Zweites Kapitel
Eine Balletkönigin
Der Chefredacteur des Residenzblattes saß an seinem Tische. Er schien nicht sehr beschäftigt zu sein, denn er schnitt gedankenvoll oder gedankenlos Splitter aus seinem neuen Lineal. Da trat der Redactionsdiener ein.
»Was schon wieder?« fuhr sein Herr auf.
»Etwas Feines!« erwiderte das kleine, bewegliche Männchen.
»Wirklich? Einmal etwas Feines?«
»Pickfein sogar!«
»Wer?«
»Mademoiselle Leda.«
Bei dem Klange dieses Namens sprang der Redacteur von seinem Stuhle auf.
»Mademoiselle Leda! Die Tänzerin? Sapperment! Sehen Sie mich einmal an! Ist meine Toilette in Ordnung?«
Der Kleine beliebäugelte seinen hohen Gebieter vom Kopfe bis zu den Füßen herab und antwortete:
»Unübertrefflich, Herr Doctor.«
»So laß die Dame eintreten!«
Er stellte sich in Positur und erwartete die Tänzerin, welche im nächsten Augenblicke eintrat und sich mit fast unnachahmlicher Grazie vor ihm verbeugte.
Sein Kennerauge musterte ihre Gestalt, was sie ruhig mit lächelndem Munde aushielt. Dann ertönte eine gedämpfte, einschmeichelnde Stimme: »Nun, gefalle ich Ihnen, Herr Doctor?«
Er war fast frappirt über diese Frage einer Dame, welche er zum ersten Male erblickte, antwortete aber sehr schnell: »Sie sind kostbar, Mademoiselle!«
Sie hatte draußen den Pelz abgelegt und stand vor ihm in tiefausgeschnittener Seide, welche auch den ganzen vollen, üppigen Arm sehen ließ.
»Das freut mich, weil wir doch Freunde werden müssen!« gestand sie.
Er lächelte ihr schalkhaft überlegen zu und fragte:
»Ist das so gewiß, daß wir Freunde sein werden?«
»Ja, denn ich werde mir alle mögliche Mühe geben, Sie für mich zu gewinnen.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen!«
»Also wünschen Sie mir Erfolge?«
»So viele Sie wollen. Kommen Sie, setzen Sie sich!«
Er wünschte auch sich Erfolge, darum zog er sie neben sich auf das Sopha nieder und ergriff ihre Hand. Er sagte sich, diese Tänzerin sei zwar noch recht schön, aber nicht mehr ganz jung. Sie neigte bereits zu einer Corpulenz, welche ihrer Kunst nicht vortheilhaft sein konnte.
Sie ließ, als er ihre Hand an seine Lippen zog, einen tiefen Seufzer hören; dann sagte sie: »Herr Doctor, wissen Sie, was es heißt, fremd im fremden Lande zu sein?«
»Oh, sehr, sehr gut!«
»So geht es mir. Ich soll hier gastiren, ich soll mit einer Rivalin auftreten; eine von uns Beiden soll dann die hiesige Vacanz ausfüllen. Ich bin in meiner Kunst zu Hause; aber hier bin ich fremd. Ich bedarf der Stütze, der Führung und – und – Sie sind natürlich der Erste, dem ich mich vorstelle.«
Sie spielte ein meisterhaftes Erröthen und senkte den Blick verschämt zur Erde.
»Mademoiselle, Sie bedürfen der Führung und kommen zu mir. Das heißt – nun, was heißt das?«
»Daß ich mich Ihnen anvertrauen möchte. Sie sind die bedeutendste, literarische und journalistische Kraft des Landes; wen Sie halten, der steht, und wen Sie fallen lassen, der erhebt sich nicht wieder. Ich möchte Ihre Freundin werden!«
Er fühlte sich hingerissen, wenigstens für den Moment. Er antwortete nicht sogleich, darum fügte sie nach einer Pause, die Augen schmachtend aufschlagend, hinzu: »Könnten Sie mich fallen lassen?«
»Wünschen Sie denn, daß ich Sie halte?«
Seine Augen begannen, begierig zu funkeln.
»Von ganzem Herzen!«
»Nur in meinen Recensionen oder auch so?«
Er legte ihr den Arm um die Taille.
»Auch so, auf alle mögliche Art und Weise.«
»Dann werde ich Sie allerdings nicht fallen lassen, denn Sie sind ein Engel!«
Er drückte sie fest an sich und wagte es, seinen Mund auf ihre Lippen zu legen, und sie duldete es lange, lange Zeit. Es begann ein leises, leises Kosen und Flüstern. Dann erhob sie sich.
»Also ich darf mich auf Sie verlassen?«
»Vollständig!«
»Und die Andere?«
»Wird durchfallen.«
»Denken Sie, übermorgen bereits! Aber ich werde siegen, denn ich bin Ihrer Hilfe gewiß. Werden Sie mich oft besuchen, wenn ich mich hier eingerichtet habe?«
»Zweifeln Sie, süße Leda?«
»Nein. Das ist mein Trost, da ich Sie jetzt so bald verlassen muß. Adieu, Herr Doctor!«
»Adieu!«
Er umarmte und küßte sie nochmals; dann ging sie. Er nickte leise vor sich hin.
»Eine überreife Erscheinung, welche im ersten Augenblicke blendet und erhitzt, dann aber mehr und mehr erkältet. Hm! Bin doch neugierig, was für ein Wesen ihre Rivalin ist. Sie wird sich mir jedenfalls vorstellen.«
Am Redactionsschlusse verließ er sein Bureau. Indem er durch das Parterre des Gebäudes schritt, in welchem sich die Expeditionen für Annahme der Annoncen befanden, bemerkte er eine Dame, welche im Begriffe stand, wegen einer solchen mit dem Expedienten zu verhandeln. Sein Auge blieb an der herrlichen Gestalt haften, welche in ein einfaches Gewand gekleidet war. Er hörte den tiefen, sonoren Klang ihrer Stimme und den reizenden Accent ihres fremden Dialectes. Sie war schön, doch nicht zu voll gebaut und besaß ein Füßchen und ein Händchen von bewundernswerther Niedlichkeit. Jetzt drehte sie sich um. Er erblickte ein Gesicht von meisterhaftem Schnitt und eine Büste, die eine Lais beschämt haben würde.
Es brannte in seinem Innern. Wer war dieses herrliche, göttliche Wesen?
Er war an eine der ausgehängten Beilagen getreten, scheinbar, um dieselbe zu lesen, in Wirklichkeit aber, um das entzückende Bild unbeachteter in sich aufnehmen zu können. Da ging sie. Schon war sie unter der Thür. Da mochte ihr noch etwas einfallen. Sie wollte zu dem Expedienten zurück, aber da erblickte sie ihn und blieb vor ihm stehen, um ihn mit ihrer Glockenstimme zu fragen: »Verzeihung, mein Herr! Gehören Sie vielleicht zum Personale dieser Zeitung?«
»Ja, mein Fräulein.«
»Wo befindet sich die Redaction?«
»Eine Treppe hoch.«
»Zu welchen Zeiten ist der Herr Chefredacteur zu sprechen?«
»Für Sie zu jeder Zeit!«
Sie wollte zornig erröthen, doch brachte sie es nur zu einem verächtlichen Achselzucken. Dann sagte sie: »Ich meine, ob dieser Herr jetzt zu sprechen sei?«
»Ja, sogleich!«
»Danke!«
Sie schritt zur Treppe, stieg dieselbe empor und erblickte das Schild an der betreffenden Thür. Nach leichtem Anklopfen trat sie in das kleine Vorzimmer. Dort war der kleine Redactionsdiener noch vorhanden.
»Der Herr Chefredacteur?« fragte sie.
»Ist bereits fort,« antwortete er, sie mit seinen kleinen, lüsternen Augen fast verschlingend.
»Man sagte mir ganz bestimmt, daß er noch zu sprechen sei!«
»Wer sagte das?«
»Ein Herr mit goldener Brille, grauem Anzuge und breitem, schwarzem Filzhute.«
Der Diener erkannte seinen Herrn. Er kannte ihn auch als enthusiastischen Bewunderer weiblicher Schönheit und ahnte, was geschehen sei.
»Wirklich?« sagte er. »So werde ich den Herrn Doctor sofort benachrichtigen. Bitte, treten Sie indessen hier ein, gnädiges Fräulein!«
»Geben Sie ihm diese Karte!«
Sie trat in das Redactionszimmer, und der Diener suchte, mit der Karte in der Hand, seinen Herrn. Er brauchte nicht lange suchen, denn dieser trat ihm schon unter der Thür entgegen.
»Donnerwetter, Herr Doctor, ist die aber fein! So habe ich noch keine gesehen!«
»Halt das Maul! Die Karte!«
Auf derselben stand der Name Ellen Starton.
»Alle Teufel!« jubelte der Chef halblaut. »Die andere Tänzerin! Diese ist die Sonne, Jene aber der Irrwisch. Diese die Rose und jene die Fackeldistel! Schnell hinein zu ihr!«
Er nahm den Hut ab, trat ein und verbeugte sich. Sie stand vom Sessel auf, auf welchem sie Platz genommen hatte und sagte, ohne seinen Gruß zu erwidern: »Ich fragte nach dem Herrn Redacteur.«
»Ich bin es selbst, Miß Ellen!«
Jetzt trat die vorhin zurückgehaltene Röthe ihres Gesichtes zornig hervor.
»Mein Herr,« sagte sie, »man pflegt fremde Damen nur dann beim Vornamen zu nennen, wenn diese Damen und der sie Nennende noch in die Schule gehen!«
Er erbleichte. Er war zu weit gegangen, aber so Etwas war ihm auch noch nicht gesagt worden.
»Mein Fräulein!« brauste er auf.
»Mein Herr,« antwortete sie unter einer tiefen, glanzvollen, ironischen Verbeugung, »wir kennen uns nun. Ich kann gehen!«
Und ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen, verließ sie das Zimmer.
Am anderen Morgen war im redactionellen Theil seines Blattes unter der Rubrik ›Theater‹ Folgendes zu lesen:
»Nachdem die unvergleichliche Diva unseres Ballettcorps durch ihre Vermählung mit einem fürstlichen Prinzen ihren Bewunderern entzogen wurde, hat die Intendanz zur Ausfüllung der schmerzlich empfundenen Vacanz zwei Damen in Concurrenz genommen, welche man gewohnt war, zu den ersten Sternen zu zählen.
Diese Schätzung ist, was Mademoiselle Leda anbetrifft, in jeder Beziehung eine richtige. Ein einziges Wort über ihre für alle Zeit unerreichbaren Leistungen zu sagen, wäre ein Verbrechen an der Kunst.
Die andere Tänzerin jedoch – einem on dit zu Folge soll sie Ellen Starton heißen oder so ähnlich – wird wohl selbst kaum wissen, wie sie zu der für sie geradezu unfaßbaren Ehre kommt, für unsere Bühne und zwar gegen Mademoiselle Leda in Wahl zu treten. Man weiß nicht, was man sagen soll. Diese sogenannte Starton ist nirgends aufgetreten als auf einigen obscuren Wanderbühnen des nordamerikanischen Hinterwaldes, wo sie von Indianern ausgepfiffen wurde. Einmal will man sie in Missouri und vielleicht zweimal in Ohio gesehen haben. Bei diesen Gelegenheiten soll sie einige Bewegungen ausgeführt haben, welche sie Tanz genannt hat, die aber leider denjenigen Evolutionen, welche eine Bauernmagd beim Butterfasse macht, sehr genau geglichen haben sollen. Es scheint also, daß Mademoiselle Leda diese Rivalin nicht sehr zu fürchten haben wird.
Im Interesse des Rufes unserer Bühne aber ließe sich jedenfalls wünschen, für die Stelle einer Diva nicht Personen aufzustellen, welche, selbst wenn man die Höflichkeit auf die Spitze treiben will, doch nur Dilettantinnen genannt werden können. Hier aber scheint nicht einmal von einem Dilettantismus die Rede sein zu dürfen. –«
Zur frühesten Zeit, in welcher der Chefredacteur überhaupt zu sprechen war, wurde ihm Mademoiselle Leda gemeldet. Sofort nach ihrem Eintritte flog sie auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und sagte im Tone der Begeisterung: »Vortrefflich! Sogar unübertrefflich! Das haben Sie ganz unvergleichlich zu Stande gebracht. Dafür muß ich Sie augenblicklich belohnen, mein lieber, mein liebster, mein allerliebster Herr Doctor!«
Sie ließ seine Hände den ihrigen entgleiten, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. Er ließ sich diese Liebkosungen gefallen, machte ein etwas überraschtes Gesicht, schüttelte den Kopf und fragte: »Vortrefflich soll ich es gemacht haben? Sogar unübertrefflich? Was denn?«
»Nun, Ihre Kritik über die Starton.«
»Ach so! Nun, ich habe da jedenfalls die Wahrheit gesagt. Geistreich braucht man da nicht zu sein. Jedenfalls ist aber nicht das mindeste Verdienst meinerseits dabei.«
»Die Wahrheit?« sagte sie, ihn verständnißinnig anlächelnd. »Sollten Sie wirklich falsch unterrichtet sein?«
»Wieso?«
»Kommen Sie auf das Sopha!«
Sie zog ihn neben sich auf den weichen Sitz. Er legte den Arm um ihre üppige Gestalt und fragte:
»Also warum denken Sie, daß ich falsch unterrichtet bin?«
»Die Starton ist eine ausgezeichnete Tänzerin.«
»Ich bin stets gut informirt!«
»Aber dann müßten Sie doch auch wissen, daß sie –«
»Daß sie ausgezeichnet tanzt? Ja, das weiß ich allerdings.«
»Man sagt, sie tanze weniger des Erwerbes wegen, als weil sie gradezu von ihrem Genie zu dieser Kunst getrieben wird.«
»Ich hörte davon.«
»Sie soll sehr reich sein, so daß sie also dieser Kunst eigentlich gar nicht bedarf.«
»Auch das weiß ich.«
»Aber, Herr Doctor –!«
»Was denn? Sie machen ein ganz verwundertes Gesicht!«
»Nun, wie können Sie, da Sie das Alles wissen, heute diesen Artikel in Ihrem Blatte bringen!«
»Das errathen Sie nicht?«
»Nein.«
»Ich brachte ihn Ihnen zu Liebe.«
»Wirklich? Wirklich?«
»Ganz gewiß!«
»Dann bin ich Ihnen allerdings den größten Dank schuldig, den es nur geben kann!«
»Darf ich mir diesen Dank nehmen?«
»Ich wüßte nicht, woher?«
»O, von Ihren schönen, süßen Lippen. Kommen Sie!«
Er zog sie an sich und küßte sie wiederholt auf den Mund. Sie gab sich dieser Zärtlichkeit für einige Augenblicke hin; dann entwand sie sich ihm, drohte ihm mit dem Finger und sagte: »Herr Doctor, Sie bringen mich in Verlegenheit!«
»Das bezweifle ich!«
»O, gewiß!«
»Den Grund möchte ich wissen.«
»Sie sind – verheirathet!«
»Ich? Ah, sie haben nach mir gefragt?«
»Nein.«
»Wie können Sie da behaupten, daß ich verheirathet bin?«
»Ich vermuthe es.«
»Ach so! Wäre das ein Unglück?«
»Ein Unglück nun wohl nicht. Aber ich muß mich vor Ihnen in Acht nehmen!«
»Warum?«
»Sie werden mir gefährlich.«
Bei diesen Worten rückte sie von ihm ab.
»O weh!« lachte er. »Ich Ihnen gefährlich! Ich bin kein Jüngling, und ein Adonis war ich auch niemals, selbst während meiner Jugendzeit nicht.«
»Dann wissen Sie wohl nicht, daß der Geist einer gebildeten Dame mehr imponirt als die Gestalt?«
»Das soll wohl heißen, Sie halten mich für geistreich?«
»Natürlich!«
»Sie kleine, liebe Lügnerin! Kommen Sie her. Das muß unbedingt mit einem Kusse bestraft werden!«
Er streckte die Hände nach ihr aus. Sie aber wehrte ihn ab und sagte zurückhaltend:
»Nein, nicht mehr küssen! Sie dürfen Ihre Pflichten gegen Ihre Frau nicht verletzen!«
»Pah! Ich dachte nicht, daß Sie so penibel sind.«
»O, auch eine Tänzerin hat ein Gewissen!«
»Aber ein sehr nachsichtiges!«
»Sie irren. Ist Ihre Frau jung?«
»Nein.«
»Schön?«
»Noch weniger.«
»Aber liebenswürdig?«
»Das am Allerwenigsten!«
»Dann bedaure ich Sie und entschuldige Sie zu gleicher Zeit.«
»Herzlichen Dank! Wenn Sie mich entschuldigen, darf ich wohl hoffen, daß Sie mir ein liebebedürftiges Herz zutrauen?«
»Warum nicht?«
»Nun, Liebe will Erhörung finden. Soll ich mich umsonst nach einem Kusse von Ihnen sehnen?«
»Ein Handkuß? Hm! Mit dem nimmt nur ein Kutscher fürlieb, der froh ist, wenn er zum Neujahr seiner Gnädigen den Handschuh küssen darf.«
»Nun gut. Also hier!«
»Die Wange? Sie sind eine allerliebste Schelmin. Ich muß Sie wirklich für diese Ironie bestrafen.«
Er zog sie an sich; sie ließ es geschehen. Sie wechselten Kuß um Kuß, bis sie es doch für genug hielt.
»Also Sie haben mir zu Liebe den heutigen Artikel verfaßt,« begann sie von Neuem. »Sie schwören also zu meiner Fahne?«
»Mit Leib und Seele!«
»Werden Sie derselben auch treu bleiben?«
»Bis an mein Ende!«
»Nun, so leisten Sie mir jetzt den Fahneneid! Sagen Sie mir also wörtlich nach: Ich schwöre –«
»Ich schwöre –«
»Bei meiner Ehre –«
»Bei meiner Ehre –«
»Daß ich Dich für meine Gottheit erkläre und –«
»Daß ich Dich für einen kleinen Satan erkläre, dem ich mich aber doch verschreibe mit Haut und Haar.«
»Falsch! Aber, lassen wir es auch in dieser Façon gelten! Wir sind also treue Verbündete und können Kriegsrath halten!«
»Nun, Sie ahnen doch, daß wir uns bereits in nächster Zeit auf dem Kriegspfade befinden werden!«
»Nein. Ich gestehe, daß ich keine Ahnung habe!«
»Wirklich nicht? Und doch läßt es sich so sehr leicht denken, daß diese Amerikanerin Ellen Starton das Kriegsbeil und das Bowiemesser ausgraben wird, um sich für Ihre heutige Veröffentlichung zu rächen.«
»Na, sie wird mich nicht sogleich scalpiren!«
»Das nicht; aber sie wird eine öffentliche Entgegnung loslassen. Das ist sicher.«
»Da wäre sie dumm. Wir Journalisten sind es, welche die öffentliche Meinung fabriziren. Wer sich mit uns verfeindet, der ist abgethan.«
»Ja. Sie sind die Herren der geistigen Welt! Aber, im Vertrauen, mein lieber Doctor – hat die Amerikanerin sich Ihnen vorgestellt?«
»Nein.«
»Wirklich nicht? Wirklich?«
»Nein, sage ich Ihnen!«
»Hm! Ich dachte –«
»Was dachten Sie?«
»Ich will Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich Sie in einem gewissen Verdachte hatte.«
»Darf ich mich nach der Natur und nach dem Grunde dieses Verdachtes erkundigen, meine schöne Mißtrauische?«
»Gewiß! Man sagt, die Ellen Starton sei außerordentlich tugendhaft.«
»Wohl nur zum Scheine!«
»O nein. Diese Tugendstrenge soll ihre eigentliche Natur sein.«
»Ich glaube nicht daran. Prüderie ist noch nicht Tugend.«
»Das mag sein. Ferner soll diese Amerikanerin von einer wahrhaft bezaubernden, hinreißenden Schönheit sein.«
»Geht mich nichts an!«
»Wirklich? Ich dachte, sie hätte sich Ihnen vorgestellt; Sie wären von ihrer Schönheit hingerissen, von ihr aber –«
»Was?«
»Von ihr aber abgeblitzt worden.«
»Sapperment, haben Sie Phantasie!«
»Nun, ich dachte es mir so, und daraus erkläre ich mir die Schärfe Ihres heutigen Artikels.«
»Freilich eine sehr unbegründete Vermuthung!«
»Wirklich?«
»Ich kann es beschwören.«
»Daß sie nicht bei Ihnen gewesen ist?«
»Ja.«
»Dann begreife ich dieses unvorsichtige Frauenzimmer nicht. Sie mußten doch der Erste sein, dem gegenüber sie sich aufmerksam zeigte.«
»Pah! Was liegt mir an ihr! Aber wissen Sie, daß Sie mich mit Ihrem Verdachte beleidigt haben?«
»Das thut mir leid. Verzeihung also!«
»Ich verzeihe nur nach vorhergegangener Sühne.«
»Welche Sühne verlangen Sie?«
»Zehn Küsse!«
»Hier sind sie!«
Sie umarmten sich. Gerade als sie ihre Küsse am Innigsten austauschten, wurde die Thür geöffnet und der kleine Redactionsdiener trat herein.
»Wetter noch einmal! Entschuldigung!« sagte er erschrocken, indem er sich eiligst zurückziehen wollte.
Aber seinem listigen und jetzt befriedigten Gesichtsausdrucke nach war sehr leicht zu vermuthen, daß dieser Ueberfall mit vollem Vorbedacht unternommen worden sei.
Der Chefredacteur war zwar schnell, aber doch zu spät aufgesprungen. Sein Gesicht glühte vor Zorn.
»Was willst Du?« fragte er.
Der Diener hatte bereits die Thür zum Gehen wieder geöffnet. Jetzt wendete er sich um und meldete:
»Herr Holm bat, angemeldet zu werden.«
»Sapperment! Ist das so eilig?«
»Ich weiß es nicht.«
»Mag warten!«
Der Diener entfernte sich. Der Redacteur befand sich in einer sichtlichen Verlegenheit.
»Ich werde den Kerl fortjagen,« sagte er.
»Warum denn?« fragte sie verwundert.
Ihrer Miene nach schien es ihr sogar lieb zu sein, in diesem tête-à-tête überrascht worden zu sein.
»Was hat er hereinzukommen!«
»Seine Pflicht, mein lieber Doctor!«
»Unsinn! Neugierig ist der Mensch.«
»Schwerlich! Wenn Sie auf meine Fürbitte etwas geben, so denken Sie nicht weiter daran. Diese Bureaumenschen sind die reinen Automaten. Sie denken nichts und sehen nichts. Und haben sie ausnahmsweise ja einmal Etwas bemerkt, so ist es in fünf Minuten bereits vergessen. Nun aber werde ich mich empfehlen müssen. Sechs Küsse hatten Sie bereits. Was thun wir mit den übrigen vier?«
Er mußte doch lachen.
»Heben wir sie auf für das nächste Mal!«
»Gut; sie werden dann desto delicater sein. Soll ich draußen sagen, daß dieser Herr Holm eintreten darf?«
»Ja, ich bitte!«
Sie ging. Draußen im Vorzimmer stand beim Diener ein junger Mann von hoher, angenehmer Figur. Seine Züge waren intelligent, aber leidend, und sein schwarzer Anzug hatte die Werkstatt des Schneiders jedenfalls bereits vor langer Zeit verlassen.
»Sie sollen kommen!« sagte sie.
Er verbeugte sich dankend und gehorchte. Als er die Thür hinter sich zugezogen hatte, zog die Tänzerin ein Geldstück aus der Tasche, drückte es dem Diener in die Hand und fragte halblaut: »Wie lange bedienen Sie den Doctor schon?«
»Seit beinahe zehn Jahren.«
»Natürlich sind Sie ihm treu?«
»Außerordentlich!«
»Und verschwiegen sind Sie ebenso?«
»Ganz und gar. Ich bin überhaupt leider sehr kurzsichtig.«
»Das freut mich. Kennen Sie die Ellen Starton?«
»Ja.«
»Also Sie haben diese Dame gesehen?«
»Gewiß.«
»War sie hier?«
»Gestern.«
»Vor mir, oder nach mir?«
»Nach Ihnen. Der Doctor befand sich bereits im Gehen, kehrte aber ihretwegen noch einmal um.«
»War sie lange bei ihm?«
»Keine Minute.«
»Lügen Sie nicht!«
»Es ist die Wahrheit!« betheuerte er, indem er die Hand auf das Herz legte.
»Das ist doch kaum zu glauben!«
»Warum?«
»Sie soll sehr schön sein!«
»Ungeheuer! Es ist sogar mir aufgefallen, trotz meiner Kurzsichtigkeit,« kicherte er.
»Und Ihr Herr ist ein Bewunderer der Schönheit!«
»Ja, aber nur dann, wenn ihm diese Bewunderung nichts kostet. Er knausert fürchterlich.«
»Also kann ich nicht glauben, daß bei ihrer Schönheit und seiner Bewunderung die gestrige Unterredung nur eine einzige Minute gewährt haben soll.«
»Nicht einmal eine ganze Minute.«
»Unerklärlich!«
Da trat er näher an sie heran und flüsterte:
»Es muß Etwas vorgekommen sein.«
»Wie so?«
»Sie rauschte ab, und wie?«
»Wie denn?«
»So ungefähr wie auf dem Theater, wenn die erste Liebhaberin Einen nicht haben mag und mit so einem verachtungsvollen Hohnlächeln hinter die Coulissen fährt.«
»Ach so! Und der Doctor?«
»War ganz wüthend.«
»Wirklich?«
»Er war ganz bleich vor Zorn. Wie gesagt, es muß irgend Etwas gegeben haben.«
»Hm! Ich möchte wohl wissen, was es gewesen ist!«
»Na, das läßt sich denken.«
»Gewiß.«
»Nun, was denn?«
Da blinzelte der Kleine mit seinen Augen, hielt seine Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund und raunte ihr zu: »Sie hat das Küssen nicht so gern wie Sie!«
»Verräther!« sagte sie, indem sie ihm einen leisen, liebenswürdigen Klaps versetzte. »Aber, die Beiden da drinnen werden ja recht laut. Wer war der junge Mann?«
»Herr Holm ist Reporter.«
»Ach so! Wenn es so weiter klingt, wird er jedenfalls herausgeworfen. Ich werde also gehen. Aber pst!«
Sie legte dabei warnend den Finger auf den Mund.
»Pst!« machte auch er, indem er die gleiche Pantomime machte und ihr verständnißinnig zunickte.
»Kein Wort! Er darf nicht erfahren, daß ich mit Ihnen gesprochen habe!«
»Keine Sylbe! Ich bin nicht nur kurzsichtig, sondern auch stumm!«
Und als sich die Thür hinter ihr geschlossen hatte, fuhr er fort:
»Eine eigenthümliche Geschichte, diese Küsse. Der da drinn bekommt sie zu Dutzenden, und Unsereiner soll nicht einmal zusehen. Die Güter dieser Welt sind doch gar zu verschieden vertheilt!«
Und sie dachte, als sie die Treppe hinabstieg:
»Also er hat mich doch belogen. Meine Vermuthung war ganz richtig. Sie ist dagewesen. Er ist von ihr abgeblitzt worden. Mir kommt diese Dummheit sehr zu statten. Jedenfalls ist sie bei den Andern ebenso zurückhaltend gewesen. Dann hat sie verloren!«
Sie hatte vorhin ganz richtig gehört. In dem Redactionszimmer ging es mehr als lebhaft zu.
Der Chefredacteur war sehr zornig, von seinem Diener überrascht worden zu sein. Er befand sich also beim Eintritte des Reporters bei schlechter Laune.
»Was wollen Sie?« herrschte er ihn an.
Der junge Mann war von ihm niemals sehr höflich oder gar sympathisch behandelt worden; aber diesen Ton hatte er denn doch noch nicht gehört; darum fuhr er mit dem Kopfe empor und zeigte ein verwundertes Gesicht.
»Was Sie wollen, habe ich gefragt!«
Ueber das Gesicht des Reporters glitt ein stilles Lächeln, doch antwortete er in höflichem Tone:
»Zunächst grüßen wollte ich, Herr Doctor. Guten Morgen!«
Dies schien nicht das rechte Mittel zu sein, die üble Laune des Redacteurs zu zerstreuen.
»Was soll das?« sagte er. »Ich frage nun zum dritten Male, was Sie wollen!«
»Eine Erkundigung möchte ich mir gestatten.«
»Erkundigung? Ich denke, Sie bringen eine Neuigkeit?«
»Das für jetzt noch nicht.«
»Nun, einer Erkundigung wegen brauchen Sie mich nicht am Vormittage zu incommodiren.«
»Verzeihung! Ich bin mir nicht bewußt, einen Grund zu dieser Erzürnung gegeben zu haben. Und, streng genommen, ist es allerdings eine Neuigkeit, welche mich veranlaßt hat, Sie aufzusuchen.«
»Also, heraus damit!«
»Ich meine nämlich den Artikel betreffs der amerikanischen Tänzerin.«
»Ah! Was soll’s mit diesem?«
»Er ist von Ihnen selbst verfaßt?«
»Ja.«
»Auf welche Information hin?«
»Was geht Sie das an? Hier bin überhaupt ich es, der zu fragen hat. Was wollen Sie also betreffs dieses Artikels?«
»Er enthält die Unwahrheit.«
»Da dürften Sie sich wohl ganz gewaltig irren!«
»O nein. Die Quelle, aus welcher Sie da geschöpft haben, ist eine sehr unklare.«
»Ich denke doch nicht, daß Sie mich schulmeistern wollen!«
»Das kann mir nicht einfallen. Aber ich möchte Ihnen die Daten zu einer Berichtigung, welche morgen zu erscheinen hätte, in die Hand geben.«
Die Brauen des Redacteurs zogen sich drohend zusammen.
»Ah!« stieß er hervor. »Eine Berichtigung?«
»Ja.«
»Welche morgen zu erscheinen hätte?«
»Ja.«
»Das ist hübsch, sehr hübsch! Mir scheint, Sie halten sich für Denjenigen, der hier zu disponiren hat!«
»Durchaus nicht. Aber die Ehre unseres Blattes erfordert diese Berichtigung.«
»Davon haben Sie gar nicht zu sprechen. Ich bin es, der diese Ehre zu wahren hat. Was verstehen Sie überhaupt von der Ehre eines Journals! Sie sind Reporter und erhalten für jede brauchbare Neuigkeit fünfzig Kreuzer ausgezahlt. Zwischen Redacteur und Reporter, zwischen mir und Ihnen ist ein himmelweiter Unterschied, dessen Sie sich aber gar nicht bewußt zu sein scheinen.«
»O bitte! Es kann Niemand so sehr wie ich einsehen, welcher moralische Unterschied zwischen uns Beiden besteht. Ob auch einer in Beziehung auf die beiderseitige Intelligenz vorhanden ist, das wäre noch zu untersuchen.«
Der Redacteur trat einen Schritt zurück, stemmte die Hand auf den Schreibtisch und sagte funkelnden Auges: »Alle Wetter! Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, daß ich als Reporter unter Ihnen stehe, als Mensch aber jedenfalls nicht. Vielleicht weiß ich besser als Sie, was es mit der Ehre eines Blattes für eine Bewandtniß hat.«
»Das – das – – das bieten Sie mir!« brauste der Redacteur auf.
»Allerdings.«
»Mir, dem Chefredacteur, dem Doctor der Philosophie!«
»Beides vermag nicht, mir zu imponiren! Ich bin ebenso, wie Sie, Doctor dieser Fakultät.«
»Sie? Sie?« fragte der Redacteur, indem er vor Erstaunen den Mund offen stehen ließ.
»Ja, ich.«
»Sie, Doctor der Philosophie! Hahaha!«
»Es steht Ihnen frei, zu lachen oder zu weinen, ganz wie es Ihnen beliebt!«
»Doctor Holm! Herr Reporter Doctor Holm! Das ist allerdings klassisch! Aber welchen Zweck hat denn diese Comödie eigentlich?«
»Es ist keine Comödie. Sie empfingen mich in einer Art und Weise, welche mich um so mehr befremden muß, je weniger ich mir bewußt bin, Ihnen eine Veranlassung gegeben zu haben. Sie stützten sich auf Ihren Titel, und so theilte ich Ihnen mit, daß ich mir denselben ebenfalls erworben habe, um Ihnen zu beweisen, daß ich Ihnen geistig wenigstens ebenbürtig bin.«
»Ich muß Sie für krank halten, und daher will ich Sie mit der ruhigen, kalten Objectivität eines Arztes behandeln, Herr Doctor Holm.«
Dabei legte er auf das Wort Doctor einen doppelten Druck. Holm ignorirte die Ironie und antwortete:
»Diese Objectivität ist mir sehr willkommen. Vorhin sind Sie mir höchst subjectiv vorgekommen.«
»Herr Holm! Soll dieses Wort vielleicht einen Beigeschmack für mich haben?«
»Nein. Dazu habe ich nicht genug Mangel an Umgangsform.«
»Das wollte ich Ihnen auch nicht rathen. Also, wie kommt es, daß Sie heute in einer ganz anderen Weise sprechen als sonst?«
»Zunächst weil Sie mich gleich bei meinem Eintritte zornig anfuhren, und sodann, weil ich mich über diesen heutigen Artikel ergrimme.«
»Zu diesem Grimm haben sie keine Veranlassung. Was ich schreibe, das darf ich schreiben; es ist die Wahrheit.«
»Es ist nicht die Wahrheit. Miß Starton ist auf eine Weise lächerlich gemacht worden, welche die Indignation aller Gebildeten herausfordert.«
»So zählen Sie mich also nicht zu den Gebildeten?«
»Um diese Frage beantworten zu können, müßte ich vorher wissen, ob Sie überhaupt aus einer Quelle geschöpft haben, oder ob diese Lügen aus Ihrer eigenen Phantasie entsprungen sind. Das Talent Miß Startons ist über jeden Zweifel erhaben. Sie ist niemals anders als die Königin des Balletes genannt worden.«
»Natürlich nur ironisch!«
»Nein. Sie müssen als Redacteur ja auch mit den Vorkommnissen jenseits des Oceans vertraut sein. Sie müssen gelesen haben, welchen Enthusiasmus jedes Auftreten dieser Dame hervorgebracht hat. Sie wurde ja geradezu ein Meteor genannt.«
»Kein Wort weiß ich davon!«
»Das ist sehr zum Verwundern. Ich bitte Sie um die Erlaubniß, Ihnen die Quellen, aus denen Sie sich eines Besseren unterrichten können, an die Hand zu geben.«
Er griff in die Tasche und zog ein Päcktchen hervor, welches er dem Redacteur entgegenstreckte. Dieser jedoch wehrte mit beiden Händen ab und sagte: »Danke, danke! Mein Urtheil über diese Tänzerin ist gefällt. Ich habe nur die Wahrheit gesagt, und dabei muß es bleiben!«
»Aber ich kann es Ihnen beweisen, daß man Sie gänzlich falsch unterrichtet hat!«
»Das ist nicht wahr. Sprechen Sie kein Wort mehr über diese Angelegenheit, welche ich für abgethan halte!«
Er wendete sich ab und machte die Bewegung der Entlassung. Holm aber blieb dennoch und bemerkte:
»Sie ist noch nicht abgethan, Herr Doctor. Wenn Sie dem heutigen lügenhaften Artikel keine Berichtigung folgen lassen wollen, werde ich diese Berichtigung fordern.«
»Fordern!« rief der andere zornig.
»Ja.«
»Sie wären der Kerl darnach!«
»Ja, ich bin der Kerl darnach!«
»Gewiß! Doctor Holm! Hahaha!«
»Höhnen Sie jetzt! Aber ich warne Sie!«
»Sie mich? Schön! Ganz wie Sie wollen! Sie sind natürlich aus unserm Verhältnisse entlassen. Einen solchen Reporter kann ich nicht gebrauchen. Suchen Sie Ihr Brod an anderer Stelle!«
»Ich werde es finden.«
»Oho! Wer bezahlt Sie so gut wie wir? Anderwärts erhalten Sie dreißig Kreuzer für die Neuigkeit. Jedenfalls werden Sie sich noch mehr auf die Geige legen müssen.«
Holm erbleichte.
»Auf die Geige?« wiederholte er unwillkürlich.
»Ja,« höhnte der Redacteur. »Oder denken Sie etwa, daß ich nicht wisse, daß Sie in dem obscursten Tanzsaale der Residenz der Hefe des Volkes aufspielen. Pfui Teufel!«
Das vorher so bleiche Gesicht Holms röthete sich wieder.
»Herr Doctor!« rief er drohend.
»Oho! Kommen Sie mir nicht in diesem Tone! Ein Reporter, welcher nebenbei ein ganz gewöhnlicher Bierfiedler ist, erdreistet sich, den Doctortitel für sich in Anspruch zu nehmen. Das ist mehr als lächerlich; das ist verrückt!«
Er war in einen wahren Grimm gerathen. Holm hatte seine Ruhe bewahrt. Er sagte unter einem selbstbewußten, überlegenen Lächeln: »Ihre Ausbrüche strotzen von Beleidigungen gegen mich. Wie nun, wenn ich Sie fordere?«
»Sie? Mich? Die reine Tollheit! Sie bilden sich doch nicht etwa ein, satisfactionsfähig zu sein!«
»Pah! Ich werde Ihnen mein Diplom vor Augen führen!«
»Bringen Sie mir tausend Diplome, und ich werfe den Secundanten, welchen Sie mir schicken, doch zur Thür hinaus! Das merken Sie sich ja!«
»Schön, ich will mich Ihnen accomodiren.«
»Was soll das heißen?«
»Wenn Sie sich fürchten, einen Gang mit blanker Waffe zu machen, werde ich eine Waffe wählen, welche Ihren so außerordentlich wichtigen und werthvollen Leib nicht zu schädigen vermag: die Feder.«
»Die Feder? Mensch! Ah, es ist lächerlich, daß ich mich ärgere. Die Sache ist doch eigentlich nur lustig oder vielmehr tragikomisch. Sie dauern mich. Gehen Sie, mein Bester. Legen Sie sich in’s Bett und schlafen Sie aus. Vielleicht legt sich dann der Blutandrang nach dem Kopfe. Vor allen Dingen aber lassen Sie es sich nicht wieder einfallen, sich bei mir sehen zu lassen. In diesem Falle bliebe mir nichts Anderes übrig, als Sie hinauswerfen zu lassen!«
»Schön. Ich füge mich diesem Rathschlusse aus dem Munde eines Gottes. Adieu, Herr Doctor!«
»Adieu, Herr Bierfiedler!«
Der Reporter nickte dem Diener freundlich zu, als er durch das Vorzimmer ging. Drunten vor der Hausthür blieb er überlegend stehen.
»Böse, böse Geschichte!« murmelte er vor sich hin. »Ich büße einen Theil der mir so nothwendigen Einnahme ein. Wie soll ich diesen Ausfall decken? Aber was frage ich nach dem Hunger und der Entbehrung, wenn es gilt, die Göttliche in Schutz zu nehmen! Sie muß bereits angekommen sein. Wo sie nur abgestiegen sein mag? Ich werde mich erkundigen.« –Als Miß Ellen Starton gestern von dem Chefredacteur fortgegangen war, hatte sie eine Droschke genommen, um sich nach der Wohnung des Intendanten fahren zu lassen.
Dieser saß bei Caviar und Wein in seinem fast wie ein Damenboudoir ausgestatteten Schreibzimmer. Parfums und Odeurs dufteten, und auch der alte Herr sah aus, als ob er sich zu Tode duften wolle.
Seine dünne, hagere Gestalt steckte in einem weichen, seidenen Schlafrocke. Er griff die Caviarsemmel mit dem feinsten Handschuh an. Das Gesicht war höchst glatt rasirt; die Zähne, welche sich beim Kauen zeigten, waren zu schön, als daß sie hätten echt sein sollen, und das Haar zeigte jene eigenthümliche Façon, welche schließen läßt, daß es um guten Preis vom Friseur gekauft worden ist.
Ein Diener in Livree ging ab und zu. Draußen hörte man die leise Silberstimme einer Glocke.
»Jean, schon wieder Jemand!« sagte der Herr. »Ich bin nicht zu Hause. Auf keinen Fall zu Hause!«
Jean ging. Es dauerte eine kleine Weile, bis er zurückkehrte. Er machte ein höchst pfiffiges Gesicht.
»Fortgewiesen natürlich?« fragte der Intendant.
»Nein, gnädiger Herr.«
»Nicht? Aber ich bin ja nicht zu Hause!«
»Der gnädige Herr werden sehr gern zu Hause sein.«
Jean sagte dies in einer Art und Weise, welche verrathen ließ, daß er seiner Sache sicher sei und seinen Herrn sehr genau kenne.
»Sehr gern?« fragte dieser. »Du weißt, daß ich mich zur jetzigen Zeit nie stören lasse.«
»Oh, eine solche charmante, höchst charmante Störung!«
»Wie so?«
»Eine Dame, gnädiger Herr!«
Da legte der Intendant das Messer zur Seite. Auch er kannte seinen Jean. Dieser hätte es sicher nicht gewagt, ihn mit einem uninteressanten Besucher zu belästigen.
»Ach so, eine Dame!« sagte er. »Wer ist sie?«
»Eine gewisse Miß Ellen Starton.«
Da fuhr der Intendant von seinem Sessel empor und zupfte unwillkürlich an dem weißseidenen Halstuche, um zu fühlen, ob es tadellos sitze.
»Die Starton?« fragte er. »Die Tänzerin?«
»Ja.«
»Alle Himmel! Komm her, Jean, komm!«
Der Diener trat bis an den Tisch heran. Sein Herr raunte ihm zu:
»Du hast sie betrachtet?«
»Sehr genau.«
»Mit ihr gesprochen?«
»Einige Höflichkeiten gewechselt.«
Die beiden alten Männer machten ganz den Eindruck, als ob zwei lüsterne Faune im Begriffe ständen, irgend einen verliebten Streich auszuführen.
»Entspricht sie ihrem Rufe?« fragte der Herr.
»Mehr als das.«
»Das sagst Du? Der Kenner? Das macht mich mehr als neugierig. Wie ist die Figur?«
»Etwas über mittel.«
»Schmächtig?«
»Prächtig rund ohne voll zu sein. Ein Meisterstück.«
»Hat sie Büste?«
»Zum Meiseln!«
»Hände, Füße?«
»Wie ein Kind.«
»Das Haar?«
»Dunkel, voll, herrlich! Griechischer Knoten.«
»Also klassisch. Die Augen?«
»Schwarze Karfunkel.«
»Mund?«
»Zum Todtküssen.«
»Stimme?«
»Wie eine Glocke.«
»Herein mit ihr! Aber, Jean, ich – ich warne Dich!«
»Bitte, bitte! Ich verstehe nicht, gnädiger Herr.«
»Du störst uns nicht!«
»Nein, nein!«
»Du trittst auf keinen Fall eher ein, als bis ich Dir das Zeichen dazu mit der Glocke gegeben habe!«
»Sehr wohl!«
»Schön! Hole sie! Doch, vorher noch Eins! Wie ist der Eindruck, den sie macht, he? Wird sie zartfühlend, weichherzig, gefügig sein?«
Der alte erfahrene Diener zuckte die Achsel, zog die dünnen Brauen empor und antwortete:
»Glaube es kaum.«
»Also nicht?«
»Scheint mir kalt und spröde zu sein.«
»Will es nicht hoffen!«
»Vielleicht nicht nur kalt, sondern gar streng.«
»Werde sie dennoch besiegen.«
»Das wird nicht leicht sein.«
»Pah! Bestrickende Liebenswürdigkeit!«
Jean ließ einen schnellen Blick über seinen Herrn, dessen Äußeres einer neu angestrichenen Ruine glich, laufen, zuckte abermals die Achseln und sagte: »Wird wohl kaum wirken.«
»Dann giebt es den anderen Weg: Präsente! Ich bin reich.«
»Das lasse ich eher gelten.«
»Na werden sehen. Laß’ Sie also ein!«
»Aber Sie tragen Schlafrock.«
»Pah! Eine Tänzerin nimmt das nicht so difficil.«
Der Diener huschte über den spiegelblanken Parquettboden nach der Thür, riß die beiden Flügel derselben auf und meldete unter einer sehr devoten Verbeugung: »Miß Starton ist willkommen!«
Die Tänzerin folgte dieser Aufforderung in ruhiger und selbstbewußter Haltung. Sie verneigte sich leicht und erwartete dann die Anrede.
Der Intendant ließ seinen Blick über die prachtvolle Erscheinung gleiten und sagte sich im Stillen, daß Jean noch viel, viel zu wenig gesagt habe.
»Willkommen, Miß,« grüßte er, jedoch ohne sich zu erheben. »Wollen Sie nicht Platz nehmen!«
Er zeigte dabei auf den Sitz neben sich. Sie verbeugte sich abermals, trat näher und nahm auf einem Sessel Platz, welcher den Tisch zwischen ihr und dem alten Herrn ließ.
»Warum so fern?« fragte dieser. »Ich habe noch nicht gehört, daß Amerikanerinnen schüchtern sind.«
»Ich ebenso wenig!« antwortete sie.
Diese Antwort frappirte ihn, doch fuhr er fort:
»Sie sind beherzt? Nun, das ist mir lieb. Es freut mich, Sie bei mir zu sehen, ehe Ihre Rivalin, Mademoiselle Leda, sich vorgestellt hat. Was halten Sie von dieser Dame?«
»Ich kenne sie nicht.«
»Aber Sie haben von ihr gelesen?«
»Einiges.«
»So müssen Sie doch ein Urtheil haben!«
»Der Tanz will gesehen sein. Ein Gemälde zu taxiren, ohne es vor Augen zu haben, ist unmöglich. Ich pflege nur aus eigener Anschauung zu urtheilen.«
»Selbst sehen? Ja, Sie haben Recht! Auch die glühendste Schilderung kann noch so wenig sagen, wie ich in diesem Augenblick deutlich fühle.«
Er hielt inne, um zu beobachten, welchen Eindruck diese genügend deutlichen Worte hervorbringen würden. Leider bemerkte er nicht die mindeste Wirkung. Die Tänzerin musterte mit ruhigem Blicke die Tapeten des Zimmers, ohne seine Worte eine Antwort zu würdigen. Dann richtete sie ihr Auge ebenso kalt forschend auf ihn und bemerkte dann: »Sie erwähnten soeben eine Kollegin von mir, Herr Intendant. Wie kommt es, daß Sie sich zu dem befremdlichen Arrangement entschlossen haben, zwei Rivalinnen an einem Abende und in derselben Production auftreten zu lassen?«
»Die Gründe sind gewichtig, theure Miß, doch kann ich sie Ihnen erst später mittheilen, wenn wir uns besser kennen. Ich hoffe, daß dies in nicht sehr langer Zeit der Fall sein wird!«
Sie sagte nichts; sie verbeugte sich nur; dann fuhr er fort:
»Ich gehöre nämlich nicht zu denjenigen Bühnenleitern, welche zu ihren Untergebenen wie vom hohen Olymp herab sprechen. Ich trete gern in näheren Verkehr mit ihnen; ich zeige ihnen, daß ich Mensch bin, daß ich menschlich denke und menschlich fühle – – –«
Der Blick, welchen er jetzt auf sie warf, zeigte, daß er jetzt eine Antwort erwarte, aus der er ersehen könne, ob er in Beziehung auf sein »menschliches Fühlen« verstanden worden sei. Sie nickte ihm langsam zu und sagte unter einem Lächeln, von welchem er nicht unterscheiden konnte, ob es schalkhaft oder ironisch sei: »Ja, Herr Intendant, ein Gott sind Sie allerdings nicht.«
»Ah! Wieso?«
»Sie sind in diesem Augenblicke sogar höchst menschlich. Caviar ist kein Ambrosia.«
»Wie? Sie machen auch Witze? Sie schießen Calembourg’s? Das liebe ich. Sie haben Recht. Ich bin ein Mensch, aber nicht allein wegen des Caviars. Ich wünsche auch in Beziehung auf Sie Mensch sein zu dürfen!«
»Dieser Wunsch ist bereits erfüllt.«
Er gab diesen Worten eine sanguinische Bedeutung.
»Danke, danke! Wollen wir also Beide in diesem Augenblicke einmal recht menschlich sein?«
»Gewiß, Herr Intendant.«
»So, bitte, setzen Sie sich hier neben mich.«
»Meinen Sie, daß ich hier weniger menschlich sei?«
»Ja. Aus so weiter Entfernung kommen Sie mir wie ein übermenschliches, überirdisches Wesen vor. Sie bezaubern; sie bethören wie eine Fee, welche verschwindet, sobald man einen Wunsch ausspricht. Ich liebe solche Entfernungen nicht. Ich will mich überzeugen, ob diese Feen nicht Gebilde der Phantasie sind. Ich will fühlen, ob ich Menschen vor mir habe.«
»Das Sehen ist auch ein Fühlen. Ich glaube, Sie sind überzeugt, daß eine Amerikanerin zu den sterblichen Bewohnern der Erde gehört.«
»Ja. Aber dennoch stehen die Lady’s uns Bewohnern des Continents so fern, daß man beim Anblicke einer solchen Dame eine unbesiegbare Wißbegierde empfindet, ob sie auch Fleisch und Blut ist. Wollen Sie mich das untersuchen lassen?«
Er hatte sich erhoben und zwei Schritte hinter dem Tische hervor gethan. Seine Augen waren mit sichtlicher Gier auf sie gerichtet.
Ihr Blick hielt dem seinigen kalt und ruhig stand.
»Das bedarf jedenfalls nicht erst einer Untersuchung, da es bereits genugsam constatirt ist.«
»O nein. Eine Schönheit wie die Ihrige kann unmöglich eine irdische sein. Nur die Ueberzeugung kann zum Glauben führen. Gestatten Sie, Miß, mich zu überzeugen, daß Sie nicht die aus Walhalla herabgestiegene Göttin der Liebe sind, sondern eine wirkliche Tochter staubgeborener Eltern.«
Er streckte den Arm nach ihr aus, griff aber in die Luft. Sie hatte sich gedankenschnell erhoben und war um einige Schritte zurückgewichen.
»Herr Intendant!«
In dem Tone dieser Worte lag eine Zurechtweisung, welche förmlich drohend klang. Sie stand aber in so stolzer Schönheit vor ihm, daß er sich kaum zu beherrschen vermochte. Er antwortete: »Nicht diesen Ton, nicht diesen! Ihr Händchen müssen Sie mich ergreifen lassen. Wir wollen neben einander sitzen und berathen, auf welche Weise wir Ihre hiesige Stellung am Schönsten und Vortheilhaftesten zu gestalten vermögen. Kommen Sie, Miß!«
»Ich danke! Habe ich erst die Stellung, so weiß ich sie schon selbst nach meinem Geschmacke zu gestalten!«
»Aber Sie haben sie noch nicht!«
»Das muß ich freilich zugeben!«
»Und wissen Sie, wessen Einfluß da am maßgebendsten ist, Miß Starton?«
»Jedenfalls der Ihrige.«
»Allerdings! Ich denke, daß es Ihnen nicht unlieb sein würde, diesen Einfluß für sich zu gewinnen.«
»Es würde mich freuen, ihn zu besitzen«
»Nun, so suchen Sie, ihn zu verdienen.«
»Das ist meine Absicht.«
»Jedenfalls haben Sie Lebenserfahrung genug, um zu wissen, in welcher Weise eine liebenswürdige Dame sich eine solche Protection erwirbt.«
»Nun?«
»Indem sie ihren Pflichten in jeder Beziehung Genüge leistet. Sie können überzeugt sein, daß ich mir Mühe geben werde, Ihren Beifall zu erwerben.«
»Gut! Doch hoffe ich, Sie meinen nicht nur meinen künstlerischen Beifall. Im Theater bin ich Kritiker; hier in meinem Heim aber bin ich Mensch. Dort entzückt mich eine künstlerische Leistung, und hier kann mich ein Kuß zu jedem Zugeständniß veranlassen.«
»Daraus schließe ich, daß Sie jedenfalls glücklich verheirathet sind.«
»Wie? Was? Wie meinen Sie?«
»Wenn Sie sich durch eine solche Familienzärtlichkeit zu jedem Zugeständniß veranlaßt sehen, so müssen Sie ein sehr guter Gatte, Vater und Großvater sein.«
Er griff mit beiden Händen nach dem weißseidenen Halstuche und fragte im Tone unendlichen Erstaunens: »Vater? Großvater? Meinen sie wirklich?«
»Ja,« nickte sie ihm vertraulich zu.
»Sehe ich denn wie ein Großvater aus?«
»Sogar wie ein recht erfahrener und ehrwürdiger!«
Das war ihm noch nicht vorgekommen; das hätte er für unmöglich gehalten. Er kratzte sich hinter den Ohren; er griff wieder an das Halstuch. Großvater, das war ihm zu bunt; das hatte ihn ganz aus der Contenance gebracht. Endlich stieß er hervor: »Vielleicht halten sie mich sogar für einen Urgroßvater!«
»Eine Unmöglichkeit würde es nicht sein. Man kann doch bereits mit sechzig Jahren oder gar noch früher Urgroßvater sein.«
»Mit sechzig? Bereits? Das klingt ja gerade, als ob Sie mich für älter hielten?«
»Allerdings!«
»Älter? Himmel! Wie alt bin ich denn Ihrer freundlichen Ansicht nach ungefähr?«
»Neunundsechzig und ein halb.«
»Herr des Himmels! Miß, wo denken Sie hin?«
»Ich denke an den Bühnenalmanach.«
»Was ist’s mit dem?«
»Da sind Sie im Verzeichnisse der Bühnenvorstände natürlich auch vorhanden. Ihr Geburtsjahr und auch der Tag sind angegeben.«
»Das ist verdruckt, vollständig verdruckt! Ich werde den Herausgeber zur Rede stellen.«
»Das würde ich allerdings auch thun. Solche Angaben müssen auf völliger Wahrheit beruhen, und es kann Ihrem Rufe nur Nutzen bringen, wenn man erfährt, daß Sie noch um einige Jahre betagter sind, als angegeben worden ist. Je höher das Alter, desto größer die Erfahrung, geehrtester Herr!«
Er starrte sie an, als ob er ein Todesurtheil höre.
»Was sagen Sie?« rief er aus. »Noch um einige Jahre betagter soll ich sein?«
»Das haben Sie doch wohl gemeint?«
»Wann denn?«
»Als Sie vorhin sagten, daß die Angabe über Ihr Alter nicht richtig sei.«
»Sie sind des Teufels! Es fällt mir gar nicht ein, älter sein zu wollen als ich bin. Ich zähle einundfünfzig.«
»Wirklich? Wirklich?«
»Gewiß! Sehe ich etwa älter aus?«
»Sie würden vielleicht jünger aussehen, aber –«
»Was denn? Was meinen Sie?«
»Wenn nicht diese falsche Haartour, diese Perrücke –«
»Perrücke? Sie Unglückskind! Das sind ja meine eigenen Haare!«
»Dann ist es zu bewundern, wie mobil diese Haare sind. Sie haben sich das Vordertoupet ganz auf die linke Seite gedreht.«
»Wie? Was? Auf die linke Seite? Ich werde so fort Jean rufen. Der muß –«
»O bitte, das kann ich ebenso. Kommen Sie! Ich werde Ihnen dieses natürliche Haar wieder zurecht rücken. So, mein bester, mein liebster Großpapa!«
Sie faßte ohne Zaudern seinen Kopf und schob ihm das Toupet wieder nach vorn.
Er war ganz starr vor Entsetzen. Seine Augen nahmen fast einen gläsernen Ausdruck an. Er seufzte zum Erschrecken, holte tief, tief Athem und sagte dann matt: »Erlauben Sie, daß ich mich setze?«
»Gewiß! Thun Sie das! Das Alter bedarf der Pflege.«
Er stieß einen Ton aus, von welchem nicht zu sagen war, ob er der Ausdruck des Grimmes sei oder ob er nur als Folge vollständiger Rathlosigkeit gelten könne.
»Fühlen Sie sich unwohl?« fragte sie in freundlicher Besorgniß.
»Unwohl? O nein! Dazu bin ich zu jung und kräftig. Aber alterirt bin ich einigermaßen.«
»Worüber?«
»Ueber Sie natürlich!«
»Doch nicht! Ich bin mir ja gar nicht bewußt, Ihnen Veranlassung dazu gegeben zu haben!«
»Nicht? Da sehe Einer an! Ihre Altersschätzung!«
»War freilich zu niedrig gegriffen.«
»Auch noch! Die Perrücke!«
»Ist Ihr echtes Haar.«
»Sie nennen mich Großvater, sogar Urgroßvater!«
»Aus theilnehmender Ehrfurcht.«
»Was thue ich mit Ihrer Ehrfurcht! Ich kann sie ganz und gar nicht gebrauchen! Ein Bischen Liebe wäre mir tausendmal lieber!«
»Wenn Sie gestatten, will ich Sie lieben, wie eine Enkelin den Vater ihrer Mama liebt.«
Da schlug er die Hände zusammen und fragte kopfschüttelnd:
»Sagen Sie, Miß, sind alle Amerikanerinnen so wie Sie?«
»Ich hoffe es!«
»Dann haben die Vertreterinnen Ihrer Nation, wenn sie Tänzerinnen sind, aber ganz und gar keine Chance, bei uns Anstellungen zu finden.«
»Warum?«
»Wir verlangen von einer Tänzerin, daß sie nicht nach dem Alter frägt.«
»Das braucht sich auch nicht, denn es ist ja im Almanach ganz genau angegeben.«
»Ferner soll sie liebesbedürftig sein und diese Eigenschaft ganz besonders gegen ihren obersten Vorgesetzten bethätigen. Man kann die Jünglingsjahre hinter sich haben und doch ein jugendliches Herz besitzen! Wie ich Sie heute kennen lerne, können sie unmöglich eine gute Tänzerin sein.«
»Würden Sie diese Behauptung beweisen können?«
»Ja. Der Tanz hat die Aufgabe, alle möglichen menschlichen Gefühle durch körperliche Bewegungen zur Darstellung zu bringen. Ist das richtig?«
»So ziemlich.«
»Eine Tänzerin muß also Zweierlei besitzen. Erstens die Fertigkeit in diesen Bewegungen und zweitens die Gefühle, welche sie darstellen soll!«
»Ganz richtig!«
»Sie haben aber solche Gefühle nicht.«
»Das ist eine sehr kühne Behauptung.«
»Sie haben kein Herz. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich sehr besorgt um Sie bin. Jetzt habe ich leider keine Zeit, sonst fänden sie vielleicht Gelegenheit, mir zu beweisen, daß Sie doch zärtliche Regungen besitzen. Vielleicht beliebt es Ihnen, morgen nochmals vorzusprechen.«
»Ich glaube kaum, daß ich es nochmals wage, Altersstudien anzustellen. Sollte ich hier Engagement finden, so werden Sie bald die Erfahrung machen, daß ich nicht herzlos bin. Nur darf das Menschenherz nicht einer Wolke gleichen, welche Alt und Jung, Schön und Häßlich, Kluge und Unfähige, Gerechte und Ungerechte mit ihrem Regen beträufelt.«
»So sind Sie also die Wolke, von welcher ich niemals einen Tropfen Thau erwarten kann? Ich glaube nicht. Es giebt Wolken, welche mildthätiger sind.«
Er machte eine Verbeugung; sie erwiderte dieselbe und zog sich dann zurück. Kaum war sie fort, so griff der Intendant zur Klingel, um seinen Jean herbeizurufen. Dieser richtete einen forschen Blick auf seinen Gebieter und gab sich Mühe, ein schadenfrohes Lächeln zu unterdrücken.
Der Intendant hatte sich ganz matt in die Polster geworfen und sagte mit halber Stimme: »Jean, gieb mir Eau de mille fleures! Ich bin wie zerschlagen!«
Der Diener reichte ihm das Flacon und fragte:
»Zerschlagen. War der Kampf so heftig?«
»O, es ist gar nicht zum Kampfe gekommen!«
»So hat sie sofort capitulirt?«
»Ist ihr nicht eingefallen. Ich habe sie nicht angerührt.«
»Unglaublich!«
»Ja, ja! Und weißt Du, wer die Schuld trägt?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Du!«
»Ich?«
»Ja. Was ich niemals für möglich gehalten hätte, das ist geschehen. Ich bin blamirt! Diese Amerikanerin weiß, daß ich falsches Haar trage.«
»Sie haben es ihr doch nicht etwa mitgetheilt?«
»Ist mir nicht eingefallen. Aber Du hast mir die Perrücke ganz verkehrt aufgesetzt.«
»Das ist nicht wahr.«
»Und doch! Diese Miß Ellen Starton hat sie mir dann wieder zurecht gerückt.«
Da konnte sich Jean nicht beherrschen. Er lachte laut auf.
»Mensch!« rief sein Herr. »Was fällt Dir ein?«
»Entschuldigung! Aber wenn ich mir die Tänzerin vorstelle, wie sie Ihnen die Perrücke umdreht, so ist das wirklich köstlich. Das haben Sie von Ihrem Kratzen.«
»Kratzen? Wieso?«
»Sie haben die Angewohnheit, sich hinter dem Ohre zu kratzen, sobald Ihnen einmal Etwas nicht nach Wunsch und Willen geht. Jedenfalls ist das vorhin ebenso gewesen.«
»Ich könnte mich aber nicht erinnern, gekratzt zu haben.«
»O, das thun Sie, ganz ohne es zu bemerken. Was sagte sie denn dazu?«
»Denke Dir! Sie wußte ganz genau, wie alt ich bin!«
»Niederträchtig!«
»Ja. Sie nannte mich Großvater und Urgroßvater!«
»Noch niederträchtiger!«
»Und sodann wollte – horch, es klingelt wieder! Ich bin auf keinen Fall zu sprechen.«
»Auch nicht, wenn vielleicht eine Schönheit – –?«
»Danke heute für Schönheiten! Sie haben doch Alle den Teufel im Leibe!«
Er legte sich in die bequemste Stellung, und Jean entfernte sich. Als er zurückkehrte, lag ein höchst undefinirbares Lächeln auf seinem glatten Gesicht.
»Nun, wer war es?« fragte sein Herr.
»Noch eine Dame!«
»Ah! Abgewiesen?«
»Nein.«
»Aber, ich habe Dir doch soeben befohlen –«
»Es ging nicht, gnädiger Herr! Sie ist so jung, so schön, so reizend. Und dabei gab sie so gute Worte.«
»Wer ist es denn? Gewiß irgend eine kleine Näherin, welche Statistin werden will?«
»O nein, sondern etwas Besseres, viel Besseres.«
»Nun?«
»Mademoiselle Leda.«
»Die Leda! Ah! Das ist allerdings etwas Anderes. Hast Du sie Dir genau angesehen?«
»Ja.«
Er mußte sie beschreiben. Dann fragte der Intendant:
»Welche ist schöner, sie oder die Amerikanerin?«
»Jedenfalls die Letztere, aber die Leda ist ohne allen Zweifel nachgiebiger und vergnüglicher.«
»So laß’ sie herein. Du aber bleibst draußen, bis ich klingele.«
Als die Tänzerin eintrat, warf sie zunächst einen schnellen Blick auf den Intendanten. Sie schien sich sofort über ihn im Klaren zu sein, denn sie machte einen feschen Knix, chassirte auf ihn zu und sagte in halblautem, einschmeichelndem Tone: »Verzeihung, Excellenz, daß ich Sie störe! Aber meine Pflicht zwang mich dazu.«
Excellenz war er noch nie genannt worden. Er war ja gar nicht von Adel, auch war er nicht Beamter des Königlichen Hoftheaters. Desto mehr fühlte er sich geschmeichelt. Er verglich die frostige Erscheinung der Amerikanerin mit dem warmen, lächelnden Wesen, welches er jetzt vor sich sah, und dabei entfuhr es ihm: »Soeben ist sie fort!«
Sie wußte nicht, was er meinte, fragte aber ganz ungenirt:
»Wer ist fort?«
»Ihre Rivalin.«
»Die Starton?«
»Ja.«
»O weh! So ist sie mir also doch bei Ihnen zuvorgekommen! Das thut mir unendlich leid!«
»Vielleicht können Sie es einholen.«
»Wie sollte das möglich sein?«
»Eine Zeitversäumniß läßt sich doch vielleicht durch verdoppelte Aufmerksamkeit ausgleichen.«
»Gewiß Excellenz; aber dennoch bin ich untröstlich!«
»Das bringt mich in Verlegenheit, da ich nicht weiß, ob ich der Mann bin, Sie zu trösten!«
»Wer sollte es sonst sein, wenn nicht Sie. Sie sind doch der Jupiter, welchem ich mein Schicksal anvertrauen muß.«
»Ah, treffender Vergleich! Und Sie sind die Leda, welcher der Gott in Gestalt eines Schwanes erscheint, um sich von ihr beglücken zu lassen.«
»Pfui!«
»Wieso? Ist diese griechische Mythe nicht schön?«
»Nein, gar nicht,« antwortete sie schmollend.
»Warum nicht?«
»Weil Leda kein Weib sein kann, wenn sie mit der Liebe eines Schwanes zufrieden ist. Der Schwan ist ein Wasservogel, kalt und halb Fisch.«
»Ah! Sie lieben die Wärme?«
»Sogar die Gluth.«
»Und nicht die Gestalt eines Schwimmvogels?«
»Nein, sondern die menschliche Gestalt.«
»Aber in jugendlicher Form?«
»Nein. Wird Zeus, wird Jupiter etwa als Jüngling dargestellt? Ich liebe das Fertige, das Ausgebildete, das Vollendete. Aber nur ein Mann in den reiferen Jahren kann sagen, daß er nicht noch im Unfertigen sich abmühen muß.«
»Mademoiselle, Sie entwickeln da wahrhaft großartige, künstlerische Anschauungen!«
»Könnte ich ohne diese Anschauungen Künstlerin sein?«
»Nein. Niemals. Wissen Sie, was zu einer echten Künstlerin gehört, Mademoiselle?«
»Ich glaube, es zu wissen.«
»Nun?«
»Zunächst die erforderliche technische Schulung.«
»Ganz gewiß. Die körperliche Fertigkeit. Ganz dasselbe habe ich der Amerikanerin gesagt.«
»War sie einverstanden?«
»Ja,« antwortete er in gedehntem Tone.
»Hat sie Ihnen gezeigt, daß sie diese Fertigkeit besitzt?«
»Nein.«
»Wie unpractisch und rücksichtslos, da doch Sie es sind, welcher das allein untrügliche Auge dafür haben kann. Sehen Sie, Excellenz!«
Sie schlug eine Pirouette, welche nicht toller sein konnte, und da sie denselben Anzug trug, mit welchem sie auch bei dem Chefredacteur gewesen war, so blieb bei diesem Wirbel, den sie um ihre eigene Achse schlug, dem gierigen Auge des alten Intendanten kaum ein Wunsch versagt.
»War das so gut gemacht?« fragte sie.
»Gewiß, gewiß! Pepita hat es nicht besser gemacht!«
»Nein, nein! Und da sie die Anmuth einer Fanny Elßler besitzen, so – –«
Er lächelte verheißungsvoll vor sich hin.
»Warum schweigen Sie? Sprechen Sie weiter!«
»Noch nicht! Fast hätte ich mich von dem Zauber Ihres Wesens hinreißen lassen, eine Entscheidung auszusprechen, welche jetzt noch nicht am Platze ist.«
»Und die mich doch so glücklich gemacht hätte!«
»Noch weiß ich ja gar nicht, ob Sie eine echte Künstlerin sind. Das Technische besitzen Sie; da wird es wohl keine Schwierigkeiten geben. Aber das andere –«
»Sie meinen die Conception?«
»Noch mehr. Ich meine den Geist, die Seele, das Empfinden, das Gefühl!«
»Sollten Sie mich für geistlos halten können?«
»Schwerlich!«
»Oder für gefühllos?«
»Das wäre zu beweisen.«
»So betheure ich Ihnen, daß ich Gefühle besitze, Excellenz, sehr natürliche Gefühle sogar.«
»Zum Beispiel?«
»Appetit.«
»Sie Schalk!«
»Wer kann Wein und Caviar sehen, ohne den Wunsch zu fühlen, sich einladen zu dürfen.«
»Gewiß!«
»So kommen Sie! Aber hier neben mich.«
»Danke! Da sitze ich schon. Aber ich weiß nicht, ob Ihnen meine Art und Weise, zu essen, behagen wird.«
»Nun, welche Weise ist dies?«
»Ich speise in Gegenwart von Herren stets als Dame des Hauses. Sie müssen also jetzt einmal denken, daß ich Ihre Gemahlin bin.«
»Köstlicher Gedanke!«
»Ich lege Ihnen vor.«
»Darf ich nehmen, was mir schmeckt?«
»Gewiß!«
»Und wenn ich nun an Ihnen selbst mehr Geschmack fände als an diesen prosaischen Dingen?«
»So ein Geschmack kann die Hausfrau doch nur beglücken. Excellenz.«
»Gut, so speisen wir jetzt als Ehepaar. Leiten wir das Mahl durch einige Küsse ein.«
»Hier, Excellenz! Ich hoffe, daß Sie eine gute Hausfrau an mir finden werden.«
Das Frühstück nahm eine längere Zeit in Anspruch, als der Intendant sonst auf dasselbe zu verwenden pflegte, und als er dann der Tänzerin erlaubte, sich zu verabschieden, fragte diese: »Und wie lange haben Sie mit der Amerikanerin gespeist?«
»Nicht doch!«
»Ich sage die Wahrheit.«
»Ich will es glauben. Wann frühstücken wir wieder?«
»Morgen, mein liebes Kind.«
»Um dieselbe Zeit?«
»Ja, kommen Sie immerhin. Wir werden da Gelegenheit finden, uns über die Art und Weise zu besprechen, wie Ihre Existenz sich am Angenehmsten gestalten läßt.«
»O, diese Existenz hängt noch zwischen den Wolken!«
»Nein, nein; sie ist bereits beschlossene Sache.«
»Die Hand darauf!«
»Hier!«
»Herrlich! Nun aber tausend Küsse zur Belohnung!«
Sie zog ihn an sich und bemühte sich, ihm zu beweisen, daß sie ein höchst dankbares Herz besitze.
Draußen stand Jean in gebückter Haltung vor dem Schlüsselloche und beobachtete das küssende Paar.
»Tausend Donner!« brummte er mißvergnügt vor sich hin. »Der alte Galgenstrick ist doch ein beneidenswerther Kerl! Diese Leda hat Geist und Temperament. Ein Kuß von ihr muß nicht übel sein.«
Als er hörte, daß sie sich verabschiedete, zog er sich von der Thür zurück. Sie kam, drückte die Thür zu, blieb bei ihm stehen und griff in die Tasche. Sein auf sie gerichteter, lüsterner Blick sagte ihr, daß sie mit einem Trinkgelde hier nicht die größte Freude anrichten könne. Darum fragte sie schnell entschlossen: »Wie nennt man Sie?«
»Jean.«
»Gut, mein lieber Jean. Geld und Gut habe ich nicht, aber was ich habe, das gebe ich Ihnen. Hier, nehmen Sie!«
Sie hielt mit beiden Händen seinen Kopf fest und gab ihm zwei – drei Küsse.
»So! Sind Sie zufrieden?«
»Königlich!« antwortete er, sich den Mund abwischend.
»Nächstens mehr, wenn Sie verständig sind!«
Damit war sie zur Thür hinaus. Zu gleicher Zeit erklang aber auch die Glocke des Intendanten. Jean mußte zu ihm hinein. Sein Herr sah ihn an und fragte sogleich: »Was hast Du? Was ist mit Dir?«
»Mit mir? Was soll sein?«
»Du bist ganz roth im Gesichte.«
»Wirklich?«
»Ja. Was hat das für einen Grund?«
»Ich habe mich tief gebückt, um einen Schlüssel aufzuheben.«
»Ach so! Hat Dir die Leda ein Trinkgeld gegeben?«
»Nein.«
»Das wundert mich, da sie so angenehme Umgangsformen besitzt. Was sagst Du zu ihr?«
»Kein Wort.«
»Wie? Kein Wort? Warum?«
»Ich kann kein Wort zu ihr sagen, weil sie nicht da ist.«
»Wortklauber! Ich denke, daß Du mich verstanden hast.«
»Nun, sie ist eine ganze Künstlerin.«
»Gewiß!«
»Nicht nur Tänzerin, sondern auch Schauspielerin.«
»Das ist wahr. Und was für eine berückende Stimme sie hat. Ich glaube, daß auch eine tüchtige Sängerin aus ihr zu machen wäre. Sie ist ein sehr vielseitiges Talent. Was denkst Du? Wollen wir sie engagiren?«
»Hm! Was wollen wir mit dieser kalten Amerikanerin!«
»Richtig! Sie mag dahin gehen, woher sie gekommen ist. Mademoiselle Leda electrisirt. Sie ist nicht blos Künstlerin, sondern auch Weib, und das Letztere ist nicht weniger werth als das Erstere.«
Und Diejenige, welche auf diese Weise gelobt wurde, lachte draußen vor sich hin und sagte zu sich: »Diese beiden alten Gecke habe ich im Sacke. Einer ist so widerlich wie der Andere, aber man muß sich fügen. Jetzt nur noch zum Director, zum Capell-und zum Balletmeister, damit die Amerikanerin mir nicht abermals zuvorkommt.«
Sie traf den Director zu Hause und wurde sofort vorgelassen. Sie trat in ihrer kecken, zuversichtlichen Weise auf, knixte in koketter Weise und zeigt dann, auf seine Anrede wartend, ein bezaubernd sein sollendes, siegesgewisses Lächeln.
Der Beamte machte einen bedeutenden Eindruck. Von hoher Gestalt, besaß er eine geistig ausgearbeitete Physiognomie und scharf ausgeprägte Züge, welche von Nachdenken und anhaltender Arbeit erzählten. Doch wurde dieser Ernst durch einen Zug des Wohlwollens gemildert, welcher das Gesicht verschönerte.
Dieser Zug verschwand, als er jetzt sein Auge auf der Tänzerin ruhen ließ.
»Setzen!« sagte er kurz, indem er mit der Hand nach einem Stuhle deutete.
»Haben Sie bereits Besuche gemacht?« fragte er dann, als sie Platz genommen hatte.
»Nein,« antwortete sie. »Sie sind natürlich der Erste, welchen ich von meinem Eintreffen unterrichte.«
Sein Blick nahm eine sofortige Schärfe an.
»Wie kommt es dann, daß ich vom Redactionsboten erfuhr, daß Sie bei dem Chefredacteur gewesen sind?«
»Ah, der ist nicht zu rechnen! Ich hatte eigentlich nur in der Expedition zu thun und benutzte die Gelegenheit, meine Karte abzugeben.«
»Und als ich vorhin über den Markt ging, sah ich Sie beim Intendanten einsteigen.«
Sie erröthete.
»Er war nicht zu Hause,« versuchte sie, sich zu entschuldigen.
»Er war daheim, denn er hatte gleich vorher Miß Starton empfangen gehabt.«
»Ah, haben Sie mit ihr gesprochen?« fragte sie schnell, um von dem unangenehmen Thema abzukommen.
»Ja. Sie war bereits vorher bei mir gewesen. Sie hat die ganz richtige Ansicht gehabt, daß der Director denn doch Derjenige ist, in dessen Hand die Fäden zusammenlaufen. Kennen Sie die Dame persönlich?«
»Noch nicht.«
»Aber per Renommé natürlich?«
»Nicht gar zu sehr,« antwortete sie leichthin.
»Das ist schade. Sie ist nicht nur eine Künstlerin ersten Ranges, sondern auch eine durch und durch edle Weiblichkeit, was leider unter den Damen des Ballettes nicht oft gesagt werden kann.«
»Ich hoffe, nicht hinter ihr zurückstehen zu müssen!«
»In welcher Beziehung?«
»In beiden Beziehungen, als Weib und als Künstlerin.«
»Mademoisselle, ich sage Ihnen offen, daß es keine Empfehlung ist, sich bei mir mit Unwahrheiten einzuführen. Miß Starton würde so Etwas verschmähen. Und sodann ist die künstlerische Auffassung dieser Dame eine wahrhaft geniale. Sie ist in äußerer Beziehung eine Schönheit, aber eine unnahbare. So ist auch jede Figur, welche sie tanzt, von bezaubernder Schönheit, und doch getragen und verklärt von einer sittlich strengen Reinheit, welche der göttlichen Natur der Kunst entspricht. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß Sie eine Gegnerin haben werden, welche sehr schwer oder unmöglich zu besiegen sein wird.«
Sie zuckte die Achseln und antwortete kurz:
»Ich vertraue trotzdem!«
Er nickte leise mit dem Kopfe und meinte dabei:
»Worauf?«
»Auf den Erfolg.«
»In Ihrer Kunst oder in Ihrer Intrigue?«
»Sie irren sich, Herr Director, wenn Sie mich für eine Intriguantin halten!«
»Wollen es hoffen. Ich verhehle es nicht, daß man mich vor Ihrem diplomatischen Talente gewarnt hat.«
»Die Starton etwa?« brauste sie auf.
»Nein. Diese Dame hat kein Wort von Ihnen gesprochen. Morgen hoffentlich werden Sie sich vorgestellt werden. Meine Weisungen werden Ihnen durch den Theaterläufer zugehen. Adieu, Mademoiselle!«
Sie mußte sich unter einer tiefen Verbeugung zurückziehen. Draußen ballte sie die Hände.
»Hier ist sie mir also zuvorgekommen!« murrte sie. »Dieser Director ist ein Pedant ohne Geist und Kenntniß. Er wird nie mein Freund sein, aber auch ich nie seine Verbündete. Jetzt nun zum Capellmeister. Er soll geizig und habsüchtig sein. Fassen wir ihn bei dieser Handhabe an.«
Sie fand ihn zwischen Stößen von Partituren vergraben. Er schrieb eilfertig Noten. Vielleicht hatte er Etwas zu arrangiren. Sie hatte ihren Namen sagen lassen, dennoch aber fragte er bei ihrem Eintritte, ohne von seinen Noten aufzusehen: »Wer?«
»Mademoiselle Leda.«
»Gleich.«
Sie blieb geduldig an der Thür stehen, obgleich er noch einige Seiten schrieb. Endlich spritzte er den Gänsekiel aus und drehte sich zu ihr herum. Er hatte ein hageres, wachsbleiches Gesicht und große, dunkle Virtuosenaugen. Seine lange Nase hatte einen breiten Rücken, der Mund war sehr breit und fast ohne sichtbare Lippen, und das Kinn fast übermäßig entwickelt. Sein Gesicht war dasjenige eines Geizigen. Seine Stimme klang kalt und ohne Metall, als er sagte: »Sie konnten sich setzen. Was wollen Sie?«
»Ich hielt es für meine Pflicht, mich Ihnen vorzustellen, Herr Capellmeister.«
»Schön. Und wozu?«
Diese Frage brachte sie in Verlegenheit, doch antwortete sie:
»Es ist doch wohl nöthig, daß Sie mich vor meinem Auftreten kennen lernen.«
»Keineswegs.«
Sie blickte ihn erstaunt an. Daher erklärte er:
»Es wird das Ballett ›Königin der Nacht‹ gegeben, zweimal hinter einander. Erst treten Sie auf und dann die Amerikanerin. Sie Beide haben die ›Königin‹ schon oft getanzt, darum ist eine Probe nicht für nöthig gehalten worden. Welche besser gefällt, die wird nach kurzem Gastspiele engagirt. Eigentlich hatten Sie also nicht nothwendig, mich zu incommodiren.«
»Und doch. Es war meine Absicht, Ihnen eine Frage vorzulegen, welche allerdings rein geschäftlicher Natur ist.«
Da horchte er auf.
»Welche Frage meinen Sie?«
»Ohne Umschweife gesagt, die Geldfrage.«
Da bekam sein Gesicht auf einmal Farbe, und als er sie jetzt forschend anblickte, war es ihr, als ob er eigentlich schielende Augen habe.
»Was könnte es in dieser Beziehung zwischen Ihnen und mir zu erörtern geben?« erkundigte er sich.
»Das ahnen Sie nicht?«
»Nein.«
»Giebt es denn hier keine Orchestertantiéme?«
»Nein.«
»Wirklich nicht?« fragte sie noch einmal, und zwar im Tone sehr hoher Verwunderung.
»Ich habe noch nie Etwas davon gehört. Was hat man unter dieser Orchestertantiéme zu verstehen?«
»Nun, zunächst versteht es sich doch ganz von selbst, daß von der Orchesterbegleitung das Gelingen eines Vortrages, überhaupt jede künstlerische Darstellung ganz außerordentlich abhängig ist.«
»Sehr richtig!«
»Insbesondere ist dies beim Tanze der Fall. Ohne die Intelligenz des Capellmeisters ist es selbst der größten Künstlerin unmöglich, das zu leisten, was sie wirklich zu leisten vermag.«
»Sehr gut, sehr gut!« sagte er unter demonstrativem Kopfnicken. »Ich sehe, Sie haben nachgedacht, Mademoiselle; Sie befinden sich im Besitze der Ansichten und Erfahrungen, welche man bei Ihren Coleginnen meist vergebens sucht.«
»Leider! Und grad weil ich diese hohe Bedeutung des Capellmeisters anerkenne, habe ich die Gepflogenheit, bei jedem Auftreten eine Orchesterprämie zu berechnen.«
»Wie hoch ist diese?«
»Je nach Uebereinkunft.«
»Wem wird sie ausgezahlt?«
»Dem Capellmeister.«
»Nimmt das ganze Orchester daran Theil?«
»Das ist lediglich Sache des Dirigenten. Ich zahle ihm die Prämie. Was er damit thut, das ist nicht meine Sache.«
»Weiß der Director davon?«
»Kein Mensch.«
»So bleibt diese Gepflogenheit also Geheimniß zwischen Ihnen und dem Dirigenten?«
»Vollständiges Geheimniß.«
»Mademoiselle, ich habe von dieser Prämie noch nie Etwas gehört; aber es ist sehr leicht begreiflich, daß wir uns Beide mit ihr besser stehen würden als ohne sie.«
»Sehr richtig. Ich kam zu Ihnen, um Sie darüber zu verständigen. Jetzt darf ich Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Ueberlegen Sie sich aber immerhin, welchen Procentsatz wir vereinbaren wollen.«
Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte mit gewinnender Freundlichkeit:
»Mademoiselle, Ihr Ruf als Künstlerin ist ein bedeutender. Daß Sie aber auch das Geschäft verstehen, freut mich. Künstler pflegen schlechte Rechner zu sein. Es sollte mir lieb sein, wenn Sie Engagement finden. Meiner Hilfe dürfen Sie gewiß sein. Leben Sie wohl!«
Sie ging, innerlich frohlockend, daß er an den ihm hingeworfenen groben Köder gebissen habe.
Nun stand ihr noch bevor, den Balletmeister aufzusuchen. Als sie an dessen Vorsaalthür klingelte, wurde von einem langen, starkknochigen Weibe geöffnet.
»Was wollen Sie?« fragte diese Person.
»Ist der Herr Balletmeister zu sprechen?«
»Sie meinen den Herrn Balletmeister und Kunstmaler, meinen Mann?«
»Ja.«
»Was wollen Sie von ihm?«
»Ich beabsichtige, mich ihm vorzustellen.«
»Dazu hat er keine Zeit. Er malt jetzt.«
»Ich werde den Herrn Balletmeister nur auf eine Minute in Anspruch nehmen.«
»Bitte, den Herrn Balletmeister und Kunstmaler meinen Sie?«
»Ja, Madame.«
»Wer sind Sie denn eigentlich?«
»Man nennt mich Mademoiselle Leda.«
»Kenne ich nicht.«
»Desto besser werde ich von dem Herrn Balletmeister gekannt –«
»Vom Herrn Balletmeister und Kunstmaler meinen Sie?«
»Ja. Er kennt mich, wenigstens dem Rufe nach. Ich habe übermorgen die Königin der Nacht zu tanzen.«
»Ah, so sind Sie eine der beiden Künstlerinnen, welche mit einander kämpfen sollen?«
»Ja.«
»Schön. Das ist etwas Anderes. Ich werde Sie führen. Kommen Sie mit!«
Der Weg ging durch zwei Zimmer, welche eine wahrhaft chaotische Unordnung zeigten. Die Frau des Herrn Balletmeisters und Kunstmalers schien kein bedeutendes häusliches Talent zu sein.
Dann öffnete sie eine Thür. Man erblickte mehrere Staffeleien, eine Menge großer Farbentöpfe, Leinwandstücke, Bilderrahmen und Anderes. Vor einer der Staffeleien stand der Künstler. Er war eine kleine, hagere Figur, trug ein fürchterliches Pince-nez auf der Nase und schien von der geöffneten Thür gar nichts zu bemerken.
»Arthur!« sagte sie.
»Ja, mein Liebling!«
»Eine Dame.«
»Ja.«
»Vielleicht doch endlich eine Psyche.«
»Dazu ist sie zu fett.«
»O weh!«
Er drehte sich um und musterte die Tänzerin. Dann fragte er:
»Wieviel verlangen Sie pro Stunde?«
Sie bemerkte, daß er sie für ein Modell hielt. Sie zuckte also lächelnd die Achseln, ohne zu antworten. Er fuhr unbeirrt fort: »Ich gebe Ihnen für die Stunde dreißig Kreuzer. Das ist bei Ihren Formen, die man so oft angeboten erhält, vollauf genug.«
»Arthur!« legte sich da seine Frau in’s Mittel.
»Mein Liebling!«
»Diese Dame ist kein Modell.«
»Was will sie denn sonst?«
Er hatte den Beiden wieder den Rücken zugekehrt und ließ sich nicht stören. Er war dabei, eine Leinwand zu grundiren, und strich die Farbe auf, ohne seinen Besuch wieder anzublicken. Dabei nahm er eine theatralische Stellung ein, eine Pose gleich einem Schauspieler, welcher sich im Zweikampfe in den Ausfall legt.
»Kämpfen,« antwortete seine Frau.
»Kämpfen? Alle Teufel! Mit wem denn?«
»Wo denn?«
»Na, im Ballet.«
»Ach so. Wie heißt sie denn?«
»Es ist eine Mademoiselle –«
»Leda,« ergänzte die Tänzerin.
»Leda,« rief er, nun schnell herumfahrend und sie noch einmal genau betrachtend. »O, Mademoiselle, Verzeihung! Sie sind doch nicht ganz so fett, wie ich vorhin dachte.«
»Das meine ich auch,« lachte sie. »Ich brauche nun wohl auch nicht pro Stunde dreißig Kreuzer zu verdienen?«
»Nein, nein! Das ist jetzt anders. Das werden Sie nun ganz umsonst thun.«
»Umsonst?« fragte sie verwundert.
»Gewiß!«
»Arthur?« fragte seine Frau.
»Mein Liebling?«
»Kann ich wieder gehen?«
»Ja. Kehre in Dein trautes Heim zurück. Später bringst Du mir eine Käsebemme mit Nordhäuser.«
Sie ging, und er fuhr, zu Leda gewendet, fort:
»Ich heiße Sie im Tempel meiner zweiten Kunst herzlich willkommen, Mademoiselle. Das Uebungszimmer für meine Balletschüler liegt eine Treppe höher!«
»Ja. Die Kunst kann ihre Heimath nicht hoch genug aufschlagen. Je näher sie dem Himmel rückt, desto verklärender, beseligender und veredelnder wirkt sie auf ihre Jünger.«
»Auch bei diesem Froste?«
»Pah! Was wollen Sie! Die Kunst ist eine firmamentale Potenz, welcher eine unvergleichliche Hitze entströmt. Bitte, Sie haben mir da meinen Bleiweißtopf umgeworfen. Sind gerade elf Kreuzer futsch!«
»Ich werde sie Ihnen ersetzen. Hier sind zwanzig.«
»Ich kann nicht wiedergeben.«
»Thut nichts. Behalten Sie!«
»Danke! Giebt einen geräucherten Hering zum Abendbrod, natürlich für meine Frau. Sie ist eine, so zu sagen, ätherische Natur und kann Käsebemmchen nicht vertragen. Was nun Sie betrifft, so habe ich mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Ich hoffe, wir werden einander gefällig sein können. Nicht?«
»Gern.«
»Da ist zum Beispiel, was ich vorhin erwähnte, das Modellsitzen. Das kostet Geld. Es giebt Modelle, denen ich fünfzig Kreuzer pro Stunde bezahle. Und in Ausnahmefällen – sehen Sie, ich will eine Psyche malen; sie ist bestellt. Aber woher das passende Modell nehmen? Es giebt hier ein junges Mädchen, welches göttlich paßt, ein ganz himmlisches Wesen; aber das dumme Ding will nicht, obgleich ich zunächst pro Stunde einen Gulden geben würde. Sie beißt aber sicher noch an.«
»Lassen sich Ihre Gemälde gut verwerthen?«
»Ich arbeite nur auf Bestellung. Da wurde kürzlich eine Medea bestellt. Ich würde hundertundfünfzig Gulden erhalten, aber woher eine Medea – Donnerwetter!«
Er legte Pinsel und Palette fort und ließ sein Auge prüfend über Leda’s Gestalt gleiten.
»Nun, was wollten Sie sagen?«
»Hm! Sie kennen leider die Verhältnisse nicht.«
»So erklären Sie mir dieselben.«
»Die Sache ist nämlich die, daß ich ein höchst gefälliger Mann bin, und so sind meine Damen vom Corps de Ballet mir wieder gefällig. Kann mir Eine als Modell behilflich sein, so thut sie es gern und ohne Bezahlung, denn, wissen Sie, eine Hand wäscht die andere.«
»Das läßt sich leicht begreifen.«
»Auch die letzte Diva, Ihre Vorgängerin, hat mir einige Male gesessen. Sagen Sie einmal, Mademoiselle Leda, sind Sie sehr penibel?«
»Gar nicht.«
»Sie wären eine prächtige Medea!«
»Freut mich!«
Er hatte »Ihre Vorgängerin« gesagt, geradeso, als ob ihr das Engagement ganz sicher sei. Das schmeichelte ihr. Zudem konnte sie seiner Hilfe und Unterstützung bedürftig werden, und da sie ja überdies keineswegs zurückhaltend mit ihren Schönheiten zu sein pflegte, so hielt sie es für gerathen, auf seine Intention einzugehen.
»So? Das freut Sie?« meinte er, indem er im ganzen Gesicht lachte. »Bitte, würden Sie wohl geneigt sein, mir einige Male als Medea zu sitzen?«
»Gern.«
»Danke, danke! Bin natürlich zu jedem Gegendienst auf der Stelle bereit. Ich hoffe doch nicht, daß Sie sich vor mir geniren?«
»Keineswegs,« lachte sie. »Weshalb geniren?«
»Das ist brav und ohne Vorurtheil. Ich bin ganz begeistert von der Idee. O, wenn Sie jetzt Zeit hätten, nur ein Viertelstündchen Zeit!«
»Wozu? Sie wollen doch nicht gleich an der Medea zu arbeiten beginnen?«
»Nein, das wäre unmöglich. Aber das Sujet möchte ich mir im Geiste fixiren. Ich möchte die Formen Ihrer, ja Ihrer Medea prüfen. Ich möchte nur einige leise Striche, einige leichte Contouren auf die Leinwand werfen. Wollen Sie?«
»Hm! Eigentlich bin ich jetzt beschäftigt.«
»O, nur eine Viertelstunde?«
»Aber das An-und Auskleiden nimmt ebenso viel Zeit in Anspruch.«
»Doch nicht. Meine Ansprüche erstrecken sich heute nur auf Ihren Oberkörper. Und das Haar möchten Sie ein wenig auf griechische Manier ordnen. Ich sage Ihnen, daß ich sehr, sehr dankbar sein werde.«
»Na, da Sie es sind, so will ich mich fügen.«
»Herrlich! Kommen Sie! Legen Sie ab! Hier auf dem rothen Divan nehmen Sie dann Attitude, da in den Wiener Shawl drappirt. Es wird prächtig sein. Sie werden sich entzückend ausnehmen, wie ich bereits jetzt constatiren kann.«
Sie ließ sich nicht lange bitten. Sie legte ungescheut sämmtliche Hüllen ihres Oberkörpers ab, brachte das Haar in andere Ordnung und streckte sich sodann auf den alten, verschossenen Divan nieder, um sich dann mit den Falten des Wiener Wunderwerkes schmücken zu lassen.
Der Balletmeister war nicht etwa ein Stümper. Er verstand seine Sache sehr gut, und er hatte Recht gehabt. Als sie jetzt in liegender Stellung auf dem Divan ruhte, den Kopf in die eine Hand gestützt und den andern vollen Arm in leichter Biegung dem üppigen Körper leise angeschmiegt, während eine der vollen Flechten sich liebkosend über den Busen schlängelte, welcher schneeweiß zwischen den Falten des Tuches hervorleuchtete, war sie eine treffliche Darstellung von Medea, jener wollüstigen und rachsüchtigen Königstochter aus der Zeit des Argonautenzuges.
Der Balletmeister klatschte vor Entzücken in die Hände.
»So, so, Mademoiselle!« rief er. »Sie sind eine Medea, wie ich sie selbst im Traume nicht gesehen habe. Bleiben Sie nur einige Minuten in dieser Stellung, damit ich die Contouren fixire.«
In diesem Augenblicke der Freude wurde er abermals von seiner Frau unterbrochen. –
Nämlich in einem Hinterhause des Altmarktes, drei Treppen hoch klebte an einer der vielen Stubenthüren eine Karte mit der Bezeichnung ›Max Holm, Reporter‹. In dem Zimmer hinter der Thür war es recht still. In einem alten Lehnstuhle saß ein schlafender Mann, dessen gelähmter und geschwollener Körper mittelst eines Tuches fest an die Lehne gebunden war.
Am Tische saß ein junges, vielleicht achtzehn Jahre altes Mädchen und neben ihr eine alte Frau von gutmüthigem Aussehen, welche eine altmodische Klemmbrille auf der Nase trug und fleißig an einem Strumpfe strickte. Diese Beiden sprachen mit einander, aber leise, so daß sie den Schläfer nicht weckten.
»Also Ihr Bruder weiß nichts davon?« fragte die Frau in Fortsetzung ihres Gespräches.
»Kein Wort.«
»Warum haben Sie ihm denn nichts gesagt?«
»Weil der gute Max so schon genug Sorgen hat. Aber er wird es doch noch erfahren müssen. In acht Tagen wird der Jude Levi den Wechsel präsentiren.«
»Ja, Wechselsachen sind schlimme Sachen. Sie konnten das Geld wohl nicht auf eine andere Weise bekommen?«
»Nein. Der Jude kam und schrieb Alles auf. Wir mußten es ihm scheinbar verkaufen und unterschrieben den Wechsel. Er gab uns dann einen Revers. Wenn wir nicht mit der Stunde zahlen können, nimmt er uns den Revers und Alles, was wir noch haben.«
»Sollte es denn keine Hilfe geben? Wieviel verdient Ihr Bruder denn?«
»Er bringt es als Reporter zuweilen auf nicht ganz einen Gulden. Dann macht er täglich für dreiviertel Gulden Musik. Nun denken Sie, daß wir leben müssen; Vater ist vom Schlage getroffen, und der andere Bruder soll doch nicht vom Gymnasium fort. Es wäre doch gar zu Schade!«
»Das kostet freilich Geld, viel Geld, und es ist gar kein Wunder, daß Sie Tag und Nacht so fleißig nähen.«
»Ich thue es gern. Ja, wir haben auch bessere Zeiten erlebt, damals als der Vater noch gesund war.«
»Nicht wahr, er war Musikdirector?«
»Ja. Max studirte und erlangte die Doctorwürde. Aber die Musik hatte es ihm angethan. Er liebte die Violine und brachte es sehr, sehr weit damit. Er ging nach Amerika, um Concerte zu geben und verdiente sehr viel Geld. Er galt für einen Virtuosen. Dann kam das doppelte Unglück.«
»Ihr armen Leute! Wie kam denn das Alles?«
»Nun, Mutter wurde krank und starb; dann wurde der Vater vom Schlage gelähmt. Wir schrieben an Max; aber da sah es fast ebenso schlimm aus. Er hatte seine Ersparnisse in einer Bank angelegt; sie machte Bankerott und er verlor Alles. Er wollte von Neuem beginnen, da aber kam die Verwundung, und nun war Alles aus.«
»Wie ist er denn zu dieser Hand gekommen?«
»Sie ist zerschossen worden.«
»Doch nicht im Kriege?«
»Nein.«
»Ist er angefallen worden?«
»Auch nicht. Er hat – – ein Duell gehabt.«
Das sagte sie so leise, daß es kaum zu hören war.
»Herrgott! Ein Duell! Warum denn?«
»Das sollen wir eigentlich gar nicht wissen.«
»Aber Sie wissen es doch?«
»Ja.«
»Wer hat es Ihnen denn verrathen?«
»Er hat da drüben in Amerika ein Tagebuch geführt, in welchem Alles steht. Er läßt es uns nicht lesen; aber einmal hat er vergessen, es einzuschließen, und da habe ich es verstohlen geöffnet.«
»Ja.«
»Was stand denn drin?«
Die Alte rückte vor Erwartung auf ihrem Stuhle hin und her. Das war ja so das richtige Thema. Ein Geheimniß, ein Duell – vielleicht gar noch mehr!
»Ja, davon soll man eigentlich gar nicht sprechen,« antwortete das Mädchen.
»Nun ja, ganz recht! Aber mir können Sie es ja mittheilen. Nicht wahr?«
»Vielleicht ist’s Unrecht; aber Sie sind so gut gegen uns, fast wie eine Mutter. Sie nehmen sich des Vaters an, damit ich mehr arbeiten und verdienen kann, und da wäre es wohl undankbar, wenn ich kein Vertrauen hätte.«
»Ganz richtig, meine liebe Hilda! Sie können volles Vertrauen zu mir haben. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Und Ihnen wird ja auch das Herz leicht, wenn Sie einen Theil der Last auf mich übertragen.«
»Ach ja. Sie haben Recht. Es ist so bös, jung sein und schon solche Sorgen haben!«
»Also das Duell, das Duell!«
»Nun, liebe Frau Nachbarin, es war so eine – eine – Liebe dabei.«
»Eine Liebe? O, wie interessant! Unser Herr Max ist verliebt gewesen?«
»Ja.«
»Kein Wort. Aber im Tagebuch steht es, ach, so herzbrechend. Ich habe geweint, als ich es las.«
»Wer war sie denn? Eine Amerikanerin?«
»Ja.«
»Und was war sie denn? Doch braver Leute Kind?«
»Sie war eine – eine – – Tänzerin.«
»Herr, mein Heiland! Kind, sind Sie klug? Eine Tänzerin? Also vom Ballet?«
»Ja.«
»Und die hat er lieb gehabt? Er, der sonst so ernst und vorsichtig ist?«
»O, sie ist brav gewesen, sehr brav!«
»Gehen Sie! Eine Tänzerin ist niemals brav!«
»Diese aber doch. Sie hat nämlich nicht um Geld getanzt, sondern im Drange ihres Talentes.«
»Nun höre Einer! Das Talent soll zum Tanze drängen! Schiller und Göthe, Mozart und Beethoven, das waren auch Talente; das waren sogar Genies; aber haben sie sich von ihrem Genie zum Tanz verleiten lassen?«
»Das ist etwas Anderes!«
»Nein. Mein seliger Mann war auch ein bedeutendes Talent. Er war Obermeister der Tischlerinnung, Feldwebel bei der Scheibenschützengesellschaft und Schriftführer im Scatvereine. Aber von Allen diesen hat er sich niemals verleiten lassen, zum Ballet zu gehen!«
»Meine liebe Frau Nachbarin, unter dem Talente, von welchem ich spreche, verstehe ich ja die angeborene und zwingende Begabung zum Tanze.«
»Gutes Kind! Diese angeborene und zwingende Begabung haben wir Alle, Männer wie Weiber, Bursche wie Mädels. Aber zum Ballette gehen wir schon lange nicht.«
»Nun, es muß unter dem künstlerischen Tanze doch noch etwas Anderes zu verstehen sein als nur Walzer und Hopser und das Drehen und Springen wie im Ballette. In Maxens Tagebuche steht wörtlich, daß der Tanz dieser Amerikanerin ein mehr geistiger als körperlicher gewesen sei.«
»Das verstehe ich erst recht nicht! Wie soll der Geist tanzen? Das ist ja der reine Gespensterspuk!«
»Ja, wir mögen es nicht verstehen, aber Max versteht es sicherlich besser als wir. Er ist nicht der Mann dazu, sein Herz an ein niedriges Frauenzimmer zu verschenken. Er ist rein und edel. Er hat einen wirklich vornehmen Character. Nicht?«
»Ja, den hat er. Aber sie war dennoch Tänzerin!«
»Nun, sie ist doch auch noch etwas Anderes gewesen.«
»Was denn?«
»Die einzige Erbin eines steinreichen Pflanzers.«
»Gott, ist’s möglich?«
»Ja. Die Eltern waren todt. Sie hat die Pflanzung verpachtet gehabt.«
»Das ist freilich etwas ganz Anderes! Warum hat er sie denn nicht geheirathet?«
»Er hat ja nie mit ihr gesprochen!«
»Wie dumm! Man muß doch mit der Liebsten reden!«
»Er hat ja gar nicht wagen können, zu denken, daß sie ihn wieder liebe!«
»Unsinn! So einen hübschen, kräftigen Kerl!«
»Er hat das wohl am Besten gewußt. Er hat sie zum ersten Male während eines Concertes gesehen, welches er gab. Dann hat sie alle seine Concerte besucht, und er ist stets da gewesen, wenn sie eine Vorstellung gegeben hat. Aber sie haben sich nur immer von Weitem gesehen.«
»Das habe ich mit meinem Seligen doch besser gemacht. Einander sehen, mit einander reden, und einander kriegen, das war Eins!«
»Es muß doch nicht gegangen sein.«
»Aber was hat das mit dem Duell zu thun?«
»Sehr viel.«
»Nun also! Schnell! Ich vergehe vor Neugierde!«
»Er ist nämlich einmal dabeigewesen, daß ein Anderer übles von ihr gesprochen hat, so ein echter amerikanischer Raufbold ist es gewesen, der sie haben wollte, sie aber hat ihn abgewiesen. Darum hat er sie verleumdet.«
»Nicht wahr? Max hat das nicht gelitten. Da ist es zu einem Duell gekommen. Es hat gleich geheißen: es wird so lange geschossen, bis Einer von Beiden todt ist.«
»Allmächtiger! Welche Sündhaftigkeit!«
»Das ist da drüben nicht anders.«
»Dieser Amerikaner wird doch nicht etwa unsern Max todtgeschossen haben!«
»Wie wäre das möglich! Max lebt ja noch!«
»Ach ja, das ist wahr! Die Angst vor dem Duell hat mich ganz confus gemacht. Also weiter.«
»Sie haben also auf einander geschossen. Max ist gleich von der ersten Kugel in die linke Hand getroffen worden. Der Andere ist nämlich schlecht gewesen und hat das Commando gar nicht abgewartet, sonst hätte er den Bruder doch nicht in die Hand schießen können.«
»Der Bösewicht! Er muß erschossen werden!«
»Natürlich. Er ist auch todt!«
»Wie? Max hat ihn erschossen?«
»Ja.«
»Herrgott! Ich falle in alle Ohnmachten! Nun wird Max doch geköpft!«
»Sie haben ihm freilich an’s Leben gewollt; aber er ist geflohen und zu Schiffe herübergekommen. Aber diese Flucht hat seine wenigen neuen Ersparnisse verzehrt. Er kam ganz arm zurück.«
»Und nun war die Hand so caput, daß er die Violine ganz aufgeben mußte. Das hat ihm am bittersten wehe gethan. Er war ja bereits als Virtuos berühmt.«
»Das ist freilich ein schweres Schicksal. Aber die Amerikanerin?«
»Von der weiß ich weiter nichts.«
»Sie konnte sich doch seiner annehmen!«
»Sie war doch nicht seine Braut, und sie konnte auch nicht wissen, wo er hin war.«
»Richtig; daran dachte ich nicht!«
»Nun kam Max nach Hause, verwundet und arm. Mutter war todt und der Vater gelähmt. Der Bruder mußte auf dem Gymnasium erhalten werden. Da galt es, zu sorgen und zu arbeiten!«
»Warum hat sich Max nicht um eine Anstellung beworben?«
»Weil er eben Künstler ist. Er kann und will der Violine nicht entsagen. Er glaubt, es wieder so weit wie vorher zu bringen.«
»Kind, das ist unmöglich. Mit den zerschossenen Fingern kann er doch die Saiten nicht greifen!«
»Nein; aber er kann doch mit ihnen den Bogen halten.«
»Dann müßte er die Geige in die rechte Hand nehmen.«
»Freilich.«
»Das ist verkehrt; das geht gar nicht.«
»Und doch geht es. Er hat es bewiesen. Er hat die vier Saiten gerade umgekehrt auf die Geige gezogen. Nun streicht er mit der linken und greift mit der rechten Hand.«
»Das ist wunderbar.«
»Gerade so, wie Leute, welche um ihre rechte Hand gekommen sind, lernen müssen, mit der Linken zu schreiben.«
»Ich habe noch nichts gehört. Bringt er es denn fertig?«
»Ja. Der Hauswirth hier duldet keine Musik; darum darf Max hier nicht spielen; aber er geht alle Abende nach einem Saale, wo er mit zum Tanze aufspielt.«
»Ist’s die Möglichkeit!«
»Erst hatte er die dritte und dann die zweite Geige. Jetzt spielt er schon bereits die erste Violine; solche Fortschritte hat er gemacht. Er sagt, nach Verlauf von anderthalb Jahren werde er wieder öffentlich auftreten können. Dann haben die Sorgen ein Ende.«
»Gott sei Dank! Was haben Sie heute gegessen?«
»Wir werden erst am Abende essen. Horch! Da kommt Jemand!«
Sie lauschte und ihr Gesicht erhellte sich. Sie hatte den Bruder am Schritte erkannt. Er trat leise ein, um den Vater nicht zu wecken. Er kam zur Schwester heran, küßte sie auf das weiche, lockige Haar und sagte im Flüstertone: »Hier, liebe Hilda, hast Du zu essen für Dich und den Vater!«
Dabei legte er ihr ein Packet hin.
»Aber Du?« fragte sie.
»O, ich bin satt!« antwortete er leuchtenden Auges. Es lag ein solcher Ausdruck des Glückes auf seinen intelligenten Zügen, wie sie es seit Langem nicht bemerkt hatte.
»Und hier,« fuhr er fort, »ist auch der gestrige Zins.«
Dabei legte er einige Gulden aus dem Portemonnaie hin.
»Soviel auf einmal?« fragte sie erfreut.
»Ja. Ich habe heute bei einem Geheimrath zum Piano zu geigen. Es ist eine Verlobung, und man hat mich gleich vorher bezahlt. Gott wird helfen, daß wir in acht Tagen so viel zusammen bringen, wie der Bruder braucht.«
Sie senkte den Kopf und seufzte verstohlen. Dann aber hob sie ihn rasch empor und fragte:
»Lieber Max, Du bist heute so froh. Ist’s wegen diesem Gelde?«
»Nicht allein. Ich habe heute nach langer Zeit einen lieben, lieben Freund wieder gesehen, den ich im ganzen Leben nicht mehr zu erblicken glaubte.«
Er sagte ›Freund‹, und doch war Ellen Starton, die Tänzerin, gemeint.
»Kenne ich ihn auch?« fragte Hilda.
»Nein. Ich lernte ihn während meiner Concertfahrten kennen.«
»Bringst Du ihn vielleicht einmal her?«
Sein Gesicht wurde um einen Schatten düsterer, als er zögernd antwortete:
»Wohl nicht. Sein Lebensweg ist ein anderer, als der meinige. Nun muß ich aber wieder fort. Ich will sehen, ob ich so glücklich bin, auch Etwas für das Blatt zu erbeuten.«
Er gab ihr die Hand, nickte der Nachbarin freundlich zu, trat zum Vater, um auf dessen ruhige Athemzüge zu lauschen und ging dann leise fort.
»Der Gute!« flüsterte die Frau.
»Gott wird helfen, hat er gesagt!« bemerkte Hilda gedankenvoll vor sich hin.
Sie legte den Kopf in die Hände und verharrte eine Weile in dieser Stellung. Dann, als sie das Gesicht wieder erhob, lag es wie ein fester Entschluß auf demselben. Die Alte bemerkte es und fragte: »Sie denken an etwas Wichtiges, liebes Kind?«
»Ja.«
»Was ist es?«
»Der Bruder sorgt und plagt sich ab. In acht Tagen müssen wir fünfzehn Gulden nach dem Gymnasium schicken. Ich darf und kann ihm von dem Wechsel nichts sagen.«
»Aber er muß es ja doch erfahren!«
»Nein. Er hat gesagt, Gott werde helfen. Ja, Gott hilft, aber nur durch uns selbst. Ich kenne einen Weg, aus dieser Sorge zu kommen.«
»Das sollte mich freuen. Darf ich es erfahren?«
»Später werde ich es Ihnen sagen.«
Sie hatte einen schweren, schweren Entschluß gefaßt. Sie war gewillt, ihn auszuführen; aber sie befürchtete, durch die Nachbarin wankend gemacht zu werden; darum verschwieg sie es ihr lieber.
Sie nähte noch ein halbes Stündchen fleißig fort, dann war sie fertig. Sie legte das, was Max mitgebracht hatte, für den Vater bereit und fragte dann: »Liebe Frau Nachbarin, ich will die Näharbeit abliefern, können Sie beim Vater bleiben, bis ich wiederkomme?«
»Ja, gern.«
»Auch wenn ich ein Wenig länger bleibe als gewöhnlich?«
»Auch das. Es bleibt sich ja gleich, ob ich hier sitze oder drüben in meinem Stübchen.«
»Ich danke Ihnen! Geben Sie dem Vater zu essen, wenn er erwacht.«
Sie kleidete sich etwas sorgsamer an, als es sonst zu geschehen pflegte, und packte die Arbeit ein.
»Für wen ist es?« fragte die Nachbarin.
»Für die Frau Balletmeister.«
Zunächst ging sie zum Wirthe, um die rückständige Miethe zu entrichten, und dann wanderte sie, allerdings in gedrückter Stimmung, der Wohnung des »Herrn Balletmeisters und Kunstmalers« zu.
Die Frau desselben empfing sie in freundlicher Weise, lobte die Arbeit und bezahlte diese. Dann aber fragte sie: »Haben Sie vielleicht wieder einmal an das Anerbieten meines Mannes gedacht, Fräulein Holm?«
Sie erglühte im ganzen Gesichte; doch hatte sie einmal den Entschluß gefaßt und wollte ihn nun auch ausführen. Der unglückselige Wechsel mußte eingelöst werden, ohne das Max etwas davon zu erfahren brauchte.
»Sagen Sie einmal, Frau Balletmeister, ist es sehr schwer?« fragte sie ängstlich.
»Wo denken Sie hin! Gar nicht.«
»Und doch stelle ich es mir so ungeheuer schwer vor.«
»Es ist im Gegentheile sehr leicht. Wenn Sie einmal krank werden, dürfen Sie sich vor den Blicken des Arztes auch nicht fürchten. Mein Mann ist kein junger Bursche, sondern er ist alt und ein Künstler. Im ersten Augenblicke mögen Sie sich wohl ein ganz klein wenig schämen; aber das ist sehr schnell vorüber.«
»Und wieviel wollte er zahlen?«
»Einen Gulden für die Stunde.«
»Und wann bekomme ich das Geld?«
»Allemal am Schlusse jeder Sitzung. Soll ich zu ihm gehen, um es ihm zu sagen?«
Das Wort wollte nicht heraus, aber doch gab sie heldenmüthig die zustimmende Antwort.
»So kommen Sie gleich mit!«
Sie führte das Mädchen nach dem Atelier, öffnete, wie sie es gewöhnt war, die Thür desselben und sagte: »Arthur?«
»Mein Liebling!« ertönte seine Antwort.
»Hast Du Zeit?«
»Ich bin soeben bei der Medea. Was willst Du?«
»Es ist etwas noch viel Besseres da.«
»Was denn?«
»Die Psyche.«
»Die Psyche? Mohrenelement! Wo ist sie?«
»Hier!«
»Laß sie sofort herein! Das ist eine sehr freudige Ueberraschung!«
»Treten Sie ein, und fürchten Sie sich nicht,« sagte die Frau in aufmunterndem Tone zu Hilda, nachdem sie dieselbe in das Atelier schob und hinter ihr die Thür zumachte.
Der Maler kam dem Mädchen entgegen. Als Hilda, vor Scham fast vergehend, jetzt doppelt lieblich vor ihm stand, sagte er sich, daß er in der ganzen Welt keine prachtvollere Psyche finden könne.
»Willkommen, willkommen, liebes Kind,« sagte er. »Recht so, daß Sie Ihre falschen Bedenken besiegt haben! Kommen Sie weiter nach hinten. Ich bin augenblicklich fertig und stehe dann zu Diensten.«
Er schob sie vor sich her. Da fiel ihr Auge auf die Tänzerin Leda, welche noch in ihrer üppigen Attitude auf dem Divan lag. Ihr Fuß wollte nicht weiter. Das Blut schien ihr im Herzen zu stocken.
»Sehen Sie hier diese Dame,« erklärte der Künstler. »Sie thut ganz dasselbe, was Sie thun werden, aber es fällt ihr gar nicht ein, sich zu schämen. Nehmen Sie einstweilen dort auf dem Stuhle Platz. Sie werden nicht lange zu warten haben.«
Hilda setzte sich, vermochte aber nicht, einen einzigen Blick auf die Tänzerin zu werfen. Endlich erklärte Herr »Arthur« in befriedigtem Tone: »So mag es für dieses Mal genug sein, Mademoiselle. Sobald Sie Zeit haben, bin ich bereit.«
Leda erhob sich, betrachtete die Contouren und sagte überrascht:
»Herr Balletmeister, Sie sind wirklich ein Künstler!«
»Wieso?« fragte er, erfreut über dieses Lob.
»Sie haben meine Züge mit photographischer Ähnlichkeit getroffen.«
»Ist das Ihnen vielleicht nicht lieb? Soll ich der Medea andere Züge geben?«
»Nein. Es mag so bleiben. Wer hat das Bild bestellt?«
»Baron Franz von Helfenstein. Er ist ein Liebhaber der sogenannten Fleischmalerei. Badende Frauen und Ähnliches kauft er am Liebsten.«
»Kauft er mich, so mag er nur zahlen. Hundertfünfzig Gulden ist da viel, viel zu wenig.«
»Gut, ich werde meine Preise machen. Wollen Sie sich im Cabinet ankleiden?«
»Pah! Wozu wäre das nöthig! Diese hübsche Kleine da ist wohl noch Novize?«
»Ja.«
»Sie hat noch nicht Modell gesessen?«
»Es soll heute zum ersten Male sein.«
»Und da schämt sie sich?«
»Leider!«
»Unsinn! Ich werde sie sogleich heilen.«
Sie hatte, vor dem Bilde stehend, bisher das Tuch an sich gehalten. Jetzt ließ sie dasselbe fallen, so daß sie am ganzen Oberkörper ohne jedwede Hülle war. So trat sie zu Hilda hin.
»Sehen Sie mich einmal an!« gebot sie ihr.
Hilda hob die Augen, senkte sie aber sofort wieder. Es war ihr, als ob sie vor einem tiefen, schwarzen Abgrund stehe. Sie schauderte und fühlte einen Schwindel, als müsse sie vom Stuhle fallen.
»Was sind Sie denn eigentlich?« fragte die Tänzerin.
»Nähterin,« hauchte Hilda.
»Und da wollen Sie sich schämen? Lassen Sie sich doch nicht auslachen! Ich bin viel, viel mehr als Sie, stehe in unerreichbarer Höhe über Ihnen, und doch fällt es mir gar nicht ein, so albern zu sein, mich zu schämen.«
Sie wendete sich wieder von ihr weg. Dafür aber nahm der Maler Hilda bei der Hand und führte sie in ein kleines, anstoßendes Cabinet. Er deutete auf ein großes, aber sehr dünnes rothes Tuch und sagte: »Jetzt legen Sie Ihre Bekleidung vollständig ab; hören Sie, vollständig! Dann hüllen Sie sich in dieses Tuch. In fünf Minuten können Sie fertig sein.«
Sie warf ihm einen Blick zu, wie der Vogel die Schlange anblicken würde, von welcher er verschlungen werden soll, und fragte leise: »Und nachher?«
»Nachher hole ich Sie ab und gebe Ihnen die für das Bild geeignete Stellung.«
»Im Tuche?«
»Nein. Das nehmen wir fort.«
Er ließ sie allein. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte:
»Gott wird helfen, hat Max gesagt. Was wird er sprechen, wenn er erfährt, was ich hier gethan habe! Wird er es mir verzeihen? Und Gott, der mich hier sieht, kann er wollen, daß ich mir durch solche Schande Hilfe suche, oder hat er die Barmherzigkeit, uns auf andere Weise aus der Noth und Sorge zu befreien? Ich will niederknieen; ja, ich will beten. Gott mag mich erleuchten!«
Die Tänzerin kleidete sich im Atelier an. Als sie fertig war, sagte sie leise zu dem Balletmeister:
»Ich möchte gern sehen, wie sich die Kleine benimmt. Geht das an?«
»Warum nicht? Sie bleiben einfach hier.«
»Aber da wird sie sich vielleicht doppelt scheuen!«
»Gerade das Gegentheil. Sie hat gesehen, daß Sie nicht prüde sind. Ihre Gegenwart wird ihr also eher Muth verleihen als ihr denselben rauben.«
»Hm! Ich bezweifle es. Ich werde jetzt laut Abschied nehmen; aber nicht gehen, sondern mich dort hinter jener Staffelei verstecken.«
»Meinetwegen auch!«
»So, fertig!« sagte also nun die Leda laut. »Soll ich Ihnen melden, wenn ich wieder Zeit habe?«
»Ich bitte Sie darum!«
»Dann entlassen Sie mich jetzt! Ich wünsche, daß die Psyche Ihnen ebenso gelingen möge wie die Medea. Leben Sie wohl, Herr Balletmeister!«
»Besten Dank und meine Empfehlung, Mademoiselle!«
Sie ging lauten Schrittes nach der Thüre, öffnete dieselbe, zog sie aber sogleich wieder zu und schlich sich leise hinter die Staffelei. Nach einiger Zeit fragte der Maler laut: »Sind sie fertig, Fräulein Holm?«
»Nein,« antwortete es drin.
»Bitte, sputen Sie sich!«
Es vergingen wieder über fünf Minuten; da wiederholte er seine Frage:
»Sind Sie zu Ende?«
»Ja.«
»So kommen Sie heraus!«
Die Thür wurde geöffnet. Der Maler trat ihr in gespannter Erwartung entgegen, blieb aber enttäuscht stehen. Sie war noch – – vollständig angekleidet.
»Was soll das heißen?« fragte er entrüstet. »Halten Sie mich etwa für Ihren Narren?«
Sie war leichenblaß. In ihrem Gesichte schien sich kein Tropfen Blut mehr zu befinden.
»Ich kann nicht,« hauchte sie.
»Larifari!«
»Nein, es geht nicht. Ich müßte sterben. Und wenn ich es überlebte, so müßte ich dann doch in’s Wasser springen.«
»Ich denke, Sie brauchen so nöthig Geld!«
»Ja, sehr nöthig.«
»Nun, hier können Sie es sich leicht und schnell verdienen.«
»Gott wird helfen!«
»Glauben Sie das nicht. Die Legenden von den Engeln, welche auf die Erde kommen, um die Menschen aus Noth und Trübsal zu befreien, sind Dichtung, aber keine Wahrheit. Es giebt keine Engel.«
»So giebt es gute Menschen.«
»Unsinn! Kein Mensch wird Ihnen Geld geben, bevor Sie es verdient haben. Ziehen Sie sich aus!«
»Ich kann nicht! Lieber lasse ich das Leben!«
»O sancta simplicitas – o heilige Dummheit!«
So erklang es hinter der Staffelei hervor, und die Tänzerin verließ ihr Versteck. Hildas Augen leuchteten zornig auf. Sie sagte: »Sie wollten mich beobachten!«
»Ja freilich, liebe Kleine.«
»Sie thaten, als ob Sie fortgingen!«
»Das war eine Kriegslist.«
»Nein, das war Betrug!«
»Brause hier nicht auf, Kleine; Du kommst an die unrechte Adresse. Schäme Dich vielmehr über Deine alberne Zimperlichkeit. Kein kluges Mädchen wird heut zu Tage sich bedenken, sich auf eine so leichte und mühelose Weise Geld zu verdienen!«
»Wie kommst Du denn auf einmal zu dieser Entsagung? Vorhin sagtest Du, daß Du Geld so sehr nöthig hättest! Was sollst Du denn hier thun? Was wird von Dir verlangt? Nichts, gar nichts! Kein Mensch wird Dich berühren. Kein Mensch wird davon erfahren. Tausende haben es ohne Scheu gemacht und haben dann Grafen und Barone geheirathet!«
»Das ist wahr,« fiel der Maler ein. »Manches Modell ist berühmt geworden und hat sein Glück gemacht. Zieren Sie sich nicht länger. Ziehen Sie sich aus!«
Er faßte sie am Arme und wollte sie nach dem Cabinet führen. Sie aber entzog sich ihm.
»Lassen Sie mich!« bat sie. »Es ist mir unmöglich!«
Da trat die Tänzerin näher. Sie blickte zornig auf das brave Mädchen und sagte:
»Geben Sie doch keine solchen guten Worte, Herr Balletmeister! Es fragt sich, hat sie Modell sitzen wollen?«
»Ja,« antwortete er.
»Es wurde auch das Honorar stipulirt?«
»Ja.«
»So hat sie Wort zu halten, und thut sie das nicht freiwillig, so haben Sie das Recht, sie zu zwingen.«
Da leuchteten auch Hilda’s Augen zornig auf.
»Wer will mich zwingen?« fragte sie.
»Wir! Ich!« antwortete die Tänzerin.
»Versuchen Sie es!«
Es war eine feste Entschlossenheit über sie gekommen. Sie hatte erkannt, was sie als ihr höchstes und kostbarstes Gut zu hüten habe, und war gewillt, diesen Schatz auf’s Äußerste zu vertheidigen.
»Oho! Diese kleine Mücke will stechen! Ich habe Modell gesessen, ohne bezahlt zu werden. Will die Schneidermamsell etwa etwas Besseres sein, als ich? Herunter mit den Fetzen, sage ich!«
Sie griff zu und riß Hilda den Hut vom Kopfe. Da ballte diese in höchster Erregung ihre kleinen Fäustchen und rief drohend: »Wagen Sie weiter nichts, Sie Unverschämte! Ich werde mich zu vertheidigen wissen!«
Der Maler blieb stiller Zuschauer. Er wollte seinerseits jeden Gewaltact vermeiden, aber auch nicht auf das famose Modell verzichten.
»Was bin ich? Was?« schrie die Tänzerin auf. »Eine Unverschämte? Warte, Würmchen, jetzt werde ich Dich zertreten!«
Sie sprang auf Hilda zu. Diese hatte in ihrer Angst ihr Augenmerk auf einen großen Farbentopf geworfen, welcher neben ihr auf der Treppenleiter stand. Im Nu hatte sie diesen Topf ergriffen und der Angreiferin in das Gesicht geworfen.
Diese erhob ein entsetzliches Geschrei. Sie konnte nicht aus den Augen sehen; ihr Gesicht war nicht zu erkennen, und die Farbe troff auf ihren Anzug hernieder. In ihrer Wuth wollte sie Hilda dennoch fassen. Sie that einen wahren Tigersprung, hatte sich aber, da sie geblendet war, in der Richtung versehen und sprang in die Staffelei hinein, riß dieselbe mit dem Bilde der Medea um, stürzte selbst zu Boden, wo eine ganze Menge von Düten mit trockenen, und Flaschen, Gläser, Büchsen und Töpfe mit nassen Farben lagen und standen, und wälzte sich, ohne augenblicklich wieder aufkommen zu können, in diesem Chaos von allen möglichen und unmöglichen Couleuren herum.
Der Maler geriet bei dieser Verwirrung und dieser Verwüstung ganz außer sich. Er griff zu, um zu retten. Unglücklicher Weise aber bekam die Tänzerin zufällig seinen Arm in ihre Hände. Sie hielt ihn krampfhaft fest, und in dem Bestreben, sich an ihm aufzurichten, zog sie den Tanz-und Farbenkünstler mit in das in allen Färbungen schillernde Verderben hinein.
Sie schien zu glauben, ihre Feindin gefaßt zu haben, und bearbeitete den armen Ballettisten nun mit einer Energie, gegen welche Widerstand ganz und gar vergeblich war. Die nassen Farben spritzten und die trockenen stäubten empor. Nach wenigen Augenblicken hatte Herr ›Arthur‹ Gesicht und Augen so voll, daß auch er nichts mehr zu sehen vermochte.
Da packte ihn eine grimmige Wuth. Er nahm alle seine Kräfte zusammen und gab seiner Freundin nun Alles, was er bisher von ihr bekommen hatte, mit hohen Zinsen zurück. Beide brüllten, schrieen, quiekten, schnaubten, stampften, pusteten, husteten, niesten, schlugen und bissen auf einander ein. Es war ein Anblick zum Entsetzen, aber auch zum Todtlachen.
Hilda war zunächst ganz bestürzt über die Folgen ihres Vertheidigungsschusses.
Dann wollte sie den Beiden auseinander helfen, sah aber ein, das sie sich dann nur selbst in Gefahr begebe. Sie beschloß zu fliehen. Was hatte sie zu erwarten, wenn die Beiden wieder auf die Füße und in den Besitz des Sehvermögens kamen?
Sie raffte also ihren, glücklicher Weise nicht beschädigten Hut vom Boden auf und eilte dem Ausgange zu. Weiter aber kam sie nicht; denn die Thür öffnete sich.
Die Balletmeisterin trat ein und hinter ihr eine junge, schwarz gekleidete Dame von vornehmer Haltung.
Kurz vorher nämlich hatte es am Eingange geklingelt, und als die Balletmeisterin nachschaute, stand diese vornehme Dame am Eingange.
»Was wünschen Sie?« fragte sie.
»Ist der Herr Balletmeister zu sprechen?«
»Sie meinen den Herrn Balletmeister und Kunstmaler, meinen Mann?«
»Ja, jedenfalls.«
»Er wird wohl kaum zu sprechen sein.«
»Kann er sich nicht für einen Augenblick frei machen?«
»Glaube schwerlich. Er malt Modells, nämlich eine Medea und eine Psyche.«
»Zu gleicher Zeit?«
»Nein, sondern hinter einander.«
»Das muß interessant sein: eine Psyche hinter der Medea, oder auch umgekehrt.«
»O, mein Mann bringt das schon fertig! Was wollen Sie denn jetzt von ihm?«
»Ich habe mich ihm vorzustellen. Ich heiße Ellen Starton.«
»Was? Die amerikanische Tänzerin?«
»Ja, Madame.«
»O, da werden Sie nicht abgewiesen! Sie werden Ihre Collegin bei ihm finden, nämlich Mademoiselle Leda.«
Sie schritt voran und Ellen folgte ihr. Da drang ihnen ein unerklärlicher Scandal entgegen. Sie eilten schnell vorwärts, öffneten die Thür und erblickten nun die ganze farbenreiche Christbescheerung.
Die Frau des Balletmeisters konnte den Vorgang zwar nicht begreifen, aber sie sah ihren Mann im Kampfe mit der Tänzerin. Sie eilte auf Beide zu, schlug, um ihrem »Arthur« zu helfen, auf seine Gegnerin ein, wurde aber von vier Armen gepackt, niedergerissen, in der Brühe hin-und hergewälzt und erhielt nun von zwei Seiten vollwichtige Prügel.
»Um Gotteswillen, was ist geschehen?« fragte die fremde Dame die vor Aufregung zitternde Hilda.
»Ach, retten Sie mich! Sie wollen mich zwingen, Modell zu sitzen. Ich will lieber sterben!«
»Sie armes Kind! Ist das der Balletmeister?«
»Ja.«
»Und ist dieses Frauenzimmer die Tänzerin Leda?«
»Ich weiß es nicht. Wir wollen gehen!«
»Nein. Bleiben Sie! Kein Mensch soll Ihnen ein Leid zufügen. Sie stehen unter meinem Schutze. Aber, wie bringen wir die Balgenden auseinander?«
Sie wollte der sich am Boden wälzenden Gruppe näher treten; allein Hilda hielt sie am Arme fest und sagte in angstvollem Tone: »Nein, nein, gehen Sie nicht hin, Fräulein! Sie werden doch nur in den Streit verwickelt!«
»Sie mögen Recht haben. Setzen wir uns, um einfach als Zuschauer abzuwarten, bis dieser interessante Knäuel sich entwirrt hat.«
Die Beiden zogen sich in eine sichere Ecke zurück, in welcher sie zwei Plätze fanden, wo sie hoffen konnten, in die Balgerei nicht verwickelt zu werden.
Dieselbe schien überhaupt sich jetzt ihrem Ende zu nähern. Die Balletmeisterin hatte ihre kreischende Stimme mit solcher Macht erhoben, daß ihr Mann jetzt erkennen mußte, er habe seine eigene andere Hälfte mit denjenigen Faustschlägen tractirt, welche der Tänzerin gegolten hatten.
»Aurora!« rief er aus. »Bist Du es denn?«
»Natürlich!« antwortete sie. »Was trommelst Du denn auf mich hinein?«
»Ich kann Dich ja nicht sehen, mein Liebling!«
»So laß mich nur wenigstens frei!«
»Gut! Hier! Aber nun hilf auch mir mit los!«
»Gleich, gleich!«
Sie faßte die Tänzerin mit solchem Nachdrucke bei der Kehle, daß diese ihre Hände von dem Tanzmeister nahm.
»Gott sei Dank!« ächzte dieser. »Ich athme wieder auf!«
Er raffte sich vom Boden auf, und auch die beiden Damen thaten dasselbe.
»Welch eine Unverschämtheit!« stöhnte die Tänzerin. »Ueber mich herzufallen wie ein Räuber, wie ein Wilder!«
»Sie selbst waren schuld!« vertheidigte er sich. »Ich wollte Sie aufheben. Sie aber schlugen sogleich auf mich ein.«
»Ich dachte, dieses Frauenzimmer, die Nähmamsell, vor mir zu haben. Wo ist sie denn?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann ja nicht sehen!«
»Ich auch nicht.«
»Und auch ich nicht!«
So standen diese Drei jetzt beisammen und rieben sich die Augen. Da fiel dem Balletmeister die zunächst liegende Hilfe ein. Er sagte: »In der Ecke am Fenster haben wir ja Wasser und auch das Handtuch.«
Sie begaben oder vielmehr tappten sich nach der angegebenen Ecke, um am Waschtische den Versuch zu machen, wenigstens zunächst die Augen frei zu bekommen. Sie verzichteten zunächst auf jede mündliche Auseinandersetzung und gaben sich nur dieser einzigen Bemühung hin. Herr »Arthur« war der Erste, welcher den Gebrauch des Sehens wieder erlangte. Sein Blick fiel auf die Umgebung.
»Herr, mein Heiland!« sagte er. »Welch eine Bescheerung ist da angerichtet worden!«
Seine Frau blinzelte an sich hernieder und jammerte:
»Und mein Kleid, mein Anzug! Meine ganze Toilette ist hin, ist verdorben!«
Die Tänzerin rieb sich mit dem Handtuche die Farbe im Gesichte breit und versuchte, die zusammengekleisterten Augenlider auseinander zu ziehen. Es gelang ihr so leidlich.