»Wenigstens der Eine.«

»Sind sie hübsch?«

»Ganz passabel.«

»Also Du hältst sie für unerfahren?«

»Ja.«

»Nun, da könnten wir ja einmal den Versuch machen, die beiden neuen, dummen Schafe an die Angel gehen zu lassen. Denkst Du nicht?«

»Vielleicht gelingt es.«

»Ich will sehen.«

Sie stieg selbst in das kleine Parterrezimmer herab, in welchem die Zwei warteten. Sie gefielen ihr sofort, darum grüßte sie freundlich und fragte: »Sind Sie von hier?«

»Nein,« antwortete Bertram.

»Woher?«

»Aus Melnhausen.«

Das war eine kleine Stadt an der Grenze des Landes. Diese beiden jungen Leute waren also gar nicht zu fürchten. Die Melitta fragte weiter: »Dieses Haus ist nicht eine gewöhnliche Restauration, meine Herren. Man muß wissen, wen man bei sich hat. Darf ich erfahren, was Sie sind?«

»Schriftsetzer.«

»Oh, das sind sehr gebildete Leute. Also sind Sie mir willkommen. Aber, sagen Sie mir, warum Sie gerade bei mir einkehren und nicht in einer anderen Restauration.«

Robert erröthete, gab aber doch die Antwort:

»Weil wir eine Restauration dieser Gattung kennen lernen wollten.«

»So wollen Sie nicht nur trinken?«

»Nein. Wir möchten auch einige Ihrer Damen kennen lernen, Fräulein Melitta.«

»Das kostet aber Geld, meine Herren. Sind Sie damit genugsam versehen?«

Sie hatte einen mütterlichen Ton angenommen. Robert ging auf denselben ein, indem er sagte: »Hoffentlich werden wir ausreichen, wenn Sie uns nicht exorbitante Preise berechnen.«

»Na, Sie gefallen mir. Ich will es also sehr gut mit Ihnen machen. Ich werde Sie zu einer jungen, sehr hübschen Dame bringen, mit der Sie machen können, was Sie wollen. Aber ich habe einen Wunsch dabei.«

»Wir hoffen, ihn erfüllen zu können.«

»Das Mädchen weiß noch nicht, in was für einem Hause sie sich befindet. Sie denkt, meine Dienerin zu sein. Sie müssen ihr also die Wahrheit verschweigen.«

»Ganz nach Ihrem Belieben.«

»Ich werde ihr sagen, daß Sie Verwandte von mir sind, Cousins, welche mich besuchen, und sie Ihnen dann zuschicken. Das Andere ist Ihre Sache.«

»Dürfen wir wissen, wie sie heißt?«

»Sie heißt Magda.«

Bertram fühlte sich enttäuscht. Die Bemerkungen der Melitta hatten auf seine Schwester gepaßt. Er hatte schon geglaubt, mit ihr zusammen zu kommen. Jetzt sah er, daß er sich geirrt habe. Darum sagte er: »Aber wir sind doch Zwei!«

»Sie möchten zwei Damen?«

»Freilich!«

»Nun, warten wir erst ab, wie Sie der Ersten gefallen. Gewinnt Einer von Ihnen ihre Zuneigung, so sende ich dem Anderen eine Zweite, welche auch noch nicht weiß, wo sie sich befindet.«

»Wie heißt diese?«

»Nennen Sie das Mädchen, wie Sie wollen. Ich habe ihr noch keinen Namen gegeben. Sie müssen nämlich wissen, daß wir selten Eine bei ihrem eigentlichen Namen rufen. Also, Sie sind meine Cousins!«

»Ja. Wie lange bleibt man bei Ihnen?«

»Ganz nach Belieben. Meinetwegen bis morgen früh. Jetzt bitte, mir zu folgen!«

Sie stieg mit ihnen zwei Treppen empor und öffnete da ein hübsches, trauliches und wohldurchheiztes Zimmer, in welchem zwei Betten standen.

»Hier ist es,« sagte sie. »Warten Sie nur einige Augenblicke.«

Sie entfernte sich. Die beiden Jünglinge blickten sich erregt an. Sie wagten gar nicht, sich hier nieder zu setzen. Dieser Tempel der Schande machte einen sehr negativen Eindruck auf sie.

»Ich dachte bereits, sie wollte uns Marie schicken,« sagte Fels.

»Ich auch. Vielleicht ist es die Zweite.«

»Möglich. Welch ein Haus! Mir ist es, als ob ich bis an den Hals im Schlamme stecke, der über mir zusammenschlagen will.«

»Und mir klopft das Herz, als ob ich ein fürchterliches Verbrechen beabsichtigte. Hätten wir diesen Ort doch nur bald hinter uns!«

»Still, man kommt!«

Die Melitta kehrte zurück.

»Sie wird sogleich kommen,« sagte sie. »Sie wird zwei Flaschen Wein mitbringen, welchen Sie mir natürlich zu bezahlen haben, obgleich Sie sich den Anschein geben müssen, als ob Sie den Wein von mir, Ihrer Verwandten, gratis erhielten. Hier ist die Klingel, wenn Sie etwas brauchen. Sobald Sie daran drücken, wird ein Dienstmädchen kommen. Jetzt will ich gehen. Machen Sie Ihre Sache gut.«

Sie entfernte sich.

»Ich bin außerordentlich neugierig, was für Eine kommen wird!« meinte Bertram.

»Eine Unschuldige, die wir verführen sollen!«

»Welch’ eine Schlechtigkeit! So also geht es in diesen Häusern zu!«

»Und so wird man es mit Marie auch gemacht haben.«

»Dann wehe ihnen!«

»Wie wollen wir uns denn zu dem braven Mädchen verhalten?«

»Jedenfalls nicht wie Schufte!«

»Du meinst, daß wir aufrichtig sein sollen?«

»Ja.«

»Werden wir uns da nicht das Spiel verderben?«

»Nein. Der liebe Gott steht nur den Guten bei.«

»Aber wie nun, wenn mit der Zweiten wirklich Marie gemeint ist. Sie soll doch nur dann zu uns gelassen werden, wenn es uns gelingt, die Erste zu verführen.«

»So thun wir so, als ob wir sie verführt hätten.«

»Wird sie sich das gefallen lassen?«

»Wir werden es abwarten müssen.«

Wilhelm Fels besaß mehr Erfahrung in Beziehung auf das gewöhnliche Leben, während Robert Bertram bedeutend mehr Intelligenz, also Scharfsinn und angeborene Klugheit hatte. Sie kamen Beide, ohne es einander auszusprechen, darin überein, daß mit Gewalt nichts zu erreichen sei.

Es klopfte an, und Bertram ging, um die Thür zu öffnen. Magda Weber trat ein. Sie trug in den Händen einen Servirteller, auf welchem zwei Flaschen und drei leere Gläser standen. Sie verbeugte sich höflich und sagte: »Ich soll zu den beiden Cousins gehen. Sind Sie das, meine Herren?«

Als Robert die Thür öffnete, hatte er draußen im Hintergrunde eine weibliche Gestalt stehen sehen. Er schloß daraus, daß man lauschen werde. Darum antwortete er mit lauter Stimme, so daß es draußen vor der Thür gehört werden konnte: »Ja, mein schönes Kind, wir sind es.«

Sie erröthete bei dieser ungewöhnlichen Anrede. Doch ließ sie sich keine Verlegenheit merken und erklärte: »Meine Herrin sendet Ihnen hier eine Erquickung. Sie sagte, Sie wären weit gereist und würden vielleicht Durst haben.«

»Da hat sie Recht. Bitte, schänken Sie ein!«

Während sie dieser Aufforderung Folge leistete, ruhten die Augen der beiden Jünglinge mit Wohlgefallen auf ihr. Sie bemerkte das und erröthete. Also ein so gutes und schönes Mädchen sollte hier in das Verderben gestürzt werden! Bertram ergrimmte bei diesem Gedanken. Doch blieb er jetzt noch der ihm auferlegten Rolle treu, indem er fragte: »Hat Ihnen Fräulein Melitta außerdem noch einen Auftrag gegeben, Fräulein Magda?«

»Wie, Sie kennen meinen Namen?«

»Unsere Cousine hat ihn uns gesagt. Kennen Sie auch den unserigen?«

»Nein.«

»Nun, wir führen denselben italienischen Namen, den meine Verwandte trägt. Wir gehören alle in die alte Familie der Melitta. Aber auf meine Frage zurückzukommen, hat Ihnen die Cousine noch einen Auftrag in Beziehung auf uns ertheilt?«

»Ja,« antwortete sie befangen.

»Welchen?«

»Ich weiß nicht, ob es Ihnen lieb sein wird, wenn ich ihr Gehorsam leiste. Ich soll Sie nämlich bedienen.«

»Wie lange?«

»Solange Sie es wünschen.«

»Haben wir Ihnen vielleicht zu klingeln, wenn wir Sie brauchen, Fräulein Magda?«

»Nein. Ich soll hier bleiben. Ich denke aber, daß Sie mich entlassen werden. Dort ist ja die Glocke. Ich werde kommen, sobald Sie das Zeichen geben.«

»Ist es Ihr Wunsch, daß wir Sie entlassen?«

»Ja,« antwortete Sie aufrichtig.

»Warum?«

Sie senkte den Blick und antwortete verlegen:

»Muß ich Ihnen das wirklich sagen?«

»Nein. Ich verstehe Sie auch ohne Worte. Sie haben da drei Gläser mitgebracht. Damit hat die Cousine doch wohl sagen wollen, daß Sie wenigstens mit uns anstoßen sollen.«

»Wenn Sie befehlen, muß ich es thun.«

»So kommen Sie! Ihr Wohl, Fräulein Magda!«

Die Gläser klangen. Magda nippte nur ein Wenig.

An der einen Wand stand ein bequemes, langes Sopha; es war so lang, daß vier Personen darauf Platz finden konnten. Robert saß in der einen und Fels in der anderen Ecke. Der Erstere sagte zu dem Mädchen: »Bitte, setzen Sie sich zu uns her!«

»Lassen Sie mich lieber hier auf diesem Stuhle Platz nehmen, meine Herren!«

»Fürchten Sie sich vor uns?«

Sie blickte erst den Einen und sodann den Andern forschend an und antwortete lächelnd: »Nein. Ich halte Sie für gute Menschen.«

»Sie haben Recht. Darum dürfen Sie auch meine Bitte ohne Bedenken erfüllen. Ich meine es gut mit Ihnen.«

Und leiser fügte er hinzu:

»Setzen Sie sich ja her zu mir! Ich habe meine Gründe. Sie befinden sich in einer großen Gefahr, aus welcher wir Sie befreien werden.«

Sie erbleichte.

»Herrgott! Was wollen Sie sagen, Herr Melitta?« fragte sie in ängstlichem Tone.

»Leise, leise! Setzen Sie sich nur erst her; dann sprechen wir weiter.«

Jetzt folgte sie seinem Wunsche, aber so, daß sie in Abstand zwischen Beiden saß.

»Bitte, vertrauen Sie mir!« sagte er. »Ich meine es sehr gut mit Ihnen. Rücken Sie näher zu mir heran. Es muß so sein. Ich werde Sie nicht berühren; aber wenn ich merke, daß Jemand eintreten will, dann werde ich Ihre Hand ergreifen, die Sie mir lassen müssen.«

»Warum das? Sie machen mich so bange.«

»Erschrecken Sie nicht! Sie befinden sich in einem sehr schlechten und verrufenen Hause.«

»Wie meinen Sie das? Die Besitzerin ist ja Ihre Cousine!«

»Nein, das ist sie nicht. Wir sind ganz und gar nicht verwandt mit einander.«

»Welch’ ein Haus meinen Sie denn?«

»Es wohnen schlechte, gesunkene Mädchen hier.«

»O nein, es sind lauter Künstlerinnen.«

»Ah! Sie sollen diese Damen wohl bedienen?«

»Ja.«

»Haben Sie das bereits gethan?«

»Ich war erst bei Zweien im Zimmer.«

»Wie waren sie gekleidet?«

Sie erröthete tief.

»Sehr – sehr – – sehr – – –.«

Weiter sprach sie nicht.

»Ich verstehe!« meinte Bertram. »Man täuscht Sie. Haben Sie eine Staffelei, Zeichnungen oder Gemälde gesehen? Farbenkästen oder Pinsel und Palette?«

»Nein.«

»Sehen Sie, man täuscht Sie!«

»Sie machen mir Angst!«

»Das thut mir leid; aber ich muß Ihnen doch die Wahrheit sagen. Dürfen wir wissen, woher Sie sind und ob Sie noch Ihre Eltern haben?«

Sie erzählte ihnen, was sie bereits Uhland berichtet hatte, und dann sagte sie auch, wie sie aus der Residenz nach Rollenburg gekommen sei. Dabei erwähnte sie, daß man sie mit einer Anderen hierhergebracht habe.

»Ist sie noch da?« fragte Robert.

»Ja. Wir bewohnen ein Stübchen mit einander.«

»Kennen Sie ihren Namen?«

»Sie heißt Marie Bertram.«

Fels stieß einen Ruf der Freude aus.

»Pst!« warnte Bertram, welcher trotz seiner Freude, die auch er empfand, nicht aus der Fassung gekommen war. »Vorsichtig! Man darf hier nicht ahnen, daß wir sie kennen! Sprich wenigstens leiser.«

»Wie? Sie kennen sie?« fragte Magda.

»Ja; ich bin ihr Bruder, und hier mein Freund ist ihr Geliebter.«

»Aber – ich erschrecke! Warum soll das Niemand wissen?«

»Weil sie sonst verloren ist. Man hat Schlimmes mit ihr vor und mit Ihnen auch.«

»Wirklich? Ich zittere! Es ist ihr bereits in der Residenz so schlecht ergangen.«

»Hat sie es Ihnen erzählt?«

»Ja. Sie war geistig gestört, hat aber bald Vertrauen zu mir gewonnen.«

»Was hat sie erzählt?«

»Wie es ihr bei einer Madame Groh ergangen ist. Man hat sie dort mit Gewalt zu einem schlechten Mädchen machen wollen.«

»Ist das gelungen?« fragte er mit großer Spannung.

»Nein.«

»Gott sei Dank! Nun hole ich wieder Athem! Aber wissen Sie, daß sie hier aus dem Regen in die Traufe gekommen ist! Was man dort nicht erreicht hat, das soll hier durch List gelingen.«

»Unmöglich!«

»Pst! Leise! Man könnte draußen horchen.«

»Reden Sie wirklich die Wahrheit?«

»Ja. Ich schwöre es Ihnen zu, daß dieses Haus ein noch viel schlimmeres ist als dasjenige, welchem Marie entgangen zu sein vermeint.«

»O Gott! Was soll ich thun? Dieser Mann sah so sehr ehrwürdig aus!«

»Er war ein Schurke, ein Mädchenhändler. Hat denn der hohe Lohn, welchen er Ihnen bot, nicht Ihren Verdacht erregt?«

»Nein. Er wußte es so glaubhaft zu machen. Jetzt aber fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich habe, trotzdem ich erst so kurze Zeit hier bin, doch Einiges bemerkt, was ich mir nicht erklären konnte.«

»Was war das?«

»Die Toilette der zwei Damen, welche ich sah; der Wein, welcher hin und her getragen wurde, und die Männerstimmen, welche ich unten hörte. Es müssen heute viele Herren gekommen und gegangen sein.«

»Da haben Sie das Richtige errathen. Wir haben erfahren, daß meine Schwester sich hier befindet, und so sind wir gekommen, sie zu retten, sie zu entführen.«

»Ich bitte Sie um Gottes willen, nehmen Sie mich mit!«

»Würden Sie sich uns anvertrauen?«

»Ja. Ich kann nicht glauben, daß Sie mich täuschen werden. Sie Beide haben so gute Augen.«

»Ich danke Ihnen! Sie haben sich nicht geirrt. Die Melitta gab uns den Auftrag, Sie hier zu verführen.«

Sie erröthete bis zum Nacken herunter. Darum fuhr Bertram fort:

»Zürnen Sie mir nicht, daß ich Ihnen dies so gerade und offen sage. Ich muß Ihnen ja die Augen öffnen. Man hat uns versprochen, noch eine Zweite zu uns zu lassen, wenn Einer von uns mit Ihnen glücklich ist.«

»Da ist jedenfalls Ihre Schwester gemeint.«

»Das vermuthe ich auch. Wir müssen sehen, ob wir sie in dieses Zimmer bringen können. Da müssen Sie mit helfen, so schwer es Ihnen auch fallen mag.«

»Gern! Was soll ich thun?«

»Es muß scheinen, als ob Sie sich mir – angeschlossen hätten. Darum werde ich Sie, wenn Jemand kommt, für einige Augenblicke so an mich nehmen, als ob Sie meine Geliebte seien. Darf ich das?«

Sie rang mit ihrer Verlegenheit und fragte:

»Muß es denn sein?«

»Unbedingt. Erlauben Sie es mir?«

»Ja,« flüsterte sie.

»Ich danke! Nun aber zu einer Hauptsache. Wo liegt das Zimmer, welches Sie mit meiner Schwester bewohnen?«

»Am Ende dieses Corridors.«

»Können Sie unbemerkt oder doch wenigstens unbeanstandet hin?«

»Ich denke, man belauscht uns!«

»Nun, treffen Sie wirklich Jemand, so können Sie ja Etwas vergessen, Etwas zu holen haben.«

»Gut! Mein Taschentuch.«

»Ist meine Schwester geistig soweit angeregt, daß mit ihr zu sprechen ist?«

»Das ist sehr schwer zu sagen.«

»Aber dennoch muß es gewagt werden. Gehen Sie also jetzt einmal zu ihr, und sagen Sie ihr, daß ihr Bruder Robert und ihr Bräutigam Wilhelm Fels hier sind. Sagen Sie ihr, daß wir sie zu uns kommen lassen werden, daß sie aber nicht verrathen darf, daß sie uns kennt.«

»Wird sie das ruhig aufnehmen?«

»Gott gebe es! Bitte, fangen Sie es klug an!«

»Dann komme ich allein wieder?«

»Ja. Ich werde Marie dann selbst verlangen.«

Sie ging. Als sie die Thür öffnete, stand draußen das Dienstmädchen, welches augenscheinlich zur Beobachtung hierher beordert war.

»Wohin willst Du?« fragte sie.

»In meine Stube.«

»Warum? Du sollst ja bei den Herren bleiben!«

»Das thue ich auch. Ich gehe gleich wieder zu ihnen. Ich will mir nur mein Taschentuch holen, welches ich vergessen hatte, einzustecken.«

»Ach so! Wie gefallen sie Dir?«

»Sehr gut. Es sind zwei hübsche Menschen.«

»Sind sie liebenswürdig gegen Dich?«

»Ja.«

»Haben sie Dich vielleicht gar – umarmt?«

»Hm!« machte sie, die Verschämte spielend.

»Du kannst immer aufrichtig sein. Ich sage ja nichts wieder, und es ist Dummheit, gegen so hübsche, junge Herren die Spröde zu spielen. Also –?«

»Ja. Der Eine nahm mich in den Arm.«

»Und – küßte er Dich vielleicht?«

»Zweimal.«

»Nur? Du hast Dich gewiß gespreizt!«

»Das muß man doch!«

»Dummes Mädel! Wenn er Dir gefällt, so wehre Dich doch nicht! Vielleicht will er Dich heirathen.«

Sie ging, um ihrer Herrin die angenehme Botschaft zu bringen, daß die Magda sich wohl leicht einrichten werde. Magda aber suchte ihr Stübchen auf. Ein jedes Weib befindet sich im Besitze eines gewissen Schauspielertalentes, und so war es Magda trotz ihrer Unschuld und Reinheit gelungen, das Mädchen zu überlisten.

Als sie zu Marie kam, saß diese grübelnd am Fenster und blickte in die winterliche Abendlandschaft hinaus. Sie trat ganz nahe an sie heran und flüsterte ihr zu: »Bleibe ganz still und ruhig! Ich habe Dir etwas höchst Wichtiges zu sagen.«

Marie blickte fragend zu ihr empor, ohne ein Wort hören zu lassen. Magda fuhr fort: »Du hast einen Geliebten!«

Mariens todtes Auge belebte sich.

»Wilhelm!« stieß sie leise hervor.

»Willst Du ihn sehen?«

Da stand die Arme langsam vom Stuhle auf. Ihr Mund öffnete sich; ihre Augen wurden größer, und ihre Züge gewannen Bewegung.

»Und Deinen Bruder Robert?« fuhr Magda fort.

»Robert!«

Ein Strahl der Freude flog über ihr Gesicht.

»Ja. Beide sind da.«

»Hin zu ihnen.«

»Nein, jetzt nicht. Du bist in Gefahr, und sie sind in Gefahr. Sie werden Dich holen lassen, aber Du mußt so thun, als ob Du sie nicht kennst.«

»Gefahr!« flüsterte Marie.

Auf ihrem Gesichte machte sich der Ausdruck des Schreckes bemerkbar, ein sehr gutes Zeichen.

»Ja. Du darfst sie nicht verrathen.«

»Ich werde schweigen.«

»So warte, bis Du geholt wirst.«

Magda ging. Als sie sich entfernt hatte, hätte ein Psycholog bei Marie zugegen sein sollen. Sie schritt im Zimmer hin und her, und es war wunderbar, wie man den Geist förmlich in ihre Züge zurückkehren sehen konnte. Sie machte, bis sie geholt wurde, eine Wandlung durch, die wohl Niemand hatte für möglich halten können.

»Was hat sie gesagt? Hat sie Sie verstanden?« fragte Robert die zurückkehrende Magda.

»Sehr gut.«

»Und wird sie vorsichtig sein?«

»Ich hoffe es.«

»Und war Jemand draußen auf dem Corridore?«

Magda erzählte ihm, was sie mit dem Mädchen gesprochen hatte. Freilich wurde es ihr schwer, ihm gewisse Antworten, welche sie gegeben hatte, zu wiederholen.

»Das haben Sie gut, sehr gut gemacht!« sagte er. »Nun müssen wir sie weiter täuschen. Bitte, halten Sie sich recht wacker. Es ist das unumgänglich nothwendig.«

Er ging zur Thür und klingelte. Dann setzte er sich wieder auf das Sopha und nahm Magda auf seinen Schooß. Sie wollte sich sträuben; er aber bat: »O bitte, nur die wenigen Augenblicke!«

Man hörte Schritte kommen, und gerade als die Thür geöffnet wurde, drückte Bertram Magda an sich und gab ihr einen Kuß. Dann wendete er sich nach dem Mädchen, welches draußen stand.

»Sagen Sie unserer Cousine, daß der Andere hier auch eine Dame zu haben wünscht! Diese ist mein!«

»Ich habe bereits Befehl erhalten,« lautete die freundliche Antwort, »und werde Ihnen Eine bringen.«

Die Thür schloß sich wieder, und da wollte sich Magda nun von Robert losmachen. Er aber hielt sie fest.

»Bleiben Sie nur noch so lange, bis das Mädchen wieder hier gewesen ist!«

Sie gehorchte und hatte es nicht zu bereuen, denn bereits nach wenigen Minuten kam die Betreffende wieder und meldete: »Hier ist sie. Viel Vergnügen!«

Sie schob Marie herein und machte die Thür hinter ihr zu.

Die Eintretende hielt die Augen gesenkt und blieb an der Thür stehen, ohne den Blick zu erheben. Robert schob Magda von sich fort, und auch Fels sprang auf. Den Beiden wollte das Herz zerspringen.

Der Erstere ging auf die Schwester zu, faßte sie bei der Hand und zog sie von der Thür fort nach dem hinteren Theile des Zimmers.

»Marie!« flüsterte er, vor Schmerz und Freude gleich sehr bewegt.

Da schlug sie die Augen auf und sagte leise:

»Lauscht man noch?«

Ihr Auge sagte, daß sie die Situation sehr wohl begriffen hatte. Anstatt einer lauten Antwort nahm er sie in die Arme, küßte sie und legte sie dann an die Brust des Freundes.

Was nun geschah, was nun erzählt und gesprochen wurde, bedarf keiner Beschreibung. Nach einiger Zeit sagte unten die Melitta zu ihrer Wirthschafterin: »Ich bin neugierig, wie sich die Marie Bertram verhält.«

»Man sollte einmal hinaufgehen.«

»Ja, das werde ich thun.«

Das war kurz nachdem Wally zum ersten Male mißhandelt worden war.

Die Besitzerin des Hauses stieg die Treppe empor, ging auf die Thür zu und machte sie ganz unerwartet, wie sie meinte, auf. Da lag Marie Bertram in Felsens und Magda Weber in Bertrams Armen.

»Verzeihung,« sagte die Melitta, als die Vier erschrocken auseinander fuhren. »Ich kam in ein unrechtes Zimmer.«

Als sie zugemacht hatte, ließ Bertram Magda von sich fort und sagte leise lachend: »Wie gut, daß die eine Stufe knarrte. Nun ist sie befriedigt und wird so bald nicht wiederkommen. Also weiter in unserm Gespräch! Sie gehen mit uns, Fräulein Magda?«

»Ich darf Ihnen nicht zur Last fallen.«

»Das werden Sie nicht. Ich habe einen mächtigen Beschützer, welcher sich Ihrer sehr gern annehmen wird.«

»Und hier giebt es einen Herrn, welcher mir, wenn ich ihn aufsuche, gern eine Stellung verschaffen wird.«

»Wer ist das?«

»Ein Arzt. Doctor Zander, welchem ich von meiner Heimath her bekannt bin.«

»Ich kann und will Sie natürlich zu nichts zwingen. Wir können das auch dann besprechen, wenn wir das Haus hinter uns haben.«

»Ja. Nur erst hinaus!« meinte Fels.

»Wenn nur dieser Kerl, der Hausknecht, oder was er ist, nicht unten im Flur stände!«

»Wenn es noth thut, werfen wir ihn über den Haufen!«

»Um Gotteswillen, begeben Sie sich in keine Gefahr!« bat Magda.

»Ich sehe da keine Gefahr. Man versetzt ihm einen ganz unerwarteten Hieb und eilt zur Thür hinaus. Draußen mögen sie dann kommen!«

»So ist’s richtig!« sagte Fels. »Hier stehen zwei Leuchter. Nehmen wir die Lichter heraus, dann geben sie recht gute Waffen ab. Ein Hieb mit solch’ einem Leuchter ist gar nicht übel!«

»Hoffentlich aber gelingt es uns, ohne Gewaltthat zu entkommen. Horchen wir!«

Er öffnete die Thür und schob sie leise ein Stück hinüber. Es stand kein Mensch draußen, von unten aber hörte man leise Stimmen. Fels war an seine Seite getreten und lauschte mit ihm.

»Ob es jetzt passen mag!« flüsterte er.

»Wohl nicht. Horch!«

Man hörte laute, zankende Stimmen. Es waren lauter männliche. Worte waren aber nicht zu verstehen.

»Ein Streit,« sagte Robert. »Da können wir noch nicht fort; es giebt zuviel Bewegung da unten.«

Sie warteten. Nach einiger Zeit hörten sie vielfache Schritte, welche sich entfernten. Es waren die Offiziere, welche gingen. Dann begann ein eigenthümliches Hin-und Herhuschen und ein geheimnißvolles Flüstern, bis wieder zwei Schritte hörbar wurden, ein lauter und ein leiser. Die Wirthschafterin hatte den Arzt geholt. Der leise Schritt war der ihrige.

Nun trat eine längere Stille ein.

»Jetzt vielleicht?« meinte Fels.

»Ich will recognosciren,« antwortete Bertram.

»Aber vorsichtig!«

»Versteht sich!«

Er schlich zur Treppe hinab und gelangte auf den Corridor der ersten Etage. Kein Mensch war da zu sehen, denn die Melitta befand sich mit der Wirthschafterin bei dem Arzte, und die Mädchen der Etage sahen und hörten diesem Letzteren zu.

Dadurch wurde Bertram unternehmender gemacht. Er ging auch noch ein Stück die untere Treppe hinab, so daß er den Hausflur zu überblicken vermochte. Es befand sich kein Mensch daselbst, und die Hausthür stand offen. Die Wirthschafterin hatte in ihrer Erregung oder Bestürzung vergessen, sie zu verschließen, als sie nach der Polizei gegangen war.

Ebenso vorsichtig, wie er herabgestiegen war, kehrte Bertram nach oben zurück.

»Nun?« fragte Fels gespannt.

»Der Weg ist frei.«

»Ah! Der Wächter?«

»Ist nicht zu sehen.«

»Aber die Hausthüre?«

»Steht weit offen.«

»Dann fort. Ich habe die Leuchter. Hier hast Du einen. Wer uns hindern will, wird niedergeschlagen.«

»Wer soll voran?«

»Die Mädchen.«

»Gut! Also, vorwärts, aber leise!«

Magda mit Marie stiegen voran; die beiden Jünglinge folgten, jeder mit einem der schweren, massiven Metalleuchter bewaffnet. Eben wollten sie über den Corridor huschen, um die untere Treppe zu gewinnen, als von da unten laute, rasche Schritte erschallten, welche die Treppe empor kamen.

Zu gleicher Zeit öffnete sich hinten in dem schmalen Seitengange eine Thür. Dort hatte nämlich bisher Uhland gesteckt, ohne seine Gegenwart zu verrathen. Er wollte es vermeiden, als Zeuge dienen zu müssen. Darum hatte er den jetzigen Augenblick abgewartet, um sich unbemerkt zu entfernen.

Bertram erblickte ihn. Sich wieder gegen die Treppe wendend, sah er – – Herrn August Seidelmann, den frommen Schuster, welcher soeben angekommen war, um die Melitta vor Petermann zu warnen.

Alle die Genannten standen einige Augenblicke wortlos vor Ueberraschung. Seidelmann sammelte sich am Schnellsten. Er erkannte Bertram, seine Schwester und Fels; er sah ein, daß er sie zurückhalten müsse.

»Halt! Wohin?« fragte er.

»Das geht Dich nichts an!« antwortete Fels.

»Oho! Leuchter gestohlen, wie ich sehe! Solche Diebe läßt man nicht entkommen.«

»Solche Schufte, wie Du bist, auch nicht! Hier Bursche, hast Du Eins! Vorwärts nun!«

Er holte mit dem Leuchter aus und Bertram zu gleicher Zeit. Das hatte der Schuster nicht vermuthet. Von einem einzigen gewaltigen Hiebe getroffen, taumelte er zurück, verlor den Halt und stürzte über das Treppengeländer hinweg und hinunter in den Flur.

»Rasch nach!« gebot Fels.

»Halt! Halt!« ertönte es hinter ihm her.

Uhland war nämlich eiligst herbeigesprungen und hatte die beiden Mädchen ergriffen.

»Drauf auf ihn!« rief Bertram.

Im nächsten Augenblicke sauste sein Leuchter auf die Achsel des Magdalenenhändlers nieder, daß dieser den Arm sinken ließ und dann selbst zu Boden sank.

In diesem Augenblicke kam der Arzt mit der Melitta herbeigesprungen. Diese Letztere sah die vier Personen zur Treppe hinabeilen.

»Halt, halt!« rief sie ihnen nach, doch ohne alle Hoffnung, sie aufhalten zu können.

Aber ihre Befürchtung sollte doch nicht in Erfüllung gehen, denn gerade, als die Flüchtlinge den Flur erreicht hatten, erschien am Eingange – die Wirthschafterin mit der Polizei. Der Polizeiwachtmeister hörte den Ruf, welcher von oben erschallte; er zog augenblicklich blank und hielt den vier Personen seine Klinge entgegen.

»Halt! Wohin?« fragte er.

»Entfliehen!« antwortete Fels ganz verdutzt.

»Oh, das wollen wir uns verbitten! Nehmt doch einmal diese Kerls und Mädels an die Leine!«

Er hatte eine Anzahl seiner Untergebenen mitgebracht, da es sich ja um einen Mord handelte. Von diesen wurden Fels und Bertram gepackt.

Dieser letztere hatte für keinen Augenblick seine Geistesgegenwart verloren. Er sagte ruhig: »Herr Wachtmeister, Sie irren. Nicht wir sind es, welche Sie ergreifen müssen.«

»So? Wer ist es denn?«

»Die da oben!«

»Ah! Das ist seltsam! Wollen es uns doch erst überlegen! Wer liegt dann da an der Erde?«

»Ein Todter,« antwortete einer der Polizisten, welcher sich niedergebückt hatte, um Seidelmann zu betrachten.

»Ein Todter? Sapperment! Ist es der, von dessem Tode uns gemeldet worden ist?«

»Nein!« rief die Melitta von der Treppe herab. »Der muß jetzt eben erst erschlagen worden sein.«

»Von wem?«

»Von mir!« antwortete Bertram ruhig.

»Nein, von mir!« fiel Fels ein.

»Du irrst! Ich war es!«

»Nein, ich!«

»Welch’ ein Fall!« rief der Wachtmeister. »Droben ein Mord und hier auch zwei Mörder!«

»Hier liegt noch ein Verwundeter!« rief es von oben.

»Wer hat ihn verwundet?«

»Ich!« erklärte Bertram.

Dieses Mal war Fels still.

»Sie auch?« sagte der Wachtmeister. »Bindet sie, aber fest, so fest wie möglich!«

»Sie sind unschuldig!« rief Magda.

»Halte den Mund, Mädchen! Wer schuldig oder unschuldig ist, das wird die Untersuchung zeigen. Schafft diese Vier hinauf! Einer bleibt hier an der Thür, um Wache zu halten!«

Dieser Befehl wurde augenblicklich ausgeführt. Droben kniete Doctor Zander bei Uhland, um dessen Verletzung zu untersuchen; daher hatte er kein Auge für die Personen, welche jetzt an ihm vorüberschritten.

»Fräulein Melitta,« fragte der Wachtmeister, »giebt es hier oben ein Zimmer, um die vier Flüchtlinge unterzubringen?«

»Ja. Aber die Fenster sind nicht vergittert.«

»Das schadet nichts. Ich stelle einen Wächter mit hinein.«

Fels, Bertram, Marie und Magda wurden eingeschlossen, ohne sich zu weigern.

»Das ist hartnäckiges Gesindel,« meinte der Wachtmeister. »Andere pflegen wenigstens gute Worte zu geben.«

Er begab sich nun zu dem Arzte und fragte:

»Was fehlt diesem Manne?«

»Das Schlüsselbein ist ihm entzweigeschlagen worden.«

»Sapperment! Das sind verwegene Subjecte! Und was ist’s mit Dem, der da unten liegt?«

»Werde ihn untersuchen!«

Während dies geschah, schüttelte der Arzt besorgt den Kopf.

»Nun?« drängte der Wachtmeister.

»Er lebt noch.«

»Also nicht todt?«

»Nein.«

»Wird er wieder erwachen?«

»Das ist zweifelhaft. Er hat, wie mir scheint, mit einem stumpfen Instrumente zwei Schläge an den Kopf erhalten und ist in Folge dessen von oben herabgestürzt. Es ist wahrscheinlich, daß er auch innerliche Verletzungen davon getragen hat.«

»Welch ein eclatanter Fall! Und der erste Ermordete ist wirklich todt?«

»Ja.«

»Der Mörder ist entkommen?«

»Bis jetzt, ja.«

»Na, ich habe sofort nach dem Herrn Staatsanwalt geschickt. Er wird mit dem Gerichtsarzte kommen. Dann wird das Nötige verfügt werden. Für jetzt genügt es, den status quo zu erhalten.« –Nur eine Viertelstunde später kam der Extrazug an, welcher den Fürsten von Befour nach Rollenburg brachte. Auch er ließ sich am Bahnhofe das Adreßbuch geben und begab sich dann gleich in die betreffende Straße.

Dort stand einer der besseren Gasthöfe der Stadt. Als der Fürst auf der anderen Seite der Straße an demselben vorüberpassiren wollte, bemerkte er zwei Männer, welche am hellerleuchteten Thore standen und im Begriffe zu sein schienen, von einander Abschied zu nehmen.

»Gute Nacht, Herr Petermann!« sagte der Eine. »Also auf mich können Sie sich verlassen. Ich weigere mich nicht für Sie zu zeugen.«

»Gute Nacht, Her Lieutenant!« antwortete der Andere. »Ich habe keine Sorge. Hoffentlich ist’s nur Bewußtlosigkeit, und der Hausdiener erwacht wieder zum Leben.«

Der Eine entfernte sich und der Andere verschwand im Flur des Gasthauses. Der Fürst hatte die Worte deutlich vernommen, dachte aber nicht, daß sie so werthvoll für ihn werden würden.

Als er das Haus der Melitta erreichte, war die Thür verschlossen. Eine zahlreiche Menschenmenge befand sich in der Nähe. Dies ängstigte ihn. Er drängte sich hindurch und zog die Glocke. Man schloß auf, öffnete eine kleine Lücke und fragte durch dieselbe: »Wer ist draußen?«

»Ein Fremder, welcher um Einlaß bittet.«

»Machen Sie sich fort! Hier giebt’s heute nichts für Sie!«

Bei diesen Worten wurde die Thüre wieder verschlossen. Die in der Nähe Befindlichen hatten die Worte gehört und stießen ein lautes Gelächter aus. Sie hielten den Fürsten für einen Menschen, welcher seines Vergnügens wegen Einlaß begehre. Er zog also sofort wieder die Klingel.

»Wer ist draußen!« fragte es zum zweiten Male.

»Aufmachen!« befahl er.

»Nicht eher, als bis ich weiß, wer da ist!«

»Polizei.«

»Das ist etwas Anderes.«

Jetzt wurde die Thür so weit geöffnet, daß der Fürst eintreten konnte. Der Posten sah ihn an und sagte: »Donnerwetter! Sie sagten, Sie wären Polizist?«

»Ja.«

»Sind aber jedenfalls keiner?«

»Nein.«

»Dann dürfen Sie nicht herein! Entfernen Sie sich!«

Da klopfte der Fürst dem Manne auf die Achsel und sagte lächelnd:

»Nicht so hitzig, mein Lieber! Man pflegt den Menschen nach seinem Stande oder Werthe zu behandeln. Und zudem glaube ich, daß meine Gegenwart hier ebenso gut von Nöthen ist wie die Ihrige. Ich sah draußen Leute stehen. Was ist hier passirt?«

»Zwei Mordthaten und ein Schlüsselbeinbruch.«

»O weh! Wer sind die Ermordeten?«

»Der Hausdiener und ein gewisser Seidelmann.«

»Und wer sind die Mörder?«

»Herr, ich weiß nicht, ob ich Ihnen dienen darf. Droben ist die Untersuchung noch im Gange.«

»Sie dürfen sprechen. Ich bin der Fürst von Befour.«

Diesen Namen kannte bereits Jedermann im ganzen Lande. Der Polizist machte sein Honneur und sagte: »Aufzuwarten, Durchlaucht! Ich stehe zu Diensten!«

»Wer sind die Mörder?«

»Zwei junge Burschen, welche zwei Dirnen von hier entführen wollten.«

»Kennen Sie die Namen der Beiden?«

»Nein.«

»Wer führt die Untersuchung?«

»Der Herr Staatsanwalt befindet sich in Begleitung eines Assessors und des Gerichtsarztes oben. Die Zeugen sind dabei.«

»Danke!«

Er stieg die Treppe empor, ohne um die Erlaubniß zu fragen. Droben im Corridor standen einige Mädchen.

»Wo befindet sich der Herr Staatsanwalt?« fragte er.

Sie deuteten nach der Thüre des Salons. Der Fürst trat ein. Da lag die Leiche des Hausdieners, der fromme Schuster und auch der Magdalenenhändler. Bei dem Letzteren waren der Gerichtsarzt und Doctor Zander beschäftigt, ihm einen Verband anzulegen. An einem Tische saß der Staatsanwalt mit dem Assessor. Er stand gerade im Begriffe, die Melitta zu verhören.

»Wer sind Sie?« fragte er den Fürsten barsch. »Wer hat Sie hereingelassen?«

»Ich habe befohlen, zu öffnen. Ich bin der Fürst von Befour.«

Die Herren erhoben und verbeugten sich. Der Staatsanwalt aber sagte dann in gemessenem Tone: »Durchlaucht, ich erkenne gern Ihren hohen Rang an, darf aber trotzdem nicht dulden, daß meine Untergebenen Befehle von Ihnen annehmen!«

»Schön! Aber sehen Sie hier!«

Er reichte ihm die von dem Minister ausgestellte Karte hin. Der Anwalt las sie, machte die tiefste Verbeugung seines Lebens und sagte: »Entschuldigung! Das konnte ich allerdings nicht wissen!«

»Ich berücksichtige das sehr wohl. Sie werden mir einige Fragen gestatten. Wer hat diesen Mann hier erschlagen?«

»Ein gewisser Petermann.«

»Und den Anderen hier?«

»Zwei halbe Knaben, welche sich hier in Gewahrsam befinden.«

»Wie heißen sie?«

»Bertram und Fels.«

»Haben sie gestanden?«

»Ja.«

»Ah! Weshalb tödteten sie ihn?«

»Um zwei Mädchen von hier zu entführen. Er stellte sich ihnen entgegen.«

»So, so!«

»Uebrigens ist er noch nicht todt. Aber Bertram schlug auch diesem Herrn das Schlüsselbein entzwei.«

»Braver Junge!«

»Wie, Durchlaucht? Höre ich recht? Sie bezeichnen eine solche That mit den Worten brav?«

»Gewiß!«

»Dann muß ich annehmen, daß Ihnen die Ereignisse nicht bekannt sind.«

»Das thut nichts zur Sache. Fels und Bertram sind keine Mörder.«

»Das dürfte denn doch ein Irrthum sein. Was ich bisher gehört habe, zeugt gegen sie.«

»Wen haben Sie vernommen?«

»Diese Dame, Fräulein Melitta nämlich, und die bei ihr wohnenden Mädchen.«

»Darf ich erfahren, was Ihnen da erzählt worden ist?«

»Ein Besucher, Namens Petermann, ist mit dem Hausdiener in Streit gerathen und hat ihn erschlagen.«

»Waren Zeugen dabei?«

»Nur die Tochter dieses Petermann. Sie befand sich hier in Stellung, ist aber mit ihrem Vater entflohen.«

»Weiter!«

»Sodann schlichen Fels und Bertram sich ein, um zwei Mädchen zu entführen. Sie wurden von diesen beiden Herren angehalten, schlugen sie aber nieder.«

»Hm! Das klingt sehr unwahrscheinlich. Aber selbst wenn es wörtlich so wäre, dürften die beiden Thäter sich nur in der Lage der Selbstvertheidigung befunden haben. Fräulein Melitta, sagen Sie mir einmal, ist bei der Ermordung Ihres Hausdieners wirklich Niemand weiter zugegen gewesen, als die Tochter des Mörders?«

»Weiter Niemand,« antwortete sie.

»Auch keines Ihrer Mädchen?«

»Nein.«

»Auch kein zufälliger Gast?«

»Nein.«

Er dachte an die Worte, welche er beim Gasthause erlauscht hatte. Officiere werden nur in Civil solche Orte besuchen; darum fragte er weiter: »Auch kein Officier in Civil?«

Sie entfärbte sich, sagte aber mit fester Stimme:

»Ich weiß nichts von einem solchen.«

»Ich hoffe, beweisen zu können, daß Sie lügen. Herr Staatsanwalt, ich ersuche Sie, diese Dame in Fesseln zu legen, ebenso ihre Mädchen, sowie ihre ganze Bedienung.«

Der Beamte sah den Fürsten erstaunt an. Dieser lächelte überlegen und sagte:

»Es ist nur, daß keine dieser Personen zu entwischen vermag. Auch diesen Herrn Seidelmann, der ein großer Schurke ist, sowie vermuthlich auch den anderen Verwundeten da, möchten wir binden, wenn sie uns entfliehen könnten!«

»Ich folge Ihrem Rathe, Durchlaucht, und hoffe, damit keinen Fehler zu begehen.«

»Sorgen Sie sich nicht. Lassen Sie diese Personen alle in einem anderen Zimmer bewachen, und geben Sie Befehl, Fels, Bertram und die beiden Mädchen zu bringen, welche von ihnen geraubt werden sollten!«

»Kennen Sie die Genannten, Durchlaucht?«

»Ja. Doch weiß ich nur von einem Mädchen, welches entführt werden sollte. Haben sie sich der Arretur gefügt, oder sind sie renitent gewesen?«

»Fügsam, sehr fügsam!«

»Das freut mich! Sie werden Wunder hören!«

Der Salon wurde von den anderen Personen geräumt, und dann brachte man die vier anderen Gefangenen herbei.

»Durchlaucht!« rief Robert erstaunt und erfreut zu gleicher Zeit. »Wie können Sie wissen – –«

»Ich bin mit Extrazug gekommen, um Dich zu unterstützen,« antwortete der Fürst freundlich. »Was soll ich denn nicht wissen können?«

»Daß ich hier bin.«

»Du hast es mir doch sagen lassen!«

»Kein Wort!«

»O doch!«

»Durch wen denn?«

»Durch einen Verwandten des Herrn Fels. Ihr habt ihm Alles erzählt.«

»Nicht eine Silbe haben wir Jemandem erzählt. Einen Verwandten meines Freundes haben wir nicht getroffen.«

»Ah! Eine Mystification! Von wem habt Ihr gehört, daß Marie sich hier befindet?«

»Von einem Schweden.«

»Beschreibe ihn mir.«

Robert that es, und als er fertig war, nickte der Fürst mit dem Kopfe und sagte:

»Das war der Hauptmann. Dann sagte er es mir. Er wollte Euch in’s Verderben stürzen und mich dabei betheiligen und in Verlegenheit bringen. Hoffentlich hat er sich verrechnet.«

Noch größer als Robert’s Erstaunen war dasjenige des jungen Arztes, als er Magda erblickte.

»Fräulein Weber! Sie hier, wirklich Sie?« fragte er.

Sie nickte verlegen.

»In diesem Hause! Wie kommen Sie hierher?«

Bertram antwortete an ihrer Stelle:

»Sie wurde getäuscht und verkauft. Ich wollte sie retten.«

»Also belog mich die Melitta doch!«

»Wieso?« fragte der Fürst schnell.

»Sie leugnete, daß diese junge Dame sich bei ihr befinde.«

»Das glaube ich. Robert, erzähle Alles der Wahrheit gemäß vom Anfang bis jetzt.«

Der Aufgeforderte gehorchte. Das Erstaunen des Staatsanwaltes wuchs von Minute zu Minute. Als Robert Bertram geendet hatte, sprang der Beamte von seinem Sitze auf und rief: »Welch ein Teufelsnest! Wir werden es schleifen und zerstören!«

»Nun, halten Sie diese beiden Herren für Mörder?« fragte der Fürst.

»Nein, nein.«

»Werden Sie sie bestrafen können?«

»Vielleicht doch, wenn nämlich Seidelmann sterben sollte.«

»Hm! Das wollen wir abwarten! Gerade ebenso schuldig wird wohl auch dieser Petermann sein. Ich vermuthe, daß auch er nur hier eingedrungen ist, seine Tochter zu befreien.«

»Das sollte mir lieb sein um seinetwillen. Wohin er sich wohl geflüchtet haben mag?«

»Geflüchtet? Ich glaube, daß er gar nicht an die Flucht denkt, weil er sich nicht für schuldig hält.«

»Haben Sie einen Grund zu dieser Vermuthung?«

»Vielleicht. Gönnen Sie mir zehn Minuten Zeit.«

Er eilte fort, nach dem Gasthofe, welcher noch nicht verschlossen war. Er erkundigte sich und fand seine Vermuthung bestätigt. Petermann hingegen war nicht wenig überrascht, als ihm der Fürst von Befour gemeldet wurde. Weder er, noch Wally fanden Zeit, sich auf diesen Besuch vorzubereiten, denn der Fürst trat sofort ein.

Sein Auge blieb mit einer wahrhaft staunenden Ueberraschung an dem schönen Mädchen haften.

»Sie sind Herr Petermann?« fragte er freundlich.

»Zu dienen.«

»Sie waren heute im Hause der Melitta?«

»Ja.«

»Zu welchem Zwecke?«

»Meine Tochter zu befreien, welche man in einer schmachvollen Gefangenschaft hielt.«

»Dachte es. Dabei haben Sie ein Zusammentreffen mit dem Hausdiener gehabt?«

»Ja. Er ohrfeigte meine Tochter, weil sie sich weigerte, ihre Ehre zu opfern, und da vertheidigte ich sie.«

»Ah, so! Hm! Wissen Sie noch nicht, daß Sie als Mörder verfolgt werden?«

»Nein. Ist der Mensch denn todt?«

»Ja.«

»So habe ich ihn also erschlagen. Das ist schade, jammerschade!«

»Warum?«

»Weil ich es nicht beabsichtigt habe, und weil er nun der gerechten Strafe entgangen ist. Denn ein so schneller Tod kann keine Strafe genannt werden.«

»Bitte, erzählen Sie mir, wie Alles zugegangen ist.«

Petermann gehorchte dieser Aufforderung und sagte dann am Schlusse seiner Darstellung: »Ich werde mich sofort der Polizei stellen!«

»Vater, lieber Vater!« mahnte Wally.

»Klagen Sie nicht, Fräulein,« tröstete der Fürst. »Er thut ganz recht daran. Sein Schicksal wird zu ertragen sein. Kommen Sie auch mit. Wir begeben uns sofort zum Staatsanwalt.«

Dieser war natürlich außerordentlich überrascht, ihn in solcher Begleitung wiederkommen zu sehen. Noch überraschter aber war er von der Schönheit des jungen Mädchens, welches noch so gekleidet war, wie am Abende, wo es sich bei der Melitta befunden hatte.

»Hier bringe ich Ihnen den gesuchten Mörder,« lächelte der Fürst. »Lassen Sie sich von ihm und seiner Tochter erzählen, wie Alles sich zugetragen hat.«

Der Staatsanwalt hörte dem wiederholten Berichte zu und gerieth in eine wahre Wuth über das Geschehene.

»Unerhört, unerhört!« rief er einmal über das andere aus. »Hält man es für möglich, daß es solche Menschen giebt, Durchlaucht?«

»Ja. Ich kenne diese Schlechtigkeit seit langen Jahren. Aber sagen Sie, halten Sie Herrn Petermann für des Mordes schuldig?«

»Nein. Er hat sein Kind vertheidigen wollen.«

»Werden Sie einen von diesen drei Herren festnehmen lassen?«

»Hm! Die Herren Fels und Bertram könnte ich schließlich entlassen, weil Seidelmann nicht todt ist, obgleich eine schwere Körperverletzung vorliegt. Sie wissen, welche Verpflichtungen man da hat!«

»Sehr gut. Aber ich leiste Garantie für Beide.«

»Sind Sie bereit, eine Bürgschaft, eine Caution zu legen, Durchlaucht?«

»Von jeder Höhe.«

»So ist das abgemacht.«

»Und Herr Petermann?«

»Bei ihm steht es anders. Der Hausdiener ist todt.«

»Aber nicht ermordet.«

»Ich weiß wohl. Todtschlag bei berechtigter Vertheidigung, bei begründeter Nothwehr. Ich bin überzeugt, daß die Geschworenen die Schuldfrage verneinen werden, muß ihn aber trotzdem bis dahin in Untersuchungshaft nehmen.«

»Unbedingt?«

»Meine Instruction, Durchlaucht!« sagte der Beamte achselzuckend. »Ich muß meine Pflicht thun.«

»Wenn ich Sie nun sehr bitte?«

»Ich darf nicht vom Gesetze abweichen, trotzdem es mir eine Genugthuung sein würde, Ihnen gehorchen zu können. Dazu kommt – hm!«

Er warf einen halb forschenden, halb mißtrauischen Blick auf Petermann.

Da trat Wally zum Fürsten, beugte das Knie vor ihm und sagte weinend:

»Durchlaucht, Sie haben die Macht. Retten Sie meinen Vater, und wir werden Sie segnen, so lange wir leben!«

»Stehen Sie auf, liebes Kind! Ich werde thun, was in meinen Kräften steht. Herr Staatsanwalt, was wollten Sie noch hinzufügen?«

»Wissen Sie, daß Petermann erst gestern entlassen worden ist?«

»Wo?«

»Aus dem Zuchthause.«

Wally stieß einen lauten Schmerzensschrei aus und legte weinend die Hände vor das Gesicht. Ihr Vater war bleich, sehr bleich geworden. Der Fürst blickte ihn jetzt nicht an. Er fragte weiter.

»Wie lange war er gefangen?«

»Vier Jahre. Das fünfte wurde ihm von Seiner Majestät erlassen.«

»Also hat er sich gut geführt?«

»Straflos.«

»Weshalb wurde er bestraft?«

»Wegen Unterschlagung.«

»Gott, mein Gott!« schluchzte Wally. »Durchlaucht, ich kann nichts beweisen, und mein Vater schweigt darüber. Er ist kein Betrüger; er ist einer solchen That unfähig. Er ist unschuldig und muß sich für einen Anderen aufgeopfert haben!«

Da richtete der Fürst einen schweren, forschenden Blick auf Petermann und fragte: »Waren Sie schuldig oder unschuldig?«

Der Gefragte hatte noch nie den durchbohrenden, Alles erforschenden Blick eines solchen Auges gefühlt. Es war ihm, als ob er nichts, gar nichts verheimlichen könne; aber er raffte sich zusammen. Es war ihm, als ob er sterben müsse; aber mit diesen Todesschmerzen in der Seele antwortete er ruhig: »Ich war nicht unschuldig.«

Da nahm das Auge des Fürsten einen milden Glanz an; sein Gesicht erheiterte sich und er sagte: »Wollen Sie mich wirklich täuschen, Petermann?«

Der Gefragte schwieg verlegen.

»Mögen Sie dem Untersuchungsrichter dictirt haben, was Sie wollten; mag in Ihren Acten Ihre Schuld auf’s Klarste erwiesen sein, Sie sind doch unschuldig!«

»Durchlaucht!« jauchzte Wally auf, indem sie seine Hände ergriff und mit Küssen bedeckte.

»Ja, Sie sind unschuldig,« fuhr er fort, »damals gerade so wie auch heute. Sie mögen Gründe haben, die Schuld eines Andern auf sich zu nehmen; ich achte dieselben, noch mehr aber achte ich den Mann, der die Kraft hatte, eine so unverdiente Schande auf sich zu nehmen; Ihr Auge und Ihr Gesicht, sie lügen nicht. Sie sind ein Ehrenmann!«

Petermann hörte diese Worte. Seine Brust ging hoch und schwer, ein unarticulirter Schrei entrang sich seiner Lunge; dann plötzlich warf er sich zu den Füßen des Fürsten nieder und sagte: »Durchlaucht, wann soll ich für Sie sterben? Jetzt gleich? Sofort? Ich bin bereit dazu.«

Der Fürst hob ihn empor und sagte:

»Stehen Sie auf! Ich bin ein Wenig Psycholog und weiß den Braven vom Schurken zu unterscheiden. Das ist Alles!«

»O nein, nicht Alles! Sie haben mich dem Leben, dem Glücke wiedergewonnen. Sie haben an mich geglaubt, Sie und meine Tochter; nun will ich mich gern wieder einsperren lassen. Herr Staatsanwalt, ich bin Ihr Gefangener.«

Der Beamte war tief gerührt. Dennoch sagte er:

»Ich würde Ihnen diese Prüfung gern erlassen, lieber Petermann, aber ich darf meinem Herzen keine Folge geben. Doch werde ich dafür sorgen, daß die Haft recht bald zu Ende gehe.«

Der Blick Wally’s hing mit rührender Bitte an dem Auge des Fürsten. Dieser lächelte ihr ermuthigend zu und fragte: »Dürfen Sie ihn nicht auch gegen eine sehr, sehr hohe Caution frei lassen?«

»Nein. Nur ein Befehl von oben kann ihn vor dieser Haft bewahren.«

»Na, dieser Befehl ist da!«

»Wo?«

»Auf der Karte, welche ich Ihnen zeigte.«

»Hm! Geben Sie dieser Legitimation eine so weite Ausdehnung?«

»Ganz gewiß! Was ich thue, ist so gut, als ob seine Excellenz selbst es gethan hätte. Ich verantworte es.«

»Und Seine Majestät – –?«

»Sind Allerhöchst damit einverstanden.«

»Wollen Sie mir darüber Ihre Unterschrift geben?«

»Sehr gern!«

»Nun, unter dieser Bedingung kann ich Sie, Petermann, gegen Handgelöbniß auf freien Fuß lassen.«

Das Entzücken des Vaters und seiner Tochter läßt sich gar nicht beschreiben. Niemand aber hegte in diesem Augenblicke eine solche an Anbetung grenzende Ehrfurcht für den Fürsten, wie Robert Bertram. Er hätte vor Bewunderung sich ihm wie ein Hund vor die Füße legen mögen.

Die Unterschrift wurde ausgestellt, auch in betreff der Cautionen für Robert und Wilhelm. Dann leistete Petermann den Handschlag. Die Formalitäten waren zu Ende.

»Jetzt, Herr Staatsanwalt, habe ich Ihnen nichts mehr mitzutheilen,« lächelte der Fürst.

»Und ich habe Ihnen den größten Dank zu sagen für die Hilfe und die Aufklärung, welche Sie mir gewährten,« antwortete der Genannte. »Ich werde meine Pflicht in aller Strenge erfüllen. Die Melitta, sammt allen den Ihrigen, Uhland und Seidelmann bleiben gefangen, und auch diese Madame Groh, nebst der berüchtigten Pauli auf der Ufergasse werde ich durch meinen Collegen in der Residenz einziehen lassen. Was aber geschieht mit Herrn Petermann und den Anderen?«

»Sie fahren Alle mit mir. Mein Extrazug steht auf dem Bahnhofe. Ich werde für sie sorgen, wenn sie es mir erlauben wollen.«

Das erregte neuen Jubel. Während desselben trat Doctor Zander zu Magda.

»Fräulein Weber, Sie gehen also auch mit dem Fürsten?«

»Ja,« antwortete sie freudig. »Könnte ich etwas besseres thun?«

»Nein. Aber, bitte, darf ich mich einmal nach Ihnen erkundigen?«

Sie hielt erröthend den warmen Druck seiner Hand aus und antwortete:

»Thun Sie es, Herr Doctor!«

»Ich danke Ihnen! Es wird sehr bald geschehen!«

Man trennte sich. Der Fürst ging mit seinen Schutzbefohlenen. Vorher aber raunte er Doctor Zander zu: »Kommen Sie langsam hinter uns her!«

Als sie den Gasthof erreichten, in welchem Petermann hatte logiren wollen, sagte der Fürst: »Kehrt hier ein. Robert mag ein Abendessen nach meinem Geschmacke bestellen. Ich kehre bald zurück.«

Sie traten ein, und er wartete, bis der Arzt ihn einholte. Er nahm den Arm desselben in den seinigen und ging mit ihm einem dunklen Stadttheile zu.

»Herr Doctor,« sagte er, »ich habe Vertrauen zu Ihnen und will Ihnen ein Geheimniß mittheilen. Vielleicht sind Sie dann entschlossen, mir einen Dienst zu erweisen, der Ihnen hoch vergolten werden soll.«

Das leise geführte Gespräch dauerte eine ziemlich lange Zeit, bis sie in die Nähe der Wohnung des Arztes angekommen waren. Endlich fragte der Fürst noch: »Würde es so gehen?«

»Ja.«

»Und wollen Sie?«

»Sehr gern. Gehen wir zur hinteren Pforte!«

Die Privatirrenanstalt des Doctor Mars war von einer hohen Mauer umgeben, in deren hinteren Seite sich ein Pförtchen befand. Dort verschwanden die Beiden.

Nach einiger Zeit kehrte der Fürst zurück, einen langen, schweren Gegenstand, welcher in ein dunkles Tuch gewickelt war, in den Armen. Er trug denselben um die Stadt herum bis nach dem Bahnhofe, den er von hinten erreichte. Dort erhob sich bei seinem Erscheinen eine Gestalt vom kalten Erdboden.

»Durchlaucht,« flüsterte sie.

»Ja. Hast lange warten müssen! Ist Alles recht?«

»Ja. Heizer und Maschinist sind im Zimmer. Dort wärmt sich auch der Bahnhofswächter. Das Coupee ist auf.«

»So komm!«

Der Diener faßte mit an. Sie schritten auf den Waggon zu, öffneten das Coupee und schoben den Gegenstand hinein, worauf das Coupee verschlossen wurde.

»Das ist gelungen,« sagte der Fürst. »Nun sorge dafür, daß der Schaffner nicht hineinsieht. In einer Stunde können wir abfahren.«

Er entfernte sich wieder nach der Stadt zu. Am folgenden Tage wurde von einem ebenso eigenthümlichen wie unerklärlichen Ereignisse gemunkelt, und dann erzählte man sich laut und deutlich, daß die Baronin Ella von Helfenstein auf mystische Art und völlig spurlos verschwunden sei. – – –

Der verlorne Sohn
titlepage.xhtml
karl-may-der-verlorne-sohn.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019358-0019457.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019458-0019555.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019556-0019587.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019588-0019687_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019588-0019687_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019588-0019687_split_002.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019688-0019786_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019688-0019786_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019787-0019886.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019887-0019986_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019887-0019986_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019887-0019986_split_002.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019987-0020086_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0019987-0020086_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020087-0020185.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020186-0020283_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020186-0020283_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_002.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_003.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_004.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020284-0020383_split_005.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020384-0020399.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020400-0020495.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020496-0020595.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020596-0020695.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020696-0020794_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020696-0020794_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020795-0020891.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020892-0020991_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020892-0020991_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020892-0020991_split_002.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0020992-0021028.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021029-0021124_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021029-0021124_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021125-0021224.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021225-0021321.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021322-0021392.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021393-0021492.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021493-0021588.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021589-0021688_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021589-0021688_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021689-0021734.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021735-0021834.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021835-0021932.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0021933-0022030.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022031-0022130.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022131-0022228.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022229-0022328.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022329-0022363.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022364-0022463.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022464-0022560.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022561-0022660.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022661-0022759.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022760-0022859.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022860-0022882.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022883-0022982.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0022983-0023077.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023078-0023177.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023178-0023259.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023260-0023359_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023260-0023359_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023360-0023456.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023457-0023556.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023557-0023656.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023657-0023753.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023754-0023845.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023846-0023914_split_000.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023846-0023914_split_001.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0023915-0024013.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0024014-0024112.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0024113-0024207.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0024208-0024306.xml
karl-may-der-verlorne-sohn-0024307-0024330.xml