Sie begrüßten sich in der Weise ernster und doch vertrauter Stammgäste und ließen sich eine Karte geben. Nachdem sie einige Spiele gemacht hatten und nun bemerkten, daß die Aufmerksamkeit der wenigen anwesenden Gäste sich von ihnen abgelenkt habe, flüsterte der Agent: »Habe lange warten müssen!«

»War sehr beschäftigt, und Ihr Zeichen konnte erst spät bemerkt werden. Was giebt es Neues?«

»Höchst Wichtiges. Zweierlei sogar!«

»Gutes?«

»Sehr Gutes.«

»So lassen Sie hören.«

Der Agent theilte ihm von den Pretiosen der Amerikanerin und seiner Unterredung mit dem vermeintlich entlassenen Gefangenen mit. Sie waren damit kaum zu Ende, so trat der Erwähnte ein.

Er grüßte den Agenten von Weitem und that so, als ob er sich an einen entfernten Tisch setzen wolle; der Genannte aber gab ihm einen Wink, näher zu kommen.

»Setzen Sie sich immer zu uns!« sagte er.

»Aber ich störe.«

»O nein. Spielen Sie nicht Sechsundsechzig?«

»Ein Wenig, aber grundsätzlich nicht hoch.«

»O, wir spielen auch nur sehr billig. Machen Sie mit?«

»Na, ich will es versuchen.«

Es ging also unter Dreien los. Auf diese Weise glaubten die Beiden, ihn am Unauffälligsten aushorchen zu können.

»Dieser Herr,« sagte der Agent, »ist nämlich ein guter Freund von mir, emeritirter Kantor und Organist.«

Nun wußte der Polizist, daß er den Hauptmann, den Baron Franz von Helfenstein, vor sich habe. Er mußte sich gestehen, daß derselbe sehr gut verkleidet sei, dachte aber dabei im Stillen: »Das Lahialaki des Fürsten ist aber doch noch besser. Dieser Hauptmann hat mich bereits oft gesehen, vermag aber in Folge dieses ausgezeichneten Toilettenmittels mich nicht zu erkennen. Wollen sehen, wie sie anfangen werden!«

»Herr Leonhardt hier ist nämlich Lakai,« erklärte der Agent, »und sucht eine Anstellung in der Residenz.«

»O nein, Herr Bauer,« widersprach der Genannte.

»Nicht? Sie sagten es doch?«

»Ja; aber ich habe unterdessen eine brillante Anstellung gefunden, so brillant, wie ich gar nicht ahnen konnte.«

»Wirklich?«

»Ja. Gleich nachdem ich von hier fortgegangen war.«

»Wo denn?«

»Im Hotel Union.«

»Was Sie sagen!«

»Ich ging da vorüber, und der Besitzer stand vor der Thür. Er kannte mich von früher her und redete mich an. Ich erklärte ihm meine Lage, und da sagte er mir, daß eine Dame, welche bei ihm logire, einen Diener engagiren wolle.«

»Eine Dame?«

»Ja. Ich hatte nicht so recht Lust, weil er sagte, daß sie eine Tänzerin sei; aber als er mich zu ihr brachte, merkte ich, daß diese Dame ungeheuer reich sein müsse.«

»Sie sind des Teufels! Wie heißt sie?«

»Miß Ellen Starton.«

»Donnerwetter! Das ist ja dieselbe Dame, von welcher der Austräger sagte, daß sie soviel Diamanten besitze.«

»Daran dachte ich auch.«

»Und sie hat Sie engagirt?«

»Ja.«

»Sie scherzen!«

»Warum sollte sie nicht?«

»Nun, haben Sie ihr denn verschwiegen, daß – – –«

»Nein; ich habe ihr Alles aufrichtig gesagt. Grad über diese Aufrichtigkeit hat sie sich gefreut, und weil der Wirth ein empfehlendes Wort sagte, hat sie mich sofort angestellt.«

»Welch ein Glück! Kaum zu glauben!«

»O, ich will es Ihnen beweisen. Hier sehen Sie! Dies hat sie mir ausgestellt, damit ich mich auf der Polizei vorschriftsmäßig anmelden kann.«

Er zeigte ihnen eine Bescheinigung der Tänzerin vor; sie lasen dieselbe, wechselten einen bedeutungsvollen Blick, und dann erkundigte sich der Agent: »Da wohnen Sie wohl nun im Hotel?«

»Natürlich muß ich da wohnen, wo sich meine Herrin befindet!«

»Sie glücklicher Mann! Ich hatte bereits Schritte gethan, Ihnen eine Stelle zu verschaffen, doch nun ist das nicht nothwendig. Sie scheinen überhaupt ein Glückskind zu sein. Sechs Trümpfe! Mich schwarz zu machen! Geben Sie Karte!«

Nach einigen Spielen leitete er das Gespräch höchst geschickt auf die Geheimnisse der Residenz, auf den Fürsten des Elendes, und so kam die Rede natürlich auch auf den Hauptmann.

»Ah, wir sprachen ja bereits von dieser geheimnißvollen Persönlichkeit, Herr Leonhardt,« meinte er leichthin. »Da ist mein werther Freund, der Herr Kantor, der hat einmal ein Gespräch belauscht, welches sich auf den Hauptmann bezieht. Können Sie sich noch besinnen, mein Bester?«

»Wüßte nicht!« meinte der Kantor kopfschüttelnd.

»Nun, wo sich die beiden Spitzbuben unter Ihrem Fenster mitgetheilt haben, wie man es machen muß, wenn man mit dem Hauptmanne sprechen will.«

»Ach so! Wollen Sie etwa mit ihm sprechen?«

»Doch nein!«

»Oder hier Herr Leonhardt?«

»Jedenfalls auch nicht. Aber die Sache ist doch interessant!«

»Das ist sie freilich!«

Es gab dem Polizisten heimlichen Spaß, wie geschickt diese Beiden es anzufangen suchten, ihn dahin zu bringen, wo sie ihn hin haben wollten. Da es nun in seinem Interesse lag, so unterstützte er ihre Bemühungen durch die Frage: »Also giebt es ein Mittel, ihn zu treffen?«

»Ja,« nickte der Kantor.

»Am Tage?«

»Nein, nur des Nachts.«

»Zu welcher Zeit?«

»Punkt zwölf Uhr.«

»Wo?«

»An der Hauptkirche.«

»Wie aber erkennt man ihn?«

»Man hat gar nicht nöthig, ihn zu erkennen. Er kommt selbst, wenn man ihm das Zeichen giebt.«

»Kennen Sie dieses Zeichen?«

»Ja. Die Zwei, welche ich belauschte, theilten es sich mit. Nämlich man nimmt einen Spazierstock mit, hält ihn locker und zwar so in der Hand, daß er unten über das Pflaster streift, und summt dabei halblaut die Melodie des Gaudeamus igitur vor sich hin.«

»Dann kommt er?«

»Ja.«

»Welch eine Unvorsichtigkeit, meine Herren!«

»Wie denn Unvorsichtigkeit?«

»Auf diese Weise ist er doch ganz leicht zu fangen!«

»Das denken Sie nur! Haben Sie um den Hauptmann keine Angst! Der weiß schon, was er zu thun und zu lassen hat. Der läßt sich nicht fangen. Herr Kantor, Sie haben Karten zu mischen!«

Es war jetzt auf sehr schlaue Weise Alles gesagt worden, was gesagt hatte werden sollen, und da der Polizist sich denken konnte, daß die Beiden noch Einiges unter vier Augen zu besprechen haben würden, so erklärte er, daß seine Zeit nun abgelaufen sei, und bezahlte seinen Wein. – –Der Nachmittag verging, und der Abend brach herein. Bereits am Morgen war kein Billett für die heutige Vorstellung im Residenztheater mehr zu haben gewesen, und eine Stunde vor Oeffnung der Räume waren die Eingange von Außen von Menschen besetzt.

Die Leda rüstete sich zur Feier ihres heutigen großen Triumphes. Es war ihr von Herrn Léon Staudigel mittelst eines Handbillets mitgetheilt worden, daß bei mehreren Gärtnereien riesige Bouquets bestellt worden seien, und so schwelgte sie schon im Voraus in dem Entzücken, welches ihrer auf alle Fälle wartete.

Eben legte sie den Mantel um, um sich mit ihrer Mutter nach dem Theater zu begeben; da trat der Kellner ein und sagte, daß ein Fremder die Damen sprechen wolle. Die Leda gab die Erlaubniß und der Angemeldete trat ein. Es war ein alter Mann, der aber noch ganz rüstig aussah. Seine Kleidung war weder fein noch das Gegentheil, sein Gruß weder sehr höflich noch auch unehrerbietig!

»Was wollen Sie?« fragte die Leda.

»Zunächst muß ich mich Ihnen vorstellen,« sagte er.

»Machen Sie es kurz! Wir müssen fort.«

»Schön, Fräulein! Ich bin nämlich Künstler, das heißt, Seilkünstler; ich laufe Drahtseil, das heißt, ich lief Drahtseil, denn jetzt bin ich zu alt dazu – – –«

»Was geht uns das an!« unterbrach ihn die Leda.

»Eigentlich wenig. Aber als Künstler komme ich mit anderen Künstlern und Künstlerinnen in Berührung, und unter diesen Letzteren befindet sich eine Freundin von mir, in deren Auftrag ich zu Ihnen komme.«

»Wen meinen Sie?«

»Die Riesin Bormann.«

Man sah es ebenso ihr als auch ihrer Mutter an, welchen Eindruck dieser Namen auf sie machte. Sie erschraken Beide auf das Heftigste. Die Tochter faßte sich am Schnellsten.

»Ich wüßte nicht, was sie von mir wollte!« sagte sie.

»Sie kennen die Riesin doch?«

»Ich habe sie einmal gesehen.«

»So! Hm! Darf ich fragen, wo?«

»Was geht das Sie an?«

»Ich habe doch vielleicht Grund, mich dafür zu interessiren. Zunächst aber bin ich als Bote der Riesin da. Sie läßt nämlich fragen, ob Sie das Geld umtauschen wollen?«

»Welches Geld?«

»Jene zwei Fünfhundertguldenscheine.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen!«

»Desto besser weiß die Riesin, was sie verlangt.«

»Wo ist sie denn gegenwärtig?«

»Hier in der Residenz.«

»Lüge!«

»Pah! Was ich sage, ist die Wahrheit.«

»Beweisen Sie es!«

»Ich habe den Beweis mit.«

Er hatte ein Paquet in der Hand getragen. Er öffnete es und nahm ein Buch aus dem Umschlage.

»Hier, lesen Sie!«

Es war das Fremdenbuch des Gasthofes, in welchem die Riesin gestern mit ihrer Mutter eingekehrt war. Er schlug die betreffende Stelle auf und zeigte sie mit dem Finger an.

»Wahrhaftig!« rief die Leda, als sie es gelesen hatte.

»Sie sehen, daß ich Sie nicht belüge. Also, sagen Sie mir, welche Antwort ich Fräulein Bormann bringen soll!«

»Ich habe ihr nichts zu antworten. Ich habe niemals Etwas mit ihr zu schaffen gehabt!«

»Auch nicht, als Sie sich noch Editha von Wartensleben nannten?«

»Diesen Namen kenne ich nicht.«

»Desto besser aber kennt man Sie. Soll ich einen gewissen Petermann bringen?«

»Sie faseln!«

»Einen gewissen Hausmann Kreller, der Sie bediente?«

»Sie phantasiren wirklich!«

»Oder eine gewisse Laura Werner, welche Ihretwegen unschuldig verurtheilt wurde?«

»Herr Schulze, machen Sie, daß Sie fortkommen!«

»Oder soll ich einen Herrn Baron von Helfenstein und einen Lieutenant von Scharfenberg bringen, welche Beide bis heute Ziehgeld bezahlen, obgleich das Kind nicht mehr lebt, weil es ermordet wurde?«

Sie blieb doch noch ungerührt.

»Ich werde den Hausknecht kommen lassen!« drohte sie.

»Und ich werde Sie nach Haus Scharfenberg bringen lassen, wo Sie die Roulleauxschnur vom Fenster rissen, um mit derselben Ihr Kind zu erdrosseln!«

Das wirkte. Sie wurde todtesbleich. Sie griff nach dem Tische, um sich zu stützen.

»Und wo Sie dem braven Inspector Petermann fünftausend Gulden stahlen, um mit diesem Gelde nach Paris zu entweichen!« fügte er hinzu.

»Mensch, was Sie da vorbringen, gehört ja Alles in das Reich der Fabel!« stieß sie, ihre Fassung wieder gewinnend, hervor.

»Wenn Sie wünschen, werde ich Beweise bringen. Bis jetzt aber bin ich noch bereit, mit mir sprechen zu lassen.«

»Was wollen sie denn?«

»Den Umtausch jener beiden Banknoten.«

»Ich weiß von keinen Noten!«

»Sie zahlten diese Summe für das Abkommen, welches Sie an der Scheune mit der Riesin trafen. Wenn Sie nicht wahnsinnig sind, so werden Sie nicht leugnen.«

»Die Riesin mag selbst kommen!«

»Sie hat keine Zeit.«

»Ich werde aber nur mit ihr verhandeln!«

»Das wird nicht gut möglich sein. Sie hat diese Angelegenheit in meine Hände gelegt, und ich habe den sehr guten Willen, dieselbe vollständig zu Ende zu führen.«

»Nun gut, die Riesin hat ihr Geld empfangen.«

»Aber in gestohlenen Scheinen, die sie nicht ausgeben konnte, wenn sie sich nicht arretiren lassen wollte.«

»So mag sie sie jetzt ausgeben. Man achtet nicht mehr darauf.«

»Vielleicht jetzt mehr als damals. Ich frage hoch einmal: Sind Sie bereit, das Geld umzutauschen?«

»Ich habe keine solche Summe.«

»Leihen Sie sich den Betrag von Herrn Léon Staudigel, mit dem Sie heute noch speisen werden!«

Das war ihr doch zuviel.

»Mensch, sind Sie allwissend?« fragte sie.

»Nein, sondern gut unterrichtet.«

»Ich kann auf keinen Fall das Geld schaffen!«

»So sind Sie verloren!«

»Aber die Riesin mit«

»Meinen Sie? Sie hat schon noch ein Mittel, sich aus der Schlinge zu ziehen. Und überdies habe nicht ich auf sie Rücksicht zu nehmen. Mir ist es ganz gleich, wer zu Grunde geht, ob sie Beide allein oder die Riesin mit ihrer Mutter.«

»Beide?« ächzte die Alte, welche bisher vor lauter Schreck und Angst noch kein Wort gesagt hatte.

»Ja, Beide,« antwortete er.

»Mich geht diese Sache gar nichts an!«

»Sie haben am Gottesacker gewacht. Verstanden! Ueberlegen Sie sich, was Sie thun wollen!«

»Wir haben weder Geld, es Ihnen zu geben, noch Zeit, uns die Sache zu überlegen. Wir wissen von Nichts. Nun machen Sie, was Sie wollen!«

»Sie denken, ich kann keine Beweise bringen?«

»Wo wollen Sie Beweise haben?«

»Unter der Scheune. Da liegt noch heute das Kind.«

Daran hatte sie nicht gedacht. Sie schwieg bestürzt.

»Mit Ihrem Schweigen haben Sie sich gefangen. Ich will Ihnen mein letztes Wort sagen. Gegen elf Uhr ist die Vorstellung beendet. Um diese Zeit bin ich wieder hier, um mir Ihre Entscheidung zu holen. Zahlen sie auch dann noch nicht, so lasse ich Sie arretiren und unter Polizeibedeckung nach der Scheune führen, wo wir die Leiche des Kindes sicher finden werden. Bis dahin, gute Nacht!«

Er nahm das Buch vom Tische und entfernte sich. Einige Augenblicke lang sahen sich die Beiden stumm an; dann rief die Mutter jammernd: »Welch ein Unglück! Wir sind verloren!«

»Still! Sprich leise! Man hört uns ja!«

»Und das kommt so schnell, so unerwartet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel!«

»Eine verdammt fatale Geschichte!«

»Hätten wir doch Geld!«

»Auch das würde uns nicht retten. Wir müssen nach anderer Hilfe suchen. Was ist zu thun?«

»Mir vergehen die Gedanken! Und, da sieh nach der Uhr! Es ist die höchste Zeit, im Theater einzutreffen.«

»Ja, das ist jetzt die Hauptsache. Vorwärts; ich muß siegen! Und dann – ah, Mutter, welch ein Gedanke! Wir sind nicht verloren! Wir können diese Riesin und ihren Boten auslachen!«

»Ist Dir etwas eingefallen?«

»Ja, ja. Ich muß freilich vielleicht auf das Souper mit Staudigel verzichten. Sobald ich nämlich fertig bin, verlassen wir das Theater durch die Seitenthür und eilen nach der Scheune. Die Leiche oder vielmehr das Gerippe muß fort. Ist es verschwunden, so kann kein Mensch eine Anklage erheben. Ich komme dann auch noch zeitig genug zurück, um mit nach dem Bellevue zu fahren. Brechen wir jetzt auf!« –Im Foyer des Residenztheaters saß Max Holm in einer sehr leicht erklärlichen Aufregung. Der Kampf zwischen den beiden Rivalinnen sollte beginnen. Er empfand eine förmliche Angst vor den nächsten zwei Stunden.

Er hörte, daß die Ouvertüre bereits begonnen hatte, und doch wartete er vergebens auf – nein, nicht vergebens: da kam er ja, der Fürst von Befour. Er ließ sich an dem Büffete ein Glas Wein geben, trank es aus und trat dann zu Holm, der ihm entgegenging.

»Ist’s gelungen, Durchlaucht?« fragte er.

»Ich bin überzeugt.«

»Daß sie nach der Scheune gehen werden?«

»Ja. Ich möchte darauf schwören, daß sie sofort nach der ersten Vorstellung den Platz durch den kleinen Ausgang verlassen. Die Polizei ist bereits auf dem Posten. Und Sie?«

»Alles bereit.«

»Dieser famose Paukenschläger?«

»Nimmt sich allerliebst aus. Man muß ihn für eine Dame halten. Mein alter Papa Werner steht auf der Lauer, ihn am rechten Augenblick auch richtig zu plaziren.«

»Und der Balletmeister nebst der Frau des Claqueurs?«

»Der Wagen wird mich zur festgesetzten Zeit erwarten.«

»Haben Sie den Wirth des Bellevue benachrichtigt?«

»Natürlich! Er selbst ist herzlich gespannt auf den Spaß!«

»So wollen wir unsere Plätze aufsuchen. Ich höre bereits Musik. Die Ouvertüre ist im Gange.« – –Als Holm in die vergitterte Loge des Commissionsrathes eintrat, wendete sich dieser schnell zu ihm um.

»Mein Gott, wo bleiben Sie denn?« sagte er. »Ich bin beinahe wie im Fieber. Wer wird siegen?«

»Die Amerikanerin.«

»Wirklich?«

»Ja. Man hat dafür gesorgt.«

»Gut, gut! Schön! Hören Sie, die Schlußtacte! Der Vorhang wird sich gleich erheben!«

Sie setzten sich an das Gitter. Wohl noch selten hatte der Raum eine solche Menge Zuschauer gefaßt, wie heute. Sogar in den Gängen standen sie, Kopf an Kopf, eng an einander.

Jetzt rollte der Vorhang langsam auf. Die Scene stellte eine felsige Parthie vor, in deren Mitte sich eine tiefe, dunkle Grotte öffnete. Rechts und links neigten sich schlanke, helle Elfengestalten in den Hüften. Am Himmel begannen die Sterne zu glänzen, und der Vollmond verkündete sein Nahen durch einen jetzt noch schwachen, unbestimmten Schein, weicher über der Scene zitterte.

Da ward es im Hintergrunde der Grotte hell. Die Königin der Nacht erstand in derselben. Bereits waren die Umrisse ihrer vollen, üppigen Gestalt zu erkennen. Sie kam weiter und weiter hervor, je höher der Mond emporstieg, und da – da stand sie nun im Freien, von seinem silberhellen Schein bestrahlt.

Aus dem dunklen, mit goldenen Sternen besäeten Schleier, welcher von ihrem mit einer Krone geschmückten Haupte wallte, stachen die wollüstigen, in fleischfarbige Tricots gekleideten Formen hervor. Und diese Formen bekamen jetzt Bewegung.

Bei ihrem Erscheinen hatte sich ein Beifallssturm erhoben, der gar nicht enden wollte. Glaubte man, daß er zu Ende sei, so begann er von Neuem.

»Gemacht, künstlich gemacht!« sagte der zornige Commissionsrath. »Das ist die Claque, die Bestie!«

Und nun tanzte sie. Es war der Tanz eines Weibes, welches nur den Zweck hat, Fleisch zu zeigen, um die Lüste des anderen Geschlechtes zu entfesseln. Von einer Characteristik, von einer durchdachten Durchführung eines mit Ernst aufgefaßten Grundgedankens war keine Rede.

Und dennoch hielt der Applaus während des ganzen Actes und auch während des zweiten an, so daß man nicht sagen konnte, ob man Musik gehört habe oder nicht.

Am Schlusse dieses zweiten, letzten Actes regnete es von allen Seiten Blumen und Bouquets, und der Jubel des durch die Claqueurs mit fortgerissenen Hauses war ein frenetischer, ein betäubender zu nennen.

»Rücksichtslos und im höchsten Grade unartig!« zürnte der Commissionsrath. »Was sagen Sie dazu, Herr Doctor?«

»Staudigel’s Werk!«

»Ganz richtig! Und dazu zwei Wagenladungen voll Blumen! Das ist Unsinn! Das ist sogar Blödsinn!«

Endlich fiel der Vorhang. Hinter demselben wurde die Leda von allen Seiten beglückwünscht. Sie schien in einem Meer von Wonne zu schwimmen, hatte sich aber trotzdem ganz ungewöhnlich bald in ihre Garderobe zurückgezogen, und bei den Vorbereitungen zur Wiederholung des Stückes bemerkte es Niemand, daß sie mit ihrer Mutter durch die hintere, schmale Treppe entschlüpfte. Draußen aber, als die Beiden in’s Freie traten, wurden sie von wachsamen Leuten sofort bemerkt, welche bereits auf sie gewartet hatten.

Unterdessen hatte die Musik wieder begonnen, und Aller Augen richteten sich voller Spannung auf den Vorhang.

Endlich stieg er empor. Dieselbe Scene wie vorher; dieselbe Gruppierung von Elfen und Nymphen. Auch jetzt begann es im Innern der Grotte zu dämmern, und die Königin trat hervor. Aber welch eine andere Königin war diese jetzt!

Nicht schwarz ging sie, sondern in weiße, duftige Wolken gehüllt, wie die Federwölkchen über den nächtlichen Himmel gleiten. Die herrlichen Glieder waren züchtig verhüllt, und um diese duftigen Wolken wallte der durchsichtige Schleier von jenem tiefen Blau, welches dem Himmel der letzten Herbstnächte eigen ist.

Nichts von Sternen und Flittergold! Aber überall, allüberall an dieser entzückend schönen Gestalt flimmerte und brillirte es in echtem Glanze. Das waren die Brillanten, welche Millionen kosteten.

Bei ihrem Erscheinen war es einen Augenblick lang still, tief still gewesen; dann aber brach ein Beifall los, der ein zu natürlicher war. Sie verneigte sich würdevoll, um zu danken, aber sofort zuckte auch das schöne, unter tausend Smaragden und Rubinen leuchtende Haupt empor. Man hatte einen scharfen, schrillen Pfiff gehört. Ihm folgte einer und noch einer. Plötzlich pfiff es an zehn, zwanzig, vierzig Puncten; ein teuflisches Zischen und Klopfen kam dazu, und der Beifall war übertönt.

Ellen stand bewegungslos. Sie zuckte mit keiner Wimper. Sie wartete, bis sich der wüste Lärm gelegt haben werde. Auch die Musik schwieg.

So verging eine ganze Weile, bis endlich der Tactstock wieder das Zeichen dazu gab. Kaum aber wollte Ellen beginnen, so brach der Spectakel von neuem los.

So ging es dreimal, viermal. Sie verlor weder ihre Fassung, noch ihre Geduld. Dadurch ermüdete sie die Claqueurs, und so kam es, daß sie schließlich doch beginnen konnte.

Aber welch ein Tanz war das! Jedes Glied an ihr war eine Gewißheit des Sieges. Ihr Körper war bewegt, aber nicht im Ballete. Nicht er tanzte, sondern ihre Seele hatte sich seiner bemächtigt zur Offenbarung der Geheimnisse, welche im Schleier der Nacht der Erlösung entgegenharren. Das war – halt! Warum horchte sie jetzt plötzlich auf? Warum richteten sich ihre dunklen, leuchtenden Augen so durchbohrend nach dem Orchester?

Und wieder begann sie, umschwebt von der Schar der Elfen; aber sofort auch fuhr sie wieder zur Seite und ließ die bereits erhobenen Arme sinken. Dadurch kamen die Elfen aus dein Tacte. Sie warf den Kopf zur Seite und riß sich den Schleier vom Haupt herab. Sie hatte aufgehört zu tanzen.

Da erhob sich ein wahrhaft höllisches Zischen, Pfeifen, Stampfen und Klopfen. Sie schien es nicht zu hören. Sie trat langsam vor, ganz vor bis nahe an das Pult des Dirigenten und wartete.

Natürlich mußte die Musik wieder schweigen. Ueber fünf Minuten dauerte der Lärm; dann hatte man für jetzt genug. Was würde sie thun? Würde sie vielleicht nochmals beginnen?

Eine erwartungsvolle Stille trat ein. Da aber bückte sie sich schnell zum Pulte des Capellmeisters herab. Im Nu hatte sie die Partitur in der Hand. Sie warf einen Blick auf die Stellen, welche verändert worden waren, um sie irre zu machen, und dann flog die Partitur weit fort, zwischen die Coulissen hinein.

Sie erhob den Kopf; ihr Blick schweifte stolz und fest über die aufgeregte Menge.

»Pöbel!« erklang es hell und sonor von ihren Lippen.

Dann drehte sie sich um und verschwand mit stolzen, langsamen Schritten zwischen den pappenen Felsen.

Nur einen kurzen Augenblick noch währte das Schweigen; dann aber brach ein Brüllen, Schreien und Toben los, wie man es aus menschlichen Kehlen für unmöglich hätte halten sollen.

»Donner und Doria!« fluchte der Commissionsrath. »Doctor, Sie haben doch nicht Recht! Sie sagten – ah, Sapperment, wo ist der Kerl hin?«

Holm war verschwunden. Er empfand eine fürchterliche Angst um die Sicherheit des herrlichen Mädchens. Er war fort geeilt, um nach der Polizei zu suchen.

Unterdessen hatte die Leda mit ihrer Mutter zu Fuß die Straßen durchwandert. Sie waren in der Nähe des Kirchhofes angekommen.

»Dort war es,« sagte sie. »Dort an jener Stelle stieg ich über die Mauer. Hätte ich es doch nicht so gemacht. Hätte ich das Kind doch lieber in den Fluß geworfen!«

»Diese klugen Gedanken kommen jetzt zu spät,« brummte ihre Mutter. »Besser wäre es gewesen!«

»Baron Franz war schuld!«

»Werden wir unglücklich, so fällt er mit! Das sage ich.«

»Unglücklich? Wir? Daran ist nicht zu denken. In einer Viertelstunde ist Alles gethan!«

»Wohin aber schaffen wir das – das Gerippe?«

»In den Fluß.«

»Der ist zugefroren.«

»Wir treten ein Loch in das Eis. Komm nur!«

Sie schritten der Kirchhofsmauer entlang und dann auf die Scheunen zu. Dort angekommen, besannen sie sich.

»Weißt Du noch, wo es war?« fragte die Alte.

»Ja, dort an der zweiten Scheune. Komm nur!«

Sie fanden die Stelle mit ziemlicher Leichtigkeit. Sie kauerten sich neben einander nieder und begannen, den Schutt mit den Händen zu entfernen.

»Wie weich!« bemerkte die Alte. »Man sollte meinen, daß wir das Loch damals fester zugemacht haben!«

»Das Gestein ist während der Zeit zerbröckelt.«

Sie arbeiteten mit Anstrengung. Der Durchzug wurde frei, aber die Stelle war leer.

»Es scheint gar nichts mehr da zu sein,« sagte die Leda.

»Greife einmal weiter hinein!«

Sie that es, so weit sie es konnte, und zog dann den Arm zurück.

»Leer, vollständig leer!« sagte sie.

»Das ist doch kaum möglich!«

»Warum nicht?«

»Sollte ein menschlicher Körper so schnell verwesen!«

»Vielleicht doch! Der Leib eines Kindes geht wohl viel eher in Auflösung über, wie derjenige eines erwachsenen Menschen. Aber eigenthümlich kommt es mir doch vor!«

»Verdächtig sogar, sehr verdächtig!«

»Natürlich ist es verdächtig, wenn zwei Frauen des Nachts hier auf die Leichensuche gehen!«

Diese Worte, von einer männlichen Stimme gesprochen, ertönten hinter ihnen. Ein doppelter Schrei furchtbaren Schreckes erscholl. Sie fuhren herum und erblickten eine ganze Anzahl Polizisten, von denen sie eingeschlossen waren, so daß sie an eine Flucht gar nicht denken konnten.

»Was thun Sie hier, Fräulein Leda?« fragte der Obergensd’arm, denn dieser war der Sprecher.

Sie antwortete nicht; darum wiederholte er seine Frage:

»Ich – ich – – –« stammelte sie.

»Nun, was wollten Sie?«

»Ich – weiß es nicht.«

»So will ich Ihnen Zeit geben, sich zu besinnen. Ich erkläre ihre Majestät, die Königin der Nacht, für unsere Gefangene. Die Frau Mama ist natürlich mit eingeladen.«

Sie wurden fortgeschafft. – –

Nicht nur im Zuschauerraum des Theaters, sondern auch hinter der Scene hatte es eine ungeheure Aufregung gegeben. Nur Ellen allein hatte ihre Ruhe bewahrt. Sie raffte in möglichster Schnelligkeit alles ihr Gehörige zusammen, warf den Mantel über und entfernte sich in Gesellschaft des Theaterdieners, der ihr heute zu Diensten gestellt worden war, durch dieselbe Hintertreppe, welche einige Zeit vorher auch die Leda benutzt hatte.

Während vorn an der Theaterfront der Lärm sich zu erheben begann, gelangte sie an der hinteren Seite ganz unbemerkt zu einer Droschke, von welcher sie sich nach Hause bringen ließ. Nur Einer hatte sie gesehen – Max Holm. Und nun er wußte, daß sie sich in Sicherheit befinde, ging er ruhig von dannen.

Vorher schon hatte neben dem Hauptportale eine zweispännige Equipage gehalten. Der Kutscher saß auf dem Bocke, und ein Lohndiener stand neben dem Geschirr. Da kam ein Mann um die Ecke. Er trug die Livree eines Theaterdieners. Es war der alte Werner, der sich noch im Besitze seines Anzuges befand.

Er trat zu dem Diener heran und fragte:

»Für wen ist diese Equipage?«

»Für die betreffende Dame.«

»Ah! Maskirt?«

»Ja.«

»Und der betreffende Herr?«

»Ist bereits voraus.«

»Warten Sie nur noch einen Augenblick!«

Er eilte zurück bis zu einem Säulenvorsprung, hinter welchem eine verhüllte Dame stand.

»Jetzt ist es Zeit. Gehen Sie! Der Claqueur ist bereits voran. Weshalb, das weiß ich nicht. Vielleicht hat er sehen wollen, ob man seinen Befehlen nachgekommen ist. Dort steht die Equipage.«

Die Dame trippelte herbei und stieg ein. Trotz des breitkrämpigen Winterhutes, welchen sie trug, konnte man bemerken, daß der obere Theil ihres Gesichtes von einer schwarzen Halbmaske bedeckt war.

Herr Léon Staudigel war allerdings voraus geeilt, aber nicht etwa, um seinen Befehlen doppelten Nachdruck zu geben, sondern um zu verhindern, daß man etwa gar zu splendid verfahre. Er war überzeugt, daß der Wirth ihn gar nicht kenne, und ließ sich von diesem, den er an der Thür wartend fand, nach oben führen.

Das Arrangement war glänzend ausgefallen. Fast wurde ihm für seine Casse bange.

»Was werden Sie berechnen?« fragte er.

»Sechszig Gulden,« lautete die Antwort.

»Herr, mein Heiland!«

»Gnädiger Herr scherzen. Ich bin überzeugt, eine hochfürstliche Persönlichkeit vor mir zu haben.«

Dies schmeichelte ihm, und da er erwartete, ein höchst angenehmes Stündchen mit der Leda zu verleben, so beruhigte er sich.

Nach einiger Zeit hörte man Schellengeläute unten an der Thür halten, und dann ließ der Wirth die – Leda herein.

»Wünschen die Herrschaften sofort zu soupiren?« fragte er.

»Ja, gleich,« antwortete sie.

»Stehe im Augenblick zu Befehl.«

Als er sich für die Dauer dieses erwähnten Augenblickes entfernt hatte, ergriff Herr Léon seine Dame beim Arme.

»Aber, mein Kind, warum denn sogleich essen?« fragte er. »Könnten wir nicht vorher ein Wenig unter uns bleiben?«

»Später!«

»Gieb mir nur wenigstens Deine schönen Lippen zu einem süßen Kusse.«

Er zog sie an sich, küßte sie und fand auch gar kein Widerstreben. Nur schien der Kuß einigermaßen nach Tabakspfeife zu schmecken.

»Sie wird eine Cigarette geraucht haben,« dachte er, indem er sich den Mund abwischte.

Dann umarmte er sie abermals und fragte:

»Legen wir ab oder nicht?«

»Nein,« flüsterte sie verschämt.

»Wie schade! Sie sind doch in – – –«

Er knöpfte drei Knöpfe ihres Regenmantels auf und erblickte die vollen Beine in fleischfarbenen Tricots und das kurze, schwarze Spitzenröckchen, welches sie heute unter dem Sternenschleier getragen hatte. Sie aber klopfte ihm abwehrend auf die Hand und sagte: »Jetzt nicht, lieber Léon!«

»Gut, später, später!« stimmte er bei, sich die Hände reibend. »Wir werden sehr glücklich sein, sehr! Nicht?«

»Ja, sehr. Ich kann es kaum erwarten.«

»Du Liebe, Süße Du!«

Er drückte sie innig an sich, wurde aber leider vom Wirthe gestört, welcher nun begann, seiner Pflicht zu warten.

Das Essen begann. Herr Léon Staudigel nippte nur. Er mochte denken, wenn viel übrig bleibe, so habe er weniger zu bezahlen. Darum bemerkte er zu seinem Erstaunen, welches sich nach und nach zu einem wahren Entsetzen steigerte, daß die Leda einen wahrhaft kannibalischen Appetit, ja geradezu Hunger entwickelte.

Zwischen ihren Zähnen verschwanden Vorräthe, an denen Familien satt gehabt hätten. Er konnte es gar nicht begreifen, wie das so möglich sei. Er aß desto weniger, aber je sparsamer er sich zeigte, desto fleißiger war sie. Sie schien eine wahre Wuth zu besitzen, mit Allem, was es gab, vollständig aufzuräumen. Er sah ihre rothen Lippen, er sah ihre prächtigen, weißen Zähne. Aber diese Lippen öffneten sich so weit, daß ein halbes Pfund Salami auf einmal hineingelangte, und diese Zähne zermalmten die saftigen Hammelrippchen mit solcher Leichtigkeit, als ob sie eigentlich das rechtmäßige Eigenthum einer englischen Bulldogge seien. Und dazu floß der theure Wein in so großen, vollen Schlucken hinab, als sei der berühmte Fahnenschmied des »starken August« vom Tode erstanden. – –Zur angegebenen Zeit hielt Max Holm vor der Wohnung des Balletmeisters. Kaum hatte er mit der Peitsche das Zeichen gegeben, so öffnete sich die Thür, und zwei Frauengestalten erschienen unter derselben.

»Lebe wohl, mein guter Arthur!« sagte die Eine.

»Adieu, mein Liebling!« meinte die Andere.

»Hält der Unterrock noch fest?«

»Bis jetzt, ja.«

»Und laß ja die Strumpfenbänder nicht herabfallen. Ihr Herren habt so wenig schöne Rundung an dem Unterbeine! Und tritt ja nicht vorn auf das Kleid.«

»O nein, Aurorchen!«

»Hast Du den Fächer?«

»Ja, hier!«

»Zerbrich ihn nicht! Du weißt, es ist ein altes Erbstück, welches mir sehr theuer ist. Sollte irgend etwas aufplatzen, ein Heftel oder ein Band, eine Schleife, so hast Du Zwirn und Nähnadel im Pompadour. Komm, gieb mir noch einen Kuß.«

»Hier, mein Liebling!«

Sie küßten sich. Dann sagte sie:

»Und noch Eins: Denke an mich! Bleibe mir ja treu, selbst wenn Dich Jemand für eine Dame halten sollte.«

»Habe keine Sorge, ich gehöre Dir!«

»Nun, so steige ein. Nimm aber vorn Alles in die Höhe, sonst trittst Du mir sämmtliche Franzen ab. So, da bist Du drin. Gute Nacht, bester Arthur!«

»Gute Nacht, theuerstes Aurorchen!«

Die Pferde setzten sich in Bewegung und hielten erst vor der Thür des Bellevue wieder an. Der Balletmeister stieg aus und wurde von dem Wirthe empfangen.

»Ist die Dame hier?« fragte er, indem er von dem Genannten die Treppe emporgeführt wurde.

»Dame?«

»Ja, die allerhöchste Dame.«

»Die sind ja Sie!«

»Hm! Ach so! Ja, ja! Wer kommt noch?«

»Nun, der betreffende Herr.«

»Herr? Alle Wetter! Ist die Staffelei bereits da?«

»Nein. Bitte, treten Sie hier ein, Madame, und verhalten Sie sich möglichst still. Es speisen sehr hohe Herrschaften im Nebenzimmer.«

»Sehr wohl!«

Holm fuhr unterdessen zurück und an dem Hause des Chefs der Claque vorüber. Er hatte kaum an der nächsten Ecke angehalten, so kam ein langer, hagerer Türke angestiegen.

»Ich bin’s!« sagte er.

»Steigen Sie ein!«

»Wollen Sie mich nicht vorher einmal mustern?«

»Das wird die betreffende Dame thun.«

»Ganz nach Befehl.«

Kurze Zeit später lud er die männliche Kleopatra am Bellevue ab. Sie wurde von dem Wirthe empfangen und nach der ersten Etage geführt.

»Ist die Dame bereits da?«

»Schon längst.«

»O weh! Sie wird zornig sein.«

»O nein. Sie ist von sehr sanftem Character. Bitte, treten Sie gefälligst hier ein.«

Herr Arthur erhob sich respectvoll. Beide begrüßten sich durch eine beiderseits sehr tiefe und ehrerbietige Verneigung. Dann fragte der Balletmeister mit flüsternder Stimme: »Bitte, Sie wünschen doch, von Fremden nicht beobachtet zu werden?«

»Ja, gewiß!« antwortete Kleopatra.

»Dann dürfen wir nur sehr leise sprechen.«

»Warum?«

»Im Nebenzimmer speisen allerhöchste Herrschaften.«

»Ich denke, Euer Gnaden sind –«

Sie hielt mitten in der Rede inne. Drüben hatte soeben der Wirth mit lauter Stimme gesagt: »So, meine Herrschaften, das war das Ende des Desserts. Befehlen Sie noch etwas?«

»Nein. Wir haben genug. Lassen Sie uns jetzt allein und kommen Sie nicht eher, als bis Sie gerufen werden.«

Diese Stimme kam Kleopatra wunderbar bekannt vor. Sie fuhr dann in zärtlichem Tone fort: »Jetzt, meine Süße, sind wir allein. Laß Dich umarmen!«

»Darf ich fragen, ob wir beginnen wollen?« flüsterte jetzt der als Dame verkleidete Arthur.

»Ich stehe zu Diensten, gnädiges Fräulein.«

»O nein, nicht Sie, sondern ich, Hoheit.«

»Königliche Gnaden scherzen. Ich ersterbe in Ehrfurcht, mich Hochdero Befehlen gehorsamst –«

Wieder hielt sie inne. Drüben knackte ein Sopha, und dann sagte die bekannte Stimme: »Also, den Regenmantel ausziehen!«

»Nicht doch!« antwortete eine weibliche.

»Bitte, bitte! Wollen Sie sich zieren?«

»Wenn Jemand kommt!«

»Kein Mensch kommt! Die Maske will ich jetzt noch dulden, aber der Mantel muß weg.«

»Aber Ihre Frau Gemahlin!«

»Ist ein Drache!«

»Das finde ich nicht.«

»Nun, ich dächte, Sie hätten es bemerken müssen, als sie uns so unerwartet beim Küssen störte. Mit welcher Verachtung Sie sich da behandeln lassen mußten! Bitte, bitte, einen Kuß!«

Man hörte das Geräusch einiger schallender Küsse. Herr Arthur dachte im stillen: »Sapperment, ist das eine fatale Lage. Meine allerhöchste Dame darf von solchen Sachen doch nichts hören, und mir fällt aber auch nichts ein, was ich thun könnte, dieses Volk da drüben zur Vernunft zu bringen.«

Und flüsternd fügte er hinzu:

»Wie wünschen Sie das Portrait?«

»Ganz nach Dero Befehl. Doch mit dem Säbel in der Hand?«

»Säbel?« fragte er.

»Ich glaube Euer Hoheit Gesandten recht verstanden zu haben, als er von Säbel, Dolch und Pistolen sprach.«

»Meine liebe, herrliche Leda!« erklang es drüben.

»Süßer Léon,« antwortete es.

»Liebst Du mich?«

»Wie mein Leben. Ich könnte auf Deine Frau eifersüchtig sein, wie Othello.«

»Auf diese? Pah! Ich nahm sie nur des Geldes wegen.«

Da richtete sich Kleopatra in eine begierig horchende Stellung auf.

»Komm, küsse mich, Leda!« hörte man drüben.

»Ja, komm mein Léon, mein süßer Staudigel!«

Ein breites Klatschen ließ vermuthen, daß da drüben mit Absicht so laut geküßt wurde. Aber in diesem Augenblicke stand auch Kleopatra an der Thür, welche die beiden Zimmer verband. Ein Griff, ein Druck, und sie flog auf. Sie war nicht verriegelt gewesen.

Auf dem Sopha saß Herr Staudigel, ohne Maske. Auf seinem Schooße saß ein üppiges Frauenzimmer in Tricots, mit Maske. Beide in innigster Umarmung.

»Herr, mein Gott! Mensch, was fällt Dir ein!« zeterte Kleopatra.

Staudigel fuhr empor und antwortete zornig:

»Herr, was wollen Sie hier? Was haben Sie in diesem Zimmer zu suchen, he?«

»Das will ich Dir gleich zeigen! Kennst Du mich?«

Sie riß ihre Maske herab. Er fuhr ganz entsetzt zurück, er konnte keinen Laut von sich geben.

»Welch eine Ueberraschung!« schrie sie. »Du hier mit der Leda! In diesem Aufzuge! Auf diesem Sopha! Also deshalb hattest Du so lange Zeit zu thun!«

Nun folgte eine Flut von Verwünschungen, eine Eruption glühendster Eifersucht, welche gar nicht zu beschreiben ist. Er hörte ganz ruhig zu. Endlich aber fragte er sie doch: »Wie aber kommst Du hierher? In diesem Aufzuge?«

»Ich? Ich bin herbefohlen worden durch Hoheit, welche die Gnade hatten, mich als Modell –«

Sie kam nicht weiter. Herr Léon Staudigel hatte den verkleideten Balletmeister erblickt. Ein Gedanke schoß durch seinen Kopf.

»Wer ist das?« fragte er. »Du als Mann verkleidet; hier vielleicht ein Mann als Frau verkleidet! Wollen doch einmal sehen! Herunter mit der Larve!«

Er riß die Maske weg und schlug die Hände zusammen.

»Der Balletmeister!« rief er aus. »Ah! Habe ich das saubere Pärchen erwischt? Man giebt sich ein Stelldichein und spielt gegen mich den Richter? Euch soll der Teufel holen! Euch Beide will ich springen lassen!«

Aber Niemand war so erschrocken und verblüfft, als eben der Balletmeister und Frau Staudigel.

»Sie sind es?« stieß sie hervor.

»Und Sie sind es?« fragte er ebenso.

Und während sie sich anstaunten, trat der Wirth herein, mit einem Papiere in der Hand.

»Herrschaften verzeihen!« sagte er. »Darf ich mir gestatten, die Rechnung vorzulegen?«

»Für wen?« fragte die Frau des Claqueurs.

»Für diesen Herrn.«

Dabei deutete er auf ihren Mann.

»Wie hoch ist diese Rechnung?« erkundige sie sich.

»Gerade sechszig Gulden.«

»Sechszig Gulden! Herr, mein Heiland! Wie lange Zeit hat er da schon geborgt?«

»Gar nicht. Es ist für das heutige Souper.«

»Was? Wie? Für das Abendessen heute?«

»Ja.«

Da faßte sie ihren Mann beim Kragen und schrie:

»Mensch, bist Du verrückt! Sechszig Gulden an dieses Frauenzimmer zu wenden! Ich werde Dich –«

»Guten Abend die Herrschaften!« ertönte es laut hinter ihnen, und als sie sich umblickten, stand Holm da.

»Verzeihung, daß ich störe. Ich bitte mir den Herrn Paukenschläger Hauk aus. Wir müssen nach Hause.«

Hauk nahm die Maske ab, warf den Regenmantel um, verbeugte sich gegen Alle und sagte dann: »Besten Dank, mein süßer Léon! Ich habe noch nie in meinem Leben so fein gespeist. Jetzt kannst Du dafür Deine Alte küssen. Gute Nacht, meine Herrschaften!« –

Der verlorne Sohn
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