Der Engel starke Wacht

Hat es in guter Acht;

Ihr Heer und Lager hält’s in Schutz;

Drum sei auch allen Teufeln Trutz!«

 

Da erklang das Räuspern abermals. Mutter Hendschel blickte den Gast über die Brille hinweg an und fragte:

»Sie glauben wohl nicht an den Teufel?«

»Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht,« antwortete er. »Aber so schlimm, wie es hier im Buche gemacht wird, ist es mit den Höllengeistern doch nicht!«

»Gott behüte uns vor ihnen, mögen sie nun zu uns kommen als Geister oder in Menschengestalt!«

Sie las weiter:

 

»So will ich denn nun schlafen ein,

Jesu, in Deinen Armen.

Dein Ang’sicht soll mein Bette sein,

Mein Lager Dein Erbarmen,

Mein Kissen Deine Brust,

Mein Traum die süße Lust,

Die aus der Seiten Wunde fleußt,

Und Dein’ Geist in mein Herze geußt!«

 

Jetzt erhob er sich von seinem harten Stuhle, hustete laut und sagte:

»Ihr habt wohl noch nie ein anderes Gedichtbuch in Euren Händen gehabt?«

»Nein,« antwortete die Alte aufrichtig.

»So ist es Euch auch nicht übel zu nehmen, daß Ihr an solchem Unsinn Geschmack findet. Wer keine Ananas gegessen hat, dem mögen die Erdäpfel schmecken; mir aber bekommen sie nicht.«

»Ich weiß nicht, was eine Ananas ist; aber wer weiß, ob sie so sättigt wie unsere Erdäpfel.«

»Ja, Ihr wißt es eben nicht anders. Ihr seid Christen und führt doch ein wahres Heidenleben. Gute Nacht!«

Er ging hinaus und schlug die Thür ziemlich laut zu. Dann hörte man ihn durch die Hausthür in das Freie gehen. Mutter Hendschel sah die beiden Männer einen nach dem andern an, dann unterbrach sie die eingetretene, unangenehme Stille: »Vater, soll es so länger fortgehen? Willst Du mit dem Vetter reden, oder soll ich es thun?«

Der Köhler nickte nachdenklich mit dem Kopfe und antwortete:

»Ich werde es wohl thun müssen, denn diese Sache ist Männersache.«

Und sich zu dem Andern wendend, fragte er:

»Kannst Du mir wohl sagen, Vetter, wer hier Herr in diesem Hause ist?«

»Doch Du!«

»Das habe ich immer gedacht; jetzt aber scheint es anders geworden zu sein. Schau, ich habe mit meiner Frau einsam gewohnt und einsam gelebt, so lang als wir uns haben. Im Stillen ist der liebe Gott bei uns gewesen, und es hat bei uns stets Eintracht und Zufriedenheit gegeben. Da kamst Du. Du sagtest, Du hättest ein bischen über die Grenze hinüber gehantiert und müßtest für kurze Zeit aus Deinem Neste fort; ob ich Dich so einige Wochen lang bei mir haben wollte. Du bist mein Vetter, und so sagte ich gern und willig Ja.«

»Dafür bin ich Euch ja herzlich dankbar!«

»Schön! Ich will es glauben. Aber als Du dann wirklich kamst, so kamst Du nicht allein, sondern Du brachtest diesen Menschen mit. Wir sollten ihn auch mit aufnehmen, weil er Dein Freund sei und sich auch für kurze Zeit nicht sehen zu lassen brauche. Ich bin nie ein Schmuggler gewesen, aber wie Alle, hier an der Grenze, denken nicht schlimm über dieses Geschäft, und so habe ich gedacht, keine Sünde zu thun, wenn ich Dir aus der Verlegenheit helfe. Was aber geht mich die Verlegenheit eines so fremden Menschen an?«

»Er ist mein Freund und wird es Euch vergelten!«

»Das klingt sehr schön; aber ich sehe nichts. Ihr eßt nun bereits acht Wochen lang von meiner Armuth; ich weiß fast nicht mehr, woher ich es nehmen soll, und bekomme nicht einmal Habdank dafür. Das möchte nun noch sein. Aber daß er mir Unfrieden säet, daß er unsern Glauben verachtet, daß er die alten Lieder verspottet, die uns getröstet haben in Trübsal, Hunger und Noth, das kann und mag ich nicht länger leiden. Er nennt sich Hirsch. In unserer Gegenwart sagt Ihr Du zueinander; seid Ihr aber allein, so nennst Du ihn Sie. Wer ist dieser Mann?«

»Du irrst. Ich sage nie Sie zu ihm. Er heißt Hirsch, ist mein Geschäftsfreund, und seine Heimath liegt jenseits über der Grenze drüben.«

»Warum trägt er falsches Haar?«

Der Gefragte erschrak, faßte sich aber und antwortete:

»Er trägt Perrücke, weil er nur spärliches Haar hat.«

»Nein; er hat ein schönes, schwarzes Haar und legt sich doch eine helle Perrücke darüber.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Du sagst die Unwahrheit!«

»Fällt mir nicht ein!«

»So? Ihr schlaft in einer Kammer. Ich sehe durch die Astlöcher, daß er im Schlafe die Perrücke verliert. Du selbst hast sie ihm wieder aufgesetzt, und jetzt leugnest Du?«

»Vetter!«

»Schon gut! Aber ich will Dir einmal eine kleine Geschichte erzählen, wenn es Dir recht ist.«

»Erzähle sie!«

»Schön! Ich komme jährlich nur einmal aus dem Wald hinaus. Das letzte Mal war es vor zwei Wochen, als ich auf dem Jahrmarkt in Waltersgrün war. Ich saß in der Schenke und hörte zu, was die Leute erzählten. Auf einmal redete Einer von dem Wagner Hendschel in Obersberg. Kennst Du den?«

»Spaßvogel! Das bin ich ja selbst!«

»Schön! Also von Dir erzählte er. Er sagte, Du seiest Pascherkönig gewesen und aus Angst ausgerissen. Bis jetzt könne Dir nichts bewiesen werden, und so wäre es besser, wenn Du zurückkehrtest und Dein gutes Gewerbe wieder in die Hand nähmst. Hatte er recht?«

»Hm!«

»Bist Du einmal erwischt worden?«

»Nie.«

»So gehe heim und arbeite von jetzt an treu und ehrlich! Und wenn Jemand sagt, Du seist ausgerissen, so antworte ihm, daß Du bei mir auf Besuch gewesen bist, so muß er still sein.«

»Ja, wenn man nur wüßte!«

»Was?«

»Ob es wirklich so ist, wie man sagt!«

»Es ist so. Der Schmied Wolf und die Seidelmanns sind erwischt worden; darum ist’s aus mit ihnen. Dich aber hat noch Keiner ertappt. Du brauchst Dich gar nicht zu fürchten. Und willst Du Dich ganz sicher stellen, so will ich nach Obersberg gehen und einmal hinhorchen, wie die Spatzen pfeifen.«

»Vetter, wenn Du das thun wolltest!«

»Ganz gern! Ich weiß, Du bist kein schlechter Kerl und wirst nicht wieder solche Dummheiten machen. Es ist vortheilhafter, Du änderst Dich freiwillig, als daß Du durch das Zuchthaus gebessert werden sollst.«

»Das ist nicht nöthig. Ich bin durch die Seidelmanns hinein gerathen. Wenn ich ruhig heim könnte zu den Meinen, so wäre Alles gut!«

»Gehe in Gottes Namen! Es thut Dir kein Mensch etwas. Also das war das Eine, was ich hörte. Das Andere war ebenso wichtig, vielleicht noch wichtiger.«

»Du machst mich neugierig. Was war es denn?«

»Die Geschichte von einem Erzspitzbuben, von einem Hallunken, wie es keinen zweiten gegeben hat oder jemals geben wird.«

»Wie heißt er denn?«

»Hast Du einmal von einem gewissen Hauptmanne gehört?«

»Nein, nie.«

Das wetterharte Gesicht des alten Köhlers nahm einen außerordentlich pfiffigen Ausdruck an. Er sagte:

»Das wundert mich sehr.«

»Warum?«

»Erstens, weil alle Welt von diesem Menschen spricht, und weil ihn ganz besonders die Pascherkönige kennen sollen. Und Du bist ja ein solcher gewesen.«

»Du sagst, alle Welt spräche von diesem Manne. Hast denn Du ihn gekannt?«

»Nein. Bei mir ist das anders. Ich komme nicht in die Welt hinaus, ich lese keine Zeitungen. Ich lebe in meinem Walde und halte es mit meinem Haussegen. Das genügt mir vollständig. Eure Spitzbübereien gehen mich nichts an. Dieser Hauptmann ist also endlich erwischt worden, aber unter Mord und Todtschlag wieder ausgerissen. Nun wird an allen Orten nach ihm gesucht. Er kann nicht über die Grenze hinüber, und da man ihn im Walde vermuthet, so soll nächstens über das ganze Gebirge eine großartige Suche nach ihm angestellt werden. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.«

»Ich auch nicht.«

»So warne ihn!«

»Du meinst etwa, daß ich das könnte?«

»Warum nicht?«

»So müßte ich ihn doch kennen!«

»Freilich.«

»Und auch wissen, wo er ist!«

»Auch das natürlich.«

»Wie kommst Du mir denn vor?«

»Na, ich bin kein Klugfuchser und Härchenspalter; aber meine Gedanken habe ich doch. Dieser Hauptmann ist nämlich der eigentliche Baron von Helfenstein.«

»So so!«

»Auf Schloß Hirschenau.«

»Hm!« meinte der Wagner verlegen.

»Da ist mir denn eingefallen, daß Dein Freund sich hier Hirsch nennt.«

»Er heißt ja so!«

»Papperlapapp! Sein Name ist so falsch wie sein blondes Haar. Und da habe ich noch von dem Jahrmarkte etwas. Das ist auch wunderbar.«

»Was?«

»Diese Zeitung.«

Er öffnete die Schublade des Tisches und zog ein zusammengelegtes Zeitungsblatt hervor! Dann fuhr er fort: »Ich weiß nicht, ob oder wann einmal eine Zeitung in dieses Haus gekommen ist; aber das Blatt hier war mir doch so interessant, daß ich es mir mitgenommen habe.«

»Was steht da drin?«

»Der Steckbrief und das Signalement des Hauptmanns.«

»Ah! Zeige einmal her.«

Er nahm das Blatt und las die betreffende Stelle durch.

»Was denkst Du dabei?«

»Was soll ich mir denn denken?«

»Fällt Dir nichts auf?«

»Nein. Was meinst Du denn?«

»Verstelle Dich nicht! Da paßt ein jedes Wort ganz genau auf Deinen guten Freund Hirsch.«

»Vetter, wo denkst Du hin!«

»Ich denke immer nur gerade Das, was mir in den Sinn kommt. Aber, hast Du auch die großen, dicken Zeilen gelesen, welche unter dem Signalement stehen?«

»Nein.«

»So thue es!«

Das Gesicht des Wagners nahm einen geradezu angstvollen Ausdruck an, als er weiterlas.

»Vetter, Du willst doch nicht –!« sagte er.

»Ach, was ich will, das ist Nebensache! Also, was steht denn dort, Vetter?«

»Zehntausend Gulden, wer ihn todt, und fünfzehntausend Gulden, wer ihn lebendig bringt, oder seine Arretur überhaupt ermöglicht.«

»Na, ist das nicht großartig?«

»Ein ganzes Vermögen!«

»Denke Dir, wie arm ich bin!«

»Um Gottes willen, Vetter!«

»Wenn dieser Mann bei mir wäre, so könnte ich auf einen Schlag reich sein!«

»Freilich wohl!«

»Und zwar nicht durch eine Schlechtigkeit, sondern gerade dadurch, daß ich meine Pflicht thue. Und so werden viele tausend Menschen denken. Der Hauptmann ist wirklich keinen Augenblick sicher.«

»O, er wird sich schon gut versteckt haben!«

»Ja, das hat er! Ich meine, daß von einem Verräther kein Hund einen Bissen Brod frißt, und die Gastfreundschaft ist das Heiligste mit, was es giebt. Aber ich bin ein armer Teufel und habe nichts zu verschenken, und ich will mir meine höchsten Güter, meinen Glauben und meinen Seelenfrieden nicht rauben und verspotten lassen. Darum kannst Du mir einen großen Gefallen thun!«

»Welchen?«

»Wenn Du Einem begegnen solltest, welcher der Hauptmann sein könnte, so sage ihm, daß ich ein ehrlicher Kerl bin und mit den Gerichten nichts zu thun haben will. Er mag sich fern von mir halten, je weiter fort von hier, desto besser für ihn und für mich. Morgen setze ich den neuen Meiler auf. Wenn ich übermorgen nach Hause komme, so will ich ein reines Haus vorfinden.«

»Vetter!«

»Schon gut! Ich halte viel auf Dich. Wir sind verwandt; Du bist und bleibst mir willkommen zu aller Zeit, aber was darüber ist, das ist von Uebel. Jetzt gehe ich schlafen. Komm, Mutter! Gute Nacht, Vetter!«

Die beiden Alten begaben sich nach ihrem Kämmerlein. Dort, als sie mit einander allein waren, fragte die Frau: »Du glaubst also, daß er es wirklich ist?«

»Er ist’s. Ich beschwöre es.«

»Herrgott! Fünfzehntausend Gulden!«

»Mutter, er ist unser Gast!«

»Wir könnten dann anstatt der Erdäpfel Das essen, wovon er sprach. Wie hieß das Zeug?«

»Farinas.«

»Nein; das ist doch Tabak.«

»So war es Canevas.«

»Auch nicht. Canevas nehmen die feinen Damen zum Sticken.«

»Nun, so war’s ein Heringsfaß – as oder aß war hinten dran. Amma, Anna, Ananas, jetzt habe ich es, ja, so war es.«

»Das muß etwas sehr Gutes sein. Vielleicht wie Hagebuttenbrühe und junger Ziegenbraten!«

»Ganz egal! Ein Verräther werde ich wegen Ziegenbraten doch nicht. Führe uns nicht in Versuchung!«

»Sondern erlöse uns von dem Uebel. Nicht?«

»Ja. Er ist das Uebel, und wir werden erlöst.«

»Meinst Du wirklich? Denkst Du, daß er geht?«

»Sicher und gewiß. Er hat sich uns anvertraut, weil er dachte, wir kennen ihn nicht und wissen auch nichts von dem Preis, der auf ihn gesetzt ist. Nun er aber das Gegentheil erfährt, wird er sich schleunigst auf die Strumpfsocken machen.«

»Du denkst also, daß der Vetter es ihm sagt?«

»Ja. Ich bin überzeugt, daß sie jetzt mit einander unten auf der Gartenbank sitzen und von meiner Zeitung reden. Mir wird der Abschied nicht wehe thun. Jetzt aber wollen wir das Ding beschlafen. Gute Nacht, Mutter.«

»Gute Nacht, Vater!«

Sie schwiegen, aber sie schliefen doch nicht. Sie sannen und sannen. Sie wollten nicht zum Verräther werden, aber fünfzehntausend Gulden – als der Köhler eingeschlafen war, träumte ihm von einem Geldsacke, welcher höher als die höchste Tanne war, und seiner Ehefrau träumte von einer Frucht, die aus lauter Zuckerhüten, Rosinen und jungen Ziegenkeulen bestand, und darunter waren in riesenhaften Buchstaben die beiden Worte Canevas und Varinas zu lesen.

Der Köhler hatte übrigens Recht gehabt: Zunächst war der Vetter eine Zeit lang in tiefen Gedanken sitzen geblieben; dann aber war er hinaus in das Gärtchen gegangen, wo eine aus rohen Steinen errichtete Bank stand. Auf ihr saß – Baron Franz von Helfenstein, denn dieser war es wirklich.

Der Wagner setzte sich zu ihm, wenn auch in so respectvoller Entfernung, als es die Länge der Bank zuließ. Sie saßen einige Zeit schweigsam; dann endlich unterbrach Hendschel die Stille: »Gnädiger Herr, ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzutheilen. Darf ich?«

»Es wird nicht viel Gescheidtes sein.«

»Allerdings nicht.«

»So behalte es für Dich!«

»Das geht nicht. Ich muß es sagen.«

»Pah! Ich weiß es schon.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich soll fort.«

»Woher wissen Sie es denn?«

»Das hat in den letzten Tagen so in der Luft gelegen. Und als ich heute mit meinem Ärger über diese dumme Reimerei losbrach, da wußte ich, daß es nun sicher zur Sprache kommen werde. Ich ging also hinaus, that, als ob ich mich entfernte, kehrte aber leise an den Laden zurück.«

»So haben Sie gehorcht?«

»Ja.«

»Und Alles gehört?«

»Alles.«

»Was sagen Sie dazu?«

»Diese alten Leute sind noch dümmer, als sie ehrlich sind. Ich lasse jetzt eine Zeit vorübergehen, bis sich der Lärm gelegt hat. Dann darf ich mich wieder nach der Hauptstadt wagen. Ich weiß dort Perlen und Edelsteine für mehrere Millionen Gulden. Die hole ich mir, und dann könnte ich die Alten überreichlich belohnen! Jetzt aber stoßen sie mich hinaus, und ich weiß nicht, wohin. Dieser entlegene Winkel ist die einzige Stelle des Gebirges, an der ich sicher sein konnte. Nun geht die Gefahr von Neuem an.«

»Wohin werden Sie sich wenden?«

»Weiß ich es? Uebrigens will ich Dich warnen! Es ist sehr wahr, daß Du ruhig nach Obersberg zurückkehren kannst. Niemand kann Dir etwas beweisen. Aber wenn Dein Vetter hier mich verrathen würde oder wenn Du selbst ein einziges Wort fallen ließest, so wäre Dir Dein Brod gebacken. Merke Dir das!«

»Herr Baron, Sie werden doch nicht glauben, daß es mir möglich sei, so an Ihnen zu handeln!«

»Schon gut! Ich habe die Menschen kennen gelernt. Ich habe mit Haufen Goldes um mich geworfen. Da hatte ich tausend Freunde. Seit ich aber auf jenem verdammten Schlosse mein Geld in der Uniformtasche stecken ließ, seit ich also keinen Heller mehr habe, giebt es für mich keinen einzigen Freund mehr.«

»Nur mich.«

»Schweig! Hättest Du nicht Angst, daß ich Dich verrathen würde, so wäre ich längst von Dir für die fünfzehntausend Gulden verschachert worden. Ich mag nichts wissen. Gute Nacht, Hendschel!«

Er erhob sich und verschwand im Dunkel der Nacht. Hendschel blieb sitzen. Er ballte ergrimmt die Fäuste und dachte, natürlich bei sich im Stillen: »Recht hast Du, Hallunke! Du hast mich zum Pascher gemacht und mich ausgenutzt für ein Lumpengeld! Fünfzehntausend Gulden! Ah! Zehntausend, wenn er todt ist! Man sollte den Kerl einfach erschlagen!«

So saß er noch lange da, in Gedanken versunken, welche ebenso dunkel waren, wie die nächtlichen Schatten, die unter dem dichten Dache des Waldes brüteten. Er ging erst spät schlafen. Was nun auch das Ergebniß seines Sinnens gewesen war – als er erwachte, war Hirsch, der einstige Hauptmann, nicht zu sehen. Hatte er Verdacht geschöpft? Hatte er dieselben Gedanken gehabt wie Hendschel: Todt abgeliefert zehntausend Gulden?

Hendschel suchte überall nach ihm, vermochte ihn aber nicht zu finden und war nun überzeugt, daß er das Weite gesucht habe.

Und so war es auch.

Der Hauptmann traute den Köhlerleuten nicht mehr. Ihr gestriges Verhalten hatte ihn zur Vorsicht gemahnt. Und ebenso hatte ihn die Unterredung mit Hendschel zu der Ueberzeugung gebracht, daß er sich auch vor diesem in Acht zu nehmen habe. Er hatte sich also entschlossen, sein jetziges Asyl ganz im Stillen zu verlassen.

Früh, als die beiden Anderen noch schliefen, war er aufgestanden, hatte sich von dem auf dem Tische liegenden schwarzen Haferbrote ein Stück abgeschnitten, um während des Tages nicht hungern zu müssen, und war dann gegangen.

Draußen an dem dichten, grünen Gartenzaune war er stehen geblieben, und sein Auge musterte das Häuschen, dessen stillen Schutz er von jetzt an nun zu entbehren haben sollte. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn und murmelte: »Nun ist’s auch hier vorüber! Vogelfrei! Ein Jeder kann mich ermorden, ohne Strafe befürchten zu müssen. Ja, er wird sogar noch dafür belohnt. Ich bin ausgestoßen wie ein wildes Thier. Aber ein wildes Thier will fressen und saufen, will leben. Was es braucht, das raubt es sich also. Ich muß es auch so machen!«

Daß er es bereits so gemacht hatte, als er noch nicht vogelfrei war, daran wollte er nicht denken.

Er ging fort, nicht den breiten Weg, denn auf demselben konnte er Jemandem begegnen, und das mußte er gezwungenermaßen vermeiden – sondern er bog in einen schmalen, kaum gangbaren Waldweg ein. Noch wußte er nicht, wohin er sich wenden werde. Er wollte zunächst in die Tiefe des Waldes tauchen und dort überlegen, was für ihn am Gerathensten sei.

So schritt er tief in Gedanken versunken weiter, bog mehrere Male zur Seite ab, ohne es eigentlich zu wollen, blieb sinnend stehen, ging wieder weiter, bis er zu seiner nicht sehr freudigen Ueberraschung bemerkte, daß er sich wieder in der Nähe der Köhlerwohnung befinde.

Jetzt nahm er sich eine bestimmte Richtung vor. Er wendete sich gegen Norden mitten in den Wald hinein, da, wo eine enge, kaum gangbare Schlucht steil empor zu einer Höhe führte, von welcher aus man weit in das Land hineinzuschauen vermochte.

Diese Aussicht war von außerordentlicher Schönheit, aber auch ebenso gefährlich. Der Aussichtspunkt lag hart am Rande des Felsens, welcher tief in den dunklen Grund abfiel. Eine Barrière gab es nicht. Wer schwindelte, der konnte sich höchstens an einer der Tannen festhalten, welche ihre spärliche Nahrung aus den Felsenritzen sogen.

So schritt und kletterte er weiter und weiter, immer höher und höher. Fast hatte er den oberen Rand des Felsens erreicht, so stand er erschrocken still. Er hatte über sich, auf der Felsenplatte, eine menschliche Stimme vernommen, nicht etwa sprechend, sondern räuspernd, wie wenn Einer zu singen anheben will.

Der Baron stand und horchte. Er hörte ein leises Hüsteln, und dann begann eine volle, kräftige Baritonstimme die Verse:

»Land meiner Väter, länger nicht das meine,

So heilig ist kein Boden, wie der Deine.

Nie wird Dein Bild aus meiner Seele schwinden,

Und knüpfte mich an Dich kein lebend Band,

Es würden mich die Todten an Dich binden,

Die Deine Erde birgt, mein Vaterland.«

 

Dann wurde es still. Der Baron hörte nichts, keinen Laut, keine Bewegung mehr.

»Hm!« dachte er. »Das ist ja ein deutsch-amerikanisches Lied, von Conrad Krez gedichtet! Wie kommt ein Gebirgler dazu, die Melodie desselben zu kennen? Oder ist der Sänger vielleicht ein Fremder? Ich muß doch einmal sehen.«

Er kletterte vollends empor, leise und vorsichtig. Als er den Rand der Felsenplatte erreichte, schob er zunächst nur den Kopf empor. Da lehnte der Sänger an einer der Tannen, welche er mit beiden Armen umfangen hielt, und blickte über die Berge und Thäler weit in das Land hinein.

Er war ein Mann in dem Alter des Barons, auch von derselben Figur. Sein Teint war braun. Der Fremde mußte sich wohl viel in der Sonne aufgehalten haben. Ein kräftiger Knotenstock lag neben ihm auf der Erde; auf dem Rücken trug er einen sehr breitkrämpigen Hut. Seine Kleidung war nicht diejenige eines reisenden Handwerkers. Sie bestand vielmehr aus theurem Stoffe, und war nach dem neuesten Schnitt gefertigt.

»Von diesem Manne habe ich nichts zu befürchten, sondern eher noch etwas zu erwarten,« dachte der Baron.

Er stieg also vollends empor. Dabei verursachte er mit Absicht mehr Geräusch, als gerade nöthig gewesen wäre. Der Fremde hörte es und drehte sich herum zu ihm.

»Guten Morgen,« grüßte der Baron.

»Guten Morgen,« antwortete der Andere.

»Störe ich?«

»O nein.«

»Ich hörte hier oben singen –?«

»Das war ich.«

»Ich glaube das Lied zu kennen. Es ist von einem deutsch-amerikanischen Verfasser in Shewoygan. Nicht?«

»Allerdings.«

»Ich wunderte mich, dieses amerikanische Lied hier an diesem Orte zu hören.«

Der Andere lachte fröhlich auf und sagte:

»Das lassen Sie sich nicht wundern. Ich habe es nämlich nicht hier gelernt.«

»Ah! Wo sonst?«

»Drüben.«

»Sie meinen, in Amerika?«

»Ja.«

»So haben Sie drüben gereist?«

»Ja und nein, wie man es nimmt.«

»Wie verstehe ich das?«

»Nun, ich bin allerdings da drüben sehr weit herumgekommen, von Canada im Norden bis an den Amazonenstrom in Brasilien im Süden; gereist bin ich also viel, aber von hier hinüber nicht.«

»So sind Sie also geborener Amerikaner?«

»Auch nicht. Meine Heimath liegt hier im Lande.«

»Also ausgewandert?«

»Ja. Meine Eltern gingen nach Amerika, als ich ein halbes Jahr alt war. Sie sind von hier?«

»Ja.«

Der Fremde hatte den Baron scharf betrachtet. Er schien von dieser Beobachtung befriedigt zu sein, denn er sagte: »Sind Sie beschäftigt?«

»Nein.«

»Also Spaziergänger?«

»So ähnlich.«

»Nun, so haben Sie Zeit. Wollen Sie ein Bischen neben mir Platz nehmen? Der Felsen ist bemoost, man sitzt weich. Wir können uns unterhalten und dabei die herrliche Aussicht aus erster Hand genießen.«

Er legte den Ranzen ab und setzte sich am Stamme der Tanne nieder. Der Baron zögerte ein wenig. Für ihn war es wohl nicht ohne Wagniß, sich hier an einem so offenen Punkte gemüthlich zu einem lauten Gespräch niederzusetzen. Man konnte sie hören und dann herkommen. Wurde er erkannt, so war er verloren. Es gab ja nur den einen Ausweg nach der Seite, von welcher er heraufgestiegen war. Nach den drei anderen Seiten fiel der Fels wie bereits erwähnt, so steil ab, daß eine Flucht in dieser Richtung mit der äußersten Lebensgefahr verbunden war.

Aus diesem Grunde zögerte der Baron. Er lauschte ganz unwillkürlich zurück, in den Wald hinein, ob er vielleicht etwas Verdächtiges zu hören vermöge.

»Nun?« fragte der Fremde. »Sie horchen?«

»O, nur so,« antwortete der Baron, einigermaßen verlegen.

»Haben Sie noch Jemand mit?«

»Nein.«

»Ich dachte, weil Sie zurücklauschten.«

»Es war mir, als hätte ich einen Schuß gehört.«

»Jetzt, im späten Frühjahr? Die Jagd ist ja zu Ende. Wenigstens pflegt zu dieser Zeit hier in Euren civilisirten Ländern das Wild geschont zu werden.«

»Das ist richtig. Aber der Schuß kann doch irgend einem Raubzeuge gegolten haben.«

»Na, uns geht er auf keinem Fall Etwas an, denn wir gehören ja nicht zum Raubzeuge; wenigstens ich nicht, oder Sie vielleicht, mein bester Freund?«

Diese Worte waren im Scherz ausgesprochen, und doch erschrak der Baron. Wer ein böses Gewissen hat, ist aller Augenblicke für den Schreck zugänglich.

»Nein,« antwortete er möglichst unbefangen. »Ich bin weder Fuchs noch Habicht.«

»Na also! Lassen wir den Förster oder seinen Burschen schießen, so viel es ihm beliebt! Kommen Sie her an meine Seite. Die Aussicht ist schön, aber ich lasse mir durch solche formale Genüsse doch auch die materiellen nicht verleiden. Haben Sie wohl schon gefrühstückt?«

»Noch nicht.«

»So lade ich Sie ein, mein Gast zu sein.«

Er öffnete den Ranzen und zog ein Paket mit Schinkenschnitten nebst einer Flasche Wein hervor.

»Die Schinkenbrode theilen wir,« sagte er. »Den Wein müssen wir leider aus der Flasche trinken, denn ich bin nicht mit einem Glase versehen.«

Er sagte das so jovial und gutherzig, daß der Baron sich immer sicherer zu fühlen begann. Die Brode wurden zwischen ihnen getheilt, und als die Flasche geöffnet war, bemerkte der Baron, daß der Fremde von der besten und wohl auch theuersten Marke gekauft hatte.

»Danke!« sagte er, indem er die Flasche zurückgab. »Dieser Wein ist nicht von hier hüben.«

»Nein, sondern von drüben.«

»So haben Sie ihn über die Grenze gebracht?«

»Ja.«

»Aha! Hm!«

»Wie, aha? Meinen Sie, daß ich ihn gepascht habe?«

»Warum nicht?«

»Das habe ich nicht nöthig. Würde sich auch nicht verlohnen, eine einzelne Flasche.«

»Ich dachte, weil die Steuermarke nicht aufgeklebt ist.«

»Sie ist wieder abgefallen; sie muß da im Tornister liegen.«

»Dann Entschuldigung!«

»O, bitte!«

Der Baron hatte wegen des Paschens auf den Strauch geschlagen, um zu erfahren, ob sein gegenwärtiger Kamerad vielleicht ein Mann sei, mit welchem sich Etwas anfangen lasse. Jetzt fuhr er, um das Gespräch nicht stocken zu lassen, fort: »Sie berauben sich meinetwegen Ihres Mundvorrathes.«

»Schadet nichts.«

»Dann müssen Sie aber darben!«

»Das hoffe ich doch nicht. Wir sind ja nicht in der Wüste Sahara oder Gobi!«

»Aber im hohen Gebirge!«

»Na, ist das so gefährlich?«

»Gefährlich gerade nicht, aber weit abgelegen.«

»Ein Stück Brod wird wohl zu erhalten sein!«

»Hier in der Nähe nicht.«

»So! Wie weit hat man bis zum nächsten bewohnten Orte von hier aus zu gehen?«

»Anderthalb Stunden.«

»Na, da ist’s ja nicht zum Verhungern.«

»Ob aber Sie den Weg dahin finden würden, daß weiß ich nicht so genau.«

»Ich auch nicht,« lachte der Fremde.

»Wie kommt es denn, daß Sie als Amerikaner, der noch niemals in dieser Gegend gewesen ist, nicht auf Eisenbahn oder Chaussee bleiben, sondern gerade den unsichern, dichten Gebirgswald wählen.«

»Unsicher? Giebt es hier Räuber? Vielleicht einen Rinaldo Rinaldini oder einen Josef Schobri?«

»Glücklicher Weise nicht.«

»Warum sprachen Sie da von Unsicherheit?«

»Ich meinte damit nur die Leichtigkeit, sich zu verirren.«

»Ah pah! Ein Amerikaner und sich verirren!«

»Sie sind hier doch nicht bekannt!«

»Was thut das? Wo Nord und Süd ist, das weiß man. Wenn ich mich stets nach Norden halte, komme ich aus den Bergen heraus und in die bewohnte, volkreiche Gegend. Also von einem Verirren kann gar keine Rede sein! Doch wegen des Räuberhauptmannes darf man doch ein Wort sprechen.«

»Wieso?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Was meinen Sie denn?«

»Na, die Grenze ist ja mit Militairposten besetzt!«

»Ach so, wegen des Hauptmannes!«

»Ja. Der muß doch ein ganz verdammter Kerl sein!«

»Was man hört, ja.«

»Man hat mir drüben viel erzählt von ihm. Als ich an dem Grenzpfahle vorüberwollte, wurde ich festgehalten. Hätte ich nicht gar so gute Legitimationen besessen, wahrhaftig, ich wäre arretirt worden.«

»Was Sie sagen! Aber warum denn?«

»Ich soll eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm haben.«

»Hm! Was man auch alles Ähnlichkeit nennt!«

»Ganz recht! Danke für die Ehre!«

Dem Baron war ein Gedanke gekommen. Er betrachtete sich seinen Nachbarn genauer und sagte dann:

»Also wirklich nur Ihre guten Papiere haben Sie vor der Arretur gerettet?«

»Ja.«

»Also Ihr Paß?«

»Ja. Der Paß, das Vereinigtenstaatenbürgerzeugniß und das Patent als Capitain der amerikanischen Miliz.«

»Ah, also Capitain? Mein Compliment!«

»Danke sehr! Ein Capitain der Vereinigtenstaatenmiliz hat gar nichts zu bedeuten. Da haben wir noch ganz andere Meriten, hier und hier!«

Dabei klopfte er auf den Tornister und auf die linke Seite seines Rockes, da, wo man in der Brusttasche das Portefeuille zu verbergen pflegt.

»Aha!« nickte der Baron. »Sie sind wohlhabend!«

»Nicht nur das, sondern reich,« antwortete der Amerikaner mit einer gewissen bescheidenen Selbstzufriedenheit.

»So reisen Sie jetzt zum Vergnügen?«

»Ja, und eigentlich doch nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich will mich hier niederlassen.«

»Ach so! Wohl in Ihrer Heimath?«

»Ja, wenn es möglich ist.«

»Darf ich erfahren, wo dies ist?«

»Geboren bin ich in dem kleinen Gebirgsstädtchen Langenstadt. Kennen Sie es?«

»Ja. Wollen Sie direct dorthin?«

»Ja. Wie weit ist es von hier?«

»Zu Fuß zehn Stunden.«

»Ach, so weit!«

»Ja. Sie müssen immer quer durch die Berge. Eine eigentliche directe Straße giebt es nicht. Sie hätten auf der Eisenbahn bleiben sollen.«

»Das wollte ich nicht. Ich wollte den ersten Schritt in die Heimath mit meinen eigenen Füßen thun. Daß ich so quer über die Berge steigen muß, ist mir ganz lieb. Auf diese Weise lerne ich die Heimath gleich gut kennen.«

»Haben Sie Verwandte dort?«

»Ja. Der Bruder meines Vaters lebt noch dort. Er heißt Weber.«

»Das ist also auch Ihr Name?«

»Ja, natürlich. Mein Oheim ist ein armer Holzschnitzer, soll aber jetzt mit Obst handeln. Auch mein Vater war Schnitzer; er kam auf den klugen Gedanken, auszuwandern. Drüben ging sein Geschäft gut, von Jahr zu Jahr besser. Ich wuchs mit der Zeit heran, hatte aber keine Lust zum Holzschnitzen. Ich ging in die Welt, wurde Dieses und Jenes, zuletzt gar Goldsucher – – –«

»Ah! Waren Sie glücklich?«

Diese Frage war etwas zu unvorsichtig schnell ausgesprochen. Dem Amerikaner fiel dies nicht auf. Er antwortete: »O, lange Zeit nicht.«

»Endlich aber doch?«

»Ja, endlich!«

»Wohl in Californien?«

»O nein. Die Blüthezeit für die Goldsucherei war für Californien bereits vorbei. Ich ging weiter nach Süden, nach den Grenzländern von Texas und Mexico.«

»Und dort waren Sie glücklich?«

»Ja. Ich fand eine Bonanza.«

»Was ist das?«

»Das ist ein spanischer Goldsucherausdruck, den ich Ihnen erklären will. Wissen Sie, wer der fleißigste und auch glücklichste Goldsucher ist?«

»Nun?«

»Das Wasser.«

»Wieso?«

»Da, wo das edle Metall sich findet, wird es von dem Wasser, welches die leichte Erde fortwäscht, bloßgelegt, oft zu großen Klumpen. Nach und nach wird es aus seinem Halt gerissen und von dem Wasser fortgespült. Wenn nun im Bette eines Wildbaches oder, sagen wir vielmehr Goldbaches, eine Stelle kommt, welche aus lockerem, tiefgrundigem Sande besteht, so wird dieser Sand ausgewaschen und fortgeschlemmt. Da, wo sich der Sand befunden hat, entsteht also ein großes Loch unter dem Wasser, eine Vertiefung, in welche alles Schwere, was von dem Wasser herbei gebracht wird, hinabfällt.«

»Ah, ich verstehe!«

»Auf diese Weise entstehen in diesen Bächen tiefe Löcher, in welche seit Jahrhunderten das Gold hinabgespült worden ist. Wer nun so ein Loch findet, der ist ein gemachter Mann.«

»So ein Loch heißt also Bonanza?«

»Ja.«

»Wie bekommt man das Gold heraus?«

»Entweder durch Tauchen, was aber lebensgefährlich ist, oder dadurch, daß man das Wasser ableitet, bis man das Loch geleert hat.«

»Sie haben wohl das Letztere gethan?«

»Ja.«

»War die Ausbeute reich?«

Der Amerikaner lächelte still vor sich hin und antwortete:

»Ich bin zufrieden! Als ich den Bach ableitete, bemerkte ich zu meinem freudigen Schrecke, daß sich mehrere solche Bonanzen neben einander befanden.«

»Sie glücklicher Mann!«

»Ja, ich war mit einem Schlage steinreich. Als ich dann nach Hause kam, war indessen der Vater gestorben. Ich verkaufte sein Geschäft, welches mir sehr gut bezahlt wurde, und beschloß, in die alte Heimath zu gehen.«

»Vielleicht, um sich hier anzukaufen?«

»Ja. Zu einem Rittergütchen wird es langen, vielleicht auch zu dreien, vieren oder fünfen.«

Er blickte dabei seelenvergnügt über die vor ihm liegenden Bergkuppen hinaus, als ob er bereits die Rittergüter sehe, welche zu kaufen, in seiner Absicht lag. Deshalb bemerkte er es nicht, daß das Auge des Barons verlangend aufleuchtete und forschend an seiner Gestalt herniederfuhr. Es war, als ob der Baron ergründen wolle, ob er mit diesem fremden Manne einen Kampf auf Leben und Tod um sein Vermögen aufnehmen könne.

»Da müssen Sie aber doch wohl Ihr ganzes Vermögen flüssig gemacht haben?« fragte er dann in dem gleichgiltigsten Tone, welcher ihm möglich war.

»Natürlich.«

»Hoffentlich sind Sie aber doch so klug, es nicht bei sich zu tragen, Herr Weber?«

Der Gefragte blickte ihn lachend an und antwortete:

»Wäre das denn unklug?«

»Man weiß ja nie, was geschehen kann!«

»Ah, was soll geschehen?«

»Sie sprachen vorhin von dem Hauptmann, welchen man sucht.«

»Soll ich mich etwa vor ihm fürchten?«

»Hm!«

»Pah! Erstens steht doch nicht zu erwarten, daß er Niemandem als gerade mir begegnen werde. Zweitens würde ich ihm auch gar nicht sagen, ob ich Geld bei mir habe. Und endlich drittens fragte es sich sehr, ob ich mich vor ihm fürchten würde. Ich bin bewaffnet.«

Er griff in die Tasche und zog einen geladenen Revolver hervor, welchen er dem Baron zeigte. Diesem Letzteren entfuhr in der inneren Aufregung, in welcher er sich befand, die mehr als unvorsichtige Frage: »Aber, wenn nun ich der Hauptmann wäre?«

Der Amerikaner warf ihm einen belustigten Blick zu und antwortete lachend:

»Sie? Spaßvogel!«

»Nun, wäre das etwa unmöglich?«

»Ja, absolut!«

»Wieso?«

»Sie können der Hauptmann nicht sein.«

»Sagen Sie mir doch den Grund!«

»Der Hauptmann ist doch von Adel, er ist Baron?«

»Ja.«

»Nun, nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sehen erstens nicht aus wie so ein berüchtigter Spitzbube, und zweitens haben Sie auch gar nichts Adeliges an sich.«

»Sehr verbunden für das Compliment!«

»O bitte! Eigentlich ist es allerdings ein Compliment, daß ich Sie nicht für einen so berüchtigten Menschen halte.«

»Nun, wofür oder für was halten Sie mich denn?«

»Hm, für so eine Art Forstschreiber.«

»Errathen!«

»Nicht wahr? Ja, ich habe einen scharfen Blick! Sie befinden sich also wohl amtlich hier im Walde?«

»Ja. Wir wollen da in der Nähe einen Schlag beginnen. Ich warte auf den Förster, mit welchem ich den Ertrag zu berechnen habe.«

»Das thut mir leid.«

»Warum?«

»Ich finde Gefallen an Ihnen. Es wäre mir lieb gewesen, wenn wir eine Zeit lang gleichen Weg gehabt hätten. Na, das ist aber nicht zu ändern. Trinken wir lieber noch einmal!«

Und als Jeder einen Schluck gethan hatte, fuhr der Amerikaner in munterer Laune fort:

»Sie wollten vorhin wohl sehen, ob ich mich fürchte?«

»Wann?«

»Als Sie in’s Bockshorn bliesen und zu mir sagten, daß Sie der Hauptmann sein könnten.«

»Das war nur so ein Scherz.«

»O, ich hätte mir auch nichts daraus gemacht, wenn es Ernst gewesen wäre. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Was hätten Sie denn gemacht?«

»Ich hätte Ihnen entweder eine Kugel durch den Kopf gejagt – –«

»Oder?«

»Oder Sie einfach gefangen genommen.«

»Mich? Wie hätten Sie dies wohl angefangen?«

»Na, man hat ja seine Knochen und Muskeln! Ein amerikanischer Goldsucher nimmt es mit einem Forstschreiber doch ganz gewißlich auf!«

»Aber in diesem Falle wäre ich doch nicht Forstschreiber gewesen.«

»Hm, ja! Sie wären Baron gewesen. So ein adeliger Herr aber pflegt auch nicht viel Mark in den Knochen zu haben. Zu fürchten brauchte ich mich also auf keinen Fall. Uebrigens dürfen Sie nicht denken, daß ich so unvorsichtig bin, mein ganzes Vermögen bei mir zu tragen.«

»Ah so!«

»Ich habe nur das Papierene bei mir. Alles Andere, ganze Kisten und Kasten voller Raritäten, Felle, Goldkörner und was ich mir sonst gesammelt habe, ist noch unterwegs.«

»Wohl nach Langenstadt zu Ihrem Oheim?«

»Versteht sich.«

»Weiß der davon?«

»Von diesen Kisten weiß er nichts.«

»Aber daß Sie kommen?«

»Das weiß er. Ich habe es ihm von New-York aus mit dem vorher abgegangenen Schiffe geschrieben.«

»Standen Sie vorher mit ihm in Briefwechsel?«

»Ich selbst habe nie geschrieben; ich war ja ganz und gar wenig daheim. Es ist überhaupt sehr wenig correspondirt worden, da keiner der beiden Brüder Freund vom vielen Schreiben war. Vater wird vier oder fünf Briefe erhalten haben; diese hat er beantwortet. Weiter ist wohl keine Tinte verbraucht worden.«

»Ist Ihr Oheim wohlhabend?«

»Ich weiß es nicht, glaube es aber auch nicht. Als Vater auswanderte, waren beide Brüder arm; der Onkel wird es hier höchstwahrscheinlich zu nichts gebracht haben.«

»Haben Sie ihm denn nie Etwas geschickt?«

»Nein.«

»Ah! Kein Geschenk, da Sie so reich waren!«

»Er hat uns nie mitgetheilt, daß er Etwas braucht. In Amerika ist man nicht so mittheilungsselig wie hier. Uebrigens werde ich doch nun erfahren, ob und in welcher Weise ich ihm nützlich sein kann.«

»Hat er Kinder?«

»Ja. Er hat – – ah, ich habe wahrhaftig vergessen, wie viele Nachkommen er hat. Ich muß doch gleich einmal nachsehen. Es ist doch, wenn ich zu ihm komme, eine Blamage, wenn ich so wenig unterrichtet bin.«

»Ah, Sie haben wohl seine Briefe?«

»Ja. Hier.«

Er zog eine Brieftasche hervor und öffnete sie. Mehrere Fächer derselben waren dick voller Banknoten; in dem einen steckten vier oder fünf Briefe. Er öffnete einen derselben und las ihn.

»Ja,« sagte er, »da steht es! Ich theilte ihm natürlich mit, daß mein Vater, sein Bruder, gestorben sei. Darauf schrieb er mir diesen Brief. Dies ist der einzige, den ich für meine Person von ihm empfangen habe. Da steht es: vier Töchter hat er, und ganz ärmlich behilft er sich, so ärmlich, daß er die Älteste, die Magda, nach der Residenz vermiethet hat. Na, das soll schnell anders werden. In Dienst gehen soll keine Nichte von mir; das gebe ich nicht zu!«

Der Baron sann nach.

»Magda – – –?« sagte er unwillkürlich.

»Was ist’s?«

»Magda Weber?«

»Ja, natürlich heißt sie so.«

»Hm!«

»Kennen Sie sie etwa?«

»War sie erst in eine Weinstube als Kellnerin vermiethet?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich kenne allerdings eine Magda Weber, Kellnerin in der Residenz.«

»Sapperment! Ich denke, Sie sind Forstschreiber!«

»Allerdings.«

»Was haben Sie denn da in den Weinstuben der Residenz herum zu kriechen?«

Er schien bedenklich zu werden. Der Baron sah ein, daß er einen großen Fehler begangen habe. Er sagte:

»O, Unsereiner muß sehr oft nach der Hauptstadt.«

»Wieso?«

»Nun, der Wald gehört dem Fiskus. Alle unsere Acten, Scheine, Rechnungen gehen in das Ministerium; da kommt es denn sehr häufig vor, daß wir nach der Hauptstadt müssen, um persönlich irgend welche Differenzen auszugleichen.«

»Ach so!«

»Außerdem sind die großen Holzhändler der Residenz unsere besten Käufer und Abnehmer. Man kann mit ihnen ja recht gut schriftlich verhandeln, das ist wahr, kommt man aber selbst, nun, so ist es um so besser!«

»Ich verstehe! In diesem Falle fällt für die Herren Forstschreiber immer irgend ein kleines Präsent ab. Nicht?«

»Na, davon spricht man nicht.«

»Aber wissen thut man’s!« lachte er.

Wenn er vorhin wirklich Argwohn gefaßt hatte, jetzt war derselbe ganz sicher wieder zerstreut. Das bewies er durch das Folgende, indem er fragte: »Als Forstschreiber gehören Sie doch wohl auch mit zu der Forstpolizei?«

»Eigentlich nicht. Ich bin Rechnungs-, aber nicht Ausübungsbeamter, versäume aber nicht, ein Wort zu rechter Zeit zu sagen, wenn es nämlich nöthig ist.«

»Da wissen Sie wohl auch nicht, was heute im Werke ist?«

»Ich weiß nur, daß ich hier den neuen Schlag zu berechnen habe, weiter nichts.«

»Von der Suche auch nichts?«

»Von welcher Suche?«

»Auf den Hauptmann!«

»O doch!«

»Nun, dann ist’s ja gut!«

»Daß man nächster Tage eine Suche durch das ganze Gebirge veranstalten werde, ist uns längst gemeldet worden.«

»Nächster Tage?«

»Ja.«

»Weiter nichts?«

»Nein.«

»Hören Sie, da hat man Sie aber sehr im Unklaren gelassen.«

»Wieso?«

»Die Suche soll ja heute abgehalten werden!«

»Was Sie sagen!«

»Ja.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich hörte an der Grenze davon. Im Mauthhause, in welchem ich mich legitimiren mußte, saßen mehrere Unteroffiziers, welche zu dieser Suche mit commandirt waren.«

»Hm! So bin ich bereits von zu Hause fortgewesen, als der Befehl gekommen ist. Na, schadet nichts! Ich bin ja sowieso nicht verpflichtet, mitzumachen. Wann sollte die Hetzjagd denn wohl beginnen?«

»Das weiß ich nicht. Direct wurde mir ja gar nichts mitgetheilt. Ich hörte nur ganz zufällig, was diese Leute flüsterten.«

»Na, erstens, ob er sich wirklich im Walde befindet!«

»Man vermuthet es.«

»Und zweitens, ob man ihn erwischt. Ich glaube nicht daran.«

»Wenn er sich hier befindet, wird man ihn sicher fangen.«

»O, es giebt zu viele Verstecke.«

»Die werden ihm nichts helfen bei der Art und Weise, wie man die Geschichte anfängt.«

»Nun, wie fängt man sie denn an?«

»Das hörte ich zufällig auch. Es werden zwei Doppelreihen von Forstleuten und Soldaten gebildet, an der Ost-und an der Westgrenze des Gebirges. Diese beiden Reihen besitzen eine solche Länge, daß sie durch den ganzen Wald reichen. Zur bestimmten Stunde setzen sie sich gegen einander in Bewegung. Sie werden also Alles, was sich zwischen ihnen befindet, sich gegenseitig zutreiben.«

»Pah!«

»O, die einzelnen Glieder stehen einander so nahe, daß keine Feder zwischen ihnen hindurch kann.«

»Mir wird es lieb sein, wenn man ihn fängt.«

»Und mir ist es sehr gleichgiltig; er hat mir ja gar nichts gethan. Uebrigens will ich nun aufbrechen. Ich will mich von diesen Herren nicht wieder treffen lassen.«

»Haben Sie Angst?«

»Warum?«

»Na, Sie wollen sich ja nicht wieder sehen lassen!«

Der Amerikaner sah den Baron groß und erstaunt an, lachte dann laut auf und sagte:

»Hören Sie, Sie werden mich doch nicht etwa gar für den gesuchten Baron und Hauptmann halten?«

»Warum nicht? Bei Ihrer Angst, wieder getroffen zu werden.«

»Na, das ist doch keine Angst. Sie konnten aber vielleicht denken, ich striche hier im Walde herum, den Kerl aufzusuchen und zu warnen. Daraus könnten für mich ja unliebsame Scheerereien entstehen.«

»Ach, so war es gemeint.«

»Ja, so. Uebrigens habe ich nichts zu befürchten. Ich bin im Besitze meines Passepartouts.«

»Was ist das?«

»Na, wer im Walde getroffen wird, muß sich legitimiren. Hat er das gethan, so erhält er eine Karte, auf welcher die Bemerkung steht, daß er sich ausgewiesen hat und überall und zu jeder Zeit ungehindert passiren kann.«

»So eine Karte haben Sie erhalten?«

»Ja.«

»Darf ich sie einmal sehen?«

»Sie mißtrauen mir wohl noch immer?«

»Nein. Ich frage nur aus Interesse.«

»So! Da ist sie!«

Er öffnete sein Portemonnaie, welches von Goldstücken erglänzte, zog die Karte hervor und zeigte sie ihm. Als er sie wieder eingesteckt hatte, erhob er sich von der Erde und fuhr fort: »Also, nun werde ich aufbrechen. Es wird Zeit.«

»Weiß Ihr Oheim, wann Sie kommen?«

»Nicht genau. Ich habe ihm mitgetheilt, daß er mich im Laufe dieser Woche erwarten kann. Kennen Sie Langenstadt?«

»So ziemlich.«

»Es giebt ein Rittergut da, welches der Familie Scharfenberg gehörte. Befindet es sich noch in deren Besitz?«

»Ja.«

»Wohnen sie dort?«

»Nein.«

»Wo denn?«

»Der eine Scharfenberg ist Director der Strafanstalt zu Rollenburg; er wohnt also dort. Sein Bruder, der Major, bewohnte eine andere Besitzung, und dessen Sohn, der Lieutenant, stand in der Residenz in Garnison.«

»Sie sagen ›bewohnte‹ und ›stand‹. Ist dies denn jetzt nicht mehr der Fall?«

»Nein.«

»Ah! Warum?«

»Sie sind Beide todt, gestorben an einem Tage.«

»Wunderbar!«

»Na, der Sohn erschoß sich, und den Vater rührte vor Schreck darüber der Schlag. Beide wurden im Stammschlosse beigesetzt, nachdem ihre Leichen präparirt worden waren. Kürzlich aber habe ich gehört, daß der Anstaltsdirector die Verfügung getroffen hat, daß die Särge Beider nach Langenstadt geschafft werden sollen.«

»Weshalb?«

»Das weiß ich nicht. Interessiren Sie sich dafür?«

»Nicht mehr als nur deshalb, weil mein Geburtsort dieser Familie gehörte. In welcher Richtung von hier aus liegt denn eigentlich Langenstadt?«

Diese Frage kam dem Baron ganz außerordentlich gelegen. Er trat bis nahe an den Rand des Felsens, deutete mit der Hand nach Westen und antwortete: »Kommen Sie einmal her! Haben Sie scharfe Augen?«

»Ja.«

»Dann wird es Ihnen möglich sein, Langenstadt zu sehen.«

»Auf solche Entfernung hin?«

»Ja.«

»Unmöglich!«

»O doch! Die Morgenluft ist rein und klar, und das Schloß von Langenstadt liegt hoch genug. Ja, ich sehe es leuchten.«

»Wo, wo?«

Dabei trat der Amerikaner neben ihn hin.

»Passen Sie auf! Sehen Sie die beiden Vorberge da ganz in der Nähe, grad vor meiner Hand?«

»Ja.«

»Dahinter eine einzelne Bergkuppe?«

»Sehr deutlich.«

»Links davon etwas Schwarzes, welches das Aussehen einer langgezogenen Bergwand hat?«

»Ja.«

»Mitten auf dieser Wand ist ein weißer, wenn auch nicht sehr heller Punkt zu bemerken.«

»Ich sehe ihn.«

»Das ist das Schloß zu Langenstadt.«

»Ah, also das! Dort werde ich also heute Abend sein!«

»Nein.«

Der Amerikaner behielt den Punkt im Auge, welcher seine Heimath bedeutete. Er sagte, ohne sich abzuwenden, ohne sich zum Baron umzudrehen: »Nicht? Meinen Sie? Denken Sie, daß es zu weit ist?«

»Nein, weil Sie eine andere Richtung nehmen werden.«

Jetzt drehte er sich langsam um.

»Diese da!«

Der Baron deutete mit der Linken in die Tiefe hinab und versetzte ihm in demselben Augenblicke einen solchen Stoß vor die Brust, daß der Getroffene über den Rand der Felsenplatte hinunterflog. Ein lauter, entsetzlicher Angstschrei – ein dumpfes Gekrach, wie das Aufschlagen eines fallenden Körpers auf lockeres Geröll – dann Todesstille.

Der Baron lauschte noch eine Minute lang, dann murmelte er:

»Fertig! Ah, das war Hilfe in der Noth! Jetzt bin ich gerettet. Jetzt habe ich Geld und Legitimationen. Ich brauche dem Kerl nur nachzuklettern. Sein Onkel wird mich als Neffe aufnehmen; kein Mensch kann etwas dagegen haben. Dort warte ich, bis meine Zeit, mich zu rächen, gekommen ist. Jetzt aber schnell. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Wenn er recht gehabt hat, so können die Soldaten in Kurzem hier eintreffen.«

Er warf die geleerte Flasche ihrem letzten Besitzer nach, nahm den Tornister auf den Rücken, den Stock des Ermordeten in die Hand und begann, abwärts zu klettern.

Das geschah natürlich auf der Seite, an welcher er heraufgekommen war. Als er aber so tief angelangt, daß es möglich war, auf die andere, gefährliche Seite hinüber zu kommen, veränderte er dem angemessen seine bisherige Richtung.

Die Steilung war keineswegs nackt. Aus den Felsenritzen ragten hohe Tannen; Ginstergestrüpp wucherte an den unzugänglichsten Stellen, und aus dem Schutt und Geröll zogen allerlei Sträucher ihre Nahrung. Diese Büsche gaben dem Kletternden Halt.

Er gelangte glücklich auf die Seite, an welcher er den Amerikaner herabgestürzt hatte. Dort suchte er ihn. Nach oben blickend gewahrte er den Streifen, welchen der Stürzende über Geröll und Gesträuch gezogen und gerissen hatte. Dort, wo dieser Streifen aufhörte, war etwas Dunkles zu bemerken.

Der Baron kletterte hin und erkannte sein Opfer. Er kniete bei demselben nieder und untersuchte den zwar noch warmen aber bewegungslosen Körper.

»Todt! Den Hals gebrochen!« sagte er triumphirend. »Und das Gesicht ist ganz zerschunden; es ist unmöglich zu erkennen; es sieht schrecklich aus.«

Er wendete sich doch für einen Augenblick wie grauend ab, murmelte aber dann:

»Und grad das ist vielleicht gut für mich! Wie, wenn ich mit ihm die Kleider wechselte, ihm meine Perrücke aufsetzte. Sein Anzug ist zwar beschmutzt, aber er ist nicht zerrissen. Hier im Tornister habe ich eine Bürste gesehen. Ich bürste ihn rein. Man wird ihn, wenn man ihn findet, für mich halten. Der Hauptmann ist dann todt, und ich erfreue mich einer desto größeren Sicherheit. Ja, das werde ich thun.«

Er zog die Leiche aus, sich auch und legte dann die Kleider des Amerikaners an, indem er Stück für Stück vorher sorgfältig ausbürstete. Auf diese Weise brauchte er die Taschen gar nicht zu leeren.

Schwieriger war es nun freilich, dem Todten die anderen Kleidungsstücke anzuziehen, doch auch dies wurde fertig gebracht. Dann nahm der Baron den Tornister wieder auf den Rücken, griff zum Stocke und kletterte vollends hinab bis an den Fuß der Höhe, wo er einen gangbaren Weg fand, dem er folgte.

Erst nach längerer Zeit fühlte er sich sicher, so daß er nun die Taschen auszusuchen begann. Er fand eine höchst bedeutende Summe in Papiergeld, das Portemonnaie voller Gold, dann die Depositenscheine auf verschiedene Banken. Er hatte das ganze Vermögen des Amerikaners in den Händen, natürlich außer den Gegenständen, welche sich noch unterwegs befanden.

Auch den Passierschein von der Grenze hatte er und die sämmtlichen Legitimationen. In einer der Taschen steckte ein kleiner Reisespiegel, mit dessen Hilfe sich der Baron genau musterte. Er hatte alle Mühe auf sich verwendet, fand nichts auszusetzen und setzte seinen Weg fort.

Aber er war noch nicht weit gekommen, so mußte er halten.

»Halt! Werda!« tönte es ihm entgegen.

Da dieser Ruf so ganz unerwartet kam, erschrak er, doch nicht vor Angst. Er wollte auf den Frager, den er allerdings noch nicht sehen konnte, zugehen, hörte aber ein: »Stehenbleiben, oder ich gebe Feuer.«

»Gut!« sagte er. »Also, was soll es?«

Der Ermordete hatte das Deutsche mit einem sehr hörbaren Accent ausgesprochen. Der Baron sprach so gut englisch, daß es ihm gar nicht schwer fiel, diesen Accent nachzuahmen. Hinter dem Busche hervor fragte es: »Was thun Sie hier?«

»Nichts!«

»Sie müssen doch zu einem Zweck hier sein.«

»Na, ja. Ich bin ein Reisender. Ich will durch den Wald nach Langenstadt.«

»Haben Sie Waffen bei sich?«

»Ja.«

»Ah! Was für welche?«

»Einen Revolver.«

»Warum?«

»Weil ich viel Geld bei mir trage.«

»Warten Sie! Man wird sogleich mit Ihnen sprechen!«

Er sah den Lauf des Gewehres auf sich gerichtet und hütete sich in Folge dessen, eine Bewegung zu machen.

Er hatte dem Todten die blonde Perücke, welche diesem sehr gut paßte, aufgesetzt, zeigte also jetzt seine natürlichen Haare. Da er aber bereits vor Wochen sein Gesicht mit Wallnußschaalenabkochung gefärbt hatte, so besaß er jetzt ganz denselben dunklen Teint, welchen auch der Fremde gehabt hatte. Auch der Bart, welchen er in der Residenz getragen hatte, war abrasirt. So war er überzeugt, sich nicht sehr ähnlich zu sehen.

Nach kurzer Zeit hörte er nahende Schritte. Drei Männer kamen auf ihn zu, ein Officier und zwei Unterofficiere. Kaum hatte der Erstere einen Blick auf ihn geworfen, so rief er aus: »Alle Wetter! Da scheinen wir einen ausgezeichneten Fang gemacht zu haben.«

Er trat auf den Baron zu und fragte:

»Wie heißen Sie?«

»Weber,« antwortete der Gefragte, dem Worte den amerikanischen Accent gebend.

»Ah! Schön, Herr Weber! Wo sind Sie her?«

»Aus Saint Louis.«

»Wunderbar! Wo liegt das?«

»In den Vereinigten-Staaten.«

»Das, das meinen Sie! Sie scheinen ein höchst spaßhafter Kerl zu sein. Haben wir uns nicht bereits gesehen?«

»Könnte mich nicht besinnen.«

»In unserer Residenz?«

»Da war ich noch nie.«

»Als Weber wohl noch nie, aber als Baron Franz von Helfenstein jedenfalls.«

»Sie irren, Herr Lieutenant.«

»Das wäre eine einigermaßen auffällige Ähnlichkeit. Was treiben Sie hier im Walde?«

»Ich komme von jenseits der Grenze und will nach meinem Geburtsorte Langenstadt.«

»Langenstadt? Und doch sind Sie Amerikaner? Halten Sie mich doch nicht für angeschossen, Alter!«

»Ich bin zwar in Langenstadt geboren; aber mein Vater wanderte nach Amerika aus, als ich noch klein war.«

»Und grad heute kehren Sie zurück?«

»Ja.«

»Sie erfinden gut; aber, können Sie sich legitimiren?«

»Ja.«

»Thun Sie das! Versuchen Sie es wenigstens!«

Der Lieutenant war vollständig überzeugt, den Hauptmann vor sich zu haben. Auf seinen Wink standen die beiden Unterofficiere mit schußbereitem Gewehr neben demselben, kein Auge von ihm verwendend.

»Das ist doch eigenthümlich,« lächelte der Baron. »In dieser Weise in der Heimath empfangen zu werden, habe ich nicht erwartet. Ich war heute bereits einmal gezwungen, mich zu legitimiren.«

»Wo?«

»An der Grenze.«

»Und Sie haben sich wirklich ausgewiesen?«

»Ja.«

»Dann müssen Sie eine Passirkarte erhalten haben.«

»Die habe ich.«

»Zeigen Sie!«

»Hier!«

Er gab sie dem Officier. Dieser prüfte sie, wendete sie nach beiden Seiten, schüttelte den Kopf, fuhr sich rathlos mit der Hand nach dem Schnurrbarte und fragte endlich: »Haben Sie diese Karte vielleicht gefunden?«

»Nein. Ich habe sie im Mauthhause von einem Officier erhalten.«

»Verflucht! Und dennoch diese Ähnlichkeit. Wir suchen nämlich einen entwichenen Gefangenen – –«

»Das hörte ich bereits.«

»Mit welchem Sie eine bedenkliche Ähnlichkeit besitzen. Darum werden Sie entschuldigen, wenn ich meine Pflicht thue und möglichst genau verfahre.«

»Bitte! Ich habe mich zu fügen.«

»Es ist die Möglichkeit vorhanden, daß die Karte gefunden worden ist. Ich muß bitten, mir die Legitimation zu zeigen, auf welche hin Sie sie bekommen haben.«

»Gern! Hier zunächst mein Paß.«

Er nahm ihn aus dem Portefeuille und gab ihn hin. Der Officier prüfte ihn auf das Genaueste und sagte dann: »Da giebt’s allerdings nichts auszusetzen.«

»Hier mein Schein als Bürger der Vereinigten-Staaten.«

»Auch richtig.«

»Hier mein Patent als Capitän der Miliz.«

»Donnerwetter! Also ein Kamerad!«

»Ja. Hier ferner die Briefe meines Oheims, welche er von Langenstadt abgesandt hat. Hier auch meine Depositenscheine. Ich glaube Der, den Sie suchen, hat nicht an dem hier angegebenen Tage solche Summen in New-York zahlen können.«

Das Gesicht des Lieutenants wurde lang und immer länger. Er befand sich in Verlegenheit. Er sah ein, daß er zu weit gegangen sei.

»Pardon, Herr Kamerad,« sagte er. »Sie müssen wirklich verzeihen. Kolossaler Irrthum, aber auch kolossale Ähnlichkeit. Meine Pflicht; Sie wissen.«

»O, ich zürne Ihnen keineswegs. Als Officier weiß ich ja sehr genau, was es heißt, nach Ordre zu handeln.«

»Danke! Nehmen Sie also Ihre Documente zurück! Sie kommen also quer über die Berge?«

»Ja. Ich wollte gleich beim ersten Schritt in die Heimath die Schönheit derselben bewundern.«

»Recht so! Haben Sie Begegnungen gehabt?«

»An der Grenze, wie ich bereits sagte.«

»Sonst nicht?«

»Nein – aber doch; oh, Sapperment!«

»Was?«

»Es ist mir allerdings ein Mensch begegnet.«

»Ein Mensch? Warum gebrauchen Sie diesen Ausdruck? Hatte er vielleicht etwas Verdächtiges an sich?«

Der Lieutenant war plötzlich ungeheuer eifrig geworden.

»Das schien mir allerdings,« antwortete der Baron.

»Also verdächtig?«

»Ja.«

»In wiefern?«

»Der Waldboden ist weich; man kann die Schritte kaum hören. Als ich so langsam meines Weges ging und eben um eine Ecke biegen wollte, kam von der entgegengesetzten Seite ein Anderer, der bei meinem Anblicke todtesbleich wurde und erschrak, daß er beinahe zu Boden gefallen wäre.«

»Sapperment! Das klingt allerdings verdächtig. Weiter.«

»Er wollte umkehren, schien sich aber zu besinnen, denn er grüßte höflich und richtete einige Fragen an mich.«

»Welche Fragen?«

»Wer ich sei, woher ich komme und wohin ich gehe. Zuletzt wollte er wissen, ob ich Militär gesehen habe.«

»Ah! Oh! Was antworteten Sie?«

»Ich erinnerte mich, daß Einer gefangen werden solle. Der Kerl kam mir verdächtig vor; ich beschloß also, ihm die Wahrheit nicht zu sagen. Hoffentlich war das richtig!«

»Ganz richtig!«

»Ich sagte ihm also, daß von Militär keine Spur vorhanden sei, ebenso wenig von Forstbeamten, nach denen er fragte.«

»Können Sie sich genau auf sein Äußeres besinnen?«

»Sehr genau.«

»Alter?«

»Ungefähr wie ich.«

»Statur?«

»Grad wie die meinige.«

»Sapperment! Kleidung?«

»Schwarzes Tuch, moderner Schnitt!«

»Ah! Das ist der Anzug, welchen er bei dem Herrn von Scharfenberg entwendet hat. Wie lange ist es her, seit Sie mit ihm gesprochen haben?«

»Ungefähr eine halbe Stunde.«

»Wo war es?«

»Wenn man auf dem Wege, den ich hier gekommen bin, zurückgeht, so gelangt man in einen Grund, welcher sich lang und breit nach links zieht, rechts aber steigt ein Fels fast gerade in die Höhe. Da war es. Da mir der Mensch auffällig war, blieb ich hinter den Bäumen stehen, um zu sehen, wohin er gehen werde.«

»Recht so, recht so! Wohin ging er?«

»Er kletterte an der beschriebenen Höhe empor.«

»So wissen wir also doch die Richtung. Herr Kamerad, wenn Sie den Kerl festgehalten hätten!«

»Was Deines Amtes nicht ist, da laß Deinen Vorwitz!«

»Aber es war ja ganz sicher Der, welchen wir suchen.«

»Herr Lieutenant, bitte, nicht ich suchte ihn!«

»Das ist freilich wahr. Aber es sind fünfzehntausend Gulden auf seine Habhaftwerdung gesetzt.«

»Ich bin reich genug. Aber – hm, da fällt mir ein Umstand ein, auf welchen ich, als er so vor mir stand, keinen Werth legte.«

»Welcher?«

»Seine Kopfbedeckung hatte sich verschoben – –«

»Er hatte natürlich schwarzes Haar, grad wie Sie?« fiel der Officier schnell ein.

»Hm! Er trug blondes Haar, aber unter demselben schien er schwarzes zu haben. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß er eine falsche Perrücke getragen hat.«

»Er ist es, er ist es ganz sicher! Adieu, Herr Kamerad! Sie sehen, meine Leute sind längst voraus. Ich muß eilen, daß ich nachkomme. Also Pardon wegen der Belästigung! Ich hatte sie nicht verschuldet!«

Er eilte weiter. Der Baron holte tief und erleichtert Athem und machte sich dann rasch von dannen.

Der Officier erreichte seine Leute binnen kurzer Zeit. Er gehörte mit dem Zuge, welchen er befehligte, zu der militärischen Truppe, welche den Wald zu durchforschen hatte. Seine Leute bildeten eine zusammenhängende Doppellinie. Er zog sie jetzt mehr zusammen und dirigirte sie auf dem angegebenen Wege vorwärts. Er war so voller Eifer, als ob er den Hauptmann bereits vor sich habe.

Als er den Grund erreichte, befahl er seine Leute zu sich und theilte ihnen mit:

»Hier, rechts, ist er hinaufgeklettert. Wir nehmen also die Höhe. Wir werden zwar die Fühlung mit den Anderen für kurze Zeit verlieren, aber hoffentlich bleibt uns dann der Ruhm vorbehalten, den Flüchtling ergriffen zu haben. Also einzeln und dann die Höhe empor, so weit es geht.«

Es wurde gehorcht. Die Leute klommen empor, langsam und hinter jeden Busch spähend. Der Corporal befand sich an der Seite des Lieutenants. Plötzlich ergriff der Erstere den Letzteren ganz respectwidrig beim Arme, hielt ihn zurück und raunte ihm zu: »Halt! Ich sehe einen Menschen.«

»Wo denn?«

»Dort, da oben, hinter dem Busche kauert er.«

Der Offizier folgte mit seinem Auge der angedeuteten Richtung und erkannte allerdings etwas Dunkles, was sich hinter den Busch versteckt zu haben schien.

»Sollte es wirklich ein Mensch sein?« flüsterte er.

»Ganz gewiß.«

»Dann ist er es wahrscheinlich.«

»Ganz sicher ist er es! Er hat nicht weiter fliehen können. Der Fels wird ja zu steil. Unsere Leute klettern in einem Halbkreise empor. Offen kann er gar nicht entkommen. Nun versucht er, sich zu verstecken.«

»Also darauf zu!«

»Er wird bewaffnet sein, Herr Lieutenant.«

»Alle Teufel! Das ist richtig. Schießt er uns Beide nieder, so entsteht eine Lücke, durch welche er ganz leicht entkommen kann. Avanciren wir also zunächst nur so weit, bis wir deutlich sehen, daß es ein Mensch ist!«

Sie stiegen langsam weiter. Bereits nach wenigen Schritten blieb der Offizier halten und fragte:

»Sehen Sie die Beine?«

»Ja.«

»Er kann sie nicht genug an sich ziehen. Es ist also ein Mensch. Avisiren wir unsere Leute!«

Ein lautes Commandowort genügte, um die Soldaten auf den betreffenden Punkt aufmerksam zu machen.

»Wer da?« fragte nun der Corporal.

Es erfolgte keine Antwort.

»Antwort oder ich schieße!«

Als auch jetzt noch nichts erfolgte, drückte der Corporal ab. Er konnte nur die Beine sehen, hatte aber dahin gezielt, wo er den Kopf vermuthete.

»Er bewegt sich noch immer nicht,« meinte der Lieutenant, »gehen wir also drauf.«

Auch die anderen Leute kamen von allen Seiten herbei. Sie fanden hinter dem Busche den Amerikaner.

»Todt! Er ist todt!« rief der Lieutenant.

»Meine Kugel muß ihn getroffen haben,« meinte der Corporal.

»Vielleicht, aber mir scheint, er ist an etwas anderem gestorben. Seht dieses Gesicht! Es ist ganz zerfetzt und zerrissen. Woher mag das kommen?«

»Er muß gestürzt sein.«

»Ah, ja! Blickt da hinauf! Man sieht es ganz genau, daß er hier herabgestürzt ist. Er hat also den Felsen bereits erstiegen gehabt und nur bei den letzten Schritten vielleicht einen Fehltritt gethan. Er sieht schauderhaft aus.«

Der Corporal wollte niederknieen, um den Todten zu untersuchen; da aber sagte der Lieutenant schnell:

»Halt! Nicht anrühren! Wir befinden uns nicht im Gefecht. Es handelt sich hier um einen Criminalverbrecher, um einen Todesfall, welcher von den Organen der Gerichtspolizei untersucht werden muß. Das geht uns nichts an. Wir haben den Arzt mit. Er mag ihn untersuchen. Gebt jetzt das Zeichen: eine Salve!«

Die Gewehre wurden zugleich abgeschossen. Das gab einen Knall, welcher auf weite Entfernung hin gehört und vom Echo vielmal wiederholt wurde. Zur besseren Orientirung der Herbeigerufenen schoß man noch einige Male einzelne Gewehre ab, bis von verschiedenen Seiten Militär-und Forstpersonen herbeigeeilt kamen.

Einer der Ersten war der Hauptmann der Compagnie. Ihn begleitete der Arzt. Bei diesen Beiden befand sich ein Oberförster und auch ein Obergensdarm.

»Sie ließen das Zeichen geben, Lieutenant?« rief der Hauptmann bereits von Weitem. »Haben Sie vielleicht eine Spur entdeckt?«

»Nicht nur eine Spur, sondern ihn selbst.«

»Ah! Wo, wo?«

»Hier liegt er.«

Die Herren kamen förmlich herbeigestürzt. Als der Hauptmann die Leiche sah, stieß er hervor:

»Ah! Sie haben ihn erschossen!«

»Nein. Er war bereits todt. Er ist von da oben herabgestürzt, Herr Hauptmann.«

Alle blickten nach der Felsenhöhe. Der Obergensdarm meinte:

»Dann muß er allerdings eine Leiche sein. Bitte, Herr Doctor, untersuchen Sie ihn!«

»Wollen wir nicht erst sehen, wen wir vor uns haben?« fragte der Angeredete.

»Gewiß, Sie haben recht. Das ist ja die Hauptsache.«

Der Polizeibeamte wendete die Leiche um, zog den Rockhenkel unter dem Kragen hervor und sagte:

»Er ist es. Die Suche ist also nicht vergeblich gewesen.«

»Täuschen Sie sich nicht?«

»Nein. Der Henkel ist aus gepreßtem Leder gefertigt und zeigt den eingestanzten Namen des Schneiders. Es ist der Rock, welchen er dem Baron von Scharfenberg genommen hat. Und da, sehen Sie!«

Er zeigte die blonde Perrücke.

»Bemerken Sie das schwarze Haar, welches er unter dieser Perrücke getragen hat. Das Gesicht ist nicht zu erkennen, aber die Figur und Alles stimmt. Bitte, Herr Doctor, sehen Sie jetzt nach!«

Der Arzt begann die Untersuchung. Er schüttelte den Kopf, er entfernte die Kleidung von der Brust, er nahm verschiedene Manipulationen vor, über welche die anwesenden Laien bei anderer Gelegenheit gelacht hätten. Das dauerte lange, beinahe eine Viertelstunde, dann endlich erhob er sich und holte tief Athem.

»Nun, Doctor, wie steht es?« fragte der Hauptmann.

»Er lebt noch.«

»Alle Teufel! Ist’s möglich?«

»Ja. Von da oben herabzustürzen, ohne ein einziges Glied zu brechen, das hält man freilich für unmöglich. Ob er innerlich verletzt ist und wo und wie, das kann ich natürlich jetzt nicht wissen. Athem ist da, Puls auch, wenn auch nur ein Hauch, eine Ahnung. Wie es mit dem Gehirn steht, weiß ich auch nicht.«

»Er hat blutigen Schaum vor dem Munde. Ich denke, das ist ein Zeichen des Todes?«

»Nein. Er hat sich während des Sturzes die Zunge fast durchgebissen, daher das Blut.«

»Denken Sie, daß er zur Besinnung kommen wird?«

»Das kommt auf seine Verletzungen an. Vielleicht erwacht er nur, um zu sterben.«

»Dann wird er wohl wenigstens ein Wort sagen.«

»Das ist unmöglich wegen der verwundeten Zunge.«

»Hm! Was ist da zu thun?«

Da meinte der Obergensdarm:

»Wir müssen Alles thun, um ihn am Leben zu erhalten, um wenigstens sein Leben auf Tage oder Stunden zu verlängern. Giebt es gar keine Hoffnung?«

»Ich kann nicht in das Innere des Menschen sehen. Jedenfalls dürfen wir ihn nicht hier liegen lassen. Aber wohin hier in dieser Waldesöde.«

»O, Herr Doctor, wir haben gar nicht sehr weit nach einer Wohnung,« bemerkte der Oberförster.

»Wo?«

»Kaum zehn Minuten von hier wohnt ein Kohlenbrenner, welcher Hendschel heißt.«

»Was ist er für ein Mann?«

»Blutarm aber ehrlich.«

»Gut, versuchen wir es, den Verletzten bis dorthin zu bringen. Man mag eine Trage verfertigen.«

»Nehmen wir dazu die Gewehre und einige Mäntel,« sagte der Hauptmann. »Wenn wir recht vorsichtig verfahren, wird er uns hoffentlich nicht unterwegs sterben.«

Der Köhler war des Morgens in den Wald gegangen, um den neuen Meiler anzurichten, von welchem er gestern gesprochen hatte. Seine Frau erwartete ihn nicht für heute, sondern erst am nächsten Vormittage zurück. Sie saß strickend am Tische und sprach mit dem Vetter, welcher trübselig neben ihr saß.

»Mein Mann hat recht,« sagte sie. »Du mußt nach Hause zu den Deinigen.«

»Und wenn ich komme, arretirt man mich,« warf er ein.

»Das glaube ich nicht. Bist Du steckbrieflich verfolgt?«

»Nein.«

»Sucht die Polizei nach Dir?«

»Auch nicht. Aber ich denke, die Polizei ist sehr pfiffig. Sie thut ganz so, als ob Gras über die Geschichte gewachsen sei, und wenn ich dann komme, so nimmt sie mich beim Kragen.«

»Versuche es doch wenigstens.«

»Wenn sie mich festnimmt, war’s kein Versuch, sondern eine großartige Dummheit.«

»Aber Du kannst doch nicht immer so versteckt bleiben.«

»Das ist freilich wahr; ich werde auf diese oder auf eine andere Weise in den sauren Apfel beißen müssen. Ich wollte, der Teufel hätte diesen Baron geholt, ehe ich ihn zu sehen bekam. Er ist mein Unglück!«

»Sei einmal ehrlich! Nicht wahr, dieser Hirsch war kein Anderer als der Baron von Helfenstein?«

»Na, er ist jetzt fort, und ich will es also ruhig gestehen: Ja, er war es!«

»Nun denke Dir einmal, in welche Gefahr Du uns dadurch gebracht hast! Wenn man ihn bei uns gefunden hätte!«

»Es ging nicht anders; es war – ah, was muß denn da los sein? Gewiß ist etwas geschehen!«

Er war eilig an das kleine Fenster getreten.

»Was ist’s denn?« fragte sie schnell und besorgt.

»Der Vetter kommt.«

»Mein Mann?«

»Ja, da drüben aus den Fichten heraus.«

Die Alte eilte auch an das Fenster, um hinauszublicken.

»Ja, da ist etwas geschehen,« sagte sie erschrocken, »und zwar nichts Gutes. Ich kenne seine Mienen.«

Sie eilte hinaus, öffnete die Hausthür und rief ihm entgegen:

»Um Gotteswillen, Alter, was ist passirt? Du siehst ja wie das reine Unglück aus!«

»Hinein, hinein!« befahl er ihr.

Dann, als er selbst die Thür hinter sich zugemacht hatte, sagte er, vom schnellen Laufen laut athmend:

»Ja, es ist ein Unglück! Sie haben ihn.«

»Herrgott? Wen denn?«

»Den Hauptmann, den Hirsch.«

»Wer hat ihn denn?«

»Die Soldaten.«

»Ist denn Militär im Walde?«

»Ja. Ich sprach doch gestern Abend schon davon. Aber ich dachte freilich nicht, daß es so schnell gehen würde.«

»Woher weißt Du es denn?«

»Ich habe es selbst gesehen mit meinen eigenen Augen. Ich war eben daran, den Grund für den Meiler zu graben, da drüben, jenseits der breiten Schlucht; da hörte ich aus der Ferne einen gräßlichen, einen entsetzlichen Schrei, wie ihn nur ein Mensch in der höchsten Todesnoth auszustoßen vermag. Das schien mir von der Gegend der Felsenplatte zu kommen. Ich sprang also aus dem Walde heraus, nach der Lichtung hin, die wir vor zwei Jahren geschlagen haben, und richtig, da sah ich drüben unter dem Felsen sich etwas bewegen.«

»Wer ist das gewesen?«

»Höre nur! Natürlich war irgend wer verunglückt, von der Platte gestürzt; ich mußte hin. Du kennst den Weg. Man geht von dem Meiler aus hinab, hinauf und noch zweimal hinab und hinauf, dreimal über das reißende Wildwasser weg.«

»Mein Gott, Alter, das ist lebensgefährlich für Dich! Das Wasser hat ja die Brücke fortgerissen!«

»Ich mußte aber dennoch hin! Das ging freilich sehr langsam. Es mochte über eine halbe Stunde vergangen sein, als ich endlich die letzte Höhe erreicht hatte und nun unter den Fichten nach dem Felsenabsturze hineilte. Eben wollte ich unter den Bäumen heraus auf die kahle Steinfläche, da hörte ich ein Krachen wie von einem Kanonenschusse. Ich blieb halten, sah nach der Seite hin und erblickte eine Menge Soldaten, die um den Körper, den ich von da drüben bemerkt hatte, im Kreise standen. Da war ich nun freilich nicht nöthig. Aber ich wartete.«

»Du lieber Gott, was werden wir hören!«

»Kaum fünf Minuten waren vergangen, so kamen noch viel mehr Soldaten, Offiziere und Gensdarme herbei, Alle nach demselben Orte hin. Sie redeten und warfen mit den Armen um sich. Endlich sah ich, daß sie eine Bahre gemacht hatten und einen Menschen darauflegten. Dieser Mensch war – der Hauptmann.«

»Ist’s wahr? Ist’s gewiß?« fragte der Vetter.

»Ja. Ich sah es ganz deutlich an der Kleidung.«

»So ist er da oben herabgestürzt?«

»Höchst wahrscheinlich.«

»War er todt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ah! Wenn er doch todt wäre!«

»Gut wäre es für Dich und auch für uns.«

»Wo mögen sie ihn hinschaffen?« fragte die Alte.

»Das kommt ganz darauf an, ob er todt ist oder ob er noch lebt. Ist er todt, so wird er irgendwo hier eingescharrt, oder sie schaffen seine Leiche sonst irgendwo hin. Lebt er aber noch, so bringen sie ihn sicherlich zu uns.«

»Du lieber Herrgott!« rief die Frau erschrocken aus.

»Ja, ganz gewiß, denn es giebt ja in der weiten Umgegend keine Wohnung als nur die unserige.«

»Dann sind wir verloren!«

»Noch nicht! Fasse Dich, Mutter! Es fragt sich, ob er uns verrathen wird.«

»Ganz sicher, ganz gewiß! Schon aus purer Rachsucht, weil wir ihn fortgewiesen haben!«

»Nur langsam! Wer von der Felsenplatte stürzt, der ist entweder todt, oder er befindet sich in einem Zustande, der das Sprechen ganz von selbst verbietet. Ich denke mir, daß – da, schaut, wer kommt?«

»Mein Himmel! Der Oberförster und gar auch ein Obergensdarm!« rief die Frau, vor Schreck die Hände über dem Kopf zusammenschlagend.

»Donnerwetter, da muß ich mich verstecken!« rief der Vetter.

Er wollte eiligst zur Stubenthür hinaus, aber der alte Köhler faßte ihn beim Arme, hielt ihn fest und sagte: »Halt, Vetter! Entweder ist es verrathen, daß er bei uns gewohnt hat und da magst Du die Folgen auch mit tragen, denn Du bist’s ja gewesen, der ihn zu uns gebracht hat. Oder es ist noch nichts verrathen und so kannst Du ruhig bleiben. Du wirst bei dieser Gelegenheit gleich erfahren, ob die Polizei nach Dir sucht oder nicht.«

»Ich muß fort! Laß mich, Vetter, laß mich!«

Während dieser Worte versuchte er, sich loszuringen, aber der Alte hielt ihn mit eiserner Gewalt fest und gebot: »Du bleibst! Es ist auch bereits zu spät. Schau, da sind sie ja schon an der Hausthür!«

Der Wagner trat in die hinterste Ecke zurück. Er war vor Angst weiß wie Schnee. Jetzt wurde die Thür geöffnet und die beiden Genannten traten ein.

»Guten Morgen!« grüßte der Obergensdarm. »Sie sind der Kohlenbrenner Hendschel?«

»Ja, Herr.«

Er sah sich um, erblickte die hier herrschende Armuth und erkundigte sich in Folge dessen:

»Schlafen Sie auf einem Lager oder in Betten?«

»In Betten.«

»Wo sind diese?«

»Droben in der Kammer.«

»Hm! Wir haben da einen Verwundeten aufgegriffen, der so schwer verletzt ist, daß er unmöglich weitergeschafft werden kann. Wollen Sie ihn aufnehmen?«

»Ja.«

»Es wird Ihnen bezahlt werden.«

»Ich thue meine Menschenpflicht.«

»In der Kammer darf er nicht liegen. Schaffen Sie schleunigst ein Bett hier herein, hier in diese Ecke!«

Die beiden Alten eilten, den Befehl zu erfüllen. Die Beamten setzten sich nieder; sie waren schnell gelaufen, um Zeit zu gewinnen. Der Obergensdarm wendete sich an den angstvoll in der Ecke Stehenden: »Gehören Sie auch mit ins Haus?«

»Eigentlich nicht.«

»Wieso?«

»Ich bin nur auf Besuch hier.«

»Wo sind Sie her?«

»Aus Obersberg.«

»Ah, Obersberg! Was sind Sie? Doch nicht auch Köhler, denn Kohlenbrenner giebt’s dort nicht.«

»Nein, ich bin Wagner.«

»Und wie heißen Sie?«

»Hendschel.«

»Also wie der Köhler hier? So sind Sie mit ihm verwandt?«

»Ja, wir sind Vettern.«

»So, so!«

Nach diesen zwei freundlich-gleichgiltigen Sylben wendete er sich ab, dem alten Hendschel zu, der jetzt mit seiner Frau die Betten hereinbrachte.

Dem Wagner war es, als ob ihm der schwerste Mühlstein vom Herzen gefallen sei. Der Obergensdarm war freundlich gewesen, hatte, als er den Namen hörte, keinerlei Bemerkung gemacht, nicht einmal die Miene verzogen. Das war ein sicheres Zeichen, daß nichts zu befürchten war. Er trat aus seiner Ecke vor und half das Bett aufstellen. Das ging so rasch von statten, daß die Drei fertig waren, als der Verletzte gebracht wurde. Als der Zug von weitem zu sehen war, sagte der Obergensdarm zu dem Köhler: »Haben Sie eine Ahnung, wen wir bringen?«

»Nein.«

»Aber Sie wissen, wen wir suchen?«

»Auch nicht.«

Der Gensdarm machte ein ungläubiges Gesicht, aber der Oberförster nickte mit dem Kopfe und sagte:

»Ja, grade so ist der alte Hendschel! Er arbeitet still und fleißig; er thut seine Pflicht und bekümmert sich um weiter gar nichts in der Welt. Hören Sie, Alter, haben Sie denn gar nichts vom Waldkönig gehört?«

»Von dem? O ja, ein paar Male.«

»Und vom Hauptmanne?«

»Ja. Auf dem Jahrmarkte sagten sie, das soll ein-und derselbe sein, Herr Oberförster.«

»So ist es auch. Vorhin haben wir ihn gefangen.«

»Was Sie sagen!«

»Ja. Er ist von der Felsenplatte gestürzt und wird es wohl nicht überleben. Er kann nicht reden, er sieht ganz schrecklich aus. Da, seht!«

Eben wurde die Stubenthür geöffnet, und der Verunglückte wurde hereingebracht und unter Anleitung des Arztes ausgezogen und in’s Bett gelegt.

Die Bewohner der Hütte zogen sich in die äußerste Ecke zurück; der Oberförster verabschiedete sich, die Offiziere arrangirten draußen ein Bivouac und am Bette nahmen nur der Arzt und der Obergensdarm Platz, um den Patienten nicht aus den Augen zu lassen.

»Schrecklich, schrecklich!« flüsterte der Köhler seiner Frau zu. »Hast Du sein Gesicht gesehen?«

»Ja, Vater.«

»Er ist gar nicht zu erkennen.«

»Ganz unmöglich!«

»Ich glaube nicht, daß er es überleben wird.«

»Er muß ja bereits eine Leiche sein! Horch!«

Der Arzt und der Obergensdarm sprachen halblaut mit einander. Der Letztere fragte den Ersteren:

»Nun, können Sie jetzt etwas Bestimmtes sagen?«

»Vielleicht, wenn ich auch nicht behaupten will, daß es gar nicht anders sein könne. In solchen Fällen läßt sich kein absolutes Urtheil aussprechen.«

»Nun?«

»Ich hoffe, daß wir ihn erhalten.«

»Ah! Das wäre höchst erwünscht.«

»Ja. Das Herz ist in Thätigkeit, die Lunge auch. Lägen da Verletzungen vor, so hätte längst eine innerliche Verblutung stattgefunden.«

»Meinen Sie?«

»Ein Gliederbruch liegt auch nicht vor. Nur das Gehirn scheint bedenklich erschüttert zu sein, sonst wäre er während des Transportes erwacht. Er ist die Felsen hinaufgeschafft worden und wieder hinab, das hätte Einem, der nicht in dieser Weise betäubt ist, die entsetzlichsten Schmerzen verursacht. Die Zunge werde ich sogleich in Behandlung nehmen. Sie wird umso eher heilen, je länger er in Unbeweglichkeit und Betäubung verbleibt.«

»Wann kann er erwachen?«

»Heute oder auch erst nach Wochen.«

»O weh! Im letzteren Falle müssen wir ihn von hier fortschaffen.«

»Das kann ich nicht gestatten.«

»Ah! Warum?«

»Es muß uns daran liegen, sein Leben zu erhalten. Leider ist das Leben eines solchen Verbrechers – möchte man sagen – viel mehr werth, als dasjenige jedes ehrlichen Menschen. Wenigstens muß der Criminalist so denken.«

»Natürlich denke ich ebenso.«

»Jede Ortsveränderung aber kann tödtlich sein.«

»Aber wie ist es möglich, ihn hier zu lassen?«

»Für’s Erste wird er nicht entfliehen. Darauf können Sie tausend Eide schwören.«

»Und dennoch muß er in strengste und unausgesetzte Bewachung genommen werden!«

»Dagegen habe ich nicht nur nichts einzuwenden, sondern ich empfehle es sogar angelegentlichst an.«

»Wie aber ihn hier bewachen?«

»Das ist Ihre Sache, oder vielmehr diejenige des betreffenden Staatsanwaltes.«

»Sollen wir ihn mit Ketten schließen?«

»In diesem Zustande? Unmöglich!«

»Einen Gefängnißwärter an sein Bett setzen?«

»Meinetwegen!«

»Oder Militärposten um das Haus legen?«

»Das wäre das Beste. Jedenfalls ist ärztliche Behandlung jetzt das Allernothwendigste. Meine anderweiten Pflichten erlauben mir nicht, hier auszuharren; aber ich bin der Ansicht, daß ein tüchtiger Arzt nur allein für ihn beschafft werden muß. Derselbe hat hier zu bleiben und hier zu wachen, bis das Leben des Kranken außer aller Gefahr ist. Ich aber muß heute noch fort.«

»So wird es gerathen sein, zu telegraphiren.«

»Ja. Telegraphiren Sie nach der Residenz, meinetwegen direct an den Justizminister, nach Verhaltungsvorschriften. Bitten Sie um einen Criminalbeamten und um einen tüchtigen Arzt. Beide aber müssen noch am heutigen Tage hier eintreffen.«

»So werde ich schleunigst abreisen. Vorher aber wollen wir thun, was wir bisher noch unterlassen haben, nämlich seine Taschen durchsuchen.«

Er nahm die Kleider her und visitirte die Taschen. Es fand sich nichts, gar nichts als das Stück Brod, welches der Baron sich in der Frühe abgeschnitten hatte.

»Hm!« brummte der Obergensd’arm. »Auch kein Leckerbissen für einen Baron. Aber woher mag er dieses Brod wohl haben?«

Der Arzt nahm es aus seiner Hand, betrachtete es und meinte dann:

»Das ist nicht alt; das ist erst heute von einem Laibe abgeschnitten worden.«

Die alte Köhlersfrau stieß ihren Mann an und flüsterte:

»Um Gotteswillen! Sie werden es doch nicht merken!«

»Warte es ab!«

Der Blick des Gensd’armen fiel wirklich auf den Tisch, auf welchem das Brod noch immer lag, doch war von demselben bereits mehr abgeschnitten und gegessen worden.

»Das ist ja auch ganz solches Haferbrot,« sagte er. »Zeigen Sie doch einmal her!«

Er paßte die Schnitte an den Laib an und meinte dann:

»Ja, ganz dasselbe. Haben Sie heute Brod verschenkt oder ein Stückchen verkauft, Herr Hendschel?«

»Nein.«

»Es ist auch kein Fremder heute hier eingekehrt?«

»Nein.«

»Dachte es mir, doch muß man nach Allem fragen. Der Hauptmann kann ja gar nicht aus dieser Richtung gekommen sein, sondern von jenseits.«

»Wieso?« fragte der Arzt.

»Der Herr Lieutenant von Willmers hat im Walde einen Touristen getroffen, dem der Hauptmann begegnet ist. Dieser Tourist war ein Amerikaner. Ihm haben wir es eigentlich zu verdanken, daß wir diesen Fang gemacht haben, denn er hat die Aufmerksamkeit des Lieutenants auf ihn gelenkt. Der Hauptmann, oder vielmehr der Baron hier ist am Felsen emporgestiegen, von unten nach oben, also kann er doch nicht aus der Richtung dieses Hauses gekommen sein.«

»Gott sei Dank!« flüsterte die Köhlerin.

»Hoffentlich geht Alles gut!« antwortete ihr Mann ebenso leise. »Wie steht es mit Dir, Vetter?«

»Ah, habe ich Angst ausgestanden!«

»Es hat doch noch kein Mensch etwas gesagt!«

»O, ja, doch! Als Ihr droben in der Kammer wart, um das Bett herabzuholen.«

»Wer denn?«

»Der Obergensd’arm.«

»Was sagte er denn?«

»Er fragte, wer ich sei, wie ich heiße, woher ich bin und was ich hier bei Euch will.«

»Du hast ihm die Wahrheit gesagt?«

»Ja.«

»Und was meinte er dazu?«

»Gar nichts. Er blieb ganz freundlich.«

»Na, siehst Du, daß ich Recht hatte! Es ist für Dich gar keine Gefahr vorhanden. Du kannst ganz ruhig zu den Deinen zurückkehren. Am Besten ist es, wenn Du das heute noch thätest.«

»Soll ich Euch allein lassen bei der Last, die nun jetzt auf Euch liegt?«

»Du kannst uns auch nichts helfen und wirst daheim viel nöthiger gebraucht als hierbei uns.«

Jetzt erhob sich der Obergensd’arm von seinem Stuhle, trat herbei und sagte in freundlicher Weise:

»Es thut mir leid, daß Sie eine solche Belästigung erfahren müssen, aber Sie sehen doch wohl ein, daß wir den Verunglückten nicht weiter schaffen konnten?«

»Er mag hier bleiben, wenn es Ihnen recht ist.«

»Gut! Man wird Sie entschädigen; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß der Kranke ein schwerer Verbrecher ist. Er ist unser Gefangener. Sie würden einer strengen Strafe verfallen, wenn Sie sich nicht nach meiner Bemerkung richten wollten.«

»Ich habe keine Veranlassung dazu.«

»Es ist sogar möglich, daß man Ihnen heimlich Geld bietet, viel Geld, um den Gefangenen zu befreien. So etwas haben Sie uns unverzüglich zu melden. Ich gehe jetzt fort. Es wird noch heute ein Gerichtsbeamter kommen, welcher Ihnen bis in’s Einzelnste sagen wird, wie Sie sich zu verhalten haben. Adieu!«

Er verabschiedete sich auch vom Arzte und ging. – –

Das kleine, freundliche Städtchen Langenstadt, nach welchem sich der jetzt als Amerikaner verkleidete Flüchtling begeben wollte, liegt zwischen den Ausläufern des Gebirges an einer Secundärbahn. Sich vom Fuße eines von Gärten umfaßten Berges zur Höhe ziehend, führt seine letzte Straße nach dem Schlosse der Scharfenbergs, welches hell und stolz die Gegend überschaut.

Nur ein Wenig über eine halbe Wegstunde von Langenstadt entfernt, liegt, auch am Fuße eines Berges, der Ort Randau, und oben auf der Höhe erhebt sich das Schloß gleichen Namens, zu welchem viele und große Ländereien der Umgegend gehören.

Schloß Langenstadt und Schloß Randau beherrschen die ganze Gegend, geben ihr ein eigenthümliches, vornehmes Gepräge und haben seit alten Zeiten mit einander in sehr freundlicher Beziehung gestanden, da die Scharfenberg’s und die Randau’s stets gute und fröhliche Nachbarschaft gehalten hatten.

Nur in allerneuster Zeit war darin eine Änderung eingetreten. Lieutenant Edmund von Randau, welcher bei der Artillerie in Rollenburg stand, nahm es mit seinem Berufe ernst, während Lieutenant von Scharfenberg zum Spieler herabsank und endlich gar als Falschmünzer in die Hände der Criminalpolizei fiel.

Heute nun herrschte ein etwas regeres Leben als gewöhnlich auf Schloß Randau. Es war nämlich der Geburtstag des Schloßherrn, und sein Sohn, der Lieutenant, war gekommen, um diesen Tag bei den Eltern zu verleben. Es gab noch einen zweiten, jüngeren Sohn, welcher sich aber in großer Entfernung in einer Erziehungsanstalt für adelige Söhne befand und nicht kommen konnte, weil er sich eben jetzt auf sein Examen vorbereitete.

Es war am Vormittage. Die Frühlingssonne lachte zu den Fenstern herein, und Vater, Mutter und Sohn saßen in guter Stimmung bei einander, in einem eifrigen Gespräch begriffen. Jedes erzählte die Neuigkeiten, welche es für die anderen aufgespeichert hatte.

»Also gab es jetzt in der Residenz ganz Außerordentliches zu erleben,« sagte der Freiherr von Randau.

»Ja, wie wohl niemals, lieber Vater.«

»Und diese Ereignisse haben sogar bis nach Rollenburg ihre Wellen geworfen?«

»Und mich auch mit getroffen.«

»Dich? Wieso?«

»Davon nachher, lieber Vater. Sind doch diese Wogen selbst bis nach Schloß Langenstadt gekommen.«

»Leider, leider! Wer hätte das gedacht! Wäre der Lieutenant von Scharfenberg denn wirklich für schuldig befunden worden?«

»Kein Mensch zweifelt daran. Die Herren vom Gericht schonen den alten Namen und den Director von Scharfenberg, sonst würde noch von anderen Dingen gesprochen. Ich bin zufällig unterrichtet. Ich habe die Ehre, mit einem Herrn zu verkehren, welcher seit einiger Zeit in der Residenz, ja im ganzen Lande eine geradezu erstaunliche Rolle spielt.«

»Wen meinst Du da?«

»Den Fürsten von Befour.«

»Ah, den kennst Du? Mit ihm verkehrst Du?«

»Seit ich in der Residenz wohne.«

»Wie? Was? Wohne?«

»Ja, lieber Vater.«

»Du wohnst in der Residenz?«

»Ja.«

»Aber, Edmund! Davon weiß ich kein Wort!«

»Ich wollte es Dir eben heute mittheilen.«

»So bist Du aus Rollenburg fort?«

»Ja.«

»Warum?«

»Es sind da Sachen geschehen, welche mit den Ereignissen in der Residenz in enger Beziehung stehen: Mädchenverführungen, Menschenhandel und Anderes. Kameraden von mir waren mit verwickelt. Es war das ein Schmutz und ein moralisches Elend. Ich mochte es nicht mehr mit ansehen und bat um Versetzung.«

»Sie wurde Dir gewährt?«

»So schnell nicht. Ich wollte aber keine Woche länger bleiben, nahm daher Urlaub auf unbestimmte Zeit, schnürte mein Bündel und wanderte nach der Residenz.«

»Ohne Deinen Eltern ein Wort davon zu sagen! Für diese geradezu verbrecherische Insubordination verdienst Du eine ganz außerordentliche Strafe!«

Aber der Freiherr machte gar kein Gesicht wie ein strafender Vater. Er blinzelte vielmehr seiner Gemahlin verstohlen zu, als ob er sich über das, was er tadelte, eigentlich ganz herzlich freue.

»Du wirst mir Deine Verzeihung und nachdrückliche Erlaubniß nicht vorenthalten,« sagte der Lieutenant, »wenn ich Dir das Alles recht ausführlich erzähle.«

»Möglich! Für jetzt aber bin ich ganz grimmig zornig.«

»Du? Ah! Zornig!«

»Glaubst Du etwa das Gegentheil?«

»Gewiß.«

»Oho!«

»Meinst Du, ich sehe die Blicke nicht, welche Du der Mutter so verstohlen zuwirfst?«

»Spitzbube!«

»Ja, ich habe Dir nicht sofort geschrieben; Du aber scheinst auch gewisse Heimlichkeiten zu haben.«

»Ich? Gegen wen?«

»Gegen mich.«

»Siehe keine Gespenster!«

»Gespenster wohl nicht. Aber Du hast ganz und gar das Aussehen einer geladenen Kanone, welche so gern losdonnern möchte und es sich doch nicht getraut.«

»Nicht getraut? Mensch, meinst Du, daß ich, Dein Vater, mich vor Dir fürchte?«

»Ja.«

»Sapperment! Das ist stark!«

»Aber sehr wahr!«

»Abermals oho!«

»Da kann kein Oho helfen! Du und Mutter, Ihr habt uns zwei Buben ganz gehörig verzogen. Ihr habt nur darnach getrachtet, uns das Leben leicht, hell und angenehm zu machen. Giebt es nun einmal etwas Unangenehmes, so getraut Ihr Euch nicht heraus, Ihr bekommt Angst, Ihr zittert vor Euren eigenen Kindern.«

Er hatte das natürlich im Scherze gesprochen. Auch die Eltern lachten. Der Vater drohte ihm erst nur mit dem Finger, machte dann gar eine Faust und sagte: »Bursche, der Du bist! Wart, wenn wir Euch bisher verzogen haben, so wollen wir umkehren, weil es noch Zeit zu sein scheint. Wir werden Rabeneltern werden.«

»Ah! Fürchte mich nicht! Aber, um nun auch ernst zu sein: Du hast wirklich etwas auf dem Herzen. Nicht?«

»Na ja, ich will es gestehen.«

»Für mich?«

»Für Dich persönlich.«

»Etwas Unangenehmes?«

»Eigentlich ja, aber es ist sehr leicht angenehm zu machen.«

»Werden sehen! Bitte, schieß los!«

»Hm! Ja! Ich sehe, daß Du Recht hast: Ich habe wirklich das rechte Herze nicht.«

Auch die Freifrau war ernst geworden. Sie nickte ihm aufmunternd zu und bat:

»Fasse Dir Muth! Heraus muß es doch. Er mag dann entscheiden. Was er wählt, soll gut sein.«

»Entscheiden?« fragte der Lieutenant. »Wollt Ihr mich vielleicht als einen Hercules auf den Scheideweg stellen?«

»Ja, das ist es,« sagte der alte Freiherr. »Nämlich Du weißt doch, daß Curt, Dein Bruder, jetzt im Begriffe steht, das Examen zu machen?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Weißt Du auch, welch ein Examen?«

»Freilich. Er will zur Universität.«

»Das haben auch wir geglaubt. Aber er hat, ohne uns zu fragen, auf etwas ganz anderes hingearbeitet.«

»Worauf denn?«

»Er will zur Marine.«

Mit diesem Worte war das Geheimniß ausgesprochen. Ging der jüngere Sohn zur Marine, so mußte der ältere den Dienst quittiren und auf alle Carrière verzichten, um die Bewirthschaftung der Güter zu übernehmen.

Vater und Mutter ließen ihre Blicke forschend auf dem Sohne ruhen, um in seinem Gesichte den Eindruck zu lesen, den die Worte des Ersteren hervorgebracht hatten. Edmund aber erhob sich langsam von seinem Sitze, schritt einigemale in dem Zimmer auf und ab, trat dann an das Fenster und blickte lange Zeit schweigsam hinaus.

Als er sich dann endlich wieder in das Zimmer zurückwendete, sah seine Mutter, daß er eine Thräne in dem Auge stehen hatte.

»Edmund!« rief sie, aufspringend und den Arm um ihn legend. »Du sollst nicht weinen. Es fällt Dir zu schwer.«

»Ja. Gut,« sagte sein Vater. »Es mag also Alles beim Alten bleiben!«

Der Lieutenant führte die Mutter wieder zu ihrem Platz zurück, setzte sich auf den seinen und sagte:

»Ich habe mich entschieden, und dabei bleibt es!«

Es lag eine feste, unumstößliche Entschlossenheit in seinem männlich schönen Angesicht.

»Entschieden? So schnell?« fragte seine Mutter.

»Ja. Ihr kennt mich ja. Es ist übrigens bei uns nicht wie in so vielen anderen Häusern. Wir lieben uns; es hat noch niemals eine Wolke zwischen uns gegeben. Wir brauchen uns keine langen Reden zu halten, sondern was das Eine wünscht und sagen möchte, das ahnt und weiß das Andere ohne viele Einladungen und Begründungen. Curt wird, das ist sicher, nie ein Landwirth werden.«

Diese letzten Worte sagten dem Vater, was der Sohn für eine Entscheidung getroffen habe. Dennoch aber fragte er in unbestimmter Weise: »Meinst Du?«

»Ja, und Ihr meint es auch.«

»Er ist allerdings viel zu unruhig.«

»Gewiß. Ihr wißt zwar, daß ich für den Officier schwärmte, von Avancement träumte. Ich wollte General werden und was Alles. Ich kann auch sagen, daß ich die Zufriedenheit und die Achtung meiner Vorgesetzten besitze, aber – aber –«

Er zögerte, darum meinte sein Vater:

»Was aber?«

»Denkt an den Kranich, den Hagenau! Hohler Kopf, Geld und Adelsstolz und mehr als fragliche Conduite. Denkt an den Scharfenberg! Ein Falschmünzer! So kenne ich noch Mehrere, noch Viele. Es hat Stunden gegeben, in denen ich mich vor den Kameraden ekelte. Curt mag also zur Marine gehen.«

»Wie? Du willst also resigniren?«

»Ja.«

»Wirklich?«

»Gewiß. Mein jetziger Urlaub mag der Uebergang zu dem Abschiede sein, um den ich einkommen werde.«

»Lieber, lieber Edmund!« sagte seine Mutter, indem sie ihm die Hand entgegenstreckte. »Du bringst uns ein großes Opfer, aber Du nimmst uns auch eine große Sorge vom Herzen, das glaube mir.«

Auch der Freiherr drückte ihm gerührt die Hand und sagte:

»Bedenke, daß ich nicht mehr der Jüngste bin! Ehe Curt das Alter hätte, für mich einzutreten, würde ich mir die Knochen hohl gearbeitet haben. Ich bedarf viel eher der Ablösung. Du bist zwar an die Geselligkeit der Garnison gewöhnt, das wirst Du vermissen; aber wer verbietet Dir denn, Dich zu erheitern, wenn es Dir überhaupt beliebt, lustig zu sein.«

»Vater, ich habe diese Geselligkeit weniger genossen, als Du vielleicht denkst. Der Dienst und meine Bücher standen mir viel höher, als solche Zerstreuungen.«

»Und doch,« bemerkte die Mutter. »bedenke, wie spät Du als Officier an eine Selbständigkeit, an einen eigenen Heerd denken kannst?«

»Aha,« lachte er fröhlich auf. »Jetzt kommt es!«

»Was?«

»Das Lieblingswerk der Mütter, überhaupt aller Frauen. Soll ich heirathen, Mutter?«

»Warum nicht?«

»Hast Du ›Eine‹ für mich?«

»Sogar Viele,« stimmte sie lustig ein.

»Zähle sie auf!«

»Das ist nicht nöthig. Siehe Dich nur um! Du kannst ja wählen, lieber Edmund.«

»Das kann ich nicht.«

»Ah! Warum nicht?«

»Weil mein Schicksal bereits entschieden ist: Ich werde mich niemals verheirathen!«

»Du scherzest.«

»Es ist mein Ernst.«

»Papperlapapp!« sagte der Freiherr. »So sagt ein Jeder, der noch nicht angebissen hat. Ich war auch so. Jetzt aber meine ich, daß es die allergrößte Dummheit auf Erden ist, ohne Weib zu bleiben.«

Edmund war ernst geworden. Er blickte still vor sich nieder, sah Vater und Mutter mit einem Blicke an, den sie noch nie bei ihm bemerkt hatten, und sagte: »Ich spreche im vollen Ernste. Ich bleibe ledig.«

»Mein Gott, lieber Edmund, hast Du denn einen stichhaltigen Grund dazu?«

»Ja.«

»Darf man ihn erfahren?«

Er kämpfte mit sich selbst. Man sah, es wurde ihm sehr schwer; endlich sagte er:

»Ja, Ihr sollt ihn erfahren. Heute ist nicht nur Vaters Geburtstag, sondern es ist überhaupt ein wichtiger Tag, welcher über Curt’s Zukunft und auch über die meinige entschieden hat. Da will ich einmal von dieser Angelegenheit sprechen, die ich nie erwähnen wollte, heute, das erste aber auch das letzte Mal.«

Die Mutter blickte angstvoll zu ihm herüber. Sie legte wie betend die Hände zusammen und fragte:

»Edmund, Du liebst?«

»Ja, Mutter.«

»Eine Unwürdige?«

»Nein.«

»Das Weib eines Andern?«

»Auch nicht. So ein Wahnsinn wäre bei mir ja überhaupt eine absolute Unmöglichkeit.«

»Also ein Mädchen doch?«

»Ja.«

»Und sie liebt Dich nicht wieder?«

»Vielleicht doch, liebe Mutter.«

»Aber dann begreife ich nicht, warum diese Liebe eine unglückliche sein soll!«

»Sie ist eine unglückliche, weil Ihr niemals Eure Einwilligung geben würdet.«

»So denkst Du von uns!«

»Ja.«

»Wie wir Dich aber kennen, würdest Du uns nur eine Dame bringen, welche wir mit Freuden als Tochter begrüßen könnten.«

»Das ist wahr. Aber weil Ihr dies in diesem Falle nicht thun würdet, werde ich sie Euch eben nicht bringen.«

»So sage uns den Grund! Wir sind Dir dankbar für Deine Offenheit. Nicht einmal Eltern haben das Recht, in solche Geheimnisse ihrer Kinder einzudringen. Da Du uns aber selbst Dein Herz öffnest, so bitte ich Dich, uns lieber ganz klar sehen zu lassen.«

»Das sollt Ihr, obgleich es mir unendlich schwer fällt, mir diese Wunde noch tiefer in das Herz zu treiben.«

»Also bitte, welcher unglückliche Umstand herrscht hier vor?«

»Sie ist bürgerlich.«

»Sapperment!« meinte der Freiherr.

Er liebte seinen Stammbaum, obgleich er nicht etwa einen starren Ahnenstolz besaß. Seine Frau machte eine abwehrende, begütigende Handbewegung und sagte: »Man schreitet allerdings lieber eine Stufe hinauf als hinab, aber Beispiele, daß die Tochter eines bürgerlichen Hauses sich gern und gut mit den Ahnen des Mannes in die Reihe stellen konnte, sind jetzt gar nicht mehr selten!«

»Ich danke, liebe Mutter! Wäre es nur das Eine, so würde ich keine Sorgen haben.«

»Also giebt es noch etwas?«

»Ja. Sie ist die Tochter eines Zuchthäuslers.«

»Herr, mein Gott!«

Die Freifrau war vor Schreck leichenblaß geworden. Sie kannte ihren Sohn. Sie wußte, daß er nur ein einziges Mal lieben werde. Jetzt nun war es mit seinem Lebensglück zu Ende; das sah sie ein. Während nun sie nur daran dachte, daß ihr Sohn elend und unglücklich sei, dachte der Freiherr nur an die Schande. Er fuhr auf: »Mensch, bist Du toll!«

Edmund zuckte wortlos die Achsel.

»Die Tochter eines Zuchthäuslers zu lieben!«

»Sie kann nichts dafür!«

»Ah! Was hat er gethan?«

»Unterschlagung.«

»Pfui Teufel! Seinen Prinzipal betrogen?«

»Ja.«

»Nun schweig, schweig! Ich mag nichts mehr wissen.«

»Und doch muß ich Euch noch eins mittheilen.«

»Was denn noch?«

»Etwas noch Schlimmeres.«

»Als Zuchthaus?«

»Ja.«

»Das könnte doch nur –«

Er hielt inne, indem er einen Blick auf die Freifrau warf.

»Sprich es aus!« bat sein Sohn, indem er ihm kalt und ruhig in das Auge blickte.

»Schlimmer als das Zuchthaus giebt es nur eins.«

»Nenne es!«

»Das Haus der verlorenen Schamhaftigkeit, der für einen Jeden käuflichen Zärtlichkeit.«

»Das meine ich.«

»Kerl, was willst Du sagen? Ich verstehe Dich nicht.«

»Ich will sagen, daß sie in einem solchen Hause gewesen ist.«

Da fuhren Beide, Vater und Mutter, von ihren Stühlen auf. Die Letztere stieß einen Weheruf aus, der Erstere aber sagte: »Jetzt muß ich annehmen, daß Du verrückt geworden bist.«

»Sehe ich etwa wie ein Verrückter aus?«

»Beinahe!«

Der Freiherr war kein hervorragender Menschenkenner, aber doch merkte er, daß sich hinter der scheinbaren Ruhe seines Sohnes etwas ganz Anderes verbarg. Auch die Mutter blickte bestürzt und mit sichtlicher, ängstlicher Besorgniß in das bleiche Gesicht ihres Sohnes. Sie legte ihm die Hand auf die mit Schweißperlen bedeckte Stirn und fuhr erschrocken zurück.

»Edmund!« fuhr sie auf. »Du bist krank!«

»Nein, Mutter, nein.«

»Aber Deine Stirn ist wie Eis!«

»Nur für diesen Augenblick. Sei ruhig. Es geht vorüber. Aber Ihr werdet nun glauben, daß ich einsam bleiben und niemals an eine Verbindung denken werde.«

Der Freiherr wußte nicht, ob er fluchen, zanken, lachen oder weinen sollte. Er rannte erregt hin und her und sagte dabei: »So ein Geburtstag! Ich bin an dem Jungen vollständig irre geworden? Mensch, mußt Du Dich denn gerade in die Tochter eines Zuchthäuslers verlieben?«

»Ich trage keine Schuld.«

»In ein Mädchen, welches gar in einem solchen Hause gewesen ist! Das ist doch mehr als stark!«

»Und dennoch kann ich es nicht ändern. Ich bin nicht allmächtig. Wenn die Sonne scheint, kann kein Mensch ihrem Strahl gebieten, daß er wegbleibe!«

»Aber einen Sonnenschirm kann man aufspannen! Wie hast Du dieses Frauenzimmer denn kennen gelernt?«

»Eben in jenem Hause.«

»Mensch, sage nein, sage nein!«

»Ja.«

»So bist Du dort gewesen?«

»Ja.«

»Alle tausend Teufel! In solchen Häusern läufst Du herum, Du mein Sohn, ein Randau!«

»Es ist ein allereinziges Mal geschehen, und da wurde ich von meinen Kameraden dazu gezwungen. Ich hatte mein Wort gegeben, mit ihnen zu gehen, ohne daß ich wußte, wohin sie gehen wollten. Der Hagenau hatte es entrirt.«

»Der? Hole ihn der Teufel! Aber wenn Du Dein Wort gegeben hattest, so mußtest Du es halten, das ist wahr. Doch hoffe ich, daß ich Dich nicht verachten muß!«

»Nein. Ich habe da ganz im Gegentheile Gelegenheit gefunden, drei arme, unschuldige Kinder, welche man mit Gewalt unglücklich machen wollte, zu befreien und den Ihrigen zurückzugeben.«

»Ah, brav! Und da war sie dabei?«

»Ja.«

»Hm! Wie im Roman. Man rettet ein Mädchen und verliebt sich in sie. War sie schön?«

»Wie ein Engel.«

»Redensart!«

»Vater, ich wette mein Leben, daß Du an meiner Stelle auch nicht anders gefühlt und gehandelt hättest!«

»Danke für gütige Beurtheilung! Der Zuchthäusler hat also seine Tochter wieder?«

»Ja. Der Vollständigkeit wegen will ich Dir sagen, daß er unschuldig verurtheilt worden ist.«

»Ah, was Du nicht Alles weißt!«

»Er ist vor Kurzem freigesprochen und dabei für unschuldig erklärt worden!«

»Nachdem er seine Strafe abgesessen hat?«

»Ja. Nur während seiner Gefangenschaft war es möglich, daß ein Menschenhändler sich seiner Tochter bemächtigen konnte. Sie glaubte, eine ehrenvolle Stellung zu erhalten und merkte erst, als die Riegel hinter ihr klirrten, daß sie betrogen worden sei.«

»Satan! Solche Sachen passiren?«

»Ja. Ich will Dir Namen nennen. Kennst Du vielleicht den armen, aber braven Holzschnitzer Weber drüben in Langenstadt?«

»Natürlich. Er kauft mir mein Obst ab, um sich damit seinen Unterhalt zu verdienen. Schnitzen kann er nicht mehr.«

»Nun, dessen Tochter war unter den Dreien.«

»Etwa gar die Magda?«

»Ja.«

»Die sich nach der Residenz vermiethet hat?«

»Ja. Man hat sie halb mit Gewalt und halb mit List nach Rollenburg geschleppt. Ich kam gerade zur rechten Zeit!«

»Frau, hörst Du es? Die Magda, die wir immer so gern gehabt haben. Ist das möglich!«

Die Freifrau schüttelte den Kopf und fragte:

»Weiß ihr Vater davon?«

»Nein. Ich gab ihr den Rath, es ihm zu verschweigen, da er sich ja ungeheuer kränken würde.«

»Recht so! Aber die Schuldigen werden doch bestraft?«

»Natürlich! Sie befinden sich längst in Gefangenschaft.«

Da legte ihm der Freiherr die Hand auf die Achsel und sagte:

»Höre, Edmund, Deine Offenbarungen haben mich überrascht, und so kam es, daß ich heftig wurde. Aber Du darfst die Sache nicht so romantisch nehmen. Du hast ein schönes und unschuldiges Mädchen gerettet – gut! Du hast ein gewisses Wohlgefallen an ihr gefunden – auch gut. Sie hat unschuldig gelitten und ihr Vater auch, und das hat Dein gutes Gemüth in Aufregung gebracht – auch gut, auch! Aber was nun weiter? Warum solche vorübergehende Sachen zu einer Tragik ausarbeiten, welche Dir später komisch erscheinen wird?«

»Es ist jetzt ebenso wenig tragisch, wie es mir später komisch vorkommen wird, lieber Vater. Ich nehme es, wie es in Wirklichkeit ist, nicht anders.«

»Das denkst Du jetzt. In der Jugend pulsirt das Blut rascher durch die Adern, als in späteren Jahren. Darum erscheint Alles vergrößert, das Glück sowohl wie auch das Unglück. Es mag sein, daß Du ein eigenartiger Character bist. Du bist ernst, stolz, streng mit Dir und tief gegründet. Du hast niemals oberflächliche Gefühle und Regungen gekannt. In diesem Falle wirst Du sehen, daß Du Dich geirrt hast. Ich sehe die Zeit kommen, in der Du es einsiehst und an dieses Mädchen nur so denkst wie an jede andere Gleichgiltige.«

»Nie!«

»Ah, es darf nur die Richtige kommen!«

»Sie war bereits da!«

Der Freiherr hatte erkannt, daß er seinem Sohne nichts vorzuwerfen habe; dies gab ihm seine gute Laune zurück. Er lachte fröhlich auf und meinte: »O, es dürfte nur so ein Püppchen kommen wie die Mutter in ihren jungen Tagen war, oder, ah, Sapperment!«

Er schnippste mit den Fingern.

Auch die Freifrau lächelte. Sie fragte:

»Was ist das für ein Geschnippse mit den Fingern? Hast Du denn gar so etwas Delicates gesehen?«

»O, delicat ist gar kein Wort für sie. Sie war ein Engel, eine Göttin, eine Königin!«

»Sie? Also handelt es sich um eine Dame?«

»Ja.«

»Schäme Dich! in Deinen Jahren noch so begeistert zu sein!«

»Das darf ich mir bieten, denn durch Dich bin ich sicher vor Verführung, Ich wollte nur sagen: Wenn hier unser Edmund diese Dame gesehen hätte – ah!«

»Was wäre dann?« fragte der Lieutenant.

»Dann wärst Du – kurirt, ja, kurirt mit einem Worte!«

»Das ist viel behauptet!«

»Aber ich weiß, was ich sage. Sie war schön, schwarz wie die Nacht, stolz, edel, und doch lag in ihrem Gesichte ein Weh, ein unterdrücktes Leiden, ich weiß nicht, was. Sie ging ja auch in Trauer.«

»Hast Du mit ihr gesprochen?«

»Ja, natürlich. Auch mit ihren beiden Begleitern.«

»Ah, sie hatte Begleiter? Hm!«

»Da giebt es nichts zu hm! Der eine schien der Ähnlichkeit nach ihr Vater zu sein und der Andere – – –«

»Ihr Mann,« fiel Edmund schnell ein.

»Vorwitz! Großer Vorwitz, mein Junge. Du kannst über solche Sachen gar kein Urtheil haben.«

Er war ganz in Begeisterung gerathen. Die Freifrau sah ihn lächelnd an und sagte:

»Höre, mir wird angst um Dich!«

»Warum?«

»Und sogar auch um mich! Der Anblick dieser Dame hat Dich ja ganz aus dem Häuschen gebracht!«

»Beinahe, ganz richtig! Uebrigens fuhren sie erster Classe.«

Da wurde der Lieutenant aufmerksam. Er fragte:

»Wann war das?«

»Nun, heute.«

»Ah, so!«

»Ja. Als ich in Grünthal in’s Coupé stieg, saßen sie bereits drin. Ich war in Grünthal bei Barons geblieben und in diesen Zug gestiegen, um zeitig bei Euch zu sein. Zwei Herren und eine Dame. Famose Gesellschaft und famose Unterhaltung. Man stellt sich natürlich bei so kurzer Reisestrecke nicht vor; ich weiß also gar nicht, wer sie sind; aber ich bleibe dabei: hättest Du die Dame gesehen, so wäre es um Dich geschehen gewesen.«

Das Gesicht des Lieutenants hatte sich mit einem Male geröthet, und seine Augen glänzten fast entzückt.

»Darum konntest Du Dich, als Du hier in Randau ausstiegst, auch gar nicht trennen,« sagte er. »Du machtest diesem Coupé immer und immer wieder Complimente.«

»Dem Coupé nicht, aber den Insassen. Sie nickten ja immer wieder!«

»Dir?«

»Wem sonst?«

»Hm! Vielleicht zunächst Dir, dann aber jedenfalls einem Andern, der in Deiner Nähe stand.«

»Wer soll das gewesen sein?«

»Denke nach!«

»Du holtest mich ab; Du standest hinter mir. Dich kennen sie gar nicht. Und neben mir standen einige Bauern, denen die Grüße sicher nicht gegolten haben. Wüßte ich nur, wohin sie reisten! Ich wollte nicht fragen.«

»Was das betrifft, so kann ich Dir dienen: Sie sind in Langenstadt ausgestiegen.«

Da sah ihn der Freiherr ganz erstaunt an und fragte:

»Das willst Du wissen?«

»Ganz genau sogar.«

»Was wollen sie dort?«

»Der Beisetzung der beiden Scharfenbergs beiwohnen.«

»Sind es denn Verwandte der Familie?«

»Nein, doch Bekannte.«

»Kennst Du sie?«

»Sehr gut.«

»Sapperment! So haben etwa Dir ihre Verbeugungen gegolten und gar nicht mir?«

»Möglich. Ich verbeugte mich auch, nämlich hinter Dir, gerade so wie Du. Wir müssen von dem Coupé aus ein höchst effectvolles Ensemble gebildet haben.«

»Superfein! Ah, da bin also ich der Blamirte! Darum also lächelten sie so eigenthümlich! Ich dachte, sie lächelten aus Wohlgefallen und Höflichkeit!«

»So hast Du Dich allerdings schauderhaft exponirt.«

»Na, wir sind doch auch zur Beisetzung geladen. Da wird es also Gelegenheit geben, ihnen eine bessere Meinung über mich beizubringen.«

»Schön! Aber die Hauptsache vergissest Du!«

»Was?«

»Ihre Namen.«

»Ah, Du weißt gar ihre Namen?«

»Natürlich! Ich werde doch die Namen von Personen kennen, welche mich mit so ostensibler Freundlichkeit grüßen.«

»Dann schnell! Wer waren die Herrschaften?«

»Der Jüngere der Herren, mit dem goldenen Klemmer, war der Fürst von Befour.«

Der Freiherr machte den Mund auf und sagte:

»Von Be – – – –«

Weiter brachte er nichts heraus.

»Ja, von Befour, welcher auch unter dem Namen des Fürsten des Elendes bekannt ist.«

»Himmel! Beide sind eine Person?«

»Ja.«

»Hätte ich das gewußt! Ah! Mir wird vor Erstaunen die Cravatte zu enge! Du irrst Dich doch nicht?«

»Nein.«

»Du könntest ihn verkannt haben.«

Der verlorne Sohn
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