Drittes Kapitel

Eine Tau-ma

Als Werner, der Theaterdiener, Max Holm verlassen hatte, war er zu dem Theaterarchivar gegangen, um sich von ihm die Partitur zur ›Königin der Nacht‹ geben zu lassen, und hatte diese zu dem Capellmeister getragen. Dann war er nach Hause zurückgekehrt, freudigen Herzens über die Summe, welche er von Holm geliehen erhalten hatte.

Auch er wohnte in einem Hinterhause. Sein ärmliches Logis lag gar vier Treppen hoch, und zwar so, daß die Fenster desselben nach dem Hofe gingen.

Er hatte unterwegs einige Nahrungsmittel eingekauft und freute sich über die frohen Gesichter, welche beim Anblicke des Brodes und der Wurst zu erwarten waren.

Aber als er die letzte Stiege hinter sich hatte, tönte ihm ein lautes mehrstimmiges Jammern und Klagen entgegen. Er blieb stehen und horchte. Es war kein Zweifel, die Töne, welche er hörte, kamen aus seiner eigenen Wohnung.

»Herrgott, was ist da los! Was wird da einmal wieder geschehen sein!« flüsterte er erschrocken. »Nimmt denn das Elend nie ein Ende?« fügte er bestürzt hinzu.

Er öffnete die Thür. Das kleine Zimmer war voller Menschen, welche, außer Zweien, aber Alle zur Familie gehörten. Ein fürchterlicher Duft, ja geradezu Gestank herrschte in dem Raume. Er war so stark, daß man trotz der Kälte ein Fenster geöffnet hatte, und kam von der weiblichen Gestalt, welche mit vollständig verhülltem Gesichte auf einem hölzernen Schemel in der Ecke hockte.

Die Zwei, welche nicht zur Familie gehörten, standen in der Mitte der Stube. Sie trugen Uniformen. Der Eine hatte einen langen Zettel in der Hand und der Andere einen kleinen Blechkasten, dessen Inhalt man nicht sehen konnte.

Die kleineren Kinder weinten laut. Eine erwachsene Tochter verhandelte mit den zwei Beamten.

Sie hatte ein bleiches aber sehr regelmäßig geschnittenes Gesicht und eine hohe, volle Gestalt. Hätte nicht die Sorge in der armen Wohnung ihre Hütte aufgeschlagen gehabt, so wäre dieses Mädchen jedenfalls eine große, sogar eine üppige Schönheit gewesen.

Als der Theaterdiener eintrat und die Beiden erblickte, blieb er erschrocken stehen.

»Guten Tag, meine Herren,« stammelte er.

»Guten Tag,« antwortete der Eine. »Wer sind Sie?«

»Ich heiße Werner.«

»Also Derjenige, zu dem wir wollen. Hier, lesen Sie!«

Er gab ihm den Zettel. Werner versuchte, zu lesen, aber die Augen gingen ihm über.

»Zweiunddreißig Gulden,« sagte der Beamte.

»Mein Gott! So viel!« stammelte Werner.

»Ja, es summirt sich.«

»Das hätte ich nicht gedacht.«

»Nicht? Na, mein Bester, Einkommensteuer, Kirchen-und Schulanlagen, städtische Abgaben, da sind bald zweiunddreißig Gulden fertig, wenn man mehrere Termine nicht bezahlt!«

»Wann soll ich denn zahlen?«

»Sofort natürlich!«

»So viel habe ich nicht.«

»Dann müssen wir pfänden.«

»Herrgott! Ich habe doch um Nachsicht gebeten!«

»Ja. Sie waren beim Herrn Oberbürgermeister.«

»Er versprach mir, ein gutes Wort für mich einzulegen.«

»Das hat er auch gethan.«

»So wird man mich doch nicht auspfänden?«

»Das Fürwort hat nichts geholfen. Es ist in der Rathssitzung über sämmtliche Restanten entschieden worden. Sie beziehen ein festes Gehalt und wissen also ganz genau, wie Sie zu rechnen haben.«

»Aber sehen Sie diese zahlreiche Familie!«

Der Mann zuckte die Achseln.

»Und diese Kranke!«

»Es ist freilich schlimm! Aber wie soll die Stadt bestehen, wenn Niemand die Steuern bezahlt?«

»Man könnte doch Geduld haben.«

»Dann wird die Schuld immer größer. Können Sie später bezahlen?« Werner blickte düster zu Boden und schwieg.

»Sehen Sie, Sie haben keine Antwort. Es ist Ihnen die Entscheidung des Rathes zugegangen. Sie mußten wissen, daß es nur noch Zweierlei gab: Zahlung oder Pfändung.«

»Ich konnte diese Summe nicht zusammenbringen.«

»Dann dürfen Sie sich nur an den Vorsteher des Armenwesens wenden.«

»Gott bewahre mich!«

»Warum denn?«

»Der würde mich in’s Armenhaus schicken.«

»Sie haben es hier noch schlimmer wie im Armenhaus. Ist das dort Ihre Frau?«

»Ja.«

»Was fehlt ihr?«

»Sie hat Gesichtskrebs.«

»Donnerwetter! Warum thun Sie sie nicht in eine Klinik?«

»Das kostet Geld.«

»Dann in das städtische Krankenhaus, Abtheilung für Stadtarme.«

»Sie will nicht. Sie fürchtet sich vor dem Armenarzt.«

»Bezahlen Sie denn den Hauszins?«

»Ja,« antwortete Werner unsicher.

»Hm! Duldet denn der Wirth diese Krankheit in seinem Hause? Eigentlich muß die Kranke fort. Ich sage muß, muß! Die Angelegenheit ist der Wohlfahrtspolizei zu melden, welche das Weitere zu verfügen hat.«

»Ich bitte Sie, um Gottes willen, das nicht zu thun, meine Herren!«

»Nun, ich wollte Ihnen nur einige Andeutungen geben, damit Sie Ihre Lage nicht verkennen. Eine solche Krankheit kann nur dann ignorirt werden, wenn Sie Ihre Steuern bezahlen und auch allen Ihren anderen Verpflichtungen pünctlich nachkommen. Anderenfalls aber hat das Armencomitee die Angelegenheit in die Hand zu nehmen. Für heute habe ich Sie zu fragen, ob Sie die hier angegebene Summe bezahlen können.«

»Nein.«

»Dann müssen wir pfänden.«

Die Kinder verfielen abermals in ein lautes Weinen. Der Vater beruhigte sie durch einige Worte und sagte dann zu den Beamten: »Meine Herren, nehmen Sie, was Sie nehmen können!«

»Zeigen Sie uns Alles, was Sie haben.«

Dies geschah. Die Beamten hatten ein Herz für die Armuth, welche ihnen hier aus allen Winkeln engegengrinste. Sie hätten wohl Einiges gefunden, welches mitzunehmen war; aber der Eine sagte: »Wir haben einen schweren Beruf, Herr Werner. Wir müssen unsere Pflicht thun und wollen doch nicht gern den Elenden noch elender machen. Zu sagen, daß sie gar nichts haben, das geht absolut nicht. Etwas müssen wir pfänden; aber was denn?«

Er blickte sich abermals in der Stube um. Dann sagte er:

»Da hängt die alte Wanduhr. Die wollen wir nehmen.«

»O nein, nein!« bat Werner.

»Warum nicht?«

»Es ist ein Andenken an meine Eltern, das Einzige, was ich noch von ihnen habe.«

»Sie ist nicht zwanzig Kreuzer werth.«

»Das weiß ich; aber dennoch ist sie uns Allen an das Herz gewachsen. Dürfen Sie denn die Uhr pfänden?«

»Das Gesetz sagt, daß jede Familie eine Uhr haben darf. Aber Sie haben ja die Thurmuhr da grad vor dem Fenster.«

»Die sehen wir des Abends nicht.«

»Ich sagte bereits, daß wir unbedingt Etwas pfänden müssen. Sonst kommen Sie in die Gefahr, daß man Sie in das Armenhaus schickt.«

»Welch ein Elend!«

»Na, ich meine es gut mit Ihnen. Geben Sie mir die Uhr mit. Sie wird verauctionirt, und da bietet sicher Niemand darauf. Sie können sie dann leicht erstehen.«

»Muß es denn sein?«

»Wollen Sie in’s Armenhaus?«

»Gut, nehmen Sie die Uhr! Ich trenne mich schwer von ihr, aber es muß ja sein.«

»Ich verspreche Ihnen, Sie zu benachrichtigen, wenn die Auction stattfinden wird.«

Er nahm die Uhr von der Wand und entfernte sich dann mit seinem Collegen.

»Wir erstehen sie wieder,« tröstete Werner seine Kinder, denen die Anwesenheit der Uniformen Angst gemacht hatte.

»Es ist gut abgelaufen,« sagte das vorhin beschriebene Mädchen. »Das waren zwei brave Menschen. Ich dachte, sie würden Alles, Alles nehmen!«

»Das geht nicht, liebe Emilie. Es giebt auch zum Schutze der Armuth Gesetze. Nicht Alles darf gepfändet werden.«

»Sie fragten nach Geld. Wie gut, daß wir keins haben.«

»Du lächelst dabei so trübe. Emilie, wir haben Geld.«

»Geld? Wo denn?«

»Hier.«

Er griff in die Tasche und leerte seinen Beutel. Sämmtliche Glieder der Familie kamen herbei, um sich an diesem Anblicke zu weiden.

»Und hier habt Ihr zu essen.«

Er hatte das Päcktchen, welches die Eßwaaren enthielt, bei seinem Eintritte auf einen neben der Thür stehenden Stuhl gelegt. Jetzt holte er es herbei. Beim Anblicke des Brodes jubelten die Kleinen laut auf. Er nahm das Messer und begann, auszutheilen.

Alle aßen, nur Emilie nicht. Sie hatte sich wieder an ihre Arbeit gesetzt.

»Hast Du keinen Hunger?« fragte er.

»Nein,« antwortete sie.

Er wußte, seit wann sie nichts gegessen hatte; er war überzeugt, daß sie hungere.

»Emilie!« bat er.

Sie hob den feuchten Blick zu ihm auf und sagte halblaut:

»Vater, woher nehmen wir die zweiunddreißig Gulden?«

»Denke jetzt nicht daran. Iß lieber!«

»Ich kann nicht, von wem hast Du das Geld?«

»Von Herrn Holm.«

»Er hat es Dir geborgt?«

»Ja.«

»Der Gute! Du warst ihm doch noch schuldig!«

»Er bot mir dennoch das Geld an, anstatt mich zu mahnen.«

»Wie lange wird es reichen! Und dann –!«

Sie wendete sich ab, um zu verbergen, daß einige Tropfen aus ihren Augen niederfielen.

»Gott wird helfen!«

»Meinst Du, daß Gulden vom Himmel fallen? Gott, wenn nur meine Arbeit besser lohnte! Das Armenhaus!«

Sie schüttelte sich.

Da klopfte es an die Thür, und ohne abzuwarten, bis er dazu aufgefordert werde, trat ein langer, hagerer Mann herein. Sein Gesicht war voller Falten, und sein Blick war scharf, spitz und unstät wie derjenige eines Raubvogels.

»Guten Tag!« grüßte er.

»Guten Tag!« antwortete Werner, während Emilie sich abwendete, ohne zu danken.

»Wie geht’s? Wie steht’s?« fragte der Mann. »Puh, welch ein Geruch! Macht doch noch ein Fenster auf!«

»Es ist zu kalt, Herr Solbrig.«

»Aber der Geruch infiscirt mir die ganze Wohnung!«

»Wir werden räuchern!«

»Wohl mit Weihrauch und Myrrhen?« fragte Solbrig mit schlecht verhehlter Ironie.

»Nein, sondern mit Wacholderbeeren. Zu Weihrauch und Myrrhen haben wir kein Geld.«

»Nicht? Das bringt mich auf die Ursache, welche mich zu Ihnen führt. Ich stand vorhin oben an meinem Fenster und sah Jemand über den Hof gehen. Es waren zwei Männer. Sie hatten Besuch, Herr Werner?«

»Ja. Die beiden Steueramtsdiener?«

»Was wollten sie?«

»Ich hatte einige Abgaben zu bezahlen.«

»Haben Sie bezahlt?«

Werner hustete verlegen vor sich hin.

»Nicht?« fuhr Solbrig fort. »Ich dachte es, weil sie Ihnen die Uhr genommen hatten.«

»Ich löse sie wieder ein.«

»Schön! Ein solch altes Erbstück läßt man nicht gern fahren. Aber, bester Herr Werner, gestern schrieb mir der Herr Rath. Er fragte mich, ob ich mich denn gar nicht auf meine Pflicht besinne.«

Er hielt inne und blickte Werner lauernd an. Als dieser nichts erwiderte, fuhr er fort:

»Wissen Sie, was er meinte?«

»Nein.«

»Das wundert mich. Sie sollten es doch am allerbesten wissen!«

»Sie meinen die rückständige Miethe?«

»Ja. Der Herr Rath ist Besitzer des Hauses. Ich bin sein Administrator. Ich habe den Hauszins zu cassiren und einzusenden. Von Ihnen erhielt ich seit zwei Vierteljahren nichts. Wissen Sie, was der Herr Rath weiter schreibt?«

»Nein.«

»Er sagt, daß er mir die Administration entziehen werde, wenn ich nicht binnen drei Tagen diese rückständige Miethe einsende.«

»Er wird gescherzt haben!«

»Gescherzt? Wo denken Sie hin! Es ist sein Ernst. Nun sah ich, daß Sie ausgepfändet worden sind. Natürlich mußte ich sogleich zu Ihnen gehen. Sie haben doch den Steueramtsdienern kein Geld gegeben?«

»Nein.«

»Das freut mich, denn da können Sie mich bezahlen. Miethzins geht noch über Einkommens-und städtische Steuer. Ich habe die Quittung gleich mitgebracht. Hier ist sie, lieber Herr Werner!«

Er hielt ihm das Papier hin. Aus den Falten seines Gesichtes glänzte geheuchelte Freundlichkeit hervor. Er wußte sehr gut, daß er kein Geld erhalten werde. Er hatte vom Wirthe keinen Brief erhalten. Er wollte nur den Zweck erreichen, den er bereits seit langer Zeit verfolgte.

»Nun, greifen Sie zu!« sagte er, als Werner zögerte.

»Ich kann nicht, Herr Solbrig.«

»Warum nicht?«

»Ich kann die Quittung nicht nehmen, weil ich heute nicht bei Gelde bin.«

»Nicht?« fragte der Administrator im Tone des Erstaunens.

»Nein.«

Solbrig blickte ihn forschend an, lachte dann kurz auf, schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich dachte nicht, daß Sie so ein Spaßvogel sind!«

»O, ich scherze leider nicht!«

»Papperlapapp! Sie und kein Geld! Das kann doch gar nicht vorkommen! Ich hätte Ihnen sonst ja gar keinen Credit geben dürfen!«

»Dann bedaure ich, daß Sie sich in meinen Verhältnissen so sehr geirrt haben!«

»Sie fahren fort, zu spaßen? Mein bester Herr Werner, Sie beziehen doch Ihr Fixum!«

»Aber was für eins!«

»Diese massigen Trinkgelder!«

»Wirklich massig!«

»Bezahlung der Theaterzettel, Leihgelder für Operngucker!«

»Das beziehen die Logenschließer.«

»Ihr Einkommen ist ein gutes!«

»Bitte, bitte, Herr Solbrig, verhöhnen Sie mich nicht!«

»Verhöhnen? Ich spreche ja in aller Aufrichtigkeit!«

Werner runzelte die Stirn und entgegnete:

»Ich weiß, daß Sie meine Lage kennen. Sie wissen, wie zahlreich meine Familie ist und welche Opfer die Krankheit meiner Frau erfordert.«

Da zog der Administrator die Brauen empor, trat einen Schritt zurück und sagte:

»O weh! Also ist es wahr, was ich gehört habe!«

»Was haben Sie gehört?«

»Daß Sie nichts, gar nichts besitzen!«

»Man hat Ihnen so ziemlich die Wahrheit gesagt. Ich besitze nichts als diese vielen Köpfe, diese wenigen Sachen und ein gutes Gewissen.«

»Aber der Hauszins, der Hauszins!«

»Ich kann nicht anders; ich muß Sie noch für einige Zeit um Nachsicht ersuchen.«

»Das geht nicht. Ich habe Ihnen ja gesagt, was der Herr Rath mir geschrieben hat!«

»Ich bin überzeugt, daß er sich noch gedulden wird, wenn Sie ihm meine Lage richtig vorstellen.«

»Das darf ich gar nicht wagen! Sie haben ja gehört, daß er mir die Administration entziehen wird. Ich habe bereits mehr gethan, als ich verantworten kann. Wüßte er, daß sich eine Krebskranke in seinem Hause befindet, es ginge mir schlecht. Eigentlich muß ich es der Wohlfahrtspolizei melden.«

»Das werden Sie uns doch nicht anthun, Herr Solbrig.«

»Hm! Es ist meine Pflicht! Was habe ich denn davon, wenn ich Nachsicht übe? Nur Schaden!«

»Vielleicht glückt es mir, Ihnen einmal dankbar sein zu können!«

»Sie? Mir?«

»Ja. Ich würde es sehr gern thun.«

»Hm! Wenn ich wüßte, daß dies Ihr Ernst ist –«

»Er ist es.«

»Nun, dann läßt sich diese Angelegenheit vielleicht arrangiren, mein bester Herr Werner.«

»Sie meinen, daß mir der Miethzins noch gestundet würde?«

»Gestundet nicht. Einschicken muß ich ihn. Aber ich könnte Ihnen den Betrag vorschießen.«

»Sie? Mir vorschießen?« entfuhr es Werner.

Er wußte, daß der Administrator ein ausgesprochener Geizhals war. Alle Bewohner des Hauses wußten dasselbe.

»Ja, ich borge Ihnen das Geld, und zwar ohne Zinsen.«

Werner streckte ihm die Hand entgegen und sagte mit einer in freudiger Bewegung erzitternden Stimme: »Das vergelte Ihnen Gott, Herr Solbrig! Ich werde es Ihnen niemals vergessen!«

»Schon gut!« lächelte der Administrator. »Ich werde auch mit dafür sorgen, daß Ihre Frau in gute ärztliche Behandlung kommt. Das ist ihr so nöthig.«

Diese große Güte kam dem Theaterdiener doch etwas verdächtig vor. Er sah Solbrig fragend an.

»Zweifeln Sie daran?« fragte dieser.

»Ich weiß nicht, womit ich diese Freundlichkeit verdiene.«

»Na, verdient haben Sie dieselbe wohl noch nicht, aber ich denke, daß Sie mir einen Wunsch erfüllen werden.«

»Gern wenn ich kann.«

»Geben Sie mir die Hand darauf!«

Er streckte Werner die Hand entgegen; dieser aber sagte:

»Erst muß ich wissen, ob ich wirklich kann.«

»Sie können!«

»Was ist es?«

»Nun, Sie wissen, daß mir meine Frau gestorben ist –«

»Das war vor drei Jahren.«

»Ich habe bisher als Junggeselle gelebt. Das ist höchst unbequem und unbehaglich.«

»Sie müssen wieder heirathen.«

»Heirathen? O nein. Das ist nicht gerade nothwendig. Aber ich will mir eine Person hinnehmen, welche mir die Wirthschaft versorgt und in Ordnung hält.«

»Also eine Wirthschafterin?«

»Ja.«

»Man muß sich sehr bedenken, ehe man seine Wirthschaft einer fremden Person anvertraut!«

»Oh, sie ist nicht fremd.«

»Ah, Sie haben bereits Jemand im Sinne?«

»Ja.«

»Jedenfalls eine Wittfrau, Ihrem Alter angemessen?«

»Was nennen Sie überhaupt alt? Und was hat das Alter mit dieser Angelegenheit zu thun? Wollte ich heirathen, so kämen die Jahre in Betracht. Da ich aber nur eine Haushälterin brauche, so werde ich doch nicht etwa eine alte und gar schwächliche Person auswählen. Nein, die ich meine, ist ein junges Mädchen.«

»Ach so!«

»Ja. Und Ihnen kann das auch lieb sein.«

»Mir? Wieso?«

»Sie haben dann einen Esser weniger.«

Werner machte ein sehr überraschtes Gesicht.

»Sapperlot!« sagte er. »Verstehe ich Sie recht?«

»Jedenfalls. Meine Haushälterin habe ich mir aus Ihrer Familie ausgewählt.«

»So, so! Wer ist es denn?«

»Die Emilie da.«

»Die Emilie! Ihre Haushälterin!« meinte Werner, der diesen Gedanken ebenso sonderbar wie bedenklich fand.

»Ja.«

»Wie kommen Sie denn auf diesen Gedanken?«

»Sehr einfach: Die Emilie ist jung, gesund und arbeitsam. Das ist es gerade, was ich verlange.«

»Das thut mir leid. Ich kann sie nicht entbehren.«

»Warum nicht?«

»Sie muß arbeiten und verdienen.«

»Bei mir würde sie mehr verdienen. Ich gebe ihr einen sehr guten Lohn. Und was sie nebenbei verdient, das ist ja auch ihres.«

»Hm! Sie meinen, daß sie täglich zu gewisser Zeit zu Ihnen komme, also, daß sie Ihre Aufwartung sein solle?«

»Nein. Sie soll bei mir wohnen.«

»Sapperment! Das geht nicht!«

»Warum nicht?«

»Meine Tochter bei einem ledigen Manne? Wo denken Sie hin!«

»Unsinn! Kein Mensch fragt darnach, ob ich ledig bin oder nicht. Sie geben mir die Emilie, ich zahle ihr den Lohn und borge Ihnen die Miethe. Hier meine Hand! Abgemacht! Schlagen Sie ein!«

»Geduld, Geduld! Ich weiß doch gar nicht, was Emilie dazu sagt.«

»Was soll sie dazu sagen? Sie wird natürlich mit der Veränderung ihrer Lage sehr zufrieden sein. Nicht wahr?«

Er richtete diese letztere Frage an Werners Tochter.

Er näherte sich ihr dabei und legte ihr die Hand wie liebkosend auf die Schulter. Sie bewegte schnell die Achsel, um diese Hand von sich abzuwehren, antwortete aber nicht.

»Nun, Emilie?« fragte ihr Vater.

»Ich bleibe bei Dir,« antwortete sie.

»Du willst Dich nicht vermiethen?«

»Nein.«

»Halt! Nicht so schnell!« warnte Solbrig. »Eine so wichtige Angelegenheit will reiflich überlegt sein. Sie werden es bei mir sehr gut haben!«

»Ich danke,« sagte Emilie.

»Ich werde Ihnen Bedenkzeit geben!«

»Ich brauche keine Bedenkzeit. Meine Ansicht kennen Sie bereits, Herr Solbrig. Ich vermiethe mich nicht, wenigstens nicht an Sie!«

Sie sagte ihm das ernst und offen in das Gesicht. Ihr Vater stand dabei und wußte nicht, wie er sich das zu erklären habe. Solbrig aber zeigte ein kaltes, selbstbewußtes und überlegenes Lächeln. Er sagte: »Sprechen Sie nicht so rasch, Emilie. Ich bin überzeugt, daß Sie doch zu mir ziehen werden.«

»Niemals!«

Da schoß aus seinem Auge ein drohender Blitz auf sie hernieder. Er sagte in warnendem Tone:

»Ich denke, daß Sie sich das überlegen werden.«

»Es ist bereits überlegt!«

»Seien Sie doch vernünftig, liebes Kind!«

Er legte dabei seine Hand vertraulich abermals auf ihre Schulter und fuhr fort:

»Ich biete Ihnen doch einen hohen Lohn. Sie können Ihre Eltern unterstützen und –«

Er sprach nicht weiter. Sie war von ihrem Sitze aufgestanden, hatte sein Hand mit einer sehr energischen Bewegung von sich abgeschüttelt und sich dann in die Kammer geflüchtet, welche neben der Stube lag.

»Sapperment! Ist die resolut!« sagte ihr Vater.

»Viel Geld scheint sie zu haben, da sie meinen Vorschlag zurückweist.«

»Sie hält zu sehr auf ihre Eltern. Sie will uns nicht verlassen. Rechnen Sie ihr das nicht an, Herr Solbrig!«

»Nein, ich rechne ihr das nicht an,« antwortete der Genannte. »Aber rechnen muß ich dennoch!«

Er zog dabei ein so bedenkliches Gesicht, daß Werner fragte:

»Ueber was müssen Sie rechnen?«

»Nun, ich hatte Ihnen meine Hilfe angeboten –!«

»Ja. Ich bin Ihnen höchst dankbar dafür und hoffe, daß Sie mir sie nicht entziehen werden.«

Solbrig zuckte die Achseln und meinte:

»Diese Hoffnung ist sehr naiv.«

»Wieso?«

»Sie würden mir das Geld nicht so bald wiedergeben können. Ich hatte gerechnet, daß ich es nach und nach von dem Lohne Ihrer Tochter abziehen könnte. Sicherheit muß man haben, und in diesem Falle wäre ich sicher gewesen!«

»Sie meinen, daß Sie mir jetzt nun den Betrag nicht vorschießen können?« fragte Werner erschrocken.

»Ja, das meine ich allerdings.«

»Herr Solbrig! Das werden Sie nicht thun!«

»Gewiß werde ich es thun. Wäre Emilie auf meinen Vorschlag eingegangen, so hätte ich Ihnen helfen können. So aber ist es mir nicht möglich. Ich hätte mich auch beim Wirthe verantworten können. Erfährt er von der Krankheit Ihrer Frau, so würde er aus Rücksicht für mich Nachsicht haben. Er würde die Mutter meiner Haushälterin nicht fortjagen. Nun aber sehe ich mich gezwungen, meine Pflicht zu thun.«

»Du lieber Gott! Seien Sie doch nur nicht so hart mit uns, Herr Solbrig!«

»Ich habe Ihnen gezeigt, daß ich ein gutes Herz habe, aber Pflicht geht über Gefühl. Ich muß ihnen kündigen.«

»Herrgott!«

»Ja, und zwar gerichtlich.«

»Das werden Sie mir doch nicht anthun!«

»Ich muß es der Sicherheit halber thun. Ich muß Ihnen wegen des rückständigen Miethzinses, wegen ansteckender und abstoßender Krankheit gerichtlich kündigen. Zugleich muß ich aber auch die Wohlfahrtspolizei auf Ihre Frau aufmerksam machen. Ich werde freilich einen tüchtigen Verweis erhalten, denn ich hätte es bereits längst schon thun sollen.«

Werner erschrak. Es traten ihm die Thränen in die Augen, und als seine Kinder dies bemerkten, weinten sie sofort mit.

»Sie wollen mich ruiniren!« stieß er hervor.

»Nein, Ihre Tochter will Sie ruiniren!«

»Dann kann ich nur gleich in das Wasser gehen!«

»Ihre Tochter würde es zu verantworten haben. Sie nimmt ja die Hilfe nicht an, die ich Ihnen biete!«

»Bitte, warten Sie einen Augenblick! Ich werde einmal mit ihr sprechen!«

»Ja, thun Sie das. Vielleicht nimmt sie Verstand an.«

Werner ging in die Kammer. Dort saß Emilie auf dem Rande eines ärmlichen Bettes, den Kopf in die Hand gestützt.

»Ist er fort?« fragte sie.

»Nein. Er hat mir gedroht, daß er gerichtlich kündigen will. Ich habe nie daran gedacht, Dich zu vermiethen, aber wenn Du seinen Vorschlag angenommen hättest, so wäre uns geholfen gewesen.«

»Ich kann nicht.«

»Warum nicht.«

»Ich soll nicht seine Haushälterin sein.«

»Was denn sonst?«

Sie erröthete tief und antwortete stockend:

»Das kannst Du Dir doch denken!«

»Ah! So! Hast Du denn auch einen triftigen Grund, dies zu vermuthen?«

»Nicht nur einen, sondern viele Gründe habe ich.«

»Kann ich sie erfahren?«

»Ich brauche gar nichts Einzelnes zu sagen. Ich habe noch nie davon gesprochen; aber er hat es auf mich abgesehen. Er lauert mir auf, er geht mir nach, er macht mir Anträge –«

»Anträge? Wie? Doch nicht etwa schlechte?«

»Er hat es sogar gewagt, mir Geld zu bieten.«

»Wirklich?«

»Bereits einige Male.«

»Dann thust Du recht, daß Du nicht zu ihm ziehst. Lieber will ich zu Grunde gehen. Der liebe Gott wird helfen.«

Er kehrte nach der Stube zurück.

»Nun?« fragte Solbrig, indem seine siegessichere Miene zeigte, welche Antwort er erwarte.

»Sie will nicht.«

»Sapperment! Wirklich nicht?«

»Um keinen Preis!«

»Aber Ihr Wort muß doch auch Etwas gelten! Sie sind doch der Vater, und sie hat zu gehorchen.«

»In diesem Falle wäre es sehr unvernünftig von mir, ihr einen Zwang anzuthun.«

»Unvernünftig? Warum?«

»Weil ich ihr Recht geben muß.«

»Ah so!« dehnte Solbrig. »Vorhin noch schienen Sie ja zu wünschen, daß sie auf meinen Vorschlag eingehe!«

»Vorhin wußte ich noch nicht, was ich jetzt weiß.«

»Nun, was wissen Sie denn jetzt?«

»Das brauche ich Ihnen doch nicht erst zu erklären. Meine Tochter ist ein braves Mädchen. Sie verkauft sich nicht.«

»Sapperlot, nehmen Sie auf einmal eine stolze Sprache an! Sie vergessen wohl ganz, daß Sie soeben erst ausgepfändet worden sind?«

»Das kann auch dem bravsten Manne passiren, wenn er arm ist und Unglück hat.«

»Und daß Sie den Miethzins schuldig sind?«

»Ich werde ihn seiner Zeit bezahlen.«

»Seiner Zeit? Diese Zeit kenne ich nicht. Ich kenne nur die Zeit, welche im Contracte stipulirt ist, und diese Zeit ist bereits verstrichen. Machen wir die Sache kurz. Haben Sie Geld?«

»Nein.«

»Gut. Ich gehe sofort auf das Amt, um Ihnen gerichtlich kündigen zu lassen, und dann melde ich auf der Polizei, daß Ihre Frau fort muß, weil sie an einer abscheulichen Krankheit leidet. Haben Sie Etwas dagegen?«

»Was ich davon denke oder dazu sagen könnte, das wissen Sie genau. Thun Sie, was Sie dereinst vor Gott verantworten können.«

»Gehen Sie mit diesen frommen Redensarten! Zunächst habe ich zu thun, was ich vor dem Besitzer dieses Hauses verantworten kann. Also, Sie geben Ihre Tochter nicht als Wirthschafterin zu mir?«

»Nein.«

»Dann hole Sie der Teufel!«

Er stürmte hinaus und warf die Thür laut hinter sich in das Schloß. Er war so im Zorne, daß er draußen gar nicht Acht hatte und mit einem Manne zusammenrannte, welcher soeben zur Treppe heraufkam.

»Tölpel!« schnauzte er diesen an.

»Rüpel!« antwortete der Andere.

»Grobian!«

»Flegel!«

»Esel!« brüllte er noch zurück, als er bereits auf der untersten Stufe angekommen war.

»Schafskopf!« schallte es von der obersten Stufe herab.

Und Der, welcher dieses Schmeichelwort ausgesprochen hatte, brummte für sich weiter:

»Famoses Haus! Vier Treppen hoch steigen, den Athem verlieren, sich anrempeln lassen und dann auch noch Tölpel, Grobian und Esel geschimpft werden, das ist wirklich Alles, was Einem zugetraut werden kann!«

In seinem Ärger vergaß er, anzuklopfen. Er öffnete die Thür und erblickte in Mitten der zahlreichen Familie den Vater und Emilie in einer herzlichen Umarmung. Die Tochter weinte und sagte sodann in tröstendem Tone: »Ich konnte nicht, lieber Vater. Es war unmöglich.«

»Und ich hätte es nicht zugegeben, selbst wenn Du es gewollt hättest. Die Folgen müssen wir abwarten.«

»Ich vertraue auf den lieben Gott!«

»Das ist das Einzige und zugleich das Beste, was wir thun können, denn – ah, Monsieur Jean!«

Er hatte den an der Thür Stehenden erblickt. Es war der Diener des Intendanten.

»Ein familiäres tête à tête!« sagte dieser. »Thut mir leid, daß ich Sie störe!«

»Entschuldigung! Treten Sie näher!«

»Puh, puh!« pustete Jean, indem er das Taschentuch hervorzog und an die Nase hielt. »Was für ein Parfüm ist das? Wonach duftet denn Ihr Zimmer? Ah, dort! Wer ist dieses menschliche Wesen?«

»Meine Frau.«

»Was fehlt ihr? Warum hat sie den Kopf verhüllt?«

Der Intendant durfte auf keinen Fall erfahren, daß die Frau seines Theaterdieners am Krebse leide. Was aber sollte Werner antworten? Es mußte glaubhaft sein und den im Zimmer wahrnehmbaren üblen Geruch erklären. Es wollte ihm nichts Anderes einfallen; er sagte: »Sie leidet augenblicklich am Ohrenzwang.«

»Aber warum stinkt sie so?«

»Der Arzt hat verordnet, sie mit asa foëdita einzureiben.«

»Pfui Teufel! Asa foëdita ist doch Teufelsdreck?«

»Ja.«

»Habe auch noch nicht gehört, daß Teufelsdreck in die Ohren gerieben wird, ist aber immerhin noch besser als in die Nase! Will machen, daß ich fortkomme! Der Herr Intendant wünscht, Sie augenblicklich bei sich zu sehen. Adieu, Werner, wünsche baldige Besserung und dann angenehmere Einreibung! Asa foëdita, Teufelsdreck, verflucht miserable Ohrencur!«

Er zog sich schleunigst zurück und turnte sich die vier Treppen hinab. Unten im Hofe stand – Solbrig. Er hatte sich über den Menschen geärgert, mit welchem er zusammengerannt war und der es gewagt hatte, ihm, dem Hausverwalter, in so kräftiger Weise zu antworten. Er sagte sich, daß der Betreffende bald wieder herabkommen werde; darum wartete er.

Als Jean jetzt erschien, machte selbst die betreßte Livree desselben keinen mildernden Eindruck auf den Grimm des Wartenden. Dieser warf vielmehr dem Lakaien einen wüthenden Blick entgegen und sagte, aber aus Vorsicht wie zu sich selbst: »Impertinent!«

Jean errieth sofort, daß er den Menschen vor sich habe, mit dem er carambolirt war, und antwortete: »Gemein!«

»Ungezogen!« meinte Solbrig, als Jean eben an ihm vorüberging.

»Jungenhaft!« entgegnete der Letztere.

»Hundsföttisch!« grollte der Hausverwalter, jetzt mit sehr vernehmbarer Stimme.

Da drehte Jean sich unter dem Hofthore um und antwortete in dem verächtlichsten Tone, der ihm möglich war: »Asafoeditadreckig!«

Dann ging er stolzen Schrittes weiter.

Daß er von seinem Herrn zu dem Theaterdiener gesandt worden war, das hatte nämlich einen eigenthümlichen Grund. Der Regisseur war bei dem Intendanten erschienen und hatte ihm gemeldet, daß die Ida Bellmann ganz plötzlich krank geworden sei. Der Intendant hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: »Und um mir diese an sich bereits ganz interesselose Meldung zu machen, kommen Sie selbst zu mir!«

»Interesselos, Herr Intendant?«

»Nun ja! Diese Ida Bellmann ist doch nur Statistin! Ihr Unwohlsein berührt uns gar nicht und vermag noch viel weniger, uns in Verlegenheit zu bringen.«

»Ich gestatte mir ganz im Gegentheile zu gestehen, daß es mich in die größte Verlegenheit bringt!«

»Das begreife ich nicht.«

»Gnädiger Herr vergessen, daß heute abend das Zauberstück ›Der Stern des Harems‹ gegeben wird!«

»Das habe ich nicht vergessen. Was hat dieses Stück mit der Ida Bellmann zu thun?«

»Sehr viel sogar. Die Bellmann hat in diesem Stücke eine sehr bedeutende Rolle.«

»Die Bellmann, eine Statistin eine bedeutende Rolle?«

»Ja. Sie giebt die Lieblingsfrau des Sultans.«

Erst jetzt schien der Intendant sich der Einzelheiten des Stückes zu entsinnen. Er richtete sich in seinem Stuhle empor und sagte: »Die Lieblingsfrau des Sultans? Ah, ich erinnere mich!«

»Sie hat allerdings nicht zu sprechen und auch sonst nicht activ in den Gang der Handlung einzugreifen, aber sie ist trotzdem eine Hauptperson des Stückes, weil –«

»Weil sie schön sein muß!« fiel der Intendant ein.

»Ja. Und leider muß diese Schönheit eine solche sein, wie sie der Orientale liebt.«

»Das heißt, schwellend, kräftig, üppig. Sie liegt in der dunklen Ottomane, fast ganz entblößt, nur stellenweise von einem halbdurchsichtigen Schleier bedeckt. Hm, ein reizendes Bild! Die Bellmann paßt außerordentlich gut dazu.«

»Hat aber in letzter Zeit auch abgenommen, Herr Intendant. Ich glaube, sie zehrt an einer unglücklichen Neigung; ihre Formen haben an Fülle verloren. Nun dieses unerwartete Unwohlsein!«

»Ist’s denn so schlimm, daß sie partout nicht kann?«

»Freilich!«

»Was hat sie denn?«

»Zahnschmerzen.«

»Ah pah! Wegen ein wenig Zahnschmerz braucht sie doch nicht wegzubleiben! Das Publicum guckt ihr nicht in den Mund!«

»Entschuldigung, Herr Intendant! Das Publicum guckt ihr allerdings nicht in den Mund, aber doch in das Gesicht.«

»Nun, ist dasselbe denn entstellt?«

»Die Backe ist so geschwollen, als wenn man ihr einen halben Kürbis in das Gesicht geklebt hätte.«

»O weh!«

»Ich habe mich überzeugt; ich war bei ihr.«

»Nun, so tritt eine Andere an ihre Stelle.«

»Aber wer?«

»Hm! Wir haben doch Statistinnen genug!«

»Doch keine Einzige, welche die erforderlichen Formen besitzt. Das Publicum kennt das Stück. Tausend Augen werden an der Lieblingssultanin hängen. Wir können die Rolle keinem schwindsüchtigen Frauenzimmer geben.«

»Dann ist guter Rath allerdings theuer. Was sagt der Director? Waren Sie bei ihm?«

»Ja. Er wußte, wie immer, sofort Rath.«

»Nun, da ist ja geholfen! Warum schickt er Sie noch zu mir?«

»Weil es Ihrer Erlaubniß und vielleicht auch Ihres Machtspruches bedarf.«

»Wieso?«

»Es ist uns bereits einmal ähnlich ergangen. Erinnern der Herr Intendant sich vielleicht an das Effectstück ›Die Macht der Schönheit‹?«

»Freilich, freilich! Ein Prachtstück! Es hat uns damals Geld eingebracht.«

»Damals erkrankte die Bellmann ebenso!«

»Richtig, richtig! Ah, ich verstehe! Ich wurde da auf die Werner aufmerksam gemacht.«

»Emilie Werner, die Tochter des Theaterdieners.«

»Ja. Sie war allerdings prächtig, entzückend. So ein Bild überwältigender Weiblichkeit hatte man allerdings noch nicht auf unseren Brettern gesehen!«

Der Intendant war infolge der Erinnerung in Begeisterung gerathen. Der Regisseur fuhr fort: »Aus diesem Grunde meinte der Herr Director –«

»Daß man die Werner jetzt abermals herbeiziehen müsse?«

»Ja.«

»Gut! Gehen Sie zu Werner und melden Sie es ihm!«

Der Regisseur zuckte bedenklich die Achsel und meinte:

»Ich erinnere mich, daß Werner damals betheuerte, seine Tochter niemals wieder zur Verfügung zu stellen. Auch der Herr Director wußte das und rieth mir, zu Ihnen zu gehen, da es vielleicht nöthig sein werde, eine Art von Zwang auszuüben.«

»Sie denken, daß Werner sich weigern werde?«

»Ja.«

»Das wäre lächerlich!«

»Ist ihm aber zuzutrauen. Es selbst wird eine Weigerung keineswegs lächerlich finden.«

»Wollen sehen. Ich werde ihn jetzt kommen lassen.«

»So bitte ich ergebenst, mir das Mädchen zur Probe zu senden.«

»Sie haben doch heute Vormittag geprobt?«

»Aber ohne sie. Sie muß doch Attidute nehmen.«

»Wann soll sie kommen?«

»So bald sie kann.«

»Werde es besorgen. Adieu!«

Der Regisseur ging. Eben wollte der Intendant seinem Diener klingeln, als derselbe eintrat.

»Habe Besuch zu melden, Herr Intendant,« sagte er.

»Wen?«

»Der Herr Bruder ist soeben angekommen.«

Man sah es dem Theaterleiter an, daß er sich über diese Botschaft freute.

»Wo ist er?« fragte er.

»Da der Regisseur bei Ihnen war, habe ich den Herrn Bruder in das Gastzimmer geführt. Er wird aber sofort erscheinen.«

»Schön! Weißt Du, wo der Theaterdiener Werner wohnt?«

»Straße und Hausnummer weiß ich, wenn ich auch noch nicht dort gewesen bin.«

»Gehe zu ihm! Er soll sofort zu mir kommen. Natürlich aber hat er zu warten, falls mein Bruder sich bei mir befinden sollte.«

Jean ging. Bald darauf ließen sich draußen dröhnende Schritte hören, und dann trat ein Mann ein, welchem man den Kunstreiter von Weitem ansehen konnte. Er besaß Ähnlichkeit mit dem Intendanten, war aber bei Weitem jünger und kräftiger als dieser. Er trug Frack, weiße Reithosen, hohe Sporenstiefel und die unvermeidlichen Stulpenhandschuhe.

Die Brüder begrüßten sich herzlich. Auf einem Seitenbuffet stand Wein. Der Intendant füllte zwei Gläser, welche geleert wurden, und sagte dann: »Du überraschest mich in freudiger Weise, zumal Du mir Deine Ankunft nicht gemeldet hast. Willst Du hier arbeiten?«

»Nein. Ich darf Dir nicht in das Gehege kommen.«

»Das ist sehr vernünftig von Dir gedacht. Vielleicht bist Du mit Deiner Truppe auf der Durchreise?«

»Ja. Wir wollen in Rollenburg Vorstellungen geben. Hast Du gehört, daß ich einen Circus erworben habe?«

»Ja. Nun endlich bist Du Director geworden! Wie lange bleibst Du hier?«

»Nur bis morgen. Meine Truppe ist noch nicht eine eng geschlossene, also ist meine Gegenwart sehr nöthig.«

»Hast Du gute Kräfte?«

»Ich bin sehr zufrieden.«

»Höhere Reitkunst? Pferdedressur?«

»Von Allem Etwas. Besonders vorzügliche Clowns habe ich; sogar eine Riesendame.«

»Wie? Was? Mit Riesendamen giebt Du Dich ab?«

»Warum nicht?«

»Ist das nicht ordinär?«

»Ganz und gar nicht. Das Publicum ist ein vielköpfiges Wesen, und jeder Kopf will befriedigt sein. Ein tüchtiger Restaurateur muß Austern und Caviar für Feinschmecker und Schnaps und Käse für den Tagelöhner haben. So muß auch ich für alle Geschmacksrichtungen sorgen. Uebrigens ist meine Riesin wirklich sehenswerth.«

»Wie heißt sie?«

»Aurora.«

»Ein sehr morgenröthlicher Name! Wie heißt sie aber denn eigentlich?«

»Aurora ist ihr wirklicher Name. Vollständig aber heißt sie Aurora Bormann.«

»Sapperment! Ist sie etwa mit dem sogenannten Riesen Bormann verwandt?«

»Ja. Er ist ihr Bruder. Ein zweiter Bruder ist auch Künstler; Seiltänzer und Kraftmensch, glaube ich. Diese Bormanns gehören eigentlich in frühere Jahrhunderte zurück, in welchen die Riesen sich noch Berge an die Köpfe warfen und Flüsse austranken. Diese Aurora arbeitet sehr gut. Sie hat mir fast ebensoviel Geld eingebracht wie meine Tau-ma.«

»Tau-ma? Was ist das?«

»Das weißt Du nicht?«

»Nein.«

Der Kunstreiter goß sich ein Glas voll Wein ein, trank es langsam aus und sagte dann:

»Bruder, Du dauerst mich!«

»Warum denn?«

»Du willst ein Stern am Himmel der Kunst sein und weißt doch nicht einmal, welche Künste es giebt?«

»Pah! Ich habe dieses fremde Wort noch nie gehört.«

»Ich weiß auch nicht, welcher Sprache es entstammt.«

»Was aber hat man darunter zu verstehen?«

Der Kunstreiter erhob sich, nahm die Stellung eines Ausrufers an und antwortete:

»Meine Herrrrrschaften, immerrrr herrrran, herrrran! Hierrrr ist zu sehen Tau-ma, das grrrößte Wunderrrr derrrr Welt, eine junge, bildschöne Dame, welche nurrr aus dem Oberrrkörrrrperrrr besteht und wederrrr Unterrrleib noch Beine besitzt!«

»Pst! Pst! Nicht so laut!« warnte der Intendant. »Wir befinden uns nicht auf einem Jahrmarkte oder Vogelschießen! Natürlich ist die Sache Schwindel?«

»Schwindel? Wie meinst Du das?«

»Nun, diese Dame existirt überhaupt nicht?«

»Oho! Sie existirt!«

»Mit Oberleib?«

»Mit Oberleib!« nickte der Bruder.

»Und ohne Unterleib und Beine?«

»Ohne, ganz ohne.«

»So ist’s ein Bild oder ein Torso, gemalt oder von Holz, Gips oder sonst einem Stoffe?«

»Nein. Die Tau-ma ist lebendig.«

»Unsinn!«

»Ich sage Dir, daß sie lebt!«

»Sie sieht und hört?«

»Ja.«

»Und spricht?«

»Natürlich!«

»Ißt und trinkt?«

»Sogar mit großem Appetite, wenn sie nämlich Etwas hat!«

»Dann ist sie allerdings das größte Wunder der Welt!«

»Ja, das ist sie. Sie hat mir mehr Geld eingebracht, als alle meine dressirten Pferde und Hunde!«

»Aber wie kann sie leben ohne Unterleib?«

»Das ist ja eben das Wunder!«

»Wie kann sie essen und trinken?«

»Das gehört ja zum Leben! Sie kann doch nicht verhungern und verdursten!«

»Aber wenn sie ißt und trinkt, muß sie doch auch verdauen?«

»Das thut sie auch?«

»Womit denn? Sie hat doch keinen Magen?«

»Oho! Der Oberleib reicht bis dahin, wo die Taille in die Hüften übergeht.«

»Das Uebrige fehlt?«

»Ja.«

»So hat sie aber doch weder Gedärme, noch Milz, Niere und sonstiges Eingeweide?«

»Ja, das ist freilich schrecklich!« lachte der Kunstreiter.

»Wie also kann sie verdauen?«

»Nun, den ersten Theil der Verdauung, so weit es den Oberkörper betrifft, kann man beobachten. Man sieht sie essen, trinken, kauen und verschlingen. Den zweiten Theil aber macht sie privatim ab.«

»Unbegreiflich!«

»Das sagen alle Zuschauer, obgleich ich es einem Jedem erlaube, sie zu begreifen.«

»Wie? Man darf sie untersuchen, sich nicht bloß mit den Augen, sondern auch mit den Händen überzeugen, daß der Unterkörper wirklich fehlt?«

»Gewiß!«

»Ja, Bruder, wenn Du wirklich im Besitze dieses Wunders bist, so wirst Du Millionär. Wo hast Du dieses Wesen gefunden?«

»Es ist zu mir gekommen. Ich habe riesige Einnahmen erzielt. Dann wurde die Tau-ma stolz und anspruchsvoll. Sie wollte gar mit mir theilen, und als ich mich weigerte, darauf einzugehen, ist sie mir durchgebrannt, bei Nacht und Nebel davongelaufen.«

»Gelaufen?«

»Buchstäblich davongelaufen, da keine Fahrgelegenheit vorhanden war.«

»Hole Dich der Teufel! Ich denke, sie hat keinen Unterleib?«

»Der fehlt allerdings vollständig.«

»Und dennoch ist sie davongelaufen?«

»Ja, über alle Berge!«

»Aber zum Laufen muß man doch Beine haben?«

»Das brauchst Du gar nicht zu erwähnen; das weiß ja jedes Kind, mein bester Bruder!«

»Jetzt werfe ich Dich zur Thüre hinaus, trotzdem Du mir willkommen bist! Wenn Deine Tau-ma davongelaufen ist, so muß sie doch Beine gehabt haben!«

»Natürlich hat sie die!«

»Und vorhin hatte sie keine?«

»Nicht eine Spur davon!«

»So wachsen sie ihr wohl?«

»Ja. Beine hat sie, und Beine hat sie nicht. Zwischen diesen beiden Thatsachen liegt immer nur die Zeit von wenigen Minuten oder gar nur Secunden. Wie ich sage, ist sie mir ausgerissen. Nun muß ich sie durch eine neue, durch eine andere Tau-ma ersetzen.«

»Du meinst, daß es mehr solche Wesen giebt?«

»Millionen!«

Der Intendant war wirklich verblüfft. Er sperrte den Mund auf und blickte seinen Bruder starr an. Dieser lachte laut auf und fragte: »Dir will wohl der Verstand durchbrennen, gerade wie mir mein größtes Wunder der Welt?«

»Fast möchte ich Ja sagen.«

»Nun, halte ihn nur fest, sonst kannst Du dieses Wunder nicht begreifen, trotzdem ich bereit bin, es Dir zu erklären.«

»Ich weiß in Wahrheit nicht, woran ich bin. Wenn diese Tau-ma in Wirklichkeit existirt und nicht bloß in Deiner Phantasie, so bist Du der beneidenswertheste Mann, den es nur geben kann. Das Geld muß Dir nur so zufließen. Ist sie denn sonst wohlgebildet?«

»Ich sage ja, daß sie eine Schönheit ist!«

»Wie aber steht es mit dem Geist, dem Verstand?«

»Vollständig befriedigend! Sie schreibt Alles, liest Alles und giebt auf jede Frage die rechte Antwort.«

»Ohne alle Beihilfe?«

»Ohne Beihilfe, denn sie ist ein geistig sehr gut veranlagtes und ausgebildetes Wesen.«

Da schüttelte der Intendant den Kopf und sagte:

»Jetzt nun steht er still!«

»Wer? Dein Verstand?«

»Ja.«

»Na, ich will ihm zu Hilfe kommen. Ich gestehe, daß bei der Geschichte ein Wenig Raffinerie vorhanden ist.«

»Ah, also doch ein Schwindel?«

»Das nicht. Es darf sich ja ein Jeder überzeugen, daß der Unterleib fehlt. Freilich scheinen alle diese Leute nicht zu wissen, wo man den Unterleib zu suchen hat.«

»Nun, wo denn anders als unterhalb des Oberleibes?«

»Da ist er aber nicht.«

»Doch nicht etwa oberhalb des Kopfes!«

»Nein.«

»Oder auf dem Rücken!«

»Auch nicht. Nämlich die Tau-ma sitzt – oder vielmehr sitzen kann sie ja nicht, da der Unterleib fehlt – sie steht auf einer Schaukel.«

»Mit der Taille?«

»Ja. Schneide einen Menschen in der Mitte des Körpers durch und setze die obere Hälfte auf die Schaukel. So, ganz so ist es.«

»Hm! Jetzt errathe ich, wie es ist.«

»Nun, wie?«

»Die Schaukel ist vingirt?«

»O nein. Die Schaukel hängt wirklich an der Decke. Jeder Zuschauer kann sie betrachten und befühlen.«

»Und sie bewegt sich auch?«

»Ja. Sie hängt still, oder sie bewegt sich, ganz wie es vom Publikum verlangt wird.«

»Und dieser Oberleib bewegt sich mit? Das heißt, er schaukelt hin und her?«

»Natürlich! Jeder Zuschauer kann unter die Schaukel sehen oder greifen, um sich zu überzeugen, daß wirklich nur der Oberleib vorhanden ist.«

»Der Unterleib fehlt unter der Schaukel?«

»Ja.«

»Nicht menschenmöglich!«

»O, Ihr klugen, gelehrten Leute, wie seid Ihr doch so dumm, so dumm! Es ist allerdings nicht Das dabei, was man Schwindel nennen könnte, aber eine Täuschung ist vorhanden, und zwar eine optische.«

»Das möchte ich bestreiten.«

»Warum?«

»Wenn man so nahe steht, daß man sogar unter die Schaukel greifen kann, dann ist eine optische Täuschung gar nicht möglich.«

»Dann ist es um Deine Physik sehr schlecht bestellt. Es gehört gar kein Newton oder Humbold dazu, dieses Kunststück zu begreifen.«

»Also ein Kunststück ist es doch?«

»Ja freilich!«

»Der Unterkörper ist vorhanden?«

»Ja.«

»Aber man fühlt ihn ja nicht unter der Schaukel!«

»Weil er sich hinter derselben befindet.«

»Unmöglich! Man kann doch nicht einen lebenden menschlichen Körper zerschneiden und die obere Hälfte auf die Schaukel stellen, die untere aber hinter dieselbe bringen.«

»Von einem Zerschneiden ist gar keine Rede. Natürlich liegt es in meinem Interesse, daß kein Mensch erfahre, in welcher Weise das Kunststück zu Stande kommt, Dir aber kann ich es erklären.«

»Ich bitte Dich wirklich sehr darum! Deine Tau-ma ist also wohl eine vollständige, regelrecht gewachsene und ausgebildete Person?«

»Ja. Ein jedes Frauenzimmer kann als Tau-ma auftreten. Denke Dir eine kleine, schmale aber sehr tiefe Bühne, in deren äußerstem Vordergrunde eine gewöhnliche Schaukel hängt, ein Bretchen mit Schnuren oder Ketten. Die Bühne an sich mit schwarzem Tuche tapezirt und vollständig unerleuchtet, also dunkel. Der vordere Theil aber, da, wo sich die Schaukel befindet, ist sehr hell erleuchtet, wozu sogar scharfe Reflectoren verwendet werden, damit auf die Schaukel, aber auch nur auf sie, ein recht grelles Licht falle. Ebenso hell erleuchtet ist der Zuschauerraum. Was wird nun die Folge dieser großen Helligkeit der vorderen Parthie sein?«

»Daß die hintere Parthie desto dunkler erscheint.«

»Richtig. Es ist ganz unmöglich, zu sehen, was sich hinter der Schaukel befindet.«

»Ah! Dort also befindet sich der Unterkörper!«

»Ja.«

»Aber wie? In welcher Lage.«

»Sehr einfach: Es ist nicht nur eine Schaukel da, sondern es sind deren zwei vorhanden, eine vordere, welche grell beleuchtet ist, und eine hintere, welche man des tiefen Dunkels wegen nicht zu erblicken vermag. Auf der vorderen liegt der Ober-, auf der hinteren aber der Unterkörper.«

»Da müssen die Zuschauer aber doch sofort bemerken, daß der Oberkörper nicht auf der Schaukel steht, sondern auf ihr liegt. Sie werden also den Unterkörper nicht unter, sondern hinter ihr suchen, und dann ist das ganze Geheimniß verrathen.«

»Langsam, langsam! Daran haben wir gar wohl gedacht. Wir haben eine höchst einfache Vorrichtung erfunden, durch welche das Publikum auf das Vollständigste getäuscht wird. Wir befestigen nämlich auf die vordere, hell erleuchtete Schaukel eine künstliche Taille, eine – will ich sagen – eine ausgestopfte Schnürbrust, ein massives Corset. Die Tau-ma nimmt nun auf der hinteren Schaukel Platz. Ihr Oberkörper ist entblößt, ihr Unterkörper aber schwarz umhüllt. Sie streckt sich so weit vor, daß ihr Busen das ausgestopfte Corset erreicht, legt ihre beiden Brüste hinein, richtet den Kopf empor und ergreift mit den Händen die Schnuren der Schaukel. Verstehst Du es nun?«

»Ja. Verteufelt scharfsinnig!«

»O nein, sondern verteufelt einfach! Da vorn Alles erleuchtet ist, so tritt ihr Gesicht, ihr Hals, ihre Brust, und so treten auch ihre Arme, von hellem Puder unterstützt, so scharf hervor, daß man von dem anderen Theile ihres Körpers unmöglich Etwas bemerken kann. Man hält das ausgestopfte Corset für ihren wirklichen Oberkörper, der auf der Schaukel sitzt. Es ist gar nicht möglich, anders zu denken, denn man darf ja die Tau-ma befühlen. Man fühlt Kopf, Arme, Schultern und Busen; man hält es also gar nicht für möglich, getäuscht zu sein.«

»Eine raffinirte Schlauheit! Da läßt sich allerdings begreifen, daß diese Tau-ma ißt und trinkt und auch alles Andere macht.«

»Je schöner die Person ist, desto besser. Die Körperparthie, welche zu sehen ist, also vom Scheitel bis zum Busen, muß tadellos geformt sein. Besonders muß die Brust diejenige Ueppigkeit besitzen, welche zur Erreichung der nothwendigen Täuschung nöthig ist. Meine Tau-ma war diesen Ansprüchen gewachsen. Wo aber finde ich Ersatz für sie?«

»Es giebt ja Mädchen genug!«

»Aber wenige, wie ich sie brauche.«

»Du erhebst wohl Extraansprüche?«

»Ja, und zwar zu meiner Sicherheit. Im gewöhnlichen Comödiantenvolke finde ich keine Tau-ma, wie ich sie brauche. Abgenutzte Schönheiten nützen mir nichts, und ein frecher, vorlauter Charakter bringt mich nur in Gefahr. Ich suche ein schönes, üppiges, sanftes Mädchen, welches möglichst sich noch nie in dieser Sphäre bewegt hat. Erblickt der Zuschauer ein reines, keusches Gesicht, sanfte, verschleierte, nicht herausfordernde Augen, und hört er Antworten, welche ihm die Gewißheit geben, daß er es hier mit einem unverdorbenen Wesen zu thun hat, so ist die Wirkung des Kunststückes verzehnfacht, die Einnahme vervielfacht sich ebenso, und Niemand getraut sich, die Erscheinung so unzart und zudringlich zu betasten und zu untersuchen, daß eine Entdeckung zu befürchten steht. Blond muß sie auch sein, weil helles Haar von dem Dunkel des Hintergrundes besser absticht als braunes oder schwarzes. Du siehst also, wie schwer es für mich ist, wieder eine Tau-ma zu finden!«

»Und doch mußt Du eine haben?«

»Ja.«

»Brauchst Du diese Einnahme so nöthig?«

»Nein. Ich kann ohne sie recht gut auskommen; aber wenn ich jährlich mit diesem ›größten Wunder der Welt‹ so viele Tausende mehr verdienen kann, wäre es doch höchst albern, wenn ich auf eine solche Einnahme verzichten wollte. Kennst Du nicht vielleicht eine Person, welche sich eignen würde?«

»Hm! Deine Ansprüche sind zu groß. Ein braves, reines, unbescholtenes Mädchen, welches sich demnach zu einer solchen Schaustellung hergiebt, sich Kopf, Schultern, Hals, Brust und Arme entblößen und vom Publikum betasten und untersuchen läßt – fast unmöglich!«

»Nicht unmöglich, sondern nur schwierig. Es giebt nämlich eine strenge Herrin, unter deren Sclavinnen ich hundert brauchbare Tau-ma’s finden könnte.«

»Wer wäre das?«

»Die Noth.«

»Da hast Du allerdings recht. Und Noth giebt es überall.«

»Am allermeisten in großen Städten. Ich kam nach hier, um mir eine Tau-ma zu suchen.«

»So suche in den armen Stadttheilen, auf Hintergebäuden, bei armen Beamten, welche nicht das trockene Brod verdienen, sondern bei zwanzig Gulden sich – – – oh, bei diesen zwanzig Gulden denke ich – – – hm!«

»Woran?«

»An eine arme Beamtenfamilie, welche – – Sapperment, diese Emilie Werner wäre ein Prachtstück für Dich!«

»Was ist ihr Vater?«

»Er ist mein Theaterdiener.«

»Wieviel Gehalt?«

»Zwanzig Gulden.«

»Wie viel Köpfe zu ernähren?«

»Weit über zehn.«

»Mit zwanzig Gulden monatlich? Das ist ein viel, viel größeres Kunststück als meine Tau-ma! Ist sie hübsch?«

»Sogar schön.«

»Voll?«

»Genugsam. Wenn sie sich satt essen könnte, würde sie sogar üppig sein.«

»Bei guter Büste?«

»Da bleibt nichts zu wünschen.«

»Hängt sie sehr an den Eltern?«

»Ich glaube.«

»Hat sie einen Geliebten?«

»So weit kenne ich die Verhältnisse nicht.«

»Wenn ich sie einmal sehen könnte!«

»Das kannst Du. Und zwar sollst Du sie so sehen, daß Du vollständig orientirt sein kannst, nämlich fast ganz entkleidet.«

»Wie willst Du das fertig bringen, wenn sie, wie Du sagst, ein braves Mädchen ist?«

»Das laß meine Sorge sein. Ihr Vater befindet sich jedenfalls draußen im Vorzimmer. Er darf Dich jetzt nicht sehen. Tritt einmal da in das Nebenzimmer! Wenn Du die Thür ein Wenig offen läßt, wirst Du hören, was ich mit ihm zu besprechen habe.«

Der Kunstreiter entfernte sich. Sein Bruder klingelte. Jean, der Diener, trat ein.

»Ist Werner da?«

»Ja, gnädiger Herr.«

»Soll eintreten!«

Jean drehte sich um, blieb einen Augenblick lang stehen und machte wieder Rechtsumkehrt.

»Gnädiger Herr!« sagte er.

»Was giebt es noch?«

»Dieser Werner hat einige Male um Gehaltszulage angehalten, wie ich hörte?«

»Ja. Was soll das hier.?«

»Ich war in seiner Wohnung. Es war fürchterlich. Kopf an Kopf. Er braucht es wirklich!«

»Mache keinen Unsinn. Zulage zu vergeben ist nicht Deines Amtes; darum laß Deinen Vorwitz.«

»Der Executor war bei ihm!«

»Woher weißt Du das?«

»Er hat es mir soeben erzählt. Er weinte dabei.«

»Mensch, ich glaube, aus Dir ist ein altes Weib geworden! Seit wann hast Du Dir denn ein so mitleidiges Herz angeschafft? Ich habe es bei Dir nie bemerkt.«

»Das will ich aufrichtig sagen. Er glaubt, daß meine Fürbitte vom Vortheil sei und hat mir für drei Jahre lang die Hälfte der Zulage versprochen, die er bekommt.«

»Alle Teufel, bis Du aufrichtig!«

»Ich würde aber dieses Geld gar nicht annehmen,« fuhr Jean unbeirrt fort. »Ich brauche es nicht, denn ich habe einen gütigen Herrn; er aber hat es desto nöthiger. Zweiunddreißig Gulden Steuern schuldig und ein halbes Jahr Miethzins. Er soll nächstens gerichtlich herausgeworfen werden.«

»Erzählte er auch das?«

»Ja.«

»So hat er kein Ehrgefühl.«

»Vom Ehrgefühl bezahlt man weder Hauszins noch Steuern, gnädiger Herr! Dazu Arzt und Apotheke!«

»Mache, daß Du fortkommst! Ich mag nichts weiter hören. Er soll eintreten! Marsch hinaus!«

Jean schickte den Theaterdiener herein. Dieser grüßte sehr unterwürfig und wartete die Anrede ab.

»Ich höre, daß Deine Frau krank ist?« fragte der Intendant, welcher es für gerathen hielt, diplomatisch vorzugehen.

»Sehr!« lautete die Antwort.

»Ist es gefährlich?«

»Der Arzt macht mir Sorge.«

»Hm! Und ausgepfändet bist Du worden?«

»Ich kann es nicht leugnen.«

»Und aus der Wohnung sollst Du geworfen werden?«

»Leider!«

»Aber Mensch, wie kann man es so weit kommen lassen?«

»Wenn ich die Steuern und den Zins von meinem Gehalte abziehe, kommt auf die Person meiner Familie noch nicht ganz ein halber Gulden pro Monat!«

Mit diesen einfachen Worten hatte er das ganze jammervolle seiner Lage bezeichnet.

»Deine Leute mögen nebenbei arbeiten!« rieth der Intendant.

»Das thun sie auch, sonst wären wir bereits verhungert!«

»Du bist einige Male wegen Zulage eingekommen. Das geht nicht so schnell. Wollen sehen, ob es nächstes Jahr möglich ist, Dir Etwas mehr zu zahlen, jetzt aber geht es nicht an. Aber eine Kleinigkeit zu verdienen, dazu bietet sich heute gleich eine passende Gelegenheit.«

»Ich werde sie mit Freuden ergreifen!«

»Ich hoffe es! Hast Du gehört, daß die Bellmann ganz plötzlich unwohl geworden ist?«

Werner erbleichte. Er ahnte, was nun kommen werde, und vergaß in seiner Bestürzung, eine Antwort zu geben.

»Nun?« fragte der Intendant.

»Ich habe es nicht erfahren.«

»Sie kann leider heute nicht auftreten, heute, da gerade der Stern des Harems gegeben wird. Hat vielleicht Deine Tochter Zeit?«

»Sie hat sehr nothwendig, Herr Intendant.«

»Was denn?«

»Sie strickt Seelenwärmer und muß morgen abliefern. Sie muß die Nacht hindurch arbeiten.«

»Sie mag übermorgen abliefern.«

»Das geht nicht. Sie würde ihre Arbeit einbüßen.«

»Aber ich brauche sie! Sie ist gerade geeignet, die Stelle der Bellmann zu ersetzen.«

»Gnädiger Herr, meine Tochter ist nicht engagirt,« wagte Werner zu bemerken.

»Aber Du!«

»Sie steht zur Bühne in keinem Verhältnisse.«

»Desto mehr Du!«

»Sie besitzt keine Routine, keine Uebung, keine Begabung!«

»Ist hier auch nicht nöthig!«

»Sie kennt übrigens auch das Stück gar nicht!«

»Auch das wird nicht verlangt. Sie hat sich in malerischer Haltung auf den Divan zu legen. Das ist Alles.«

»Und dennoch möchte ich ganz ergebenst ersuchen, dies von meinem Kinde nicht zu verlangen!«

Da zog der Intendant die Stirn in Falten und sagte:

»Aus welchem Grunde?«

»Ich kenne dieses Stück. Die Lieblingssultanin erscheint in einer Weise, welche – – –«

Er stockte.

»Nun, welche – –?«

»Welche für Emilie unmöglich sein würde.«

»Ach was gar! Was die Bellmann kann, das kann Deine Tochter auch. Sie ist doch keine Gräfin!«

»Herr Intendant, bitte, haben Sie Mitleid mit ihr und mit mir!«

»Mitleid wäre hier sehr am unrechten Orte. Du willst Zulage haben und weigerst Dich, mich aus einer solchen Verlegenheit zu reißen, obgleich es Dir so außerordentlich leicht wäre. Einen solchen Theaterdiener kann ich nicht gebrauchen. Jeder Andere würde es für eine Ehre halten, seinem obersten Vorgesetzten behilflich sein und nebenbei seine Tochter bewundert sehen zu können.«

»Es hat nicht jeder dieselben Ansichten über diese Bewunderung, Herr Intendant.«

»So mache ich Dich auf Deinen Contract aufmerksam!«

»Ich habe in demselben nicht gefunden, daß ich meine Kinder zur Verfügung zu stellen habe.«

»Wörtlich allerdings nicht; aber ein Paragraph verlangt, daß Du in jeder Beziehung die Bemühungen Deiner Vorgesetzten zu unterstützen hast. Nun, dies ist heute der Fall, und dies wird heute von Dir verlangt.«

Werner blickte verlegen vor sich nieder. Er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Ferner,« fuhr der Intendant fort, »steht in dem Contracte, daß ich bei offenbarer Gehorsamsverweigerung das Recht habe, Dich augenblicklich zu entlassen.«

»Gnädiger Herr, das werden Sie nicht thun!« rief der Ärmste voller Angst.

»O, gerade das werde ich thun; verlaß Dich darauf! Ich habe dafür zu sorgen, daß das Stück in würdiger Weise über die Bretter geht. Eine andere Rücksicht darf ich nicht walten lassen. Nun also, ja oder nein!«

Die Lippen Werner’s bebten. Er mußte sich die größte Mühe geben, seine Thränen zurückzuhalten.

»Werden Sie mich wirklich entlassen, wenn Emilie Ihrer Forderung nicht entspricht?« fragte er.

»Unweigerlich und auf der Stelle! Ich gebe Dir hiermit mein Ehrenwort darauf!«

»Mein Gott! Wie soll ich sie dazu bringen!«

»Du bist Vater; Du hast zu befehlen; mache von diesem Rechte Gebrauch!«

»Es ist so hart und schwer!«

»Larifari! Uebrigens sollst Du dafür eine Gratification erhalten!«

Da trat Werner einen Schritt näher, faltete die Hände und fragte unter zurückgehaltenem Schluchzen: »Gnädigster Herr, ist es gar nicht möglich, daß uns dies erlassen werde?«

»Nein. Lassen wir alle Weiterungen! Willst Du, oder willst Du nicht.«

»Ich – muß!« stieß Werner hervor.

»So eile nach Hause und schicke das Mädchen zum Regisseur. Er befindet sich auf der Bühne und wird ihr die erforderliche Anleitung geben.«

Werner wankte hinaus. Es war ihm, als sei er einer Abtheilung der Folterkammer entstiegen, um in eine andere geschleppt zu werden. Seine Beine wankten, seine Kniee zitterten. Er lehnte sich unten im Flur an die Wand und schluchzte: »Mein Kind, mein liebes, gutes, reines Kind! Wie soll ich, Dein Vater, Dir sagen, was von Dir verlangt wird. Und doch wirst Du es thun, um uns vom Verhungern zu erretten. O Gott, o Gott, ich möchte sterben, wenn ich nicht gezwungen wäre, für die Meinen zu leben!«

Und oben trat der Kunstreiter lachend aus dem Nebenzimmer und sagte:

»Mensch, weißt Du, was Du bist?«

»Nun, was denn?«

»Ein Teufel, ein Satan, ein Belial!«

»Hast Du alles gehört?«

»Jedes Wort.«

»Und Du tadelst mich?«

»Fällt mir gar nicht ein. Ich tadle Dich nur in dem Falle, wenn das Mädchen nicht so schön ist, wie Du gesagt hast. Paßt sie mir aber, so hast Du an dem Alten Dein Meisterstück gemacht, wie ich es an seiner Tochter machen werde.«

»Du glaubst, sie herumkriegen zu können?«

»Gewiß!«

»Aber Du hast gehört, wie sich der Vater sträubt sie auf die Bühne zu lassen? Was würde er sagen, wenn Du ihm mittheilst, daß sie die Tau-ma machen soll!«

»O Du riesengroßer Dummhut Du! Meinst Du wirklich, daß ich ihm das sagen werde?«

»Nicht?«

»Fällt mir gar nicht ein! Habe ich sie aber erst einmal fest, so heißt es einfach: sie muß.«

»Wie aber willst Du sie bekommen?«

»Mit Hilfe der Herrin, von welcher ich vorhin sprach, der Noth. Dein Untergebener befindet sich in verteufelt mißlichen Verhältnissen. Wenn ich den Retter spiele, fällt mir sein Vertrauen zu.«

»Dann darf er aber keinesfalls erfahren, daß wir uns kennen oder gar, daß Du mein Bruder bist.«

»Bitte, bitte, belehre nur mich nicht! Ich weiß ganz genau, wie ich solche Leute zu nehmen habe. Hauptsache ist natürlich, zu sehen, ob sie wirklich werth ist, daß man sich Mühe giebt.«

»Du wirst in hohem Grade befriedigt sein. Wir wollen aufbrechen, weil es nothwendig ist, den Regisseur zu unterrichten, bevor das Mädchen kommt.«

Einige Minuten später schritten sie dem Theater zu. Im Innern desselben befanden sich nur zwei Menschen, der Regisseur und seine Frau, welche auch Schauspielerin war. Er trat dem Intendanten neugierig entgegen.

»Hat es Kampf gekostet, gnädiger Herr?« fragte er.

»Ja, aber ich habe Gehorsam gefunden. Das Mädchen wird kommen. Aber – hm! – ich und dieser Herr hier möchten ungesehen beobachten, wie sie ihre Rolle auffaßt. Wir werden hinter die Prospectgardine treten. Natürlich wird sie sich sträuben, so decolletirt, wie es verlangt wird, die Probe zu machen. Ich aber muß darauf bestehen.«

»Wollen wir es ihr nicht für jetzt erlassen?«

»Nein. Muß sie jetzt, so fällt es ihr heut Abend leichter. Ihre Frau mag sie entkleiden, und Sie können ja mit Ihren Augen so schonend wie möglich sein. Schaffen Sie also den Divan herein. Ich verlange, daß sie, nur an den Hüften vom Schleier bedeckt, volle zehn Minuten auf dem Divan liegen bleibt. Das ist das beste Mittel, dieses dumme Schamgefühl zu tödten. Wir ziehen uns jetzt hinter die Prospectgardine zurück. Lassen Sie nicht ahnen, daß Lauscher da sind!«

Er nahm seinen Bruder bei der Hand und führte ihn nach dem hinteren Theile der Bühne, welche jetzt den inneren Theil eines muhammedanischen Hauses vorstellte. Dort befand sich in der Gardine eine vingirte Thüröffnung, hinter welcher die Beiden, nachdem sie sich zwei Stühle besorgt hatten, Posto faßten.

Sie hatten nicht sehr lange zu warten, so stellte die Tochter des Theaterdieners sich ein. Sie war durch den nur für die Bühnenmitglieder reservirten und für diese stets offenen Eingang gekommen. Der Regisseur empfing sie mit freundlichem Gruße.

»Sie wissen, um was es sich handelt, Fräulein Werner?« fragte er.

Sie war blaß. Man sah es ihr an, daß sie geweint habe.

»Ja,« antwortete sie. »Vater hat es gesagt.«

»Sie sollen die Parthie der Lieblingsfrau des Sultans übernehmen.«

»Ist sie schwer?«

»Nein, gar nicht.«

»Habe ich zu sprechen?«

»Kein Wort. Wäre dies der Fall, so dürfte ich es wohl nicht wagen, Ihnen diese Rolle anzuvertrauen. Das Lampenfieber würde Ihnen und somit auch uns und der ganzen Vorstellung gefährlich werden. Aber zu einer kleinen Probe werden Sie sich dennoch verstehen müssen.«

»Was habe ich zu thun?«

»Sie haben hier auf diesem Divan Platz zu nehmen, möglichst in schöner, ansprechender Haltung, und dabei so zu thun, als ob Sie Ihr Nargileh rauchten.«

»Was ist das?«

»Nargileh heißt Wasserpfeife. Es wird nämlich auch in den Harems, also von Frauen, geraucht.«

»Wenn ich weiter nichts zu thun habe, so ist eine Probe doch wohl nicht nöthig, Herr Regisseur.«

»O dennoch. Wir müssen die erforderliche Körperlage suchen und einüben und auch sehen, wie der Schleier um Ihre Hüften zu drapiren ist.«

»Um die Hüften?« fragte sie erstaunt.

»Ja, gewiß.«

»Einen Schleier trägt man doch nur im Gesicht!«

»Für gewöhnlich. Im Harem aber ist es anders. Die muhammedanischen Frauen haben nämlich fast weiter nichts zu thun, als sich alle mögliche Mühe zu geben, ihren Männern zu gefallen. Sie müssen zeigen, daß sie schön sind, und das können sie am Besten, wenn sie im Harem möglichst alle überflüssigen Kleider entfernen: Sie zeigen sich als lebende, reizende Statuen der Göttin der Liebe, nur in einen durchscheinenden Schleier gehüllt.«

»Ohne Kleider?« fragte sie voller Angst.

»Ja.«

»Auch ich soll unbekleidet sein?«

»Gewiß.«

»Das kann ich nicht! Das ist mir unmöglich! Das bringe ich nicht fertig.«

»Warum nicht? Es ist ja so leicht!«

»Ich – ich – ich schäme mich zu Tode!«

»Das denken Sie nur! Uebrigens meine ich ja nicht, daß Sie nackt sein werden. In gewissem Sinne werden sie bekleidet sein, sogar am ganzen Körper. Sie werden natürlich Trikots anlegen.«

»Und wie lange soll ich hier auf dem Divan liegen?«

»Zwei Acte lang.«

»Mein Gott! Und alle die Zuschauer werden auf mich sehen! Giebt es denn wirklich keine Andere, welche das übernehmen kann?«

»Leider nicht!«

»Ich werde vor Scham vergehen!«

»Sie brauchen sich nicht zu schämen. Sie sind ja ganz und gar nicht häßlich!«

»O, ich wollte, ich wäre häßlich, so häßlich, daß kein Mensch mich ansehen möchte! Der Herr Intendant weiß gar nicht, welche Aufgabe er mir da gestellt hat!«

»Aber, er hat es befohlen, und wir müssen gehorchen. Hier ist meine Frau, welche Ihnen behilflich sein wird. Gehen Sie mit ihr nach der Damengarderobe. Ich werde hier warten, bis Sie fertig sind.«

Die Frau des Regisseurs bemächtigte sich des armen Mädchens und ging mit demselben ab.

»Nun,« flüsterte der Intendant seinem Bruder zu, »wie gefällt sie Dir?«

»Reizendes Kind!«

»Nicht wahr?«

»Ihre Formen versprechen etwas. Bin sehr neugierig, wie sie sich in den Tricots ausnehmen wird.«

»Du wirst zufrieden sein.«

Sie warteten schweigend. Von der Seite her, wo die Damengarderobe lag, wurden unterdrückte Stimmen hörbar. Die eine klang aufgeregt, bittend und klagend, die andere zuredend, begütigend, beruhigend. Erst nach längerer Zeit trat die Schauspielerin auf die Bühne.

»Nun, fertig?« fragte ihr Mann.

»Ja,« antwortete sie.

»Wo ist sie denn?«

»Dort!«

Sie deutete zwischen die Coulissen hinein, wo Emilie stand.

»So kommen Sie doch, Fräulein!« rief er.

»Ich – ich kann nicht!« erhielt er als Antwort.

»Es geht schon, es geht, versuchen Sie es nur!«

Sie trat einige Schritte näher, dann aber blieb sie wieder stehen.

»Bitte, bitte!« sagte er ungeduldig.

»Ach Gott! Erlassen Sie es mir doch!«

»Das ist unmöglich! Warum verstecken Sie sich hinter die Coulissen! Ich verspreche Ihnen, Sie möglichst wenig anzusehen. Angreifen werde ich Sie ja gar nicht.«

Sie versuchte es. Sie trat zwischen den Coulissen hervor. Sie war nur in fleischfarbenen Tricots. Um ihre vollen Hüften schlang sich ein äußerst dünner Schleier.

»So ist’s recht!« sagte er. »Nur näher, immer näher!«

Sie wollte gehorchen. Sie that einen Schritt vorwärts, da sah sie seine Augen auf sich gerichtet. Sie legte die beiden Hände auf den Busen und rief: »Nein, nein! Es geht nicht!«

Sie wollte sich umwenden, um zu fliehen. Da aber war er auch schon neben ihr, vor ihr. Er versperrte ihr den Weg, ergriff sie beim Arme und sagte in strengem Tone: »Machen sie keine Dummheiten! Ich lasse es mir gefallen, wenn eine Dame zurückhaltend ist; gar zu viel aber ist eben gar zu viel!«

Sie versuchte, ihren Arm zu befreien; er aber hielt sie fest. Er sah ein, daß er sie nicht fliehen lassen dürfe.

»Lassen sie mich! Lassen Sie mich fort!« bat sie.

»Nein, nein! Kommen sie! Da ist der Divan!«

Er schob sie hin. Sie schloß die Augen und gehorchte. Er drückte sie auf das Polster nieder.

»So!« sagte er. »Nun habe ich Sie doch angreifen müssen. Daran sind Sie selbst schuld. Wenn Sie wollen, daß ich Sie nicht mehr berühren soll, so fügen Sie sich! Ihre Stellung ist unschön, unpassend. Ziehen Sie doch die Beine herauf. Die Haltung, welche Sie zeigen, muß eine vollständig ungezwungene sein.«

Sie versuchte, zu gehorchen. Hinter der Prospectgardine stieß der Intendant seinen Bruder an und flüsterte: »Sapperment! Siehst Du?«

»Ja, ja!«

»Sie ist noch schöner, als ich dachte!«

»Ja. Ein reizendes Geschöpf!«

»Wird sie eine gute Tau-ma abgeben?«

»Eine famose sogar! Sie ist unvergleichlich! Ah!«

Es war ihr doch nicht gelungen, ihrem Körper die von dem Regisseur gewünschte Lage zu geben. Dieser sagte: »Nicht so ängstlich! Sie dürfen mit Ihren Formen nicht kargen. Sie müssen freigebiger sein. Stützen Sie sich mit dem Ellbogen auf das Kissen und richten Sie den Oberkörper ein wenig empor. Die Büste muß mehr hervortreten. Sie müssen plastischer sein! Mehr, noch mehr, viel mehr!«

In seinem Eifer faßte er ihren Arm, um ihn in die erforderliche Lage zu bringen. Sie zuckte bei dieser Berührung zusammen. Sie hatte die Augen geschlossen gehalten; jetzt öffnete sie dieselben. Sie ließ den Blick an sich herabgleiten und schnellte dann, über und über erglühend, von ihrem Sitze empor.

»Was ist’s? Warum bleiben Sie nicht?« rief er ärgerlich.

»Es ist mir unmöglich!«

»Dummheit! Bleiben Sie!«

»Nein, nein!«

»Setzen Sie sich! Gleich setzen Sie sich wieder!«

Er griff nach ihr. Sie aber riß sich los.

»Lieber will ich sterben!«

Mit diesem Rufe eilte sie fort, zwischen die Coulissen hinein, nach der Garderobe zurück.

»Verdammte Ziererei!« sagte der Regisseur. »Geh, Frau, hole sie wieder!«

Sie ging, kam aber bald zurück und meldete:

»Ich kann nicht zu ihr.«

»Warum?«

»Sie hat die Garderobenthür von innen verriegelt.«

»Dann werde ich sie selbst holen.«

Er ging. Man hörte ihn klopfen und rufen. Es war vergebens, denn er kehrte zurück und kam hinter die Prospectgardine zu den zwei Brüdern.

»Was soll ich machen, Herr Intendant?« fragte er.

»Sie zwingen!«

»Aber wie? Womit?«

»Drohen Sie ihr mit der Entlassung ihres Vaters.«

»Ich zweifle sehr, daß dies helfen wird. Solche Prüderie ist hier zwar ganz am unrechten Orte, aber sie liegt doch in der weiblichen Natur. Und gegen die Natur läßt sich eben nur schwer ankämpfen.«

»Versuchen sie nur! Sie muß gehorchen.«

Nach einiger Zeit kehrte Emilie vollständig angekleidet zurück. Sie sagte in bittendem Tone:

»Ich möchte dem Vater gern gehorchen, Herr Regisseur, aber man verlangt das Unmögliche von mir.«

»Warum ist es Anderen nicht unmöglich!«

»Das begreife ich nicht.«

»Es kann doch nicht so schwer sein, sich hier einfach auf den Divan zu legen.«

»Es ist schwerer als alles Andere. Bitte, lassen Sie mich gehen!«

»Nein, ich kann Sie nicht fort lassen. Bleiben Sie! Legen Sie die Kleider wieder ab!«

»Nun nicht wieder,« antwortete sie entschlossen. »Ich habe gesehen, daß ich diese Rolle nicht auf mich nehmen kann!«

»Aber Sie müssen! Wir haben keine Andere!«

»Es muß sich eine Andere finden. Ich kann nicht!«

»Aber bedenken Sie die Folgen!«

»Sie können nicht so schlimm sein wie die Rolle selbst!«

»Meinen Sie? Wie nun, wenn Ihr Vater entlassen wird, Fräulein Werner!«

»Das wird man nicht thun!«

»Vielleicht doch!«

»Er ist unschuldig. Er hat nichts gethan, was seine Entlassung rechtfertigen könnte.«

»Er nicht, aber Sie!«

»Man hat ja gar kein Recht, von mir zu verlangen, daß ich mit auftrete.«

»Man hat das Recht, solche Aushilfe von Ihrem Vater zu verlangen.«

»So mag man mir eine Rolle geben, die ich auch wirklich übernehmen kann. Diese aber spiele ich auf keinen Fall!«

»Wirklich?« ertönte es hinter ihr.

Sie drehte sich schnell um und erblickte den Intendanten, welcher von seinem Ärger herbeigetrieben worden war.

»Der Herr Intendant!« sagte sie erschrocken.

»Ja, ich selbst bin da!«

»Sie haben mich belauscht!«

Bei dem Gedanken, daß er sie so ohne Hülle gesehen habe, traten Thränen der Scham in ihre Augen.

»Ja, ich habe Sie beobachtet,« antwortete er in strengem Tone. »Was fällt Ihnen denn eigentlich ein, daß Sie ohne alle Ursache davonlaufen?«

»O, es ist wohl nicht ohne alle Ursache!«

»Sie sind ein dummes, albernes Ding! Gleich kehren Sie nach der Garderobe zurück, um sich wieder auszuziehen!«

Sie hatte vor dem obersten Vorgesetzten ihres Vaters allen Respect, aber die rücksichtslosen Worte, deren er sich bediente, benahmen ihr alle Verlegenheit.

»Ob das, was Sie albern nennen, wirklich albern ist, will ich nicht entscheiden,« sagte sie. »Ich weiß blos, daß ich Ihrem Befehle nicht gehorchen kann.«

»Ich werde Sie zwingen!«

»Womit?«

»Wenn Sie nicht augenblicklich gehorchen, werde ich Ihren Vater fortjagen!«

»Das können Sie nicht!«

»Das kann ich, und das werde ich!«

Sie sah es ihm an, daß er wirklich entschlossen war, es zu thun; aber sie dachte jetzt nicht an die Folgen dieses Unglückes, sie gehorchte nur der Regung ihres Herzens.

»Dann werden Sie uns ins Elend stürzen,« sagte sie; »aber ich will lieber Hunger und alles Andere leiden, als das thun, was Sie verlangen. Adieu!«

Noch ehe man sie zurückhalten konnte, eilte sie von dannen. Der Regisseur folgte ihr schnell, konnte sie aber nicht mehr erreichen.

»Was ist nun zu thun?« fragte er, als er zurückgekehrt war, den Intendanten.

»Verdammte Ziererei!« stieß dieser zwischen den Zähnen hervor. »Nun stecken wir grad in derselben Verlegenheit wie zuvor!«

»Es wird uns nichts Anderes übrig bleiben, als nun doch eine der Statistinnen zu nehmen.«

»Allerdings. Aber dieser Werner soll es entgelten!«

»Wollen sie ihn wirklich entlassen?«

»Ganz gewiß!«

»Ich möchte doch lieber abrathen!«

»Warum?«

»Er hat den guten Willen gehabt, zu gehorchen. Er hat seine Tochter geschickt. Daß sie sich so obstinat zeigt, dafür wird er wohl kaum verantwortlich zu machen sein.«

»Meinen Sie? Oho! Er hat mir zu gehorchen und seine Tochter ihm. Hat er sie so schlecht erzogen, daß sie es wagen darf, zu widerstreben, so trifft eben ihn die Verantwortung.«

»Und doch gestatte ich mir die Meinung, daß es vorsichtiger sein würde, ihn nicht zu entlassen.«

»Vorsichtiger? Das klingt ja grad, als ob wir etwas zu befürchten hätten!«

»Das ist es allerdings, was ich sagen will.«

»So sprechen Sie deutlicher!«

»Wie nun, wenn er sich nicht entlassen läßt?«

»Wie will er das anfangen?«

»Er kann den Rechtsweg betreten, und da ist es sehr leicht möglich, daß sich das Gericht für ihn entscheidet. Es fragt sich ja, ob wir so weit gehen können, ihn für die Weigerung seiner Tochter verantwortlich zu machen.«

»Selbst wenn Sie Recht hätten, kann man mich nicht zwingen, ihn in seiner Stellung zu belassen. Ich hätte ihm eine Monatsgage auszuzahlen, da er monatliche Kündigung hat. Zwanzig Gulden mehr oder weniger, was mache ich mir daraus!«

»Das weiß ich. Aber das Aufsehen!«

»Welches Aufsehen?«

»Wird er schweigen? Die Presse erfährt es. Man wird nicht nur davon sprechen, sondern vielleicht darüber schreiben. Man wird sagen, daß wir brave Töchter unserer Untergebenen zwingen, etwas zu thun, was gegen das natürliche Schamgefühl ist.«

»Das werden wir ruhig abwarten. Sollte man wirklich so etwas schreiben, so werden wir zu antworten wissen. Uebrigens möchte ich Sie wohl fragen, welchen Grund Sie haben, sich dieses Werners anzunehmen?«

»Ich spreche nur, weil ich es für meine Pflicht halte. Doch gestehe ich, daß mich der arme Teufel dauert.«

»Dieses Mitleid ist am unrechten Orte!«

»Vielleicht nicht so sehr, wie der Herr Intendant denken. Kennen Sie die Familienverhältnisse Werners?«

»Genau nicht.«

»Nun, er hat mit seinen zwanzig Gulden fast ebenso viele Mäuler zu sättigen. Dazu die schreckliche Krankheit, an welcher seine arme Frau leidet!«

»Schreckliche Krankheit? Ist sie denn krank?«

»Sogar unheilbar.«

»Davon weiß ich nichts!«

»Er spricht nicht davon. Er sucht es zu verheimlichen, und er hat alle Ursache dazu.«

»Was fehlt ihr denn?«

»Sie leidet am Krebse.«

»Am Krebse? Alle Teufel! Seit wann?«

»Seit einigen Jahren bereits.«

»Wo hat sie diese Krankheit?«

»Im Gesicht. Es ist überhaupt von einem Gesichte bei ihr nicht mehr die Rede. Alle Fleischtheile sind weggefressen.«

»Und das erfahre ich erst jetzt! Warum ist mir das nicht schon längst gemeldet worden?«

»Weil Niemand etwas Genaueres weiß. Ich selbst habe es erst gestern erfahren und auch nur durch reinen Zufall.«

»Aber der Theaterarzt muß es wissen. Ich werde ihm einen Verweis geben, den er nicht einrahmen lassen wird. Eine so gefährliche, ansteckende Krankheit hätte er mir zu melden gehabt.«

»Er weiß nichts davon. Werner hat sich wohl eines anderen Arztes bedient.«

»Ach so! Hm! Nun, wir werden ja sehen! Also, suchen Sie sich unter den Statistinnen eine, welche sich wenigstens leidlich für die vacante Rolle eignet. Auf dieses alberne Fräulein Werner werden wir nun verzichten müssen.«

Er entfernte sich mit seinem Bruder. Dieser blieb, ehe sie in’s Freie traten, hinter dem Eingange stehen und fragte: »Wirst Du den Theaterdiener wirklich entlassen?«

»Ja, sicher.«

»Trotz den Bemerkungen, welche der Regisseur machte? Sie sind nicht ganz unbegründet?«

»Sie fallen hier gar nicht in’s Gewicht. Du willst wohl vergessen, daß Werner’s Frau den Krebs hat?«

»Was geht das Dich an!«

»Mich? Sehr viel! Ich kann nicht dulden, daß wir Alle täglich mit einer Person zu thun haben, welche eine höchst ansteckende Atmosphäre athmet. Diese Krankheit ist Grund genug, ihn augenblicklich zu entlassen.«

»Und das thust Du wirklich?«

»Ja.«

»Schön, schön! Ausgezeichnet!«

»Ah, das ist nach Deinem Sinne?«

»Ganz und gar!«

»Wieso?«

»Du arbeitest mir da vortrefflich in die Hände. Er sieht die Noth, das Elend, den Hunger vor der Thür. Wenn ich da als Retter erscheine, werde ich sehr leichtes Spiel haben.«

»Hm! Du willst sie wirklich engagiren?«

»Das versteht sich!«

»Aber sie wird es Dir ebenso machen wie mir!«

»Das weiß ich.«

»Was nützt sie Dir also? Du kannst sie nicht gebrauchen.«

»Keine Sorge! Ist sie einmal bei mir, so gehorcht sie.«

»Das bezweifle ich!«

»Pah! Ein Circusdirector hat ganz andere Mittel, sein Personal gefügig zu machen, als so ein armer Teufel von Theaterintendant. Natürlich liegt mir sehr daran, daß Werner seine Entlassung möglichst bald erfährt!«

»Er wird sie augenblicklich erfahren.«

»Du lässest ihn benachrichtigen?«

»Nein. Ich gehe sofort selbst zu ihm.«

»Du selbst?«

»Ja. Es ist sehr nothwendig, mich selbst von der Gefährlichkeit der Krankheit seiner Frau zu überzeugen. Nur auf diese Weise kann ich erfahren, was ich am Besten thue. Gehe jetzt zu mir nach Hause. Ich werde Dir Bericht erstatten.«

»Danke! Selbst ist der Mann. Ich gehe auch zu Werner.«

»Was fällt Dir ein!«

»Keine Sorge! Ich werde nicht unvorsichtig sein. Natürlich gehe ich nicht mit Dir zu ihm. Ich werde das Terrain recognosciren, um zu erfahren, wie ich an ihn kommen kann. Gehe Du also voran. Ich folge Dir, um zu sehen, wo er wohnt.«

»Ganz, wie Du willst. Er wohnt da, wo Du mich eintreten siehst, vier Treppen hoch im Hinterhause. Ich bin neugierig, ob Du das Mädchen wegangelst.«

Er ging, und sein Bruder folgte ihm von Weitem.

Gegenüber dem betreffenden Hause lag auf der anderen Seite der Straße ein kleiner Materialwaarenladen von der Art, welche man gewöhnlich mit dem Namen Büdchen bezeichnet. Dieser Laden war mit einem Bier-und Schnapsausschank verbunden.

Hier trat, nachdem sein Bruder drüben im Eingange verschwunden war, der Kunstreiter ein. Er kaufte sich zum Scheine einige Cigarren und bemerkte dabei eine Nebenstube, in welcher einige Tische und Stühle standen.

»Ist das etwa ein Gastzimmer?« fragte er.

»Ja,« lautete die Antwort. »Ich habe zwar keine eigentliche Restauration, aber für Diejenigen, welche ein Bier oder einen Schnaps trinken wollen, muß doch ein Tisch und ein Stuhl dastehen.«

»So geben Sie mir auch ein Glas Bier!«

Er setzte sich in die Nebenstube, und zwar so, daß er die Thüre des gegenüberliegenden Hauses im Auge hatte.

Sein Bruder stieg indessen da drüben die vier Treppen empor, klopfte an und öffnete die Thür. Der Blick, den er in das Zimmer und auf die Bewohner desselben warf, sagte ihm, daß es soeben eine Scene gegeben habe. Emilie stand weinend vor ihrem Vater, welcher sich auch in tiefer Rührung zu befinden schien und beim Anblicke seines Vorgesetzten einen Ruf des Schreckes ausstieß: »Mein Gott! Der Herr Intendant!«

»Ja, ich bin es,« sagte dieser, indem er hereinkam und die Thür hinter sich zuzog.

Werner beeilte sich, einen Stuhl anzubieten. Der Intendant aber wehrte ab und fragte in strengem Tone: »Ihre Tochter hat Ihnen wohl bereits erzählt, was vorhin geschehen ist?«

»Ja.«

»Nun, was sagen Sie dazu?«

»Ich bedaure recht sehr, daß Emilie einen so großen Widerwillen gegen diese Rolle hat!«

»Und ich bedauere noch mehr, daß Sie Ihre Kinder nicht besser erzogen haben!«

»Herr Intendant!«

»Ja, ja! Es ist ein schlimmes Zeichen, wenn ein Vater sich nicht Gehorsam zu verschaffen vermag. Sie bringen mich da in eine große Verlegenheit. Woher soll ich denn nun eine Sultanin nehmen?«

Es war ein schlimmes Zeichen für Werner, daß er sich mit »Sie« angeredet hörte. Dennoch nahm er sich den Muth zu der Bemerkung: »Vielleicht giebt es Leute, welche Emilie nicht tadeln würden. Und ich hoffe, daß die Rolle doch noch zu besetzen ist.«

»Aber wie! Es fehlt ja an einer geeigneten Persönlichkeit. Aber – hm! – was haben sie hier für eine Luft! Das ist ein fürchterlicher, ein penetranter Geruch! Wer ist die verhüllte Person dort?«

Erst jetzt dachte Werner an die Gefahr, in welcher er schwebte. Er antwortete verlegen:

»Es ist meine Frau, sie leidet an Ohrenzwang.«

»Sie lügen! Ihre Frau hat den Krebs!«

Werner erschrak so, daß er zu antworten vergaß.

»Nun, habe ich Recht?« fragte der Intendant.

»Ja,« stöhnte der Theaterdiener.

»Sie geben also zu, mich belogen zu haben! Warum haben sie mich über diese Krankheit nicht benachrichtigt?«

»Ich glaubte nicht, Sie belästigen zu dürfen.«

»Belästigen? Von einer Belästigung kann nicht die Rede sein. Man kann nur von einer Verpflichtung sprechen. Es war Ihre Pflicht, mir zu melden, daß sich der Krebs in Ihrer Familie befindet. Wie alt ist die Krankheit?«

»Einige Jahre.«

»Und eine so lange Zeit haben Sie mich und Andere der fürchterlichen Gefahr der Ansteckung ausgesetzt! Welche Nachlässigkeit! Welch eine unverzeihliche Gewissenlosigkeit!«

»Herr Intendant!« bat Werner.

»Was noch!«

»Ich hatte Angst um meine Stelle!«

»Das glaube ich wohl. Ich bin auch ein Mensch; ich hätte zwar meine Pflicht thun müssen, aber ich hätte auch Ihre Armuth berücksichtigt. Jetzt nun haben Sie sich freilich eine solche Berücksichtigung verscherzt. Ich muß Sie entlassen.«

»Herrgott!«

»Ja, und zwar augenblicklich!«

»Das werden Sie nicht thun, gnädiger Herr!«

»Warum nicht, he?«

»Sehen Sie diese Familie! Ich wäre verloren!«

»Daran sind Sie nur selbst schuld. Sie müssen doch einsehen, daß ich Sie nicht in Berührung mit meinem Personale kommen lassen darf!«

Werner blickte starr vor sich nieder. Er biß sich in die Lippe, um die Thränen zu besiegen. Dann bat er: »Behalten Sie mich wenigstens so lange, bis ich eine andere Anstellung gefunden habe!«

Der Intendant lachte laut und höhnisch auf und antwortete:

»Da müßte ich Sie für immer behalten. Kein Mensch wird den Mann einer krebskranken Frau engagiren. Nein, nein! Sie haben fünf Gulden für diese Woche pränumerando erhalten. Sie sind entlassen und haben nichts mehr zu fordern!«

Da raffte sich Werner zu der Bemerkung auf:

»Herr Intendant, wir haben Kündigung!«

»Unter gewöhnlichen Verhältnissen, ja; in diesem Falle aber nicht.«

»Kein Mensch kann für Krankheit!«

»Richtig! Aber Sie haben diese Krankheit verheimlicht. Ich bleibe bei meiner Entscheidung und verbiete Ihnen, mir oder irgend einem meiner Untergebenen nahe zu kommen! Wer nicht hören will, der muß fühlen! Adieu!«

Er schritt stolz erhobenen Hauptes zur Thür hinaus.

Als er fort war, gab es eine Scene, welche unmöglich beschrieben werden kann, und es dauerte lange Zeit, ehe sich die Aufregung legte und die Thränen zu fließen aufhörten. Werner saß am Tische und hatte den Kopf in die Hand gestemmt. Es summte ihn um die Ohren. Er sann und sann, um auf einen rettenden Gedanken zu kommen, doch vergeblich.

Da trat Emilie zu ihm hin und fragte:

»Vater, denkst Du nicht, daß ein gutes Wort noch helfen würde?«

»Bei dem Intendanten?«

»Ja. Vielleicht hat er Mitleid.«

»Der und Mitleid! Nein. Er würde mich ganz einfach hinauswerfen lassen!«

»Wir dürfen trotzdem den Muth nicht sinken lassen. Vielleicht findest Du eine andere Anstellung.«

»Bei wem?«

»O, es giebt doch der Anstellungen so verschiedene.«

»Wer aber nimmt einen Mann, dessen Kräfte bereits von Anderen ausgebeutet worden sind?«

»Nun, so sind wir gezwungen, nach Arbeit zu suchen, anstatt nach einer Anstellung.«

»Was soll ich arbeiten?«

»Was sich Dir bietet. Wenn Du doch einmal in die Blätter sehen wolltest! Vielleicht steht etwas darin.«

»Möglich! Aber die Hilfe, welche mir nöthig ist, finde ich doch nicht. Steuern, Miethzins – Gott, ich habe so sehr viel zu bezahlen. Selbst wenn ich Arbeit finde, werde ich nicht sofort etwas verdienen.«

»Gott wird helfen, lieber Vater! Verzage nur nicht! Willst Du nicht in die Blätter sehen?«

Er nickte trüb vor sich hin.

»Du hast Recht. Thränen helfen nichts. Ich werde gehen, um nachzusehen.«

»Da drüben im Büdchen wird das Residenzblatt gelesen. Da kannst Du hineinsehen, ohne daß Du eine große Zeche zu machen brauchst.«

»Gut ich gehe!«

Er hatte keine Hoffnung, etwas Passendes zu finden. Dennoch folgte er dem Rathe seiner Tochter.

Der Kunstreiter saß noch drüben. Er hatte seinen Bruder gehen sehen, und war doch noch geblieben, um sich zu überlegen, wie er wohl am besten und unauffälligsten an Werner kommen könne. Da sah er ihn quer über die Straße herüberkommen. Er hörte ihn eintreten und grüßen. Der Wirth antwortete: »Guten Tag, Herr Nachbar! Womit kann ich dienen?«

»Darf ich nicht einmal in das Blatt sehen?«

»Ja. Warten Sie ein Weilchen. Da drinnen sitzt ein Herr, welcher noch liest. Wenn er fertig ist, hole ich es heraus. Sie sehen ja recht verstimmt aus?«

»Ich habe auch alle Ursache dazu.«

»Es ist Ihnen doch nichts Böses widerfahren?«

»O doch! Ich habe meine Stelle verloren.«

»Nicht möglich!«

»Warum nicht? In dieser Welt ist Alles möglich. Nun will ich in das Blatt sehen, ob ich nicht vielleicht etwas Passendes finde. Aber wenn ich warten soll, so falle ich Ihnen hier beschwerlich. Ich will lieber auch hineingehen. Viel verzehren kann ich allerdings nicht. Geben Sie mir einen Schnitt Einfaches!«

Er kam herein, grüßte und setzte sich dann an den anderen Tisch, um zu warten.

Der Kunstreiter that so, als ob er in die Lectüre des Blattes vertieft sei, und schob erst nach einer Weile das Letztere von sich fort. Da bat Werner sich die Zeitung aus und begann zu suchen. Als er fertig war, konnte man ihm ansehen, daß er nichts gefunden habe.

Jetzt hielt der Kunstreiter es für an der Zeit, das Wort zu ergreifen, um Werner festzuhalten.

»Sie lasen gewiß den interessanten Aufsatz über die Tänzerinnen?« fragte er. »Alle Welt interessirt sich dafür.«

»Nein,« antwortete Werner. »Für mich hatte nur der Inseratentheil Interesse, obgleich ich den Fall mit den Tänzerinnen sehr gut kenne.«

»Ah, Sie kennen ihn? Wieso?«

»Ich bin Theaterdiener, oder vielmehr, ich war es.«

»Theaterdiener? Etwa im Residenztheater?«

»Ja.«

»Das ist mir höchst interessant. Welche von den Beiden wird wohl siegen?«

»Jedenfalls die Leda.«

»Warum?«

»Sie besitzt Protection.«

»Ich wollte, ich könnte dieser interessanten Vorstellung beiwohnen; leider aber muß ich abreisen. Ich bin nämlich hier fremd. Fast beneide ich Sie.«

»O, dazu ist keine Veranlassung vorhanden!«

»Sie haben ja als Theaterdiener unmittelbar mit den beiden Damen zu thun.«

»Nun nicht mehr. Ich bin nicht Diener, sondern ich war es, wie ich bereits sagte.«

»Ah, Sie haben sich verabschiedet?«

»Nein, ich bin verabschiedet worden.«

»Wann?«

»Heute, vorhin.«

»Das wäre ja sonderbar. Es ist ja heute kein Monatswechsel.«

»Man hat mich ganz plötzlich fortgejagt,« meinte Werner in seinem bittersten Tone.

»Sie Ärmster! Welchen Fehler haben Sie denn begangen?«

»Gar keinen. Ich habe eine kranke Frau. Sie leidet an einem Uebel, welches man für ansteckend hält. Das ist die Ursache, daß man mich dem Hunger in die Arme wirft.«

»Dem Hunger? Wirklich?«

»Ja, ich bin arm.«

»Dann bedaure ich Sie. Ich interessire mich für solche Fälle. Ich bin nämlich Circusbesitzer, habe es also auch mit Künstlern zu thun. Man weiß da, was es heißt, Einen so plötzlich an die Luft zu setzen. Na, vielleicht finden Sie eine Anstellung.«

»Das wird Zeit haben! Hier in der Residenz giebt es ja Hunderte, welche sich täglich auf die Annoncen stürzen, um eine Stelle zu erlangen.«

»Hm! So groß scheint der Andrang doch nicht zu sein.«

»O doch!«

»Ich bezweifle es, und ich habe allen Grund dazu. Ich habe nämlich auch annoncirt, und kein Mensch ist gekommen, um sich zu bewerben.«

»Es handelte sich um eine Anstellung?«

»Ja.«

»Dann ist es zu verwundern, daß sich Niemand gemeldet hat. Es ist allerdings nicht Jedermanns Sache, mit einem Circus ein Nomadenleben zu führen!«

»O, das ist das Wenigste! Wenn nur die Anstellung an sich eine sichere und feste ist.«

»Ja, aber wer Familie hat, muß doch auf so etwas verzichten, wenn er sich nicht von den Seinen trennen will.«

»Ein Familienvater hätte sich gar nicht melden können. Die Stelle, welche ich zu besetzen habe, ist für eine Dame.«

»Ach so!«

»Vielleicht können Sie mir einen guten Rath geben.«

»Ich kenne keine Kunstreiterin!«

»Um eine solche handelt es sich ja gar nicht. Ich suche nämlich ein braves, ordentliches Mädchen, welchem ich die Casse übergeben kann.«

»Eine Cassirerin?«

»Ja. Ich habe Cassirer gehabt, aber stets ein Haar darin gefunden. Ein Mädchen ist sorgfältiger, pünktlicher und – – der Versuchung weniger ausgesetzt. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich eine brave Person fände.«

»Hm, das ist schwer?«

»Schwer. Wieso?«

»Sie verlangen natürlich Caution?«

»Eigentlich, ja. Aber wenn ich merke, daß ich Vertrauen haben kann, so sehe ich von der Caution ab.«

»Welches Gehalt zahlen sie?«

»Fünfhundert Gulden und Alles frei.«

Werner fuhr von seinem Sitze in die Höhe.

»Fünfhundert Gulden –!?« wiederholte er.

»Ja.«

»Und Alles frei?«

»Ja.«

»Für ein Mädchen?«

»Wie ich bereits sagte! Ist es zu wenig?«

»O nein, sondern ganz das Gegentheil. Welche Kenntnisse oder Fertigkeiten verlangen Sie?«

»Gar keine. Nur ehrlich soll die Person sein.«

»Und es hat sich Niemand gemeldet?«

»Kein Mensch.«

»Bei einem solchen Gehalte? Wunderbar!«

»Das Gehalt war nicht angegeben.«

Werner war wie electrisirt. Es war zwar keine Stelle für ihn; aber er dachte an Emilie. Wie lange mußte diese jetzt stricken, um einige Gulden zu verdienen! Und fünfhundert Gulden und freie Station! Dieser Circusdirector hatte übrigens um einen Rath gefragt.

»Wann müßte die Betreffende antreten?« erkundigte sich Werner.

»Möglichst sofort.«

»Wollen sie hier Vorstellungen geben?«

»Nein. Ich reise nach Rollenburg. Ich werde wohl dort wieder annonciren müssen.«

»Das ist vielleicht nicht nöthig.«

»Wieso?«

»Ich wüßte ein gutes, braves Mädchen.«

»Hier in der Residenz, die auch sofort antreten könnte?«

»Ja.«

»Wer ist sie?«

»O, ich bin mehr als reichlich mit Kindern gesegnet. Bitte, lassen Sie sich erzählen!«

Er klärte den Circusdirector über seine Verhältnisse auf. Dieser hörte aufmerksam zu und erkundigte sich dann: »Aber, wird Ihre Tochter auch Lust haben?«

»Jedenfalls, jedenfalls!«

»Sie sagten vorhin selbst, daß es nicht Jedermanns Sache sei, so ein Nomadenleben zu führen.«

»Ich dachte dabei an einen Familienvater.«

»Aber denken Sie an den Ruf, in welchem wir Circusleute stehen! Man hält uns für nicht so gut, wie andere Leute. Wird sich Ihre Tochter nicht daran stoßen?«

»Sie hat keine Vorurtheile. Uebrigens wird sie ja nicht als Künstlerin engagirt.«

»Das ist richtig! Darf ich sie einmal sehen?«

»Gewiß! Wollen Sie mit mir kommen?«

»Hm! Nicht so eilig! Ist es nicht vielleicht besser, sie erst zu fragen und vorzubereiten?«

»Sie mögen Recht haben. Ich will gehen und mit ihr sprechen. Soll ich sie dann hierher bringen?«

»Ganz wie Sie wollen.«

»Nun, ich möchte Ihnen doch nicht zumuthen, diese vier Treppen zu steigen und – Sie wissen, daß da, wo es Kranke giebt, nicht Alles so recht ist, wie es sein sollte!«

»Ich verstehe. Bringen Sie das Mädchen also hierher!«

Werner entfernte sich. Er fühlte sich leicht und froh, fast so froh, als ob er selbst eine Anstellung erhalten hätte. Die Seinen sahen es ihm an, daß er sich in einer sehr guten Stimmung befand.

»Du hast etwas gefunden?« fragte Emilie.

»Ja, eine Cassirerstelle an einem Circus.«

»O weh!«

»Was jammerst Du?«

»Weil Du eine solche Stelle nicht annehmen kannst.«

»Warum nicht?«

»Willst Du fort von uns?«

»Nein, ich muß bleiben. Aber, wenn ich nun Dich an meiner Stelle schicken könnte?«

»Mich? Du scheinst wirklich bei sehr guter Laune zu sein.«

»Das bin ich auch. Höre einmal! Die Stelle bringt fünfhundert Gulden und Alles, Alles frei.«

»Das ist viel, sehr viel.«

»Wenn Du an meiner Stelle so viel verdienen könntest, würdest Du mitmachen?«

»Sofort! Obgleich das Wort Circus einen schlechten Klang hat. Ich würde Euch das ganze Gehalt lassen.«

»Also wirklich, Du hast Lust?«

»Ja, aber was nützt uns das? Es wird keinem Menschen einfallen, mich als Cassirerin zu engagiren!«

»O doch, o doch! Wenn Du willst, so ist die Stelle Dein!«

Jetzt war die Reihe an ihr, sich zu verwundern.

»Aber, Vater!« sagte sie. »Wie kommst Du mir vor!«

»So höre mich einmal an!«

Er erzählte von seinem Zusammentreffen mit dem Circusdirector und sagte am Schlusse: »Du meintest vorhin, daß Gott helfen werde, und er hat uns geholfen. Es regnet zwar nicht augenblicklich Geld auf uns herab; aber vielleicht bekommst Du eine Gehaltsrate pränumerando, und das ist schon etwas. Indessen finde auch ich wohl Arbeit. Also, willst Du?«

Sie hatte ganz Recht: Das Wort Circus hat einen üblen Beigeschmack; aber hier handelte es sich um die Nothlage der Ihrigen, und so antwortete sie: »Ja, wenn es Dir recht ist, Vater.«

»Willst Du mit hinübergehen?«

»Ich gehe mit.«

»Aber, überlege es Dir ja richtig!«

»Cassirerin eines Circus zu sein, ist nicht so schlimm, wie sich als Lieblingsultanin angaffen zu lassen. Komm, wir wollen gehen!«

Dem Director hüpfte das Herz vor Freuden, als er den Vater mit der Tochter über die Straße herüberkommen sah. Er begrüßte Emilie mit würdevollem Ernste und sagte: »Der Zufall führte mich mit Ihrem Vater zusammen. Was Sie von ihm gehört haben, wird Ihnen überraschend gewesen sein. Hätten Sie Lust, die Stellung anzutreten?«

»Ich wünsche sehr, Ihnen zu conveniren.«

»Haben sie schon in irgend welchem Dienst gestanden?«

»Nein.«

»Giebt es außer Ihrer Familie noch etwas, wodurch Sie sich hier zurückgehalten fühlen könnten?«

»Nein.«

»Haben Sie vielleicht – eine Bekanntschaft?«

»Nein.«

»Ich meine nämlich – einen Geliebten.«

»Ich bin frei,« antwortete sie erröthend.

»Und könnten Sie bereits heute mit nach Rollenburg?«

»Wenn es nöthig ist, ja. Was ich heute nicht mitnehmen kann, wird mir nachgeschickt werden.«

»Schön! Sie gefallen mir. Sie scheinen die Eigenschaften, welche ich bei einer Cassirerin suche, zu besitzen. Wollen wir eine Probe mit einander machen?«

»Ich bitte Sie, es mit mir zu versuchen!«

»Gut, schlagen Sie ein! Topp?«

»Topp!«

»Schön so! Ich glaube, daß es nicht nothwendig ist, einen Contract anzufertigen. Wir können ja Vertrauen zu einander haben. Nicht?«

»Ich hoffe es.«

»Wie nun aber steht es mit Ihrem Gehalt? Wie wünschen Sie dasselbe ausgezahlt zu erhalten, prä-oder postnumerando?«

»Das Erstere wäre mir freilich viel lieber. Vater wird Ihnen mitgetheilt haben, in welcher Lage wir uns gegenwärtig befinden.«

»Das hat er gethan. Er ist ein braver Mann, der sein Unglück nicht verschuldet hat. Ich möchte ihm gern seine Lage erleichtern. Hm! Wenn ich wüßte, daß es Ihnen bei mir gefiele, und daß Sie bei mir bleiben, so wäre ich erbötig, ihm den Betrag eines Vierteljahrgehaltes in die Hände zu geben.«

Werner’s Augen leuchteten auf.

»Das wären hundertfünfundzwanzig Gulden?« fragte er.

»Ja.«

»Die würde ich heute erhalten?«

»Jetzt, sofort! Freilich müßte ich wissen, ob das Fräulein auch wirklich bei mir bleibt.«

»Was sagst Du dazu, Emilie?«

»Ich bleibe jedenfalls. Mit dieser Summe ist Dir auf einmal geholfen, und so versteht es sich ganz von selbst, daß ich meine Stelle auf keinen Fall eher aufgebe, als bis ich mit meinem Principale quitt geworden bin.«

»Schön, Fräulein,« sagte der Director. »Ich will Ihnen sehr gern diesen Vorschuß geben. Aber Ordnung muß sein, und man muß sich auf alle Fälle vorsehen. Es ist trotzdem eine Möglichkeit, daß Sie nicht bei mir zu bleiben wünschen. Dann würden wir diesen Gehaltsvorschuß als ein einfaches Darlehen betrachten, welches Sie mir zu erstatten hätten?«

»Ja, Herr Director.«

»Werden Sie mir also Quittung geben, daß Sie diese Summe erhalten haben?«

»Natürlich!«

»Nun, so wollen wir das Geschäft abschließen.«

Der Wirth des Büdchens verkaufte auch Papier. Er mußte einen Bogen, nebst Tinte und Feder bringen. Der Director begann zu schreiben und legte dann nach einer Weile Emilie folgende Zeilen vor:

»Ich bescheinige hierdurch mit meiner eigenhändigen Namensunterschrift, daß ich von Herrn C.F. Baumgarten, dem Director des Circus Réal, einen Vorschuß von 125 Gulden, sage hundertfünfundzwanzig Gulden, erhalten habe, welche Summe ich, falls ich aus seinem Dienst trete, ihm unverkürzt nach Art und Weise eines Wechsels auf Sicht zurückerstatten werde.«

 

Sie begann, diese Zeilen zu lesen. Er war schlau genug, den Beutel zu ziehen und das Geld aufzuzählen. Dies machte sie irre. Ihre Augen verfolgten mehr die Bewegungen seiner Hände als die Zeilen, welche sie durchlesen wollte.

»Nun, ist’s so richtig?« fragte er.

Sie wollte es sich nicht merken lassen, daß sie mehr auf das Geld, als auf die sogenannte Quittung gesehen habe; darum antwortete sie: »Ja, es ist gut.«

»Dann bitte, zu unterschreiben. Hier ist die Feder.«

Sie setzte ihren Namen hin. Dann wendete sich der Director an ihren Vater:

»Diese Quittung ist aber noch nicht rechtsgültig. Was eine Frau unterschreibt, muß der Mann bestätigen. Ist’s ein unverheirathetes Mädchen, so hat der Vater die Bestätigung zu vollziehen. Wenn Sie das Geld haben wollen, so müssen Sie mit unterschreiben.«

»Sehr gern,« meinte Werner.

»So setzen Sie hier unter den Namen Ihrer Tochter auch den Ihrigen, vorher aber die Worte: Mit meiner väterlichen Genehmigung und Haftung.«

Werner sah das Geld neben der Quittung liegen. Emilie schien die Letztere gelesen zu haben; er dachte gar nicht daran, dies auch zu thun. Er tauchte die Feder in die Tinte, schrieb die angegebenen Worte und setzte seinen Namen darunter.

Der Kunstreiter war mit Spannung seinen Bewegungen gefolgt. Jetzt holte er tief Athem und sagte:

»So, das Geschäft ist abgemacht. Ich habe die Quittung, und Sie stecken das Geld ein. Ich hoffe, daß wir mit einander zufrieden sein werden! Ich habe vor, mit dem Fünfuhrzuge nach Rollenburg zu fahren. Werden Sie bis dahin fertig sein können?«

»Gewiß,« antwortete Emilie.

»So erwarte ich Sie auf dem Bahnhofe. Jetzt aber muß ich aufbrechen, da ich noch einige Kleinigkeiten zu besorgen habe. Auf Wiedersehen!« –Als Max Holm sich nach seiner Rückkehr vom Bellevue von dem Fürsten von Befour getrennt hatte, zog er es vor, noch nicht nach Hause zu gehen. Die Erinnerung an die Anwesenheit der Amerikanerin trieb ihm noch jetzt das Blut in die Wangen.

Er steckte sich kein bestimmtes Ziel, sondern er schlenderte ganz nach Zufall durch die beschneiten Straßen und gelangte so an den Schloßteich. Dort wollte er dem lustigen Treiben der Schlittschuhläufer zuschauen, ohne sich der Kälte des winterlichen Tages auszusetzen, und so trat er in die Restauration, in welcher vor noch nicht langer Zeit Bertram und Fels mit einander gesessen hatten.

Es gab da eine Reihe kleiner Zimmerchen, welche alle wohl durchheizt waren. Er nahm in einem derselben Platz und wurde bald von einem Kellner bemerkt, welcher ihm ein Glas Punsch bringen mußte.

Dann legte er sich in die Ecke seines Sitzes zurück und ließ den Blick durch das Fenster hinaus in die Ferne schweifen.

Nach einiger Zeit ließen sich von der anderen Seite her im Nebenzimmer Schritte hören.

»Allerliebste Cabinets,« sagte eine Frauenstimme.

»Und vortrefflich geheizt,« bemerkte eine zweite.

»Bleiben wir hier?«

»Ja, setzen wir uns. Gerade von hier aus ist die Aussicht reizend. Ist vielleicht Jemand nebenan?«

Es kam Jemand an die Portiere. Er hörte sagen:

»Niemand. Es ist leer.«

»Schön! Man sagt doch zuweilen Etwas, was nicht für Jedermannes Ohr ist. Gieb einmal dort die Zeitung her.«

Diejenige, welche in das Zimmer geblickt hatte, war nicht sorgfältig gewesen. Sie war nicht vollständig herein gekommen und hatte ihn nicht in seiner Ecke sitzen sehen. Er ging mit sich zu Rathe, ob er sich bemerkbar machen solle oder nicht, doch ehe er sich entschieden hatte, kam der Kellner, bei dem die beiden Damen Thee bestellten. Sie erhielten ihn, ohne daß sie Gelegenheit gefunden hätten, zu erfahren, daß das benachbarte Zimmer doch nicht leer sei. Dann entfernte sich der dienstbare Geist.

Max Holm hörte das Klirren der Theelöffel, das leise Schlürfen der Lippen und dann und wann ein leichtes Rascheln des Papieres, woraus er schloß, daß man mit der Zeitung beschäftigt sei.

Schon machte er sich Vorwürfe, nicht anständig zu handeln. Seine Gewissenhaftigkeit trieb ihn, durch irgend ein Zeichen seine Anwesenheit zu erkennen zu geben. Er holte auch bereits Athem, um sich in einem Räuspern bemerkbar zu machen. Dieses Räuspern aber verklang in einem lauten Rufe, welcher ganz in demselben Augenblicke im Nebenzimmer ertönte.

»Himmeldonnerwetter!«

Dieses Wort erklang denn doch als für einen Frauenmund zu kräftig. Holm horchte auf. Feine Damen konnten diese Beiden denn doch nicht sein.

»Was ist’s« fragte die Andere.

»Siehst Du sie, Mutter?«

»Wen denn?«

»Das Frauenzimmer da rechts nicht weit von der Bude des Schlittschuhverleihers!«

»Welche denn? Es stehen Mehrere dort.«

»Die mit dem großen braunen Amazonenhut. Es steht noch eine Zweite dabei.«

»Ja, ich sehe sie. Sie sind erst jetzt gekommen. Was ist es mit den Beiden?«

»Wie? Das fragst Du mich?«

»Natürlich! Du thust ja ganz erschrocken!«

»Kennst Du sie denn nicht?«

»Nein.«

»So hast Du, weiß Gott, gar keine Augen im Kopfe!«

»Sie stehen mit dem Rücken nach uns zu. Man kann ihre Gesichter ja nicht sehen.«

»So warte, bis sich eine oder die andere einmal herumdreht!«

Holm blickte durch das Fenster. Er erkannte – die Leda. Nun fiel es ihm nicht ein, seine Anwesenheit zu verrathen.

»Da kann ich warten,« sagte Die, welche von der Anderen Mutter genannt worden war. »Wer ist sie denn, daß Du Dich durch ihren Anblick so aus dem Häuschen bringen läßt?«

»Ja, ich bin fast erschrocken, aber nur auf eine freudige Weise. Denke Dir, es ist die Editha von Wartensleben.«

»Was Du sagst!«

»Ja, ich habe sie sofort wiedererkannt.«

»Wirst Du Dich nicht irren?«

»Nein; eine Täuschung ist ganz unmöglich. Solche Gesichter merkt man sich genau.«

»Hm! Da dreht sie sich um!«

»Nun, kennst Du sie?«

»Ja. Bei Gott, sie ist es!«

»Nicht wahr? Wir müssen sofort hinaus.«

»Warum?«

»Wir müssen sehen, wo sie wohnt. Wenn wir hier sitzen bleiben, so kann sie uns entgehen.«

»Warte noch! Ich glaube, sie wird sich Schlittschuhe geben lassen. Ja, siehe!«

»Richtig! Sie will Schlittschuhe laufen.«

»Da haben wir noch Zeit. Es kann eine Stunde vergehen, ehe sie aufhört.«

»Aber wir müssen mit dem Fünfuhrzuge fort.«

»Müssen?«

»Ja. Der Director erwartet uns doch.«

»Pah! Ich fahre, wenn es mir beliebt.«

»Er wird zanken.«

»Das mag er. Die Riesin Aurora Bormann macht sich den Teufel daraus, ob Einer zankt oder nicht.«

Holm horchte auf. Die riesige Aurora, diese Worte hatte er doch gehört, als er die Leda in ihrem Hotel belauschte. Diese Aurora war der Leda an jener fraglichen Scheune begegnet, an welcher sie das Kind versteckt hatte. Holm begann zu ahnen, daß er von einem höchst glücklichen Impulse hierher geführt worden sei. Und Bormann hieß sie! Das war ja auch der Name jenes berüchtigten Verbrechers, von dem um die vergangene Weihnachtszeit alle Blätter geschrieben hatten!

»Ja, sie schnallt an!« hörte er weiter sagen. »Ein höchst glücklicher Umstand! Die wird bluten müssen!«

»Und wie! Sie wird erschrecken, wenn sie mich sieht. Aber was kann das helfen. Sie hat uns mit jenen tausend Gulden betrogen. Die Nummern der beiden Fünfhundertguldenscheine kamen dann im Blatte. Sie waren dem Herrn von Scharfenberg abhanden gekommen.«

»Sein Verwalter hatte sie gestohlen. Er hieß, glaube ich, Petermann, und kam auf das Zuchthaus.«

»Von diesem muß sie die Scheine haben. Warum hat sie sie uns angeheftet. Sie muß sie auswechseln; sie muß sie nehmen und uns andere tausend Gulden dafür geben. Anders kommt sie nicht weg.«

»Wenn sie Geld hat.«

»O, diese Editha ist nie ohne Geld. Sie sieht auch nicht so aus, als ob sie Mangel leide.«

»Hast Du denn die Scheine noch?«

»Das versteht sich.«

»Eigentlich eine große Unvorsichtigkeit.«

»Wieso?«

»Wie nun, wenn sie Jemand bei Dir fände?«

»Das ist unmöglich. Ich habe sie zwischen das Futter meines Portemonnaies geklebt.«

»Wir können das Geld gerade jetzt sehr nothwendig gebrauchen. Dieser Director Baumgarten fängt in neuerer Zeit an, zu knausern.«

»Undankbarer Mensch! So ist es aber! Ich bin gegen ihn die Liebenswürdigkeit selbst gewesen. Er versprach, mich zu heirathen. Da kam diese verdammte Tau-ma, die ihn ganz für sich einnahm. Ich habe sie glücklich so weit gebracht, daß sie ihm durchbrannte, aber er ist kalt geworden und scheint es zu bleiben. Erhalte ich die tausend Gulden, so lasse ich ihn im Stiche und privatisire.«

»Das wäre eine Dummheit!«

»Warum?«

»Beim Privatisiren wird das Geld alle.«

»Unsinn! Das Geld kommt im Gegentheile aus allen Richtungen herbeigeflogen.«

»Oho!«

»Du glaubst es nicht?«

»Nein.«

»So dauerst Du mich. Siehe mich einmal an.«

»Na, was ersehe ich mir an Dir?«

»Diese Beine, diese Arme!«

Holm hörte, daß sie sich bei diesen Worten auf die genanten Körpertheile klatschte.

»Na, was ist’s damit?«

»Diese Brust! Und häßlich bin ich nicht!«

»Was weiter?«

»Ich bin ein Bissen, für welchen Jeder gern seine zehn und zwanzig Gulden bezahlt!«

»Ach so! Auf diese Weise willst Du privatisiren!«

»Auf welche andere denn?«

»Hm! Mir kann es recht sein!«

Jetzt ging der Kellner durch die Zimmerreihe, um zu erfahren, ob Etwas gewünscht werde. Als er in das Nebenzimmer kam, sagte die Riesin: »Kellner, wie lange sind Sie in der Residenz?«

»So lange ich lebe.«

»Ach so! Sie sind hier geboren?«

»Ja.«

»Also jedenfalls hier gut bekannt?«

»Ich denke es.«

»Kennen Sie vielleicht die Dame, welche da drüben Schlittschuhe läuft? Passen Sie auf! Jetzt kommt sie. Da, die mit dem Amazonenhut!«

»Ja, die kenne ich zufälliger Weise.«

»Wer ist sie?«

»Ich würde sie nicht kennen, aber sie war gestern hier und hat mir selbst gesagt, wer sie ist. Ich bediente sie nämlich. Es ist die Leda.«

»Leda? Kenne ich nicht.«

»Nicht? Die berühmte Tänzerin, welche morgen Abend in der ›Königin der Nacht‹ auftritt?«

»Weiß nichts davon.«

»Da sind Sie auf dem Gebiete der Kunst sehr fremd.«

»Möglich!« lachte sie, die sich ja wohl selbst auch zu den Künstlerinnen zählte. »Wissen Sie vielleicht, wo sie wohnt?«

»Nein. Davon hat sie nicht gesprochen.«

»Gut, danke! Ich will bezahlen.«

Als sie das gethan und der Kellner sich entfernt hatte, sagte ihre Mutter:

»Du bezahlst? Willst Du gehen?«

»Wir müssen uns bereit halten, damit sie uns nicht entgeht.«

»Vielleicht ist es doch umsonst.«

»Das ist unmöglich.«

»O, wenn sie so thut, als ob sie nichts weiß!«

»Oho! Wir haben ja Beweise!«

»Du meinst die Kindesleiche?«

»Ja.«

»Sie kann ja auf den guten Gedanken gekommen sein, diese Leiche zu entfernen. Dann können wir ihr nichts beweisen.«

»Ich denke nicht, daß sie auf diesen Gedanken gekommen ist. Das wäre freilich dumm!«

»Am Besten ist es, uns zu überzeugen, ob das Kind noch unter der Scheune steckt.«

»Meinetwegen! Wir gehen ihr nach. Wissen wir, wo ihre Wohnung ist, so gehen wir nach der Scheune.«

»So meinst Du also wirklich, daß wir heute noch nicht nach Rollenburg fahren?«

»Wir bleiben hier.«

»Dann ist es doch am Besten, wir gehen jetzt. Wie leicht kann sie die Schlittschuhbahn auf der anderen Seite drüben verlassen. Dann ist sie verschwunden, ehe wir hier zur Thür hinaus sind.«

»Ihre Begleiterin wartet dort. Sie ist uns sicher. Auch müssen wir uns in Acht nehmen, daß wir nicht von ihr erkannt werden.«

»Deine Figur ist freilich augenfällig.«

»Nun, ich thue den Schleier herab und stelle mich an eine der alten Linden da drüben. Komm!«

Sie gingen, ohne in das andere Zimmer zu blicken.

»Sapperment, welche Neuigkeit!« dachte Holm. »Welch ein Glück, daß ich auf den Gedanken kam, hier einzukehren. Jetzt ist es mir fast leicht, zu beweisen, daß die Tochter meines alten, braven Werner unschuldig ist.«

Er erhob sich, um die beiden Damen zu beobachten. In diesem Augenblick kam – der Fürst von Befour des Weges daher und blieb erstaunt stehen, als er die Riesin erblickte. Sie hatte allerdings geradezu colossale Formen und war dabei von dem schönsten, reinsten Ebenmaße der riesigen Glieder.

Als der Fürst sich wieder abwendete, sah er Holm am Fenster stehen. Er nickte ihm lächelnd zu und kam herein.

»Auch Sie hier?« sagte er, sich niedersetzend. »Ich dachte nicht, daß wir uns so bald wiedersehen würden.«

»Ich ebenso wenig.«

»Nun, trinken wir einen Tokayer!«

»Ich weiß nicht, ob ich mich zur Verfügung stellen darf!«

»Warum nicht?«

»Ich darf jene beiden Damen nicht aus den Augen lassen.«

Der verlorne Sohn
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