte und hatte für seine Verdienste um das Strafanstaltswesen den Titel Regierungsrath erhalten.

In den verschiedenen Arbeitssälen gab es verschiedene Beschäftigungen. Da arbeiteten Schmiede, Schlosser, Schreiner, Schneider, Schuster, Weber, Cigarrenmacher in eigenen, abgeschlossenen Visitationen.

Die Zellenhaft konnte entweder als eine Vergünstigung oder als eine Strafverschärfung betrachtet werden. Das Letztere war sie für gefährliche, unverbesserliche Subjecte, die man nicht mit ihren Mitgefangenen in Berührung kommen lassen wollte. Das Erstere aber war sie für Gefangene, denen man ein reges Ehrgefühl zutraute, so daß die Gemeinschaftshaft mit anderen Verbrechern eine Verdoppelung der Strafe für sie gewesen wäre.

Es war Abend geworden. In den Sälen brannte das Gas, und die Zellengefangenen hatten ihre Lämpchen erhalten, bei deren Scheine sie ihre Arbeit verrichteten.

In einem engen Eckthurme, welcher nur zwei kleine Zellen enthielt, die durch eine Thür mit einander in Verbindung standen, saß ein Gefangener am Tische und schrieb.

Trotz seiner niedergebückten Stellung war zu bemerken, daß er von hoher, breiter Figur sei. Er trug die Sträflingstracht – leinene Hose und Jacke und ein graues Halstuch. Ein Zeichen am Jackenärmel deutete an, daß er zur Disciplinarclasse gehöre, das heißt zu den wenigen Gefangenen, welche sich durch ein tadelloses Betragen das Vertrauen ihrer Vorgesetzten erworben haben.

Er mochte fünfzig Jahre alt sein, sah aber jetzt viel älter aus. Seine Wangen waren eingefallen, um seine bleichen Lippen lagerte sich ein Zug schmerzlicher Entsagung; seine hohe, breite Stirn war kahl geworden, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

In einer solchen Anstalt giebt es viel und Mancherlei zu schreiben. Diese Beschäftigung erhalten nur Solche, welche durch ihren früheren Beruf dazu geeignet sind und sich durch gute Führung ausgezeichnet haben.

Vor der Zelle dieses Gefangenen hing die Nummer 306, und in dem Visitationsbuche des Aufsehers, der ihn zu bewachen hatte, stand: »Nummer 306, fünf Jahre wegen Unterschlagung. Karl Petermann, Gutsinspector. Führung sehr gut.«

In diesem traurigen Hause wurde Keiner bei seinem Namen, sondern nur bei der Nummer gerufen, welche ihm bei seiner Einlieferung zugetheilt worden war.

Die Feder des Nummer 306 flog rastlos und ohne Pause über das Papier. Ihr Knirschen war das einzige Geräusch, welches sich hören ließ.

Das einzige? Nein, denn eben hob der Gefangene den Kopf und lauschte. Draußen ließen sich nahende Schritte vernehmen. Der Gefangene schrieb eifrig weiter.

Ein Riegel klirrte; ein Schlüssel kreischte im Schlosse, und der Aufseher erschien unter der Thür.

»Nummer 306,« sagte er.

»Hier!«

»Komm, schnell!«

Der Gefangene hatte sich erhoben und stand in Achtung vor dem Vorgesetzten.

»Bitte, wohin, Herr Aufseher?«

»Danach hast Du nichts zu fragen. Vorwärts!«

Der Gefangene legte die Feder weg und folgte dem Beamten aus der Zelle hinaus, die enge Treppe hinab, über mehrere Höfe bis in einen Corridor, in welchem bereits mehrere Gefangene in einer Reihe neben einander standen. Dieser Corridor führte zur Expedition des Directors. Nun wußte 306, zu wem er kommen sollte.

Sein Aufseher übergab ihn einem anderen Aufseher, welcher hier im Corridore die Jour hatte, und entfernte sich dann wieder. Der Gefangene wurde dann mit in Reih und Glied gestellt, um zu warten, bis er aufgerufen werde.

Dieser Corridor war allen Gefangenen sehr gut bekannt. Hier hatte mancher vor Angst geschwitzt oder gezittert, wenn er herbeigeführt worden war, um von dem Director eine Strafe dictirt zu erhalten. Der Corridor war der verhängnißvollste Ort des ganzen Gefängnisses.

Sie standen da neben einander, ohne sich anzusehen, ohne einen Laut von sich zu geben. Wer es gewagt hätte, dem Andern nur ein Wort zuzuflüstern, der wäre sofort einer harten Strafe verfallen. So oft von dem Aufseher eine Nummer aufgerufen wurde, trat der Träger derselben aus der Reihe, um im Zimmer des Directors zu verschwinden, aus welchem er später wiederkam, entweder traurig oder mit befriedigter Miene, je nachdem, was ihm von dem gestrengen Leiter der Anstalt zugedacht worden war.

Endlich kam auch Nummer 306 an die Reihe. Er trat ein und blieb in militärischer Haltung an der Thür stehen. Der Director saß in Uniform an seinem Schreibtische und notirte sich eine Bemerkung über den Gefangenen, der ihn soeben verlassen hatte. Sein Gesicht war streng und sein Auge blickte finster auf das Papier hernieder. Noch schreibend, fragte er: »Wer jetzt?«

»Nummer 306, Herr Regierungsrath.«

Da hob er den Kopf, und als sein Auge auf den Gefangenen fiel, erheiterten sich die strengen Züge.

»Dreihundertundsechs,« sagte er. »Nicht wahr, Dein Name ist Petermann?«

»Ja.«

»Wie lange hast Du?«

»Fünf Jahre.«

»Wie viel ist davon verbüßt?«

»Vier Jahre.«

»Bist Du hier einmal bestraft worden?«

»Nein, Herr Regierungsrath.«

Das Gesicht des Directors erheiterte sich immer mehr. Er langte neben sich und ergriff ein kleines Actenheft, in welchem er zu blättern begann. Er nickte mit dem Kopfe, als ob er sich erst besinne, weshalb er diese Nummer 306 zu sich berufen habe, und fragte dann: »Weshalb wurdest Du bestraft?«

»Wegen Unterschlagung.«

»Du warst natürlich unschuldig?«

»Nein, Herr Regierungsrath.«

»Ah! Ganz dieselbe Antwort hast Du mir bereits bei Deiner Einlieferung gegeben. Das macht einen guten Eindruck. Wer seinen Fehler bekennt, ist besserungsfähig. Die Meisten aber sagen, sie seien unschuldig. Man behandelt sie mit Mißtrauen. Hier habe ich Deine Personalien. Ich lese, daß Du Gutsinspector gewesen bist. Hattest Du Familie?«

»Frau und eine Tochter.«

»Leben sie noch?«

Das Auge des Gefangenen füllte sich sofort mit Thränen. Er antwortete mit zitternder Stimme:

»Meine Frau ist während meiner Gefangenschaft gestorben. Sie hat es nicht verwinden können.«

»Ja, so kommt es. Jetzt hast Du ihren Tod auf dem Gewissen! Wieviel Gehalt hattest Du?«

»Fünfhundert Gulden.«

»Hm! Und nur Weib und Kind. Da konntest Du auskommen. Warum die Unterschlagung?«

Der Gefangene blickte vor sich nieder. Es ging wie ein schwerer Kampf über seine Züge, dann antwortete er: »Ich hatte gespielt, Herr Regierungsrath.«

»Ach so! Wieder einmal der Spielteufel! Wie soll das später werden, wenn Du entlassen bist!«

»Ich bin kein leidenschaftlicher Spieler.«

»Hast Dich aber doch durch das Spiel unglücklich gemacht!«

»Ich kannte es nicht. Ich hatte überhaupt noch niemals gespielt. Darum verlor ich so viel.«

»Du bist bestraft genug. Ich will Dir keine Vorwürfe machen. Bei wem warst Du denn angestellt? In den Einlieferungsacten steht nichts davon.«

»Bei dem Herrn Major von Scharfenberg.«

Der Director machte eine jähe Bewegung der Ueberraschung.

»Was? Wie?« fragte er. »Bei meinem Bruder?«

»Ja.«

»Das habe ich nicht gewußt. Ich entsinne mich allerdings, von diesem Falle gehört zu haben. Und nun fällt mir auch der Name auf. Eine Familie Petermann steht bereits seit Generationen in unserem Dienste. Der letzte Petermann, den ich kannte, war Schloßverwalter auf Scharfenstein, welches dann meinem Bruder zufiel.«

»Das war mein Vater.«

»So, so! Dich habe ich nie gekannt. Aber, Mensch, das thut mir herzlich leid. Einer unserer Petermänner im Zuchthause als mein Untergebener! Und das habe ich in diesen vier Jahren nicht gewußt! Es ist nicht meine Sache, auf das Verbrechen zurückzukommen, aber – hast Du Dich denn nicht an meinen Bruder gewandt?«

»Nein.«

»Warum nicht? Er hätte es sicherlich nicht bis zur Anzeige und Bestrafung kommen lassen!«

»Er selbst hat mich angezeigt und auf Bestrafung angetragen.«

»Hm! Wie lange hattest Du in seinem Dienst gestanden?«

»Ueber zwanzig Jahre.«

»Aber wohl nicht zu seiner Zufriedenheit?«

»Er hat mir nie ein tadelndes Wort gesagt.«

»Dann begreife ich erst recht nicht. Es muß seine eigene Bewandtniß damit haben. Nicht?«

Wieder suchte das Auge des Gefangenen den Boden, doch bald richtete es sich wieder klar und fest auf den Director.

»Es gab keinerlei Bewandtniß, Herr Regierungsrath. Ich brauchte das Geld und nahm es aus der Casse. Der Herr Major entdeckte das Deficit in eigener Person und ließ mich sofort arretiren. Es wäre ohne Erfolg gewesen, mich später noch an ihn zu wenden.«

Der Director stand von seinem Stuhle auf und schritt einige Male nachdenklich im Zimmer auf und ab, dann blickte er abermals in die Acten und sagte endlich: »Hast Du eine Ahnung, weshalb ich Dich jetzt kommen ließ?«

»Nein.«

»Weißt Du, was für einen Tag wir morgen haben?«

Der Gefangene nannte das Datum.

»Nein, das meine ich nicht. Es giebt einen Freudentag.«

»Ah, Königs Geburtstag!«

»Ja. Nun rathe!«

Ueber das vergrämte Gesicht des Gefangenen blitzte ein Strahl der Freude, der aber schnell wieder verschwand.

»Nun, warum sprichst Du nicht?« fragte der Director.

»Das, was ich rathen möchte, kann doch wohl nicht sein!«

»So! Hm! Seine Majestät pflegen sich kurz vor seinem Geburtstage die Namen einiger Gefangenen vorlegen zu lassen, die sich gut geführt haben. Ich erhielt heute das Verzeichniß zurück. Eine eigenhändige königliche Randbemerkung lautet folgendermaßen: ›Das letzte Jahr seiner Strafzeit erlassen! ‹«

Der Gefangene holte tief, tief Athem. Es wollte wie ein Jubel in ihm aufsteigen. Aber der Director hatte ja noch keinen Namen genannt. Jetzt aber fügte er hinzu: »Das stand unter Deinem Namen.«

»Herr Gott! Ist’s wahr? Ist’s wahr?«

»Ja. Zufälliger Weise ist heute der Tag Deiner Einlieferung. Du wirst also morgen entlassen werden.«

Der Gefangene wollte sprechen, aber es übermannte ihn so, daß er kein Wort hervorbrachte. Er lehnte sich mit dem Kopfe gegen die Wand, schlug beide Hände vor das Gesicht und schluchzte und weinte bitterlich.

Der Director ließ ihn eine Weile gewähren und sagte dann in beruhigendem Tone:

»Ich glaube, daß Dich diese Nachricht ergreift, und gönne Dir diese Freude. Du hast Dich gut geführt und wirst hoffentlich nie wieder auf Abwege gerathen.«

»Niemals, nie!« betheuerte der Weinende.

»Was aber wirst Du draußen anfangen?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Hast Du Dir noch keinen Plan gemacht?«

»Ich dachte an die Möglichkeit, doch wieder irgendeine Anstellung zu erhalten.«

»Hm! Das ist schwer. Das Publikum hat gegen jeden entlassenen Sträfling ein scharfes Vorurtheil, welches leider nur zu oft begründet ist. Wo hast Du vor Deiner Einlieferung gewohnt?«

»In der Hauptstadt.«

»So mußt Du dahin zurück. Eigentlich muß ein jeder Entlassene eine bestimmte Zeit nach dem Orte zurück, wo er heimathsgehörig ist. Das ist in vielen Fällen mit großen Nachtheilen verbunden. Er ist gezwungen, jahrelang an einem Orte zu sein, wo man ihm weder Verzeihung noch Arbeit zu Theil werden läßt. Ich werde Dir doch ein Vertrauenszeugniß geben; das berechtigt Dich zum Aufenthalt an jedem beliebigen Ort. Auf diese Weise wird es Dir leichter, eine neue Zukunft zu gründen. Wieviel hast Du in den vier Jahren hier verdient?«

»Fünfzehn Gulden.«

»Das ist freilich wenig. Na, werden sehen! Wohin wirst Du Dich von hier aus wenden?«

»Nach der Residenz.«

»Dort befindet sich wohl Deine Tochter?«

»Ja.«

»Was thut sie dort?«

»Sie ist in Stellung.«

»Welche Stellung?«

»Wirthschafterin bei einem gewissen Herrn Seidelmann, wie sie mir vor fast Jahresfrist schrieb.«

Der Director schüttelte leicht den Kopf.

»Wirthschafterin bei einem einzelnen Herrn? Hm!«

»Er ist alt und soll sehr fromm und gottesfürchtig sein, wie sie mir schrieb.«

»So, so! Aber dennoch – wie alt ist sie jetzt?«

»Neunzehn.«

»So nimm sie lieber weg.«

»Das werde ich thun, sobald ich wieder festen Fuß gefaßt habe.«

»Schön! Auf alle Fälle aber erinnere Dich meiner. Ich will nicht haben, daß ein Petermann zu Grunde geht. Bedarfst Du der Hilfe oder auch nur eines Rathes, so wende Dich getrost an mich. Ich sollte Dir ob Deines Vergehens zürnen, aber Du hast gebüßt und bist, wenigstens mit mir, quitt geworden.«

»Dieses Wort vergelte Ihnen Gott, Herr Regierungsrath!«

Er nahm die Hand des Beamten und küßte sie. Dieser fuhr in freundlichem Tone fort:

»Ein Jeder, der durch seine Schuld dieses Haus betritt, verliert für die Zeit seines hiesigen Aufenthaltes seinen Namen und den Anspruch auf das gesellschaftliche Sie; er wird mit Du und bei seiner Nummer angerufen. Jetzt nun, wo ich Dich entlasse, gebe ich Dir zurück, was Dir nun wieder gehört, Namen und Anrede. Herr Petermann, ich wünsche von ganzem Herzen, daß Sie lauter aus der Prüfung hervorgehen mögen. Sie haben durch eine ausgezeichnete Führung sich mein Vertrauen erworben; arbeiten Sie von jetzt an auch daran, sich das Vertrauen ihrer Nebenmenschen zu erwerben. Hier meine Hand! Gehen Sie mit Gott, und vergessen Sie nicht, sich nöthigenfalls an mich zu wenden.«

Der Gefangene nahm die dargebotene Hand und taumelte dann, wie betrunken vor Freude, zur Thür hinaus.

Ein Anderer trat ein. Der Director nahm von diesem zunächst nicht Notiz. Er fertigte das Vertrauenszeugniß aus und schrieb dann eine Anweisung an den Anstaltsrendanten, welche folgendermaßen lautete: »Dem morgen früh zu entlassenden Sträfling Karl Petermann sind vor seinem Fortgange hundert Gulden aus der Anstaltscasse auszuhändigen und mir in Anrechnung zu bringen.«

Erst als er diesen Zettel unterschrieben hatte, wendete er sich an den eingetretenen Gefangenen.

»Welche Nummer?«

»Achthundertundsechzig.«

Der Director suchte unter den vor ihm liegenden Notizen nach dieser 860. Er hatte an der Jacke des Gefangenen gesehen, daß dieser wiederholten Disziplinarstrafen verfallen war. Das machte sein Gesicht wieder streng und finster.

»Wie heißt Du?«

»Heilmann.«

»Was warst Du?«

»Buchbinder.«

»Weshalb bestraft?«

Der Gefangene war ein junger Mensch von wenig über zwanzig Jahren. Bei der letzten Frage des Directors zögerte er mit der Antwort und blickte trotzig vor sich nieder.

»Nun, hast Du gehört? Weshalb bist Du bestraft worden?«

»Wegen Diebstahls,« stieß der Gefangene hervor.

»Wie lange?«

»Zwei Jahre.«

»Natürlich bist Du unschuldig?«

»Ja.«

Da fuhr der Director mit einem Rucke empor.

»Ah! Wirklich?« fragte er.

»Ja. Ich bin es nicht gewesen.«

»So, so! Warte einmal!«

Er hatte jetzt die Einlieferungsacten des Buchbinders gefunden und suchte darin nach. Dann sagte er:

»Ja, hier steht es: Ist ungeständig. Das ist keineswegs empfehlend. Ich werde –«

»Wenn ich unschuldig bin, kann ich nicht geständig sein!« fiel der Gefangene ein.

»Schweig! Du hast nur zu antworten, wenn ich frage! Uebrigens lese ich hier, daß Du während Deiner Detention zwölfmal bestraft worden bist, und zwar wegen Faulheit und Widersetzlichkeit. Meinst Du vielleicht, daß Dir das zur Ehre gereicht?«

»Nein, Herr Regierungsrath.«

Er warf bei diesen Worten einen so eigenthümlichen Blick auf seinen Vorgesetzten, daß dieser sagte:

»Was ist das für ein Ton! Was hast Du noch?«

»Ich möchte bitten, mich aussprechen zu dürfen!«

»Ich habe keine Zeit!«

»Es ist ganz kurz.«

»Nun, so laß hören!«

»Sie meinen es gut mit den Gefangenen, Herr Regierungsrath, das weiß ich, obgleich Sie mich zwölfmal bestraft haben. Viele sagen, sie seien unschuldig. Aber bitte, denken Sie einmal, daß Einer auch in Wirklichkeit unschuldig ist. Mit welchen Gefühlen wird er hier eintreten, sich den Namen rauben, das Haar scheeren und sich Du nennen lassen. Er wird behandelt wie jeder Spitzbube, nein, noch schlimmer, weil man ihm nicht glaubt und ihn doppelt streng hält. Er verbittert sich mehr und mehr. Er soll arbeiten für täglich einen Kreuzer und ist unschuldig; er soll – – ah, ich will lieber schweigen, denn Sie haben keine Zeit, und mir schadet das Sprechen nur. In zwei Jahren zwölfmal bestraft; das hat mir gegen zweihundert Tage Kostentziehung eingebracht, und doch bin und bin und bin ich unschuldig!«

Der Beamte blickte finster zu ihm hinüber und sagte nach einer Weile:

»Ich bin nicht Dein Untersuchungsrichter. Man hat Dich meiner Obhut anbefohlen, und darein hattest Du Dich zu fügen. Bist Du unschuldig, so stehen Dir noch jetzt die Wege offen, Deine Ehre zu retten. Du hast Dich schlecht geführt; ein gutes Zeugniß kann ich Dir also unmöglich geben.«

Die Augen des Gefangenen wurden feucht.

»Dann behalten Sie mich nur lieber gleich hier, Herr Regierungsrath,« sagte er.

»Warum?«

»Weil Sie mich doch bald genug wieder herbekommen werden.«

»Ach so! Du nimmst Dir also bereits vor, rückfällig zu werden! Willst Du Deine Unschuld so beweisen?«

»Das kann mir nicht einfallen. Aber ich bin gezwungen, zwei Jahre lang in der Hauptstadt zu bleiben. An jedem anderen Orte werde ich ausgewiesen. Wer giebt einem Zuchthäusler Arbeit? Kein Mensch. Was habe ich also zu erwarten? Verachtung, Hunger und Noth. Dazu kommt die Polizeiaufsicht. Wie kann ich gegen das Alles ankämpfen? Es wäre wirklich am Besten, ich könnte hier bleiben.«

Das war im Tone unverkennbaren Seelenschmerzes gesprochen. Der Director schien den Sprecher mit seinen Blicken durchdringen zu wollen; dann sagte er: »Arbeit wenigstens wirst Du auf alle Fälle finden.«

»Bei wem? Selbst wenn mich ein Meister engagirte, so würde doch kein Geselle mit mir arbeiten wollen.«

»Der Staat hat die Verpflichtung, Dir Arbeit zu geben.«

»Ja, er wird mir welche geben, aber wo? Im Armen-oder Arbeitshause, oder man steckt mich unter die städtischen Gassenkehrer und Zwangsarbeiter.«

»Wieviel hast Du hier verdient?«

»Nichts.«

»Weil Du nicht gearbeitet hast.«

»Ich wollte auch hier arbeiten. Aber mir Buchbinderarbeit zu geben, das hielt der Herr Arbeitsinspector für eine Straferleichterung, die ein so renitenter Mensch wie ich nicht verdient. Er steckte mich also unter die Fournierschneider. Ich war diese Arbeit nicht gewohnt und brachte also das Pensum nicht. Ich wurde wegen Faulheit mit Kostentziehung bestraft. Ich bekam nichts zu essen und konnte also noch weniger arbeiten als vorher. So habe ich es bis zu zweihundert Hungertagen gebracht, aber verdienen konnte ich mir nichts, obgleich ich als Fournierschneider bei vollem Pensum täglich einen Kreuzer erhalten hätte.«

Es lag in der Art und Weise seiner Bemerkungen etwas, was still hinzunehmen sich der Director gezwungen sah. Er erkundigte sich noch: »Hast Du Verwandte?«

»Keine Seele.«

»Oder Freunde?«

»Einen alten Pathen; der aber ist der Freund Dessen, der mich in’s Unglück gestürzt hat.«

»Du hast also nur für Dich allein zu sorgen; das ist eine große Erleichterung. Uebrigens will ich Dir Deine mehr als offene Auseinandersetzung verzeihen und Dir zum Beweise, daß es doch Menschen giebt, welche Deinen Untergang nicht wollen, zehn Gulden aus meiner Casse gutschreiben. Man wird sie Dir morgen früh bei Deiner Entlassung auszahlen.«

Das hatte der Buchbinder von dem sonst so strengen Manne nicht erwartet. Die Röthe der Freude ging über sein Gesicht, und er antwortete: »Gott vergelte es Ihnen, Herr Regierungsrath! Nicht das Geld allein ist es, was er Ihnen vergelten möge, sondern vor allen Dingen die Hoffnung, welche Sie damit in mir erwecken. Vielleicht stößt man mich nicht überall hinaus. Vielleicht finde ich Arbeit und Vertrauen, und dann wird man erkennen, daß ich nicht der Spitzbube bin, für den man mich bis jetzt gehalten hat.«

»Ich will es Ihnen wünschen, Heilmann. Verzagen Sie nicht; werfen Sie die Verbitterung von sich fort. Treten Sie Ihren Mitmenschen mit einem offenen, freundlichen Gesicht entgegen, und man wird dann nicht hart und rücksichtslos mit Ihnen sein können. Ich entlasse Sie hiermit. Gehen Sie morgen früh mit Gott hier fort, und wenn ich Ihnen im Leben wieder begegne, so würde ich mich freuen, Sie als braven, selbständigen Meister zu sehen.«

Er reichte ihm die Hand.

»Herr Regierungsrath,« sagte der Buchbinder mit bebender Stimme, »hätte bei meiner Einlieferung hier nur ein einziger Beamter so ein theilnehmendes Wort zu mir gesagt, ich wäre nicht zwölfmal bestraft worden!«

Er ging und der Nächste trat ein. So expedirte der Director Einen nach dem Anderen, bis endlich der Letzte ihn verlassen hatte. Nun war auch er frei.

Eben als er seine Privatwohnung betrat, wurde mit der Glocke das Zeichen gegeben, daß die Gefangenen ihre Strohsäcke aufzusuchen hätten.

Er hatte Besuch. Sein Neffe befand sich bei ihm und hatte mit den Familienmitgliedern mit dem Souper auf ihn gewartet. Der brave Beamte war während des Essens ungewöhnlich schweigsam. Als man ihn darauf aufmerksam machte, sagte er: »Ich habe heute Veranlassung zum Nachdenken erhalten. Morgen geht ein Gefangener fort, den ich bisher für einen frechen Leugner gehalten habe, weil er stets behauptete, unschuldig zu sein, und nun, in der letzten Stunde, bin ich in meinem Urtheile irre geworden.«

»Ist es denn überhaupt möglich, daß Jemand unschuldig verurtheilt werden kann?« fragte seine Frau.

»Ich muß zugeben, daß solche Fälle leider vorkommen, der Indicienbeweis läßt stets die Möglichkeit zu, daß der Richter sich irrt.«

Sein Neffe trug die Uniform eines Oberlieutenants. Er hatte ein intelligentes Gesicht und ganz das Aussehen eines lebenslustigen, schneidigen Officiers. Er schien sich für dieses Thema zu interessiren, denn er fiel jetzt mit einer wahrnehmbaren Wärme ein: »Indicienbeweis, lieber Onkel? O, nicht blos das! Der Richter kann sich sogar selbst dann irren, wenn der Angeklagte sich zu der That bekennt!«

»Wohl kaum!«

»O doch!«

»Es wird doch kein Mensch ein Verbrechen eingestehen, welches er nicht begangen hat!«

»Warum nicht?«

»Welche Gründe sollten ihn leiten?«

»Zunächst Selbsttäuschung. Es ist vorgekommen, daß Einer glaubte, einen Anderen erschossen zu haben. Er wurde auf sein Geständniß hin verurtheilt, und doch stellte es sich später heraus, daß die Kugel nicht aus dem Laufe seines Gewehres gekommen war.«

»Das klingt sehr romantisch.«

»Ist aber trotzdem geschehen.«

»Und nun weiter?«

»Weiter kann sich ein Unschuldiger zu einer That bekennen, um sich für den Schuldigen aufzuopfern.«

»Dann ist der Schuldige entweder ein – – Feigling oder gar ein Schurke.«

Ueber die Stirn des Lieutenants flog eine feine, plötzliche Röthe. Er räusperte sich und sagte: »Nein. Es ist entweder unendlich feig oder bodenlos schlecht, einem Andern aufbürden lassen, was man eigentlich selbst zu tragen hat.«

»Vielleicht sind hier noch Ausnahmen zulässig.«

»Ich kenne keine einzige. Doch, apropos, wie war denn damals eigentlich die Geschichte mit dem Petermann, dem Scharfensteiner Inspector?«

Der Lieutenant verfärbte sich so jäh, daß es dem Director auffiel.

»Du erschrickst ja förmlich!« sagte er. »Freilich muß es unangenehm sein, solche Beamte vor dem Strafrichter zu wissen. Konnte Dein Vater nicht Gnade walten lassen?«

»Er konnte es, that es aber leider nicht.«

»Ich begreife ihn nicht. War die Summe denn gar so sehr bedeutend?«

»Dreitausend Gulden.«

»Nur? Das ist doch nicht etwa ein Vermögen?«

»O nein! Uebrigens wurde vollständig Ersatz geleistet.«

»So begreife ich die Härte des Bruders erst recht nicht. Es mögen da Dinge mitgespielt haben, welche wir vielleicht nicht kennen, lieber Bruno.«

»Höchst wahrscheinlich!«

Es war dem Lieutenant anzusehen, daß dieses Gespräch für ihn ganz und gar kein erquickliches sei, dennoch aber ließ er es nicht fallen, sondern fuhr fort: »Aber dabei fällt mir ein, daß Petermann zu einer Zuchthausstrafe verurtheilt wurde. Nicht?«

»Freilich.«

»Ich glaube, es waren fünf Jahre.«

»Gerade so viel, ja.«

»Nun, da müßte er sich doch hier bei Dir befinden?«

»Er ist allerdings hier, wie ich heute entdeckt habe.«

»Entdeckt? Das klingt ja wunderbar!«

»Es ist auch wunderbar, aber nur für Denjenigen, der die Verhältnisse nicht kennt. Ich wußte, daß ein Petermann wegen Unterschlagung auf fünf Jahre die Nummer 306 bekommen habe; aber ich hatte keine Ahnung, daß es dieser Euer Petermann sei.«

»Kaum denkbar!«

»Nun, habe ich ihn jemals gesehen?«

»Allerdings wohl nicht.«

»Und sodann hörte ich zwar von der Sache, aber nur vorübergehend, die Einlieferungsacten enthalten zwar die Angabe des Verbrechens, weiter aber nichts darüber. So kam es, daß ich gar nicht wußte, daß der letzte der Petermänner ein Gefangener sei.«

»Wie lange ist er hier?«

»Heute gerade vier Jahre.«

»Hm, lieber Onkel, könntest Du denn da nicht –?«

»Was denn?«

»Hat er noch nicht um Gnade nachgesucht?«

»Nein.«

»Könntest Du nicht Etwas für ihn thun?«

»Gern. Ueberhaupt habe ich es bereits gethan.«

»Was?«

»Ich habe ihn der Gnade seiner Majestät vorgeschlagen.«

»Gott sei Dank! Denkst Du, daß es Erfolg haben wird?«

»Der Erfolg ist bereits da. Er ist begnadigt und wird morgen entlassen.«

Der Lieutenant fuhr von seinem Sitze auf.

»Morgen? Ist’s wahr?« fragte er.

»Ja. Ich habe es ihm vorhin publicirt.«

»Wie viel Uhr wird er entlassen?«

»Um acht Uhr kann er gehen.«

»Hat er Dir gesagt, wohin?«

»Er geht nach der Residenz.«

»Aber ohne Mittel, ohne feste Stellung in Aussicht.«

»Nun, ich habe ihm hundert Gulden überwiesen; da ist er wenigstens für’s Erste sorgenfrei. Findet er keine Stellung, so sorge ich auch weiter.«

Da streckte der Neffe dem Onkel die Hand entgegen und sagte im wärmsten Tone:

»Habe Dank! Das hast Du brav gemacht! Er ist wohl nicht so schuldig wie es den Anschein hat.«

»Wieso?«

»Er hat lange Jahre die Kasse gehabt, ohne daß sie einmal revidirt worden wäre. Er war überzeugt, das, was er ihr entlehnte, in einigen Tagen wieder hineinlegen zu können. Er wollte keineswegs betrügen, sondern nur für ganz kurze Zeit eine Anleihe machen. Er hat ja auch wirklich Alles von Heller zu Pfennig ersetzt.«

»Wenn das so ist, so ist der Bruder geradezu unverantwortlich grausam gewesen.«

»Leider! Wie hat sich Petermann als Gefangener benommen?«

»Ausgezeichnet. Ich gebe ihm ein Vertrauenszeugniß mit, und ich sage Dir, daß ich dies nur sehr ausnahmsweise thue. Leider komme ich seit Langem mit dem Bruder nicht mehr zusammen; aber bist Du bei ihm, so fasse ihn doch einmal an. Er muß sich des Petermann annehmen!«

Der Lieutenant zuckte die Achseln.

»Ich darf mit ihm von dieser Angelegenheit gar nicht sprechen, werde aber doch noch einen Versuch machen.«

Damit war die Angelegenheit für heute erledigt; aber als am Morgen Petermann entlassen wurde und sich nach dem eine Strecke vor der Stadt gelegenen Bahnhof begab, hörte er eilige Schritte hinter sich. Sich umdrehend, gewahrte er den Lieutenant Bruno von Scharfenberg, welcher heute Civilkleidung trug.

Das Gesicht des entlassenen Gefangenen nahm schnell einen harten, abweisenden Ausdruck an. Er wollte den Weg fortsetzen, fühlte sich aber am Arme zurückgehalten.

»Petermann!« erklang es in bittendem Tone.

»Herr Baron!«

»Nicht so, nicht so! Sie ahnen nicht, was ich gelitten habe!«

»Aber Sie ahnen ungefähr, was ich leiden mußte?«

»Ich wollte ja zuspringen, aber Sie selbst hatten mir den Weg dazu versperrt.«

»Womit denn?«

»Durch Ihr Geständniß.«

»Ach so! Nun, ich habe dieses Geständniß mit meiner Ehre, meiner Stellung und vier Jahren Zuchthaus bezahlt!«

»Ich werde Alles, Alles vergelten!«

Petermann musterte den Lieutenant vom Kopfe bis zu den Füßen.

»Wirklich?« fragte er. »Wollen Sie das?«

»Ja, gewiß!«

»So sagen Sie mir doch einmal, wie Sie das anzufangen gedenken!«

»Da sollen Sie mir rathen.«

»Nun, was meine Stelle werth war, daß läßt sich ja taxiren; aber was zahlen Sie mir für meine verlorene Ehre?«

»Petermann!«

»Und für die Tage der Gefangenschaft. Für den stillen Harm, der mich verzehrte, für die Knechtschaft und Erniedrigung, die ich zu tragen hatte, für Alles, Alles, was sich unmöglich beschreiben läßt?«

»Seien Sie nicht zu grausam!«

»Waren Sie weniger grausam? Ich habe Stunde für Stunde gewartet, daß Sie kommen würden. Ich gestand die That ein, aber ich war überzeugt, daß Sie kommen würden, um dieses Geständniß umzuwerfen – vergebens!«

»Ich muß Ihnen Alles sagen und erzählen. Vielleicht sehen Sie dann meine Unterlassungssünde nicht mehr so an wie jetzt. Aber dazu ist hier der Ort nicht. Kommen Sie nach der Stadt zurück; wir wollen –«

»Nein, nein! Ich habe keine Zeit. Wir sind geschiedene Leute, Herr Baron!«

»Und dennoch bleibe ich bei meiner Bitte! Sie dürfen nicht so hartherzig sein, mir die Erlaubniß, gut zu machen, zu versagen!«

»Ich danke! Ich selbst habe Alles gut gemacht. Was jetzt geschehen könnte, würde überflüssig sein.«

Er riß sich gewaltsam los und eilte fort. Der Lieutenant machte eine Bewegung, als ob er ihm schnell nachfolgen wolle, besann sich aber, drehte sich scharf auf dem Absatze um und ging nach der Stadt zurück.

Als Petermann den Bahnhof erreichte, war es noch zu früh zum Zuge. Er konnte noch kein Billet bekommen, suchte darum die Bahnrestauration auf und ließ sich ein Glas Bier geben – das erste seit vier Jahren.

Er hatte kaum einige Minuten da gesessen, so kam ein zweiter Gast, ein junger Mann, der höflich grüßte und bei seinem Anblicke zu stutzen schien. Auch Petermann kam es vor, als ob er ihn bereits einmal gesehen habe.

Der junge Mann kam näher und fragte:

»Würden Sie mir erlauben, bei Ihnen Platz zu nehmen?«

»Ich kann nichts dagegen haben. Hier setzt sich ein Jeder dahin, wo es ihm beliebt.«

»Das heißt, besser wäre es, ich suchte mir einen anderen Platz? Nicht wahr?«

»Nehmen Sie es, wie Sie wollen!«

»Nun, ich gestehe Ihnen, daß ich zu Ihnen komme, weil ich mich für Sie interessire.«

»Ah! Warum?«

Der Andere setzte sich, ließ sich ein Glas Bier geben und sagte dann, als der Kellner sich wieder entfernt hatte: »Bemerken Sie die Falten, welche Sie in Ihrem Anzuge haben, mein Herr?«

»Wozu diese eigenthümliche Frage?«

»Weil mein Anzug dieselben Falten hat. Wenn ein Rock Jahrelang in einem Sacke steckt, ohne nur einmal angezogen zu werden, so sollte er doch vorher wenigstens ausgebügelt werden. Daran denken aber diese hohen Herren Beamten nicht.«

»Ah, Sie wollen sagen –«

»Daß wir jedenfalls Leidensgefährten sind.«

»Sie wurden heute entlassen?«

»Ja, gerade wie Sie auch. Bitte, beurtheilen Sie mich nicht falsch. Es ist nicht gerathen, Zuchthausbekanntschaften zu schließen und zu pflegen. Ich werde Sie nie kennen, selbst wenn ich Sie wiedersehe. Aber heute, am ersten Tage der Freiheit, lacht Einem das Herz vor Glück. Man möchte dieses Glück theilen, und das kann man blos mit einem Schicksalsgenossen thun. Zudem habe ich Sie öfters gesehen. Sie waren Schreiber; das ist ein Vorzug, und ich ersehe daraus, daß ich es nicht mit einem Manne zu thun habe, der für das Haus, in welchem wir waren, geradezu bestimmt ist.«

»Nein, das ist allerdings nicht der Fall. Auch ich habe Sie gesehen. Wo waren Sie?«

»In der Fournierschneiderei.«

»Eine harte Arbeit.«

»Ich hab’s empfunden. Ich fahre von hier nach der Hauptstadt.«

»Ich auch.«

»Wollen wir bis dahin beisammen bleiben?«

»Ich bin es zufrieden.«

»Schön! Und nun einen Schluck Bier! Prosit! Ah, wie das erquickt nach dem ewigen Wasser! Eigentlich darf ich mir das gar nicht bieten, denn ich habe da oben im Schlosse keinen Kreuzer verdient und bin auch sonst ein armer Teufel, aber –«

»Erlauben Sie mir, für Sie zu bezahlen?«

»Nein, nein! Halten Sie mich für keinen Lumpen! Ich bin zwar gefangen gewesen, aber auf Raub und Bettelei gehe ich nicht. Ich habe zehn Gulden geschenkt erhalten.«

»Von wem?«

»Vom Regierungsrath.«

»Ah, wirklich? Dieser Mann ist trotz seiner Strenge doch ein wahrer Menschenfreund.«

»Das will ich meinen! Ich bin bis gestern zu meiner Entlassung schlimm auf ihn zu sprechen gewesen, aber er hat mich bekehrt, trotz der zweihundert Hungertage.«

»Kostentziehung?«

»Ja.«

»O weh! In welcher Zeit?«

»In zwei Jahren.«

»Hm! Sie sehen mir gar nicht wie ein Mensch aus, bei dem es solcher Gewaltmittel bedarf.«

»Bin es auch nicht. Aber wenn Sie nichts zu essen erhalten, weil Sie bei so schwerer, ungewohnter Arbeit das Pensum nicht bringen, so bringen Sie es zum zweiten Male erst recht nicht, und die Kostentziehung nimmt dann kein Ende. Uebrigens war es mir unmöglich, mich in die aufgezwungene Willenslosigkeit zu fügen. Man ist nicht mehr Mensch, sondern Strafobject. Man ist ein Ding, an welchem ein Jeder seine vermeintlichen Besserungsexperimente macht. Bessern! Herrgott! Und wer sind diese Leute? Diese Aufseher sind ja selbst nichts Anderes gewesen, als Handwerker. Was verstehen Sie von Psychologie? Und Einen zu bessern, der nichts begangen hat, wie soll das wohl eigentlich angefangen werden?«

Das offene, zutrauliche Wesen des Sprechers war Petermann sympathisch, aber bei den letzten Worten lächelte er doch ein wenig sarkastisch und fragte: »Sie gehören wohl auch zu den berühmten Unschuldigen?«

»Nein.«

»Ich dachte.«

»Nun, zu den ›berühmten‹ Unschuldigen gehöre ich keineswegs, unschuldig bin ich aber doch.«

»Ach so! Richtig!«

»Ich glaube, Sie lachen!«

»Sie nehmen mir das doch wohl nicht übel!«

»Hm! Mir egal! Lachen Sie oder heulen Sie, ganz wie es Ihnen beliebt. Aber ein Spitzbube bin ich doch nicht.«

»Sie haben auch nicht das Aussehen eines solchen.«

»Und doch hat man mir wegen Diebstahles zwei Jahre Zuchthaus gegeben!«

Er preßte dabei die Zähne zusammen, daß es laut knirschte. Petermann fühlte sich doch versucht, ihm Glauben zu schenken.

»Dann wären Sie höchst unglücklich zu nennen!«

»Doppelt, doppelt, doppelt! Vielleicht habe ich noch mehr verloren, als Zeit, Freiheit und Ehre!«

»Wie ist denn das gekommen?«

»Nun, ich hatte eine Geliebte; ein Anderer wollte sie auch. Wir waren Beide Buchbinder und arbeiteten bei demselben Meister. Eines Tages wurde diesem der Kasten aufgebrochen und sein ganzes Geld gestohlen. Die Polizei kam und fand das Geld – ganz tief unten in meiner Lade versteckt.«

»O weh!«

»He da! Sehe ich aus wie ein Dummkopf?«

»Nein.«

»Hätte ich das Geld in meine Lade versteckt, wenn ich wirklich der Dieb gewesen wäre?«

»Wohl schwerlich.«

»Ich hätte es vergraben oder sonst wo in Sicherheit gebracht. Das stellte ich dem Richter vor; aber mein Nebengeselle beschwor, daß er mich aus des Meisters Oberstube habe kommen sehen mit Etwas in der Schürze, was wie Geld geklungen hat. Die Folge waren die zwei Jahre Zuchthaus. Jetzt glauben Sie es mir oder nicht! Im Zuchthause haben sie es freilich nicht geglaubt, und so bin ich als ein Unverbesserlicher entlassen worden.«

»Wohl gar unter Polizeiaufsicht?«

»Ja; drei Jahre lang. Ich habe mich sofort nach meiner Ankunft bei der Polizei zu melden. Ich muß sogar gewärtig sein, daß sie bereits benachrichtigt ist, mit welchem Zuge ich komme.«

»Damit wird dem Besserdenkenden, Dem, der sich brav halten will, nur das Fortkommen erschwert oder geradezu zur Unmöglichkeit gemacht.«

»Das ist sicher. Also, glauben Sie nun, daß ich unschuldig bin, Herr?«

»Ja,« antwortete Petermann, ihm die Hand reichend.

Heilmanns Augen glänzten feucht.

»Ich danke Ihnen,« sagte er. »Das thut dem Herzen wohl. Ich habe in diesen zwei Jahren gut aufgepaßt. Der Mensch, welcher den entlassenen Sträfling, welcher seine Schuld abgebüßt hat, noch weiter mit offenem Mißtrauen und mit Verachtung straft, begeht ein großes Unrecht und beweist nebenbei, daß er die Verhältnisse gar nicht kennt. Wie Viele laufen frei herum, denen ein Stammplatz im Gefängnisse gehörte. Die Bevölkerung der Strafanstalten ist auch nicht anders zusammengesetzt als die freie Menschheit. Es giebt hier wie dort gute und schlechte.«

»Ich weiß das, ich weiß das sehr genau. Ich habe vier Jahre lang die Anstaltsacten in der Hand gehabt und darf wohl behaupten, daß – die Zuchthaushabitues natürlich abgerechnet – es in den Gefängnissen keine kleinere Procentzahl guter Menschen giebt als in der Freiheit. Ich glaube Ihnen, daß Sie unschuldig sind, weil – lachen Sie nun nicht über mich! weil ich selbst auch unschuldig bin.«

»Was? Auch Sie?«

»Ja. Ich habe das gar nicht gethan, wegen dessen man mich bestrafte!«

»Also auch ein Anderer, gerade wie bei mir, der Sie in das Verderben stürzen wollte?«

»Nein. Nicht so. Er handelte unüberlegt. Er war der Sohn meines Vorgesetzten. Meine Vorfahren hatten seinen Ahnen treu gedient; ich nahm Das was er that, auf mich.«

»Herrgott! Und er duldete das?«

»Er war zu entschuldigen. Er hatte mehr zu verlieren, als ich. Doch, genug hiervon! Sind Sie in der Residenz bekannt?«

»Ich bin da geboren.«

Der verlorne Sohn
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