»Herr, mein Heiland! So ist mein Neffe todt?«
»Nein, glücklicher Weise nicht, wie ich bereits bemerkte. Er wird sich vielleicht wieder erholen. Er befindet sich im Hause des Köhlers Hendschel in Pflege.«
»Da muß ich hin, sofort hin!«
»Thun Sie das; vorher aber werden Sie hier zu vernehmen sein. Welche Menschenmenge da draußen! Man hat die Schüsse gehört. Da kommt auch der Herr Bürgermeister. Er mag das Protokoll verfassen.«
Der Bürgermeister mußte sich seinen Weg durch die versammelten Menschen förmlich bahnen. Er war nun allerdings in hohem Grade betroffen, als er bewiesen sah, daß Doctor Zander gestern Abend Recht gehabt hatte.
Der Gefangene wurde ausgesucht. Man nahm ihm Alles ab, was er mitgebracht hatte, und fertigte ein Zeugniß davon an. Dann wurde er auf das Rathhaus transportirt, wo die Depesche des Fürsten anlangte, welche Anton sofort beantwortete.
Hier, auf dem Rathhause, wusch sich Anton auch die Bartwolle ab, welche seinem Kopfe und Gesichte ein so verändertes Aussehen gegeben hatte.
Es dauerte bis gegen Abend, ehe der nächste Zug abging. Bis dahin wurde der Gefangene sogar in der Zelle von einem Beamten bewacht. Ein herbeigerufener Arzt hatte seine Hände in den ersten Verband gebracht.
Sobald der Fürst die Antwort Antons gelesen hatte, war er im Carrière zum Köhlerhause zurückgekehrt, um dem Staatsanwalte die Botschaft selbst zu bringen. Beide brachen natürlich schleunigst nach der Residenz auf, nachdem sie in Beziehung des verunglückten Amerikaners ihre Bestimmungen getroffen hatten. –Selbst in der großen Residenz sprach es sich mit der Schnelligkeit des Blitzes herum, daß der gestrige Gefangene ein Unschuldiger sei, daß man aber den Hauptmann dafür heute in Langenstadt ergriffen habe und ihn mit dem nächsten Zuge bringen werde.
Als dann dieser Zug anlangte, standen die Menschen zu vielen Tausenden auf dem Bahnhofe und in den angrenzenden Straßen. Man durfte gar nicht riskiren, den Bahnhof mit ihm zu verlassen. Man hielt ihn dort versteckt und verbreitete das Gerücht, daß er erst mit dem letzten Tageszuge gebracht werde. Erst als sich in Folge dessen die Menge nach und nach verlaufen hatte, wurde er in eine Droschke gethan und in das Gefängniß gebracht.
Sein Empfang war so, wie es zu erwarten stand. Er wurde in das schwerste Eisen gelegt, erhielt einen Wächter in die Zelle und außerdem zwei Posten vor Thüre und Fenster derselben. Er mußte einsehen, daß er von jetzt an alle Hoffnung aufzugeben habe. Er war rettungslos verloren.
Als der Fürst den Gefangenen so sicher untergebracht sah, begab er sich vor allen Dingen zu Alma von Helfenstein, die ihm in großer Erregung entgegengeeilt kam.
»Höre ich recht? Sagt man die Wahrheit?« fragte sie. »Er ist wieder gefangengenommen worden?«
»Ja, mein Herz, jetzt entkommt er nicht wieder; jetzt endlich werden sich wohl alle Knoten lösen lassen.«
»Auch der betreffs meines Bruders?«
»Ja.«
»Wann soll er es erfahren?«
»Hoffentlich in den nächsten Tagen, nachdem der Baron auch in dieser Angelegenheit vernommen worden ist.«
»Wieder und immer wieder Aufschub!« klagte sie.
»Auch mir wird es schwer, mich in Geduld zu fassen. Ich glaubte, daß das Zeugniß der beiden Schmiede hinreichend sei.«
»Ist es das nicht?«
»Leider nicht. Sie scheinen sich verständigt zu haben. Der Alte nimmt Alles auf sich, und der Junge sagt, daß er von gar nichts wisse. Das erschwert die Sache.«
»Warum aber thun sie das?«
»Der Vater will den Sohn retten. Ich ahne sogar, daß er, nachdem er sicher ist, den Sohn straffrei ausgehen zu sehen, die Hand an sich selbst legen wird.«
»Ja, sicher. Der alte Wolf ist nicht der Mann, der sich in das Zuchthaus schaffen läßt. Er zieht den Tod vor.«
»Kann man dies nicht verhüten?«
»Nein. Wer sich tödten will, der tödtet sich trotz der gespanntesten Wachsamkeit. Uebrigens kann ich ihm nicht Unrecht geben. Auch ich würde den Tod vorziehen.« – – –
Einige Tage später saß der Köhler Hendschel mit seiner Frau und dem Holzschnitzer Weber an dem Lager seines Patienten, der natürlich nun nicht mehr militärisch bewacht wurde, aber noch immer in einem Zustande mangelnden Bewußtseins lag.
Da sah der Alte eine Uniform unter den Bäumen schimmern.
»Der Postbote!« rief er aus.
»Will der denn zu uns?« fragte die Köhlerin verwundert.
»Zu wem denn sonst? Wir sind die Letzten hier am Ende der Welt. Wer sich hier sehen läßt, der will zu uns.«
»Aber wer kann uns denn schreiben?«
»Das werden wir sogleich erfahren.«
Der Briefträger kam herein, hob einen großen Brief empor und las die Adresse: »Herrn Kohlenbrenner Andreas Hendschel. Eichengrund bei Dorf Wettersheim.«
»Der bin ich!« constatirte der Alte.
»Das will ich meinen! Ihnen einen Brief zu bringen, das ist eine Arbeit. Ich habe fast zwei Stunden zu gehen.«
»Dafür gebe ich einen Schnaps.«
Er zog die alte, nur sehr selten angerührte Flasche aus dem Wandschränkchen und schenkte ein. Dann hielt er, während der Briefträger trank, den Brief gegen das Licht, schüttelte den Kopf und sagte: »Das sieht gerade wie ein Amtsbrief aus!«
»Natürlich,« sagte der kundige Postbeamte. »Er kommt aus dem Oberlandesgericht.«
»Was! Aus der Hauptstadt?«
»Freilich.«
»Was wird man von mir wollen?«
»Das werden Sie im Briefe lesen.«
»Ich kann ihn nicht lesen. Der Schreck ist mir in alle Glieder gefahren. Machen Sie ihn auf. Lesen Sie ihn vor!«
Der Briefträger öffnete das Schreiben unter vieler Umständlichkeit und las Folgendes:
»Der Kohlenbrenner Andreas Hendschel in Eichengrund wird hiermit veranlaßt, sich binnen heute und zehn Tagen an Amtsstelle hier einzufinden. Anmeldung bei dem Herrn Oberlandesgerichtsrath von Eichendörffer.«
»Herrgott! Sie wollen mir den Proceß machen!« rief er aus.
»Weshalb denn den Proceß?« fragte Weber.
»Weil – weil – ich weiß es selbst nicht.«
Im Stillen aber dachte er an den Hauptmann, den er ja bei sich beherbergt hatte.
»Na, Gevatter, wenn Du nichts weißt, so hast Du ja nichts begangen,« meinte Weber. »Und wer nichts begangen hat, dem kann man nichts thun. Sei also unbesorgt!«
»Aber gerade in das Oberlandesgericht!«
»Desto besser! Je höher, desto hübscher!«
Dann meinte der Briefträger, indem er einen kleineren Brief zum Vorschein brachte:
»Hier ist noch ein Schreiben, auch mit einem großen Wappen. Vielleicht giebt es da Aufklärung.«
»Lesen Sie auch diesen vor!« meinte der Köhler, indem er sich ganz matt niedersetzte.
Der Briefträger gehorchte. Der Inhalt lautete:
»Dem Kohlenbrenner Andreas Hendschel!
Sie werden eine Vorladung an das Oberlandesgericht hier erhalten. Kommen Sie möglichst bald, und melden Sie sich bei mir, Palaststraße. Ich beabsichtige, Sie selbst dem Herrn Oberlandesgerichtsrath von Eichendörffer vorzustellen.
»Da bin ich so klug wie zuvor!« jammerte der Alte. »Nun soll ich nicht nur zu einem Oberlandesgerichtsrath, sondern gar zu einem Fürsten. Was wird das zu bedeuten haben!«
»Vielleicht doch etwas Gutes,« meinte der Briefträger.
»Gutes? Prosit die Mahlzeit! Mit solchen Herren ist niemals gut Kirschenessen. Wenn diese Leute Unsereinen zu sich bestellen, dann ist ganz gewiß der Teufel los. Das weiß man ja.«
»Na, so schlimm ist es doch wohl nicht. Oder haben Sie vielleicht ein böses Gewissen, he?«
»Ich?« fragte der Alte verlegen. »Was sollte ich denn für Böses auf meinem Gewissen haben?«
»So brauchen Sie sich doch auch nicht zu fürchten!«
»Wenn man nur wüßte, was diese Herren eigentlich wollen!«
»Das werden Sie schon hören.«
»Hören? Ja. Vielleicht auch fühlen!«
Da sagte sein Frau, indem sie ihm die Hand beruhigend auf die Achsel legte:
»Höre, Alter, wurde nicht der vornehme Herr, welcher hier bei dem Staatsanwalte war, Durchlaucht genannt?«
»Hm! Wie mag er wohl geheißen haben?«
»Na, das war ja eben dieser Fürst von Befour, der mir das Leder über den Kopf weg ziehen will!«
»Aber der sah mir gar nicht so böse aus.«
»O, diese Herren sehen alle so aus, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten. Aber wenn es dann einmal losgeht, dann geht es mit Pauken und Trompeten los.«
»Der Fürst war also auch hier?« fragte Weber.
»Ja. Er wollte den Kranken hier ansehen.«
»Bei uns in Langenstadt war er auch. Gevatter, vor dem brauchst Du keine Angst zu haben. Der ist berühmt, der bringt keinen armen Teufel in das Unglück.«
»Kennst Du ihn denn?«
»Na, und ob!«
»Woher denn?«
»Nun, zunächst von daher, daß er aus der Tochter eines gewöhnlichen Beamten eine Baronesse von Scharfenberg gemacht hat. Wenigstens ist er mit dabei gewesen. Sodann kennt ihn meine Magda, sehr genau. Er hat sie mit gerettet, als sie – na, das gehört nicht hierher. Und übrigens soll er ja auch der berühmte Fürst des Elendes sein, der allen Armen hilft.«
»Der Fürst des Elendes? Wenn das wahr wäre?«
»Man munkelt davon, und ich glaube es auch.«
»Dann hätte ich freilich keine Angst vor ihm.«
»Gevatter, es wird am Besten sein, Du machst Dich so bald wie möglich auf die Beine. Da bekommst Du Gewißheit und bist die große Sorge los. Habe ich recht?«
»Hm, ja! Der Gedanke ist nicht so übel. Am Liebsten würde ich gleich heute noch gehen. Aber, Alte, wie viel hast Du noch Geld?«
»Meinst Du in der Tasche? Vier Kreuzer.«
»Nein, ich meine unser ganzes Vermögen.«
»Du lieber Gott, das ist bedeutend mehr. Wenn man so lange spart, so kommt schon etwas zusammen. Weshalb fragst Du?«
»Ich muß doch Reisegeld haben, wenn ich nach der Hauptstadt gehe.«
»Ach ja, das ist richtig! Na, wir haben über vierzehn Gulden.«
»Gut. Ich ziehe den neuen Rock an und die guten Stiefel.«
Weber kannte seinen Mann. Er fragte lachend:
»Wann hast Du Dir denn den neuen Rock gekauft?«
»Hm, als ich damals getraut wurde.«
»Also so vor etwa fünfzig Jahren?«
»Neunundvierzig.«
»Und wann hast Du ihn zum letzten Male angehabt?«
»Als ich bei Dir Gevatter stand.«
»Also vor achtzehn Jahren. Und die guten Stiefel?«
»Sind auch die Bräutigamsstiefel – kalblederne; sie sind sakrisch eng und nobel. Sonst trage ich ja rindslederne. Habe ich denn überhaupt ein Vorhemdchen, Alte?«
Da stemmte die Gefragte die Arme in die Seiten und sagte in sehr beleidigtem Tone:
»Vorhemdchen? Denkst Du denn, daß ich so eine lüderliche Zippe bin, die ihre Sachen nicht schont? Ich habe das Vorhemdchen damals gleich wieder gewaschen und heilig aufgehoben. Es liegt droben bei meinen Brautstrümpfen, das rothe Halstuch mit den schönen gelben Punkten auch dabei.«
»Gleich wieder gewaschen und aufgehoben?« fragte Weber. »Wann war denn das?«
»Eben bei der Gevatterschaft damals.«
»Vor achtzehn Jahren? Na, da wird es schön gelb geworden sein!«
»Oho! Ich habe es jedes Frühjahr einmal an die Luft gelegt. Verderben lasse ich mir nichts. Willst Du noch etwas, Alter?«
»Das blaue Schnupftuch mit dem grünen Rande. In der Hauptstadt muß man Staat machen.«
»Mann, wie kommst Du mir vor! Du willst doch geradezu den Stutzer machen!«
»Auch noch! Wie viel denn Geld?«
»Wie viel sagtest Du, daß Du hast?«
»Ueber vierzehn Gulden.«
»Na, zehne wirst Du da wohl schaffen müssen.«
Da schlug sie die Hände über den Kopf zusammen und rief:
»Zehn Gulden! Zehne?«
»Ja.«
»Bist Du denn gescheidt?«
»Ich brauche es ja!«
»Na, da wirst Du schön losgehen! Das Geld zum Fenster hinauswerfen? Wozu brauchst Du es denn eigentlich?«
»Für die Eisenbahn.«
»Das macht doch nicht zehn Gulden!«
»Und im Gasthofe.«
»Das hast Du nicht nothwendig. Wir haben Verwandte dort. Aber ich kann es mir denken! Du willst auf den Ball!«
»Oho! Ich!«
»In’s Theater.«
»Hm! Uebel wäre das nicht.«
»Oder gar – na, ich kenne das nicht, aber ich habe einen Hahn davon krähen hören!«
»Wovon denn?«
»Von den Mädchen dort. Es ist eine Schande!«
»Alte, bist Du denn bei Troste! Was gehen mich denn die dortigen Mädchen an!«
»Brenne Dich nur nicht weiß! Euch Männer kennt man! Wenn Ihr aus unseren Augen seid, dann geht Ihr aus Rand und Band. Zehn Gulden! Nein, das ist himmelschreiend! Das öffnet mir die Augen. Aber ich weiß, was ich mache!«
»Na, was denn?«
»Ich mache mit!«
Der Köhler machte ein sehr erstauntes Gesicht.
»Du? Du willst mit?« fragte er.
»Ja! Natürlich!«
»Davon steht doch hier in den Briefen gar kein Wort!«
»Da ist auch gar nicht nöthig!«
»Aber was willst Du denn dort? Etwa mit zu diesem Herrn Oberlandesgerichtsrath?«
»Ja.«
»Und zum Fürsten von Befour.«
»Auch.«
»Na, die würden schöne Augen machen!«
»Oho! Größere Augen nicht als bei Dir! Eine vorsichtige Frau läßt ihren Mann nicht in Versuchung gerathen. Ich kann mich wohl nicht sehen lassen, he?«
»O, freilich!«
»Meine grüne Schneppenjacke und die gelbe Flattusenhaube, rothe Zwickelstrümpfe und ein weißes – hörst Du, Alter! – ein weißes Schnupftuch, kein blaues. Der rothe Regenschirm ist groß genug für uns Beide. So sind wir damals in die Kirche gegangen, als wir uns trauen ließen, und so können wir auch nach der Hauptstadt gehen.«
Der Köhler schmunzelte freundlich vor sich hin und sagte:
»Hm! Der Gedanke ist so sehr übel nicht!«
»Nicht wahr, Alter?« fragte sie schmeichelnd.
»Ja. Aber es geht doch nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Wir können doch nicht unsere Wirthschaft so stehen und liegen lassen.«
»Geh! Du thust ja, als ob wir ein Rittergut hätten!«
»Und der Verwundete hier.«
»Na, da haben wir den Gevatter Weber da.«
»Ja,« sagte dieser. »Mir könnt Ihr Euer Heimwesen schon anvertrauen, bis Ihr wiederkommt. Nimm sie mit, Gevatter. Es ist um des guten Wetters willen.«
Der Köhler kratzte sich in den Haaren, dann sagte er:
»Na es ginge schon, aber –«
»Was denn, aber –?« fragte sie.
»Zehn Gulden –!«
»Was giebt’s denn mit den zehn Gulden?«
»Für Zwei reichen die nicht aus.«
»Oho! Du wirst doch nicht alle vierzehn verthun wollen!«
»Sechs Gulden kostet allein die Eisenbahn!«
»Weiter brauchen wir nichts. Ein Schwarzbrod nehmen wir uns mit. Wozu habe ich denn den Handkorb! Du hast doch auch Deinen Quersack.«
»Na, den kann ich nicht mitnehmen.«
»Warum denn nicht, he?«
»Ich setze doch den Cylinderhut auf. Dazu paßt der Quersack nicht. Wenn ich einmal den Hochzeitsstaat anthue, dann muß auch Alles nobel sein.«
»Na gut, so stecke ich das Brod in den Handkorb. Einen Käse haben wir auch, und wenn alle Stränge reißen, so nehmen wir noch unsere Backäpfel mit.«
»Backäpfel? Haben wir denn welche?«
»Ja freilich! Eben Deinen ganzen Cylinderhut voll.«
»Davon weiß ich doch gar nichts!«
»Was, Du hättest den wilden Apfelbaum nicht gekannt, draußen auf der Waldwiese?«
»Der ist doch schon vorüber zwanzig Jahren vom Blitze umgerissen worden.«
»Was thut das? Als er noch stand, habe ich mir die Äpfel gesammelt und nach und nach abgebacken. Du weißt eben noch gar nicht, was für eine haushälterische Frau Du hast.«
»Potz Sapperment! Das weiß ich allerdings nicht. Backäpfel seit über zwanzig Jahren her!«
»Na, die können wir eben jetzt gebrauchen. In einen Gasthof gehen wir nicht. Das haben wir bei unserer nahen Verwandtschaft in der Hauptstadt nicht nöthig.«
»Nahe – Verwandtschaft?« fragte er erstaunt.
»Weißt Du das etwa nicht?«
»Nein. Kann mich nicht besinnen,« antwortete er kopfschüttelnd.
»Was das für ein Mann ist! Kennt seine Verwandtschaft nicht einmal! Was bin ich denn eigentlich für eine Geborene?«
»Na, Landrock.«
»Gut. Wie hieß also mein Vater?«
»Landrock.«
»Mein Großvater?«
»Landrock.«
»Dessen Bruder?«
»Abermals Landrock.«
»Der hatte einen Vetter von seiten seiner Frau, die aber zufälligerweise auch eine geborene Landrock war. Wie aber hat nun dessen Oheims Sohn geheißen?«
»Auch Landrock.«
»Ja. Und dem sein Sohn wieder?«
»Landrock. Das sind ja eine ganze Menge Landrocks!«
»Ja, die Verwandtschaft ist ganz bedeutend. Ich stamme eben aus einer Familie, die sich sehen lassen kann. Die Hauptsache aber ist, daß dieser Sohn jenes Oheims in der Hauptstadt angestellt worden ist, und zwar bei Gericht.«
»Als was denn?«
»Als was zuerst, das weiß ich nicht; später aber ist er Amtswachtmeister geworden. Bei dem bleiben wir.«
»Kennt er Dich denn?«
»Er wird doch seine Muhme kennen!«
»Habt Ihr Euch schon einmal gesehen?«
»Nein. Das ist auch gar nicht nöthig.«
»Wie lange ist es denn her, daß er damals in der Hauptstadt die Anstellung bekam?«
»Vielleicht so einige vierzig Jahre.«
»Sapperment! Am Ende lebt er gar nicht mehr.«
»O, der ist nicht todt. Die Landrocks sind eine gar langlebige Familie. Er wird Freude haben, wenn er uns sieht, denn bei uns hat man immer auf Verwandtschaft gehalten.«
»Aber wenn er dennoch todt ist!«
»Na, in diesem Falle müssen wir eben im Wirthshause bleiben. Das kostet uns auch nicht gar so viel. Wir legen uns auf die Streu für drei Kreuzer. Kamm, Bürste und Seife nehmen wir uns mit. Ich will nur gleich hinaufgehen und nach den Sachen sehen!«
»Wann denkst Du denn, daß wir fortmachen?«
»Etwa gleich heute schon?«
»Besser ist besser. Je eher wir gehen, desto eher sind wir wieder zu Hause. Du, dort kommt ein Wagen.«
Es kam eine einspännige Kalesche langsam und vorsichtig den schmalen Waldweg daher. Ein Herr saß darin.
»Das ist der Gerichtsarzt!« meinte der Köhler.
»Gut, da werden wir gleich hören, ob wir wegen des Kranken verreisen können oder nicht.«
Die Kalesche hielt an; der Arzt stieg aus und kam herein.
»Wie geht es ihm?« fragte er die Frau.
»Noch wie erst.«
»Sie haben ihm die Charpie im Gesicht doch immer feucht gehalten?«
»Ja, sie ist nicht trocken geworden.«
»Das ist die Hauptsache. Die Tropfen, welche ich Ihnen zu diesem Zwecke gegeben habe, heilen die Verwundung schnell. Es kommt uns natürlich sehr darauf an, die Gesichtszüge möglichst schnell wieder kenntlich zu machen, damit wir erfahren, mit wem wir es eigentlich zu thun haben.«
»Es könnte wohl doch noch der Hauptmann sein?«
»Nein, der ist es nicht; den haben wir sicher und fest!«
Der Kranke lag bewegungslos und ruhig athmend in dem Bett, das zerschundene Gesicht mit Charpie belegt. Der Arzt entfernte diese vorsichtig und sagte dann unter einem befriedigten Nicken des Kopfes: »Es wirkt ganz nach Wunsch. Das Blutrünstige hat sich bereits gesetzt, die Weiße der Haut tritt wieder zum Vorscheine. Noch zwei Tage, dann sind die Züge zu erkennen.«
»O, ich sehe es schon jetzt,« meinte der Köhler unvorsichtig.
»Was?«
»Daß er der Hauptmann nicht ist!«
»Ah! Kennen Sie denn den Hauptmann?«
Erst jetzt bemerkte der Köhler, daß er sich ganz unnöthig in Gefahr begeben hatte. Seine Frau war resoluter, als er. Während er nicht wußte, was er sagen sollte, antwortete sie schnell: »Kennen? Nein, Herr Doctor. Aber wir vermuthen, daß wir ihn gesehen haben.«
»Wo denn?«
»Hier im Walde. Es trieb sich einige Tage lang ein Mensch in der Nähe des Hauses herum, der uns ziemlich verdächtig vorkam. Wir haben dann gedacht, daß es der Hauptmann ist.«
»Ach so! Hat der Kranke gesprochen?«
»Ja, aber undeutlich.«
»Wollen einmal sehen, wo er Schmerzen hat.«
Der Arzt betastete den ganzen Körper, ohne daß der Patient sich bewegte; als aber der Erstere die Hirnschale berührte, fuhr der Letztere mit den Armen empor und rief: »Fort! Mörder – Forstschreiber!«
»Ah,« nickte der Arzt. »Sollte sich der Hauptmann ihm gegenüber für einen Forstschreiber ausgegeben haben? Wissen Sie vielleicht, ob der Kranke hört?«
»Nein.«
»Sie haben noch nicht auf ihn gesprochen?«
»Einige Male, aber er antwortete nicht. Er schläft fortwährend.«
»Das ist kein Schlaf, sondern Betäubung. Wollen einmal sehen, ob er antwortet.«
Er fragte den Kranken Verschiedenes, ohne aber Antwort zu erhalten. Jetzt legte er ihm die Hand, aber nur leise, auf die Hirnschale, und sofort bewegte sich der Kranke.
»Wie heißen Sie?« rief er ihm jetzt in’s Ohr.
Der Verunglückte horchte und antwortete dann:
»We – we – eber.«
Er brachte es nur stammelnd hervor.
»Woher sind Sie?«
»A – a – me – rika.«
»Wohin wollen Sie?«
»La – langen – stadt.«
»Zu wem?«
Dann aber brach er in ein schmerzliches Wimmern aus.
»Ich darf nicht weiter in ihn dringen,« sagte der Arzt. »Der Hinterkopf ist geschwollen; vielleicht ist ein Schädelbruch vorhanden. Wir müssen darauf hinarbeiten, daß die Geschwulst sich setzt. Nun aber wissen wir wenigstens, wie er heißt.«
»Er ist mein Neffe,« sagte Weber.
»Wie, Ihr Neffe?«
»Ja; er hat zu mir gewollt und ist unterwegs von dem Hauptmanne vom Felsen gestürzt worden. Dieser ist dann zu mir gekommen, um bei mir versteckt zu sein.«
»Ah, so sind Sie jener Weber aus Langenstadt?«
»Ja.«
»Dann weiß ich den Patienten in guten Händen. Sie werden Alles thun, um ihn am Leben zu erhalten.«
»Natürlich! Ich werde Tag und Nacht nicht von seinem Lager weichen. Bitte nur, mir nur zu sagen, was ich thun soll.«
»Kalte Umschläge, weiter nichts.«
»Das kann ich allein besorgen, und so werden Sie wohl nichts dagegen haben, daß mein Gevatter hier mit seiner Frau nach der Residenz fährt?«
»Besser wäre es freilich, sie blieben da. Man weiß nicht, was passiren kann. Der Zustand des Kranken ist nicht ungefährlich.«
»Muß? Warum?«
»Er ist in’s Gericht verlangt worden.«
»Ah, um wegen des Kranken hier vernommen zu werden?«
»Nein. Der Herr Staatsanwalt hat ihn bereits verhört. Aber es sind zwei Briefe gekommen. Vielleicht hätten Sie die Güte, sie einmal durchzulesen.«
»Zeigen Sie her!«
Der Arzt las die Briefe durch und fragte dann den Köhler lächelnd:
»Sie wissen nicht, was Sie sollen?«
»Nein. Ich habe überhaupt mit solchen Leuten nicht gern zu thun.«
»So haben Sie wohl gar Angst?«
»Ziemlich, Herr Doctor.«
»Das ist nicht nöthig.«
»Meinen Sie?«
»Ja. Ich ahne, um was es sich handelt, fühle mich aber nicht berechtigt, darüber zu sprechen. Nur das will ich Ihnen sagen, daß Sie nichts Unangenehmes erfahren werden.«
»Gott sei Dank! Na, Alte, so hole die beiden Staatsanzüge aus der Kammer herunter.«
»Sie wollen also heute noch fort?«
»Ja. Es ist besser, wir erfahren, ob wir geköpft oder gehängt werden sollen!«
»Jedenfalls keins von Beiden,« meinte der Arzt, indem er nach seiner Uhr sah. »Sie könnten mit dem Zuge fahren, welcher in dritthalber Stunde von der nächsten Station abgeht.«
»Das ist unmöglich. Wir brauchen zum Ankleiden wenigstens eine halbe Stunde, und zu Fuß ist die Station dann nicht mehr rechtzeitig zu erreichen.«
»So müssen Sie fahren!«
»Oho! Mit wem denn?«
»Mit mir.«
»Sapperment! Sie wollten uns mitnehmen?«
»Ja. Ich setze mich auf den Bock und kutschire Sie.«
»Das können wir gar nicht annehmen!«
»Warum denn nicht?«
»Sie, ein feiner, studirter Herr und wir – o jemineh!«
»Dummes Zeug! Leute, die zum Fürsten von Befour bestellt worden sind, kann ich recht gut kutschiren, ohne daß ich mir den Respect vergebe. Also, wollen Sie?«
»Warum denn nicht, wenn Sie uns die Ehre anthun wollen! Aber Sie müßten eben eine halbe Stunde warten.«
»Das werde ich. Beeilen Sie sich nur nach Möglichkeit!«
Die beiden alten Leute verschwanden. Der Arzt instruirte den Holzschnitzer Weber, wie er den Patienten zu behandeln habe. Unterdessen erhob sich über ihnen ein Lärm, als ob die Stubendecke eingetreten werden solle.
»Die da oben scheinen sich freilich zu beeilen,« lächelte der Arzt.
»O gewiß,« antwortete Weber. »Sie werden Ihr blaues Wunder sehen, Herr Doctor?«
»Wieso?«
»Sie legen ihren Hochzeitsstaat an, der fünfzig Jahre lang in der Truhe gelegen hat, ein einziges Mal ausgenommen, als sie vor achtzehn Jahren bei mir Gevatter standen.«
»Da bin ich freilich neugierig.«
»Passen Sie besonders auf den Cylinderhut auf! Er war damals schon unaussprechlich: hoch wie eine Feueresse und rauh wie ein Pudelfell. Die Beiden werden Furore machen in der Hauptstadt!«
Endlich kam es zur Treppe herab und zur Thüre herein. Die Beiden alten Gesichter glänzten vor Wonne. Der Köhler trat sofort zum Spiegel – denn droben gab es keinen – zupfte sich sein Vorhemdchen zurecht und sagte in dem selbstbewußtesten Tone, der ihm möglich war: »Man ist doch gleich ein ganz anderer Mensch, wenn man einmal die guten Sachen anthut.«
Sie aber schob ihn kräftig zur Seite und schmunzelte:
»Geh’ auf die Seite! Wer wird so eitel sein!«
»Aber Du darfst wohl in den Spiegel gucken, he?«
»Ich muß nach den Haubenschleifen sehen. Das hast Du ja nicht nöthig!«
Während sie sich vor dem Spiegel nach rechts und links drehte, trat der Arzt zu dem Handkorb und blickte hinein.
»Sapperment!« sagte er. »Was haben Sie denn da eingepackt?«
»Brod und Käse und Backäpfel.«
»Wozu denn?«
»Zur Fourage.«
»Was? Diesen harten Käse wollen Sie essen?«
»Herr, es ist der feinste Reibekäse!«
»Wie alt denn?«
»Na, er liegt schon einige Jahre droben auf dem Balken. Je älter, desto besser.«
»Gott, sind Sie um Ihre Zähne zu beneiden! Aber diese Äpfel. Sind das nicht Holzäpfel?«
»Ja. Die haben mir Mühe gemacht damals.«
»Wann war denn dieses damals?«
»Vor ungefähr ein Jahrer zwanzig.«
»Dann schmeckt das Zeug ja doch wie Galläpfel!«
»Ja, es wickelt Einem die Zunge ein bischen zusammen; aber das schadet nichts; das ist gesund. Sauer macht lustig!«
»Gott erhalte Ihnen Ihren Magen! Aber wo denken Sie denn, diese Nahrungsmittel zu verkaufen?«
»Na, in der Hauptstadt!«
»Das kann ich mir denken! Aber bei wem? Im Hotel?«
»Hotel? O nein. Wir wohnen bei Verwandten. Und weil wir denen doch nicht Alles wegessen wollen, so haben wir uns selbst etwas mitgenommen.«
Ueber das Gesicht des Arztes zuckte es eigenthümlich.
»Schade!« sagte er. »Jammerschade!«
»Was denn? Was ist jammerschade?«
»Mit diesem Käse könnten Sie Ehre einlegen.«
»Bei wem denn?«
»Beim Fürsten von Befour.«
»Was Sie sagen! Ist’s wahr?«
»Ja. Er ist als der größte Freund von sehr altem, hartem Reibekäse weit und breit bekannt. Wer weiß, ob er schon einmal so alten gesehen hat wie diesen hier!«
»Meinen Sie? Du, Alter, denkst Du, daß wir da den Käse dem Fürsten anbieten wollen?«
»Natürlich! Wir setzen uns da einen Stein in’s Brett!«
»Und was für einen,« meinte der Arzt. »Aber Eins müssen Sie mir hoch und theuer versprechen.«
»Daß Sie mich nicht verrathen wollen.«
»Ah! Warum denn nicht?«
»Weil er es mir im Vertrauen mitgetheilt hat, daß er solchen alten Stänker am liebsten ißt. Ich als Arzt will mir doch nicht nachsagen lassen, daß ich solche Sachen ausplaudere.«
»Das ist richtig. Aber wenn er uns nun fragt, woher wir es wissen? Was sagen wir dann?«
»Sie brauchen doch blos zu sagen, daß es im ganzen Lande bekannt ist. Das genügt.«
»Gut, ganz wie Sie wollen.«
»Sie werden, wie gesagt, Ehre bei ihm einlegen. Und was die Backäpfel betrifft – na, es wird aber zu viel.«
»Was denn zu viel?«
»Ich möchte Sie nicht um Ihre Sachen bringen.«
»Was das betrifft, so sind wir gar nicht etwa so geizig.«
»Das wäre sehr gut. Zudem könnten Sie sich auch diesen vornehmen Herrn zum Freunde machen. Es trifft sich aber auch gerade so gut und schön.«
»Bitte, geniren Sie sich nicht, Herr Doctor! Herunter mit Dem, was Sie auf dem Herzen haben!«
»Nun, gerade weil Sie auch zu dem Herrn Oberlandesgerichtsrath von Eichendörffer müssen, wollte ich Ihnen einen kleinen Wink geben, der Ihnen von großem Nutzen sein kann.«
»Nämlich der Herr von Eichendörffer hat ein eigenthümliches Leiden, eine unheilbare Krankheit!«
»Der arme Teufel!«
»Er leidet nämlich an einer unterirdischen Hasenscharte.«
»Davon habe ich noch nie etwas gehört, nämlich von einer unterirdischen Hasenscharte.«
»Eine unterirdische Hasenscharte, oder, wie wir Ärzte uns ausdrücken, ein verborgener Wolfsrachen liegt nämlich so unter der Haut, daß man gar nichts davon sehen kann.«
»Ach so!«
»Um so schlimmer ist aber das Leiden.«
»Kann es denn nicht geheilt werden?«
»Nein. Man kann doch etwas Unterirdisches nicht operiren. Wer eine solche Hasenscharte hat, der kann nicht gut sprechen. Er muß also immer etwas Zusamenziehendes essen, damit die Scharte sich schließt. Da giebt es nun nichts Besseres und Kostbareres als recht uralte, abgebackene Holzäpfel. Verstanden?«
»Sapperment!« entfuhr es der Köhlerfrau.
»Dieser Herr nun kauft heimlich alle solche Äpfel zusammen. Aber weil er täglich wenigstens zwei Pfund gebraucht, so sind fast gar keine mehr zu bekommen.«
»Na, Holzäpfel giebt’s doch genug?«
»Aber keine wilden und so alten.«
»Hier im Gebirge aber doch!«
»Sie müssen bedenken, daß Herr von Eichendörffer sein Leiden geheim hält. Der Backäpfelhandel bleibt also auch geheim. Daher kommt es, daß er nicht alle Orte erfährt, an denen er welche bekommen könnte.«
»Und Sie meinen, je älter desto besser?«
»Natürlich!«
»Na, die meinigen sind, wie gesagt, zwanzig und mehrere Jahre alt.«
»Er würde sie theuer bezahlen.«
»O, ich schenke sie ihm!«
»Sie wollen sie ihm also anbieten?«
»Warum nicht, wenn er sie nimmt!«
»Mit geküßten Händen! Er wird es Ihnen nicht vergessen.«
»Da werde ich ihm sagen, daß ich daheim noch meinen Mann seinen ganzen Hut voll habe. Mein Mann ist dabei; da sieht er also den Hut und kann so ungefähr taxiren, wie viele es sind.«
»Er wird sofort bitten, sie ihm zu schicken.«
»Er soll sie haben. Wir sind Ihnen sehr dankbar für diesen Wink, Herr Doctor.«
»O bitte, bitte! Wo ich einem Mitmenschen einen Dienst erweisen kann, thue ich es gern. Die Freundschaft dieses hohen Herrn kann Ihnen von großem Nutzen sein.«
»Das läßt sich denken. Was aber antworten wir denn, wenn er uns fragt, wie wir auf den Gedanken gekommen sind, ihm die Äpfel zu schenken.«
»Na, zunächst können Sie sich ein bischen zieren.«
»Ja, das schickt sich. Herausplatzen darf man nicht gleich.«
»Dann können Sie so etwas von einer Hasenscharte murmeln, verstanden, nur murmeln.«
»Ja, ja.«
»Versteht er Sie noch nicht, so reden Sie deutlich von einem verborgenen Wolfsrachen, von einer unterirdischen Hasenscharte. Dann weiß er ganz gewiß warum und wozu.«
»Ja, aber wenn er fragt, woher wir es wissen?«
»So machen Sie zunächst eine Ausrede. Sie sagen, daß es im ganzen Lande bekannt sei.«
»Und wenn das nicht zieht?«
»Na, dann können Sie meinetwegen die Wahrheit sagen.«
»Daß Sie davon gesprochen haben?«
»Ja.«
»Es wird Ihnen doch nichts schaden?«
»O nein; gar nicht. Ich bin – aber das wissen Sie vielleicht noch nicht. Kennen Sie meinen Namen?«
»Nein. Ich komme wenig unter die Leute. Sie sind mir eben nur als der Herr Bezirksarzt bekannt.«
»Nun, ich heiße auch von Eichendörffer.«
»Ah! So! Sie sind mit ihm verwandt?«
»Er ist mein Onkel!«
»Das trifft sich gut. Sollen wir ihn vielleicht von Ihnen grüßen, Herr Doctor?«
»Gleich nicht, sondern erst zuletzt. Sind Sie nun bereit?«
»Ja. Oder hast Du noch etwas zu besorgen?«
»Hm, ja.«
»Was denn?«
»Wenn ich es mir so recht überlege, so ist es vielleicht besser, wir nehmen gleich die ganzen Äpfel mit.«
»Nein,« fiel der Arzt ein. »Das ist nicht nothwendig. Wenn Sie alle mitnehmen, so müssen Sie ihm auch alle schenken.«
»Das ist wahr.«
»Und Sie sind arm. Einen Theil können Sie ihm verehren; die Anderen aber mag er Ihnen abkaufen. Sie schicken sie ihm dann sehr einfach mit der Post. Also wenn Sie fertig sind, so wollen wir nun einsteigen.«
Es gab noch eine umständliche Verabschiedung von den Zurückbleibenden, dann rollte die Kalesche der nächsten Station entgegen. Unterwegs lächelte der Arzt immer heimlich in sich hinein; als er dann aber die Beiden am Bahnhofe abgeladen hatte und dann davonfuhr, lachte er laut auf.
»Prächtige Leute, die beiden Alten! Sie werden in der Residenz Aufsehen erregen. Und der Onkel! Sapperment, wird der lachen! Unterirdische Hasenscharte! Ich möchte dabei sein. Ich gäbe gleich zehn Gulden darum!«
Der Köhler, der noch nie in einem Bahnwagen gesessen hatte, erkundigte sich sehr vorsichtig nach der Art und Weise, wie er sich zu verhalten habe. Ihr Äußeres fiel bereits hier auf, und so kam es, daß der Schaffner sie ganz allein in ein Coupé placirte.
»Siehst Du nun, wie gut es ist, daß ich die Äpfel aufgehoben habe?« meinte die Alte in selbstbewußtem Tone.
»Ja, aber für meinen Hut ist’s nicht gut gewesen!«
»Na, er ist ein bischen nachgiebig geworden. Das wird sich aber wieder verlieren. Wenn wir nach Hause kommen, setzen wir ihn ein paar Tage auf den Ofen. Und der Käse! Wer denkt auch so Etwas!«
»Von dem Fürsten?«
»Ja. Daß der gerade solchen alten haben will. Siehst Du, nun hast Du auch Angst gehabt vor diesen beiden Herren. Sie werden so freundlich sein, daß wir sie um den Finger wickeln können. Ein Glück, daß der Doctor kam!«
»Nun aber haben wir für die Verwandten nichts.«
»Das wird sich finden. Wir bringen ein Brod mit. Das ist eine Rarität für so eine Stadt. Echtes Köhlerbrod.«
»Na, dafür haben wir den Mund. Wir fragen.«
»Und wenn sie nicht mehr leben?«
»So – so – – hm, da fällt mir ja ein, daß wir auch noch ganz andere Verwandte haben.«
»Ich aber weiß nichts davon.«
»Ja, das ist ein Elend mit Dir! Du kennst nicht einmal Deine allernächsten Verwandten. Es ist eigentlich eine Schande!«
»Wie heißen sie denn?«
»Der Name ist Elias.«
»Habe nie etwas davon gehört.«
»Nie? Was?«
»Nein.«
»Ich habe Dir’s damals vor unserer Hochzeit ganz deutlich und ausführlich erklärt.«
»Ja, damals! Das ist möglich. Seit jener Zeit aber habe ich es natürlich wieder vergessen.«
»Natürlich? So Etwas könnte ich nun doch nicht vergessen. Ich muß wissen, wer meine Verwandten sind. Wie leicht kann man einmal in eine Erbschaft fliegen, von der man gar nichts bekommen hätte, wenn man nicht aufpaßt.«
»Na, Erbschaft! Alte, wir und erben!«
»Das weiß man nicht.«
»So erkläre mir die Geschichte. Also Elias ist der Name?«
»Ja. Du hast doch den Viehdoctor Ebert gekannt?«
»Ja, das war ein entfernter Vetter von Dir, so aus zehn Wiesen ein Grashalm.«
»Oho! Ein entfernter? Na, ich will mich nicht über Dich ärgern.«
»Ist auch nicht nöthig. Aber Du willst von Eliassens reden und fängst von dem Ebert an!«
»Das ist ganz richtig. Dem Ebert seine Frau hatte doch einen Stiefbruder, wenn Du Dich noch besinnen kannst?«
»Es ist mir so.«
»Der Stiefbruder heirathete eine geborene Barthel; sie hatte ein schiefes Bein. Ich weiß nicht mehr, war es das rechte oder das linke. Weißt Du es vielleicht?«
»Es werden wohl alle beide schief gewesen sein.«
»So genau weiß ich das nicht mehr. Aber dieser Bartheln ihr Bruder hatte zur zweiten Frau eine gewisse Eliassen, deren Bruder also Elias hieß. Er war Schneider und zugleich gab er im Winter Tanzunterricht.«
»Ich habe ihn nie gekannt.«
»Aber erklärt habe ich es Dir. Dieser Eliasschneider hatte einen Jungen, der hieß Arthur. Er war ein kleiner Kerl, aber nicht dumm. Er konnte gut zeichnen und half seinem Vater beim Tanzunterricht. Später ist er nach der Hauptstadt gekommen und Tanzmeister geworden.«
»Ja.«
»Daß wir ihn aufsuchen wollen?«
»Denkst Du etwa, daß wir ihm nicht willkommen wären?«
»Warum denn nicht? Wir haben ihm ja nichts gethan.«
»Ja, und nobel kommen wir auch. Wir sehen nicht etwa abgerissen und fadenscheinig aus, und ich will es Dir nur sagen: Ich habe nämlich nicht nur zehn Gulden eingesteckt, sondern gleich alle vierzehn. Wir brauchen sie zwar nicht zu verthun, aber es klimpert doch gleich ganz anders, wenn man mehr im Beutel hat. Na, wir werden schon sehen, wohin wir gerathen.«
Jetzt schwieg das Gespräch. Die Beiden blickten durch die Fenster, um sich an der Gegend zu erlaben. Später erhielten sie Gesellschaft, und die Alte war förmlich stolz, als sie bemerkte, wie sie betrachtet wurde. Sie stieß ihren Mann mit dem Fuße; sagen aber wollte sie nichts; ihre Worte könnten ja verstanden werden.
Aber als sie endlich angekommen und ausgestiegen waren, fragte sie ihn:
»Hast Du diese Augen gesehen?«
»Welche die Leute alle machten.«
»Na, und ob!«
»Wir sind eben noch ein Paar, das sich sehen lassen kann. Und freundlich waren sie ja Alle. Sie lächelten einen förmlich an!«
»Wo aber nun hin?«
»Na, ich werde gleich fragen. Da steht einer mit einem goldenen Streifen um die Mütze. Der ist gewiß etwas Vornehmes. Solche Leute wissen gewöhnlich Alles.«
Der, welchen sie meinten, war der Vorsteher des Bahnhofes. Als er die beiden eigenthümlichen Gestalten bemerkte, zuckte es verrätherisch über sein ernstes Gesicht. Sie steuerte gerade auf ihn zu, nickte ihn freundlich an und sagte: »Guten Tag! Sind Sie hier vielleicht bekannt?«
»So leidlich, meine Liebe.«
»Wissen Sie, wo Landrocks wohnen?«
»Landrock? Was ist der Mann?«
»Amtswachtmeister.«
»Nein, den kenne ich leider nicht.«
»Er ist aus dem Gebirge!«
»Ah, da werden Sie sich wohl irren, meine Liebe!«
»O, nein!«
»Und doch! Ich kenne einen Amtswachtmeister Uhlig; der ist aus dem Gebirge, nämlich aus Tannenstein.«
»Den meine ich nicht.«
»So thut es mir leid, meine Liebe.«
»Schadet nichts; ich frage weiter.«
»Hm! Die Stadt ist groß. Hier kennt nicht ein Jeder den Andern. Sie werden am Klügsten thun, wenn Sie das Adreßbuch fragen, meine Liebe.«
Sie sah ihn erstaunt an und meinte:
»Das Adreßbuch fragen? Wie fragt man es denn?«
»Man sieht hinein.«
»Ach so! Was ist das denn für ein Buch?«
»Es ist ein Buch, in welchem die Namen Aller stehen, welche hier in der Residenz wohnen. Dabei ist zu lesen, was sie sind und wo sie wohnen.«
»Ach so! Wer das erfunden hat, der ist kein dummer Kerl gewesen. Wo ist das Buch?«
»Da drinnen in der Restauration. Sie brauchen nur den Kellner darum zu bitten.«
»Danke schön, lieber Herr!«
Sie nahm ihren Alten beim Arme und zog ihn mit sich fort.
»Hast Du es gehört?« fragte sie stolz.
»Vom Adreßbuch?«
»Nein. Die Höflichkeit.«
»Welche Höflichkeit?«
»Mann, Du dauerst mich! Er hat mich viermal ›meine Liebe‹ genannt. Man merkt es doch gleich, daß man in der Hauptstadt ist, wo der König wohnt. Komm jetzt herein!«
Sie zog ihn in die Restauration. Daß sie dabei in das Wartezimmer erster Klasse gerieth, das war ihr gleichgiltig. Diese Unterscheidung war ihr unbekannt.
Sie bemerkte mit süßer Genugthuung, daß sich Aller Augen auf sie und ihren Alten richteten. Das gab ihr eine innere Festigkeit, wie sie sich noch niemals gefühlt hatte.
»Setz Dich!« raunte sie dem Köhler gebieterisch zu.
Er zögerte aber doch und flüsterte:
»Du, das ist Sammet!«
»Sammet oder nicht; Andere sitzen auch darauf.«
Sie zog ihn neben sich auf das Plüschsopha nieder, und da kam auch schon der Kellner und sagte: »Entschuldigen die Herrschaften! Sie sind hier am unrechten Orte?«
»Nein. Wir sind sogar hierher gewiesen worden.«
»Von wem?«
»Von dem mit der goldenen Mütze.«
»Ah, Verzeihung! Das ist etwas Anderes! Was befehlen Sie?«
»Das Buch mit den vielen Namen.«
»Sie meinen das Adreßbuch?«
»Ja, so war es.«
»Wollen Sie auch etwas genießen?«
»Ich meine essen oder trinken?«
»Ach so! Muß man denn bei dem Buche etwas trinken?«
»Gewöhnlich, ja.«
»Na, was haben Sie denn zu trinken?«
»Lieben Sie warm?«
»Allemal!«
»Vielleicht einen Eierpunsch?«
»Meinetwegen! Ist er groß?«
»Ein Gläschen.«
»Na, da bringen Sie zwei!«
Der dienstbare Jüngling machte eine heldenmüthige Schwenkung. Er freute sich im Vollgefühle seines Sieges über diese Eindringlinge. Die Alte aber wisperte ihrem Manne zu: »Hast Du es gehört, wie er uns nannte?«
»Herrschaften? Nicht?«
»Ja. Und um Verzeihung bat er. Hast Du’s gehört?«
»Freilich.«
»Du, ich denke, daß wir heute so einen vornehmen Eindruck machen. Es ist die Hauptstadt. Es liegt hier so in der Luft! Da kommt er schon wieder!«
»Hier, meine Gnädige!«
Er verbeugte sich in ironischer Höflichkeit und legte ihr das Buch hin. Als er sich dann wieder entfernte, blickte sie ihm befriedigt nach, ließ das Auge über die Anwesenden schweifen und sagte: »Alle staunen uns an. Ich glaube, daran ist meine seidene Flattusenhaube schuld. So ein Prachtstück wird eben jetzt gar nicht mehr gemacht. Die Schneiderinnen haben kein Geschick mehr dazu. Früher gab es gescheidtere Leute.«
Jetzt öffnete sie das Buch. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, welcher der Grund war, daß sich rundum ein unterdrücktes Lachen hören ließ.
»Du,« sagte sie. »Das ist nicht meine Art von Schrift. Die ist mir viel zu klein, und ich habe meine Nasenquetsche nicht mit.«
»Gieb her!«
Er nahm das Buch und begann zu blättern.
»Na,« meinte sie. »Wann geht’s denn los?«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Mir sind die Buchstaben viel zu klein.«
»Ja, Deine Augen sind auch nicht mehr wie früher. Schadet aber auch nichts. Der Kellner muß vorlesen.«
Sie warteten, bis er das Getränk brachte. Da schob sie ihm ganz einfach das Buch hin und sagte: »Da, fangen Sie an!«
»Anfangen?« fragte er erstaunt.
»Ja!« antwortete sie resolut.
»Sie meinen – –?«
»Vorlesen!«
»Ah so! Ich soll Ihnen den Inhalt dieses Buches vorlesen?«
»Ja.«
»Hören Sie, dazu habe ich freilich keine Zeit!«
»Aber dazu sind Sie da?«
»Nein.«
»Der mit der goldenen Mütze sagte es aber doch!«
»Er wird gemeint haben, Sie sollen sich von mir dieses Adreßbuch geben lassen?«
»Na freilich!«
»Aber nicht, daß ich es Ihnen vorlesen soll. Da würden wir heute wohl nicht fertig.«
»Aber wie will ich denn da erfahren, wo sie wohnen!«
»Das ist mir freilich neu!« lachte er. »Sie wollen sich den Inhalt vorlesen lassen, bis der betreffende Name kommt?«
»Ja.«
»Das ist ja gar nicht nöthig. Sie brauchen den Namen nur aufzuschlagen, weiter nichts.«
»Aber ich weiß doch nicht, wo er steht!«
»Es geht nach dem Alphabet, meine Gnädige!«
Da begann es in ihrem Kopfe zu dämmern. Sie machte als Zeichen ihres Erstaunens den Mund auf und fragte: »Ach so! Das ist kein Buch, sondern ein Register?«
»Ja,« lachte er. »Ein Register ist es. Welchen Namen wollen Sie wohl finden?«
»So schlägt man das L auf. Hier! Was ist der Mann?«
»Wachtmeister.«
Der Kellner suchte und sagte dann:
»Einen Wachtmeister Landrock giebt es nicht.«
»Siehst Du!« meinte der Köhler. »Ich hatte doch recht. Die Leute sind todt.«
»Na, das schadet nichts. Da suchen wir Eliassens auf.«
»Elias?« fragte der Kellner. »Was ist er?«
»Tanzmeister.«
»Ah! Hier, das scheint er zu sein: Arthur Elias, Maler und Balletmeister.«
»Was ist Ballet?«
»Tanz, nämlich Tanz auf dem Theater.«
»Dann ist er es. Maler auch? Ja, er ist es. Wo wohnt er?«
»Ich werde es Ihnen aufschreiben.«
Er notirte die Adresse auf einen Zettel. Unterdessen kosteten die Beiden von dem Eierpunsch, und dann fragte die Alte: »Wie heißt das Zeug?«
»Eierpunsch.«
»Was kosten die beiden Gläser?«
»Einen Gulden.«
Als sie ihn ganz fassungslos anblickte, wiederholte er es.
»Einen Gulden?« fragte sie trotzdem.
»Ja.«
»Das machen Sie mir aber nicht weiß!«
»Bitte sehr! Das ist hier fester Preis.«
»Wie? Was? Sie wollen wirklich einen Gulden?«
»Ich muß ihn verlangen, denn ich muß ihn ja bezahlen.«
»Da wollen wir uns doch gleich einmal erkundigen. Schicken Sie uns Ihren Herrn her. So rasch gehen wir doch nicht auf den Leim. Ich bin die Frau Hendschel. Verstanden?«
Der Kellner zuckte die Achsel und entfernte sich. Der Wirth kam und bestätigte, daß der Preis der genannte sei.
»Na, da hört aber Alles auf!« sagte die gute Frau. »Ich habe auch meine Zunge und meinen Geschmack. Ich weiß jetzt, was dazu ist: Ein Ei für zwei Kreuzer. Und dafür verlangen Sie einen Gulden. Hören Sie, da werden wir wohl nicht ewig Ihre Stammgäste sein.«
»Dann muß ich leider verzichten!« lächelte er.
»Geht denn gar nichts ab?«
»Hier wird nicht gehandelt.«
»Na, da haben Sie das Sündengeld! Jetzt aber komm, Alter, sonst läuft mir die Galle vollends über, und dann ist nicht gut mit mir zu reden. Für so ein Geld lassen wir uns wohl nicht gleich wieder ›meine Herrschaften‹ nennen!«
Sie ergriff den Handkorb und den rothen Regenschirm, stülpte ihrem Alten den Hut auf den Kopf und zog ihn mit sich fort. Draußen aber blieb sie stehen und machte ihrem Herzen so kräftig Luft, daß endlich ein Schutzmann herbeikam und sie fragte: »Hören Sie, meine Beste, ist dieser Herr Ihr Mann?«
»Ja, wer denn sonst?«
»Bitte, wenn Sie ihn auszanken wollen, so wählen Sie dazu eine andere Zeit und einen anderen Ort.«
»Auszanken?«
»Ja. Ich sehe und höre es ja. Alle Leute bleiben stehen.«
»Wer sind Sie denn?«
»Ich bin Polizist.«
Dieses Wort übte sofort eine heilsame Wirkung.
»Herjesses!« sagte sie. »Soll ich etwa wegen dieser Prellerei noch mit der Polizei zu thun bekommen! Das fällt mir nicht ein.«
»Wer hat Sie geprellt?«
»Die Leute da drin. Wir haben für zwei Glas Eierpunsch einen Gulden bezahlen müssen.«
»In erster Classe? Das wird da bezahlt.«
»Na, aber wir sind das nicht gewöhnt.«
»Sie sind natürlich nicht von hier?«
»Nein. Wir sind mit dem letzten Zuge gekommen.«
»Zu wem wollen Sie denn? Vielleicht kann ich Ihnen Auskunft geben.«
Sie nannte ihm Namen und Straße, und er meinte:
»Das ist weit von hier. Sie werden eine Droschke nehmen müssen, wenn Sie sich nicht verirren wollen.«
»Na, nur sachte! Ich verirre mich im Walde nicht, viel weniger aber hier!«
»O, man geht hier viel leichter irre als im Walde. Sie wissen ja gar nicht, wie die Straßen heißen.«
»Kostet aber etwa die Droschke auch einen Gulden?«
»Bis dahin, wohin Sie wollen, nur einen halben.«
»Na, den können wir noch riskiren. Haben wir für einen ganzen Gulden Punsch getrunken, so können wir nun auch für einen halben Gulden spazieren fahren. Ich habe ja noch dreizehn. Komm Alter!«
Und indem er sich von ihr nach der Droschke ziehen ließ, sagte er:
»Noch dreizehn hast Du?«
»Ja, doch!«
»Da hast Du wohl die Bahnbillets umsonst bekommen?«
»Die Billets? Herr Jesses! An die habe ich gar nicht gedacht. Da wollen wir doch lieber laufen!«
»Das geht nicht. Der Kutscher sperrt ja schon den Wagen auf. Er hat uns kommen sehen.«
»Laß ihn sperren. Mein Geld geht vor!«
»Aber wir finden die Straße nicht!«
»Hm! Das ist eine dumme Geschichte. Daheim ist daheim!«
Sie nannten dem Droschkenführer die Straße und Nummer und stiegen nach einer allerdings ziemlichen Weile an der betreffenden Hausthür ab. Frau Hendschel bezahlte den halben Gulden ohne Ahnung, daß es auf Erden Trinkgelder gebe, und stieg dann mit ihrem Manne die Treppe empor.
Dort stand an einer Thür »Arthur Elias, Kunstmaler und Balletmeister.«
»Hier wohnt er,« sagte sie. »Hoffentlich ist er daheim.«
Sie klingelte. Erst nach einiger Zeit wurde die Thür ein Wenig geöffnet, und die Kunstmalerin fragte: »Was wollen Sie?«
»Ist der Arthur zu Hause?«
»Der – – Arthur – –?«
»Ja.«
»Wen meinen Sie denn?«
»Na, Eliassens Arthur!«
Da näherte sich die spitze Nase der Thürspalte noch mehr, und die scharfe Stimme fragte:
»Wer sind Sie denn eigentlich?«
»Ich bin seine Muhme.«
»Seine Muhme? Verwandt wollen Sie mit uns sein?«
»Ich bin die Frau des Kunstmalers und Balletmeisters Arthur Elias.«
»Na, da sind Sie ja meine Muhme! Machen Sie auf!«
»So schnell geht das nicht!«
»Ach was da! Unter Verwandten macht man keine solchen Sperenzien! Platz gemacht!«
Sie zwang ihren Handkorb in die Thürlücke und schob sich nach. Ihr »Alter« folgte ihr und zog dann die Thür hinter sich zu.
Die Gemahlin des Kunstmalers war außer sich. Ihr Gesicht glühte vor Ärger.
»Was fällt Ihnen ein!« sagte sie. »Sich mit Gewalt hier einzudrängen! Wissen Sie, was Hausfriedensbruch ist?«
»Machen Sie sich nicht lächerlich! Ich fürchte mich nicht! Ich werde doch als Muhme meinen Vetter besuchen dürfen!«
»Sie sehen allerdings ganz aus wie Muhme!«
»Schimpfen Sie nicht! Wo ist denn der Arthur?«
»Für Sie ist er nicht zu Hause.«
»Oho! Ich werde ihn schon finden!«
»Versuchen Sie es! Wenn Sie in meiner Wohnung weiter vordringen, schicke ich nach Polizei!«
»Das wäre allerdings sehr verwandtschaftlich gehandelt!«
»Wie heißen Sie denn?«
»Hendschel, geborene Landrock.«
»Dieser hier ist wohl Ihr Mann?«
»Ja.«
»Was ist er denn?«
»Kohlenbrenner.«
»O Himmel! Kohlenbrenner! Und mein Mann, der Herr Kunstmaler und Balletmeister, soll Ihr Verwandter sein?«
»Freilich!«
»Das ist unmöglich, ganz unmöglich!«
»Warum denn, he?«
»Ein Kohlenbrenner und ein Kunstmaler!«
»Ach so! Sie meinen, daß ein Kohlenbrenner nicht vornehm genug für Sie sei?«
»Welche Frage! Eine solche Verwandtschaft wäre ja eine Beleidigung, eine raffinirte Beleidigung!«
»Herr Jesses! Was sind denn Sie für eine Geborene?«
»Mein Name war Aurora Wendelin.«
»Und was war Ihr Vater?«
»Ein Künstler. Er malte Puppenköpfe.«
»Drum sind Sie so eine Zierpuppe geworden. Bilden Sie sich nur nichts ein! Ihr Mann war ein Schneiderjunge, und seine Tante, die geborene Bartheln, hatte ein schiefes Bein oder gar zwei. Was giebt es da für eine Veranlassung, stolz zu sein. Uebrigens komme ich nicht zu Ihnen, sondern zu Ihrem Manne. Und den werde ich schon finden. Vorwärts!«
Sie wollte die Aurora bei Seite schieben; diese aber rief ihr drohend zu:
»Keinen Schritt weiter, oder ich hole die Polizei!«
»Meinetwegen! Ich aber hole Ihren Mann!?«
Sie avancirte, und so sah sich die Balletmeistersfrau gezwungen, noch schneller vorwärts zu gehen.
»Ich werde es meinem Manne sagen, sofort, sofort!« drohte sie. »Er mag Sie hinauswerfen lassen.«
»Da sind wir dabei!«
Der Maler stand an seiner Staffelei. Da wurde die Thür ganz ungewöhnlich heftig aufgerissen, und er hörte seine Frau: »Arthur, lieber Arthur!«
»Aurora, mein Liebling?«
»Komme zu Hilfe.«
»Zu Hilfe? Ich kann nicht.«
»Du mußt, Du mußt!«
»Es geht nicht. Du weißt, daß ich soeben der Venus die Wangen anhauche.«
»Aber ich bedarf Deiner Hilfe ganz dringend!«
»Mach mich nicht nervös!«
»Komm nur, komm!«
»Was ist geschehen? Hast Du eine Maus gesehen?«
»Nein, sondern etwas noch viel Entsetzlicheres.«
»Was denn?«
»Eine Muhme von Dir.«
»Eine Muhme?«
Er ließ die Palette sinken und trat von der Staffelei zurück. Sie antwortete ihm:
»Ja, eine Muhme mit dem Vetter.«
»Sie mag einen Vetter haben; ich habe keinen, auch keine Muhme. Jage sie fort.«
»Sie geht nicht.«
»Hm! Ist sie hübsch?«
»Nein.«
»O weh! Aber jung?«
»Sehr alt.«
»Sage ihr, daß ich keine Zeit habe!«
Bis jetzt hatte die Köhlerin geduldig zugehört, nun aber schob sie die Malerin zur Seite und trat ein.
»Was?« sagte sie. »Keine Zeit hättest Du? Keine Zeit für Deine Verwandte, die Deinetwegen stundenweit herkommt? Schäme Dich!«
Da trat er auf sie zu, deutete mit dem Pinsel nach ihrem Gesicht und fragte:
»Aurora, mein Liebling, ist das die Muhme?«
»Ja, lieber Arthur.«
»Und dort ist der Vetter?«
»So sagt sie.«
»Ich kenne Beide nicht.«
»Was! Mich willst Du nicht kennen? Mich, eine geborene Landrock?«
»Nein. Wollen Sie vielleicht Modell sitzen?«
»Modell?« fragte sie. »Was ist das?«
»Ich könnte Sie als Furie verwerthen, oder als Xanthippe, oder als Hexe, welche in der Fabel Kinder frißt.«
Sie blickte ihn einige Augenblicke wortlos an; dann sagte sie, sich zur Ruhe zwingend:
»Gut, ich will nicht Du sagen, sondern Sie. Aber Sie müssen sich doch meiner erinnern. Sie haben doch den Thierarzt Ebert gekannt, den sie nur den Viehdoctor nannten?«
»Pfui! Welch ein Wort! Aurora, mein Liebling, sei so gut und schaffe dieses Frauenzimmer fort!«
»Sogleich!«
»Nein, nicht sogleich,« fiel die Köhlerin ein. »Erst will ich diesen Schneiderssohn einmal fragen, welchen Grund er hat, so stolz zu sein. Kunstmaler nennt er sich? Ich verstehe davon gar nichts; aber das Herz hat er nicht auf dem rechten Flecke. Er hält sich für einen vornehmen Kerl und ist doch nicht werth, daß ich mit ihm rede. Mein Mann hier ist ein einfacher, armer Kohlenbrenner; aber auf ihn kann ich stolzer sein, als diese Lieblingsaurora auf ihren Arthur. Das ist es, was ich den Beiden noch sagen will. Und nun adieu und Gott befohlen.«
Sie wollte gehen; da aber stellte sich ihr der Maler schnell in den Weg und sagte zornig: »Was meint dieses Frauenzimmer? Was wäre ich etwa nicht werth, he?«
Er fuchtelte mit dem langen Pinsel vor ihrem Gesicht herum. Sie lachte ihn an und antwortete:
»Thun Sie sich nicht so groß, Sie Farbenkleckser! Gehen Sie mir aus dem Wege. Ich will gehen!«
Das war ihm doch zu stark. Er trat ihr noch einen Schritt näher und rief voller Grimm:
»Sie unverschämte Person! Ich werde – – –«
»Gehen Sie zur Seite!« unterbrach sie ihn.
Und da er in seinem Zorne die Distanz nicht beachtete und ihr mit dem Pinsel in das Gesicht kam, zog sie ihm denselben aus der Hand und warf ihn zur Seite, traf aber damit die Venus, welche einen großen Klex in das Gesicht bekam. Das verdoppelte seinen Zorn.
»Was wagen Sie!« brüllte er. »Sie vergreifen sich an mir! Sie verschimpfiren mir meine Kunstwerke! Ich werde Sie bestrafen, ich werde Sie züchtigen so, wie Sie es verdienen!«
Er faßte sie am Arme. Aber in demselben Augenblicke setzte sie ihren Korb nieder, ergriff den Maler mit beiden Händen und schleuderte ihn über die Stube hinüber. Dort lehnte ein Bild in der Ecke, an welchem vor Kurzem der letzte Pinselstrich gethan worden war. In dieses Bild kam er so unglücklich zu sitzen, daß er hindurchfuhr.
Da bemächtigte sich seiner ein namenloser Grimm. Er raffte sich auf, sprang auf sie zu und holte zum Schlage aus. Da aber hatte ihn auch bereits der Köhler gepackt.
»Hören Sie, Herr Kunstmaler,« sagte er, »ich bin bis jetzt ruhig gewesen. Meine Frau lasse ich mir nicht schlagen. Verstanden? Machen Sie Platz, daß wir gehen können. Warum stellen Sie sich uns in den Weg!«
»Gehen?« schäumte der Balletmeister. »Nein. Sie müssen bleiben, bis die Polizei kommt. Aurora, eile, laufe!«
Dieser Befehl war gar nicht nöthig, denn seine Frau war längst fort, um Polizei zu holen. Der Maler wollte den Köhler fest halten. Dieser meinte lachend: »Was? Sie wollen mich halten, Sie Schuljunge Sie? Da, fliegen Sie fort!«
Er gab ihm einen Stoß, daß er sich auf eine große Terpentinflasche setzte, mit welcher er hinstürzte. Der Maler aber kannte sich selbst nicht mehr. Er brüllte, so laut er konnte und faßte den Köhler wieder an, sich fest an ihn hängend, damit er nicht fort könne.
»Polizei! Hilfe! Hilfe! Aurora! Aurora!«
»Gleich, Arthur, gleich!« erscholl es.
Die Thüren wurden heftig aufgerissen und die Malerin kam mit einem Schutzmann herbei.
»Was geht hier vor?« fragte dieser.
»Hausfriedensbruch! Hausfriedensbruch!« rief der Maler.
»Wieso?«
»Sehen Sie jenes Bild? Das Weib hat mich hineingestürzt. Sehen Sie den Klex auf meiner Venus? Das Weib hat den Pinsel darauf geworfen. Sehen Sie die umgestürzte Terpentinflasche? Dieser Mensch hat mich auf sie geworfen. Ich verlange, daß Beide arretirt werden!«
»Warum vergreifen Sie sich an dem Herrn Balletmeister?« fragte der Polizist die Beiden.
»Wir uns an ihm?« antwortete der Köhler. »Das ist wohl anders. Er hat sich an uns vergriffen.«
»Lüge!«
»Wir wollten gehen; er aber wollte meine Frau festhalten. Darum wehrte sie sich.«
»Warum wollte er sie halten?«
»Um ihr Grobheiten sagen zu können.«
»Das ist mir unverständlich. Wer sind Sie?«
Der Köhler erzählte ihm den Hergang nach seiner Weise. Der Maler und dessen Frau gaben ihre Commentare nach ihrer Weise und verlangten die Arretur. Der Polizist zuckte die Achsel und meinte: »Mir scheint, daß hier die Schuld des Einen so groß ist wie diejenige des Andern. Aber Sie sind fremd, Herr Hendschel. Ich muß Sie bitten, mir zu folgen.«
»Wohin denn?« fragte der Köhler.
»Nach dem Polizeibüro.«
»Was? Meine Frau wohl auch mit?«
»Ja.«
»Sie wollen uns also arretiren?«
»So will ich es nicht nennen. Ich will sagen, sistiren. Sie sollen Gelegenheit finden, Ihre Aussage an competenter Stelle abzugeben.«
»Das ist gleich; es ist arretirt.«
»Ich hoffe, daß Sie keinen Widerstand leisten!«
»Das fällt mir gar nicht ein. Ich bin ein ruhiger Bürger und habe hier nichts gethan, als meine Frau aus den Händen dieses Mannes frei gemacht.«
»Mein zerbrochenes Bild!« jammerte Arthur.
»Sie müssen Schadenersatz leisten,« sagte seine Aurora.
»Meine Venus!«
»Waschen Sie sie ab!« meinte der Köhler.
»Mein Terpentinöl!«
»Lecken Sie es auf!«
Da legte ihm der Schutzmann die Hand auf den Arm und warnte ihn:
»Regen Sie ihn nicht noch mehr auf. Folgen Sie mir, sonst wird die Sache noch schlimmer.«
Mann und Frau folgten ihm, begleitet von den Verwünschungen des künstlerischen Ehepaares. Unten im Hausflur blieb der Schutzmann stehen, betrachtete die Beiden kopfschüttelnd und sagte: »Wir können aber nicht gehen.«
»Warum nicht?«
»Ihre Tracht ist so auffällig, daß uns die Jungens nachlaufen würden, wenn Sie als Arrestant die Straße beträten.«
»Sie wollen fahren?«
»Ja.«
»Na, die Droschke bezahlen wir aber nicht!«
»Zunächst allerdings werde ich sie bezahlen.«
Sie hatten nicht lange im Flur zu warten, bis ein Fiaker vorüberkam, dessen sie sich bedienten.
Auf dem Büro machten die Beamten große Augen, als sie die Beiden erblickten. Der Schutzmann machte seinem Vorgesetzten Meldung, und dieser nahm das Ehepaar in Verhör. Sie erzählten den Vorgang der Wahrheit gemäß. Als sie geendet hatten, fragte er lächelnd: »Sie sind zum ersten Male in der Hauptstadt?«
»Ja.«
»Haben Sie denn früher mit Herrn Arthur Elias irgend welchen Umgang gepflogen?«
»Nein.«
»Dachte es mir! Ihr Gebirgsleute haltet so fürchterlich auf Freundschaft, daß Ihr den hundertsten Vetter des tausendsten Schwagers noch umarmen möchtet. Das ist übertrieben und führt zu Unzuträglichkeiten wie die gegenwärtige ist. Der Maler wird auf Hausfriedensbruch und Schadenersatz klagen.«
»Von Hausfriedensbruch ist keine Rede. Wir wollten gehen, er aber hat uns gehalten.«
»Trotzdem möchte ich Sie hier behalten.«
»Was! Als Gefangene etwa?«
»Ja.«
»Herrgott!«
»Ja, ja! Es thut mir leid. Sind Sie bereits einmal bestraft worden?«
»Niemals!«
»Sie sind jedenfalls sehr brave Leute. Ich möchte Ihnen nicht gerne wehe thun. Können Sie sich denn genügend legitimiren?«
»Was ist da nöthig?«
»Ein Paß!«
»Haben wir nicht.«
»Auch nicht vielleicht etwas Anderes? Einen Brief?«
»O, da haben wir sogar zwei.«
»Die an Sie gerichtet gewesen sind?«
»Ja. Wegen diesen Briefen sind wir ja eben nach der Hauptstadt gekommen.«
»Zeigen Sie einmal her!«
Hendschel zog die beiden Schreiben hervor und gab sie dem Beamten. Das Gesicht desselben nahm während des Lesens einen ganz anderen Ausdruck an. War es vorher wohlwollend gewesen, so wurde es jetzt freundlich. Er winkte seinen Untergebenen zu und sagte zu dem Köhler: »Das giebt der Angelegenheit freilich eine ganz andere Wendung. Einen Mann, dem wir so viel zu verdanken haben, können wir unmöglich einstecken.«
»Zu verdanken?« fragte der Köhler verwundert.
»Ja doch.«
»Ich weiß nichts.«
»Sie kennen doch einen Polizeiagent Anton?«
»Den kenne ich.«
»Sie waren mit ihm in Langenstadt?«
»Ja.«
»Sie haben ihn veranlaßt, dorthin zu gehen?«
»Das ist wahr.«
»Nun, so haben wir es also Ihnen zu verdanken, daß der Hauptmann gefangen worden ist.«
»Na, das scheint mir allerdings so,« lachte der Alte.
»Wissen Sie, was Sie beim Fürsten sollen?«
»Nein.«
»Oder beim Herrn Oberlandesgerichtsrath?«
»Auch nicht. Vielleicht will man mich fragen, wie ich auf den Gedanken gekommen bin, daß der Hauptmann gerade in diesem Langenstadt stecken soll.«
»Na, ich weiß wirklich selber nicht genau, wer zuerst darauf gekommen ist, ich oder hier meine Alte.«
»Ihre Frau hat den Gedanken auch gehabt? Ja, die Damen sind oft viel scharfsinniger, als die Männer.«
»Das will ich meinen,« fiel die Alte schnell und kräftig ein. »Das ist eine alte Weste!«
»Na,« lachte der Beamte, »dafür sind Sie wieder heute etwas weniger klug gewesen.«
»Wieso?«
»Der Gedanke, den Maler aufzusuchen, war kein glücklicher.«
»Er ist ja doch unser Verwandter!«
»Ich sagte Ihnen bereits, daß man auf so entfernte Verwandtschaft grade nicht viel geben darf. Warum kehren Sie nicht lieber im Gasthofe ein?«
»Herr, wir sind arm!«
»Hm! Na! Ja! Warum haben Sie da den Fürsten nicht aufgesucht?«
»Meinen Sie, daß er uns beherbergt hätte?«
»Vielleicht. Er ist ein sehr gütiger, gastfreundlicher Herr.«
»Von uns wäre das zu bettelig herausgekommen. Bei Verwandten aber kann man vorsprechen, ohne daß es einen solchen Anschein bekommt.«
»War denn der Maler der einzige Verwandte?«
»Eigentlich nicht; aber der Andere existirt nicht mehr.«
»Der Wachtmeister Landrock.«
»Landrock? Der existirt nicht mehr? Wieso?«
»Er muß gestorben sein.«
»Weshalb vermuthen Sie das?«
»Er steht ja nicht im Register.«
»Im Register? Ach so! Sie meinen im Adreßbuche?«
»Ja.«
»Er steht darin, aber nicht als Amtswachtmeister.«
»So lebt er noch?«
»Jawohl.«
»Wo denn?«
»Er wohnt in der Wasserstraße Nummer Zehn.«
»So gehen wir zu ihm.«
»Hm! Er ist wirklich mit Ihnen verwandt?«
»Ja.«
»Auch so entfernt wie der Maler?«
»O nein, sondern viel näher.«
»Na, ich will nicht dagegen sein. Versuchen Sie Ihr Heil bei ihm. Sollten Sie aber bemerken, daß Sie ihm nicht willkommen sind, so gehen Sie lieber gleich zum Fürsten. Ihr Reisekamerad Anton wird Sie auf alle Fälle freundlich aufnehmen. Ueberhaupt will ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es für Sie am Besten ist, heute noch zu dem Fürsten zu gehen. Er rechnet jedenfalls darauf, Sie sehr bald zu sehen.«
»Ich danke! Also bleibe ich nicht hier gefangen?«
»Nein. Mit dem Maler werde ich ein Wörtchen sprechen. Er wird nicht auf Ihrer Bestrafung beharren.«
»Sie sind sehr gütig. Darf ich nun fragen, wo sich diese Wasserstraße befindet?«
»Sie werden lieber fahren als gehen. Wir besorgen Ihnen eine Droschke. Sie brauchen sie nicht zu bezahlen.«
Die Beiden verließen das Polizeigebäude mit sehr erleichtertem Herzen. Als sie mit einander im Wagen saßen, sagte der Alte nachdenklich: »Du, ich werde an der Hauptstadt ganz irre.«
»Wieso?«
»Ueberall ist die Polizei grob und Andere sind höflich. Hier aber ist das gerade Gegentheil: Die Leute sind grob, aber die Polizisten sind höflich. Dieser Mann war geradezu liebenswürdig. Der könnte mir gefallen.«
»Mir nun auch. Erst aber hatte ich Manchetten vor ihm. Eingesteckt zu werden, ist nicht sehr angenehm.«
»Na, wir hatten Pech. Hoffentlich wird es jetzt besser.«
Sie stiegen vor Nummer Zehn der Wasserstraße ab. In diesem Hause hatte der einstige Amtswachtmeister vorher ein höchst armseliges Logis gehabt. Jetzt aber wohnte er in der ersten Etage.
Als die beiden Ankömmlinge die Klingel zogen, öffnete ihnen Anna, die Tochter Landrocks. Sie hatte ein ganz anderes Aussehen als vor Weihnachten. Sie blühte wie eine Rose, und ihre damals kranken Augen waren vollständig gesund und hergestellt.
»Was wünschen Sie?« fragte sie freundlich.
»Wir wollen den Herrn Wachtmeister besuchen,« antwortete die Alte, jetzt freilich in einem nicht sehr außerordentlich zuversichtlichen Tone.
»Bitte kommen Sie herein!«
Sie wurden in ein helles, einfach, aber hübsch ausgestattetes Zimmer geführt. Dort saß der alte Wachtmeister am Fenster, die Zeitung lesend und dabei seine Pfeife rauchend. Der blödsinnige Sohn hockte mit einem Bilderbuche auf dem Sopha. Auch er hatte ein viel menschlicheres Aussehen gewonnen, als vor den wenigen Monaten.
»Lieber Vater,« sagte Anna, »diese guten Leute wollen Dich besuchen.«
Das klang ganz anders als beim Maler. Der Wachtmeister schob die Brille zurück, legte die Zeitung fort und betrachtete die Beiden. Er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren und sagte, freundlich nickend: »Sie kommen aus dem Gebirge?«
»Ja,« antwortete Frau Hendschel. »Sie werden uns wohl nicht kennen, Herr Wachtmeister.«
»Ich bin eine geborene Landrock.«
»Ach, sehen Sie an! Da sind wir wohl verwandt?«
»Ja, wenn Sie erlauben.«
»Na, meine Erlaubniß kann ich da gar nicht versagen. Legen Sie ab und setzen Sie sich!«
Die Tochter half den beiden Alten. Sie nahmen Platz, und nun wurde natürlich zunächst der Stammbaum besprochen. Der Wachtmeister hörte aufmerksam zu und sagte dann: »Ja, wir sind verwandt, wenn auch etwas weit entfernt. Aber es ist doch hübsch, daß Sie zu uns kommen. Wir leben hier so einsam, gerade wie Sie im Walde. Da freut es Einen, einmal eine Abwechslung zu haben. Herzlich willkommen also! Sie sind doch in keinem Gasthofe gewesen?«
»Noch nicht.«
»Recht so. Sie wohnen bei uns. Wollen Sie?«
»Na und ob!« rief die Alte. »Das ist doch etwas Anderes als bei diesem Maler Elias.«
»Bei welchem Elias?«
Sie erzählte ihr Abenteuer und dann auch ihre Unterhaltung auf der Polizei. Der Wachtmeister hörte mit großer Spannung zu und fragte dann: »Was Sie sagen! Sie sind jener Kohlenbrenner, welcher den Polizeiagenten nach Langenstadt geführt hat?«
»Dann freut es mich doppelt, daß wir verwandt sind und daß Sie mich besuchen. Sie werden mir dieses Abenteuer sehr ausführlich erzählen müssen. Vorher aber muß ich Sie doch fragen, ob Sie mir auch einmal die beiden Briefe lesen lassen wollen, die Sie auf der Polizei hingegeben haben.«
»Natürlich, gern, hier sind sie.«
Der Wachtmeister las die beiden Schreiben und sagte dann:
»Das ist also der Grund Ihrer Anwesenheit?«
»Kein anderer.«
»So will ich Ihnen nur rathen, den Fürsten baldigst aufzusuchen. Warum aber sind Sie denn zu dem Maler eher gegangen als zu mir?«
»Wir fanden Sie nicht im Adreßbuch.«
»Ach, Sie haben nach dem Worte Amtswachtmeister wohl vergeblich gesucht?«
»Ja.«
»Das darf Sie nicht wundern. Ich will Ihnen ehrlich sagen, daß ich nicht pensionirt bin. Ich bin abgesetzt worden und darf meinen früheren Titel nicht führen.«
»O weh! Wie ist das gekommen?«
»Es war Einer wegen Doppelmords zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilt. Ich hatte ihn zu transportiren, und er entkam mir. Deshalb wurde ich abgesetzt.«
»Ja, es ist mir lange, lange Jahre schlecht ergangen. Endlich aber erbarmte sich der Fürst des Elendes unser.«
»Den kennen Sie auch?«
»Sehr gut. Er zahlt mir sogar eine Pension. Wie ich dazu komme, weiß ich freilich nicht.«
»Er wird es wohl wissen.«
»Höchstwahrscheinlich nur aus Mitleid.«
»Haben Sie schon gehört, wer dieser Fürst des Elendes sein soll, Herr Vetter?«
»Das weiß jetzt alle Welt.«
»Der Fürst von Befour?«
»Ja, dieser ist es. Haben Sie ihn schon gesehen?«
»Er ist bei uns gewesen.«
»Zu uns kommt er auch. Er bringt mir die Pension persönlich. Das verdoppelt den Werth des Geschenkes. Jetzt aber nun rathe ich Ihnen, den Fürsten aufzusuchen. Das ist das Erste, was Sie thun müssen.«
»Wo ist denn diese Palaststraße?«
»Nehmen Sie doch lieber gleich eine Droschke!«
»O weh! Das kostet Geld.«
»Lassen Sie es sich getrost diese wenigen Kreuzer kosten. Ich bin überzeugt, daß er es Ihnen vergüten wird.«
»Na, da wollen wir es wagen. Komm, Alte!«
»Wie? Sie wollen Ihre Frau mitnehmen?«
»Die ist doch nicht mit bestellt.«
»O, die kennen Sie nicht! Ob bestellt oder nicht, das ist ihr sehr egal. Sie muß wissen, was ich bei diesen Herren soll.«
Und als die Kohlenbrennerin jetzt nach ihrem Handkoffer griff, meinte der Wachtmeister:
»Aber den Korb lassen Sie doch da.«
»Nein. Es sind Geschenke drin.«
»Für wen?«
»Für den Fürsten und den Oberlandesgerichtsrath.«
»Sie sind des Teufels!«
»Ja. Kostbare Geschenke!«
»Da machen Sie mich neugierig.«
»Jetzt dürfen wir nichts sagen; vielleicht später.«
Sie gingen und stiegen mit ihrem Handkorbe abermals in eine Droschke. Als sie beim Fürsten ausstiegen und durch das hohe Portal traten, stieß die Alte ihren Alten an und sagte staunend: »Du, aber das ist fein!«
»Piquefein!«
»Wisch Dir nur die Stiefeln richtig ab!«
»Und Du Dir die Schuhe!«
»Sitzt meine Haube richtig?«
»Ja, und mein Halstuch?«
»Alles in Ordnung! Aber, Du, mach nur gehörig einen sehr feinen Diener! So einen richtigen Kratzfuß, mit dem linken Bein hinten hinaus. Ich mache so einen Knix wie gerade in der Kirche, wenn der Pastor den Segen spricht. Der Fürst muß gleich sehen, daß wir Lebensart besitzen.«
»Hab nur keine Sorge! Meine Verbeugung wird gut. Knix Du nur tief genug. Besser drei Zoll zu tief als einen Zoll zu hoch. Solche Leute geben viel auf Höflichkeit.«
Sie wurden von einem der Diener nach dem Namen gefragt und dann nach dem Vorzimmer geführt. Dort hatte Köhler die Freude, Anton zu sehen.
»Willkommen!« sagte dieser, ihm freundlich die Hand gebend. »Recht, daß Sie so rasch kommen!«
»Wußten Sie denn, daß ich kommen soll?«
»Jawohl.«
»Was soll ich denn eigentlich?«
»Das werden Sie schon noch erfahren. Diese Dame ist Ihre Frau Gemahlin?«
»Ja.«
»Sie mag doch ablegen!«
»Das geht nicht. Sie muß den Korb mit hineinnehmen.«
»Ah, sie will auch zu Durchlaucht?«
»Na, die doch erst recht!«
»Aber ja mit dem Korbe nicht.«
»Gerade aber mit ihm!«
»Warum denn?«
»So, so! Wohl ein Geschenk?«
»Ein Douceur, über welches er sich freuen wird. Sagen Sie einmal, ist der Herr leutselig?«
»Sehr!«
»Ist er auch heute bei guter Laune?«
»Er ist nie übel gelaunt.«
»Hörst Du, Alte! Nimm Dir ein Beispiel dran! Nun aber sagen Sie mir noch: Nehme ich den Hut und den Regenschirm mit hinein in die Stube?«
»Bei Leibe nicht!«
»Aber ich muß doch Etwas in den Händen haben!«
»Warum denn?«
»Na, wozu sind denn die Hände da?«
»Zum Gesticuliren.«
»Ach so! Man muß damit um sich schlagen, um daß die Leute verstehen, was man spricht?«
»Ja, freilich.«
»Ist das fein?«
»Sehr. Eigentlich hätten Sie Handschuhe anziehen sollen.«
»Es ist doch nicht mehr kalt!«
»Wenn man so hohe Herren besucht, muß man welche anziehen.«
»Sapperlot! Das habe ich nicht gewußt! Ich habe ein Paar ganz gute, neue Pelzfäustlinge.«
»O weh! Die gehen nicht an!«
»Ganz feine, von Seide oder Glacéleder.«
»Das wirft es bei uns nicht ab. Geht es denn wirklich nicht ohne Handschuhe?«
»Na, dieses eine Mal wird er ein Auge zudrücken.«
»Ich stecke die Hände in die Hosentaschen. Meine Alte kann sie unter die Schürze thun.«
»Das ist auch nicht erlaubt.«
»Ach so! Wegen dem mit den Armen Umherwerfen. Wir werden ja sehen, wie es sich macht! Was war das? Das war eine Klingel. Haben Sie eine Ziege oder sonst so Etwas da drin?«
»Nein. Das war der Fürst. Er giebt mit der Glocke das Zeichen, daß er von jetzt an zu sprechen ist. Ich werde Sie anmelden. Warten Sie.«
Er machte die Thür auf und meldete:
»Herr Kohlenbrenner Hendschel nebst Frau Gemahlin!«
Sie gab ihm einen Rippenstoß.
»Frau Gemahlin!« raunte sie ihm zu. »Wie nobel!«
»Eintreten!« erklang es von innen.
»Rasch Alter! Du bist der Mann, Du mußt voran!«
Damit schob sie ihn vorwärts. Er machte eine tiefe Verbeugung, mit dem linken Beine hinten hinaus, wie sie es gewollt hatte, und traf sie in Folge dessen mit dem Stiefelabsatz an den Unterleib, denn sie hatte hinter ihm einen so tiefen Knix gemacht, daß sie fast auf den Teppich zum Sitzen kam.
Sie schob sich an seine Seite und wiederholte den Knix. Der Fürst konnte unmöglich ernsthaft bleiben; er zeigte vor Lachen fast sämmtliche Zähne und sagte: »Sie bringen Ihre Gemahlin mit? Recht so! Da bitte, setzen Sie sich nieder!«
Das war wirklich zu leutselig! Er wollte gehorchen und krümmte bereits die Kniekehlen, um sich mit einem sammetnen Sessel zu vereinigen. Da aber zog sie ihn an den langen Rockschößen zur Seite und sagte: »Das ist zu hübsch von Ihnen, Herr Fürst, viel zu gütig. Aber wir wissen ganz gut, was sich schickt. Setzen werden wir uns nicht.«
»Setzen Sie sich immerhin!« meinte er. »Sie kommen ja so weit her; da gilt es, auszuruhen.«
»Na, wir haben zwar alte Beine; aber so viel Kraft, wie nöthig ist, ein paar Minuten stehen zu bleiben, haben wir noch.«
»Na, wenn Sie durchaus stehen wollen, so thun Sie es; aber erlauben Sie wenigstens Ihrem Manne, sich zu setzen.«
»Dem? Erst recht nicht! Wenn ich als Dame stehe, braucht er sich nicht zu setzen. Das schöne Geschlecht hat den Vorzug. Das ist überall so und wird auch bei Ihnen so sein.«
Dabei beherzigte sie die Regel, die Arme hin und her zu werfen. Es sah aus, als ob Sie Jemand beohrfeigen wolle.
Jetzt nun dachte der Alte, daß er auch etwas sagen müsse. Er erhob die Arme und schlug sie wieder nieder, als ob er einen Feind zu Boden pressen wolle, und sagte: »Aber nun, da wir einmal da sind, so möchten wir fragen, warum Sie uns eigentlich haben zu sich kommen lassen, Herr Fürst.«
Der Gefragte lächelte lustig vor sich hin und antwortete:
»Nach den actuellen Aufzeichnungen sind Sie es gewesen, der meinen Agenten Anton nach Langenstadt geführt hat?«
»Ja.«
»Welcher Umstand hat Sie denn eigentlich auf die Idee gebracht, daß sich der Hauptmann dort befindet?«
Diese Frage brachte den Köhler in Verlegenheit. Wie leicht konnte er verrathen, daß der Hauptmann ein Asyl bei ihm gefunden gehabt habe. Um sich aus dieser Verlegenheit zu ziehen, wendete er sich an seine Frau mit der Aufforderung: »Sag’ Du es, Alte!«
Aber sie war keineswegs gewillt, eine solche Verantwortung auf sich zu laden; darum entgegnete sie: »Das fällt mir gar nicht ein!«
»Warum denn nicht?«
»Du bist der Mann und mußt sprechen.«
»Ach geh’! Ihr Weiber habt viel gelenkigere Sprachwerkzeuge!«
»Rede nicht so albern! Hier kommt es gar nicht auf die Werkzeuge an. Die Sache, um welche es sich hier handelt, ist die Sache des Mannes, nicht aber die Sache der Frau.«
»Du hast aber doch soeben erst gesagt, daß den Damen stets der Vorzug gebühre!«
»Im Niedersetzen, aber nicht im Antworten.«
»Ja,« meinte der Fürst, welcher Mühe hatte, ein lautes Lachen zu unterdrücken. »Ich bin ganz der Meinung Ihrer Frau Gemahlin. Ich habe den Mann kommen lassen; nur mit dem Manne wollte ich sprechen, und er hat also zu antworten.«
»Hm! Ich bin kein Freund von vielen Redensarten,« meinte der Köhler.
»Das ist mir sehr lieb. Desto kürzer, prompter und deutlicher werden Ihre Antworten werden.«
»Na, meinetwegen, so will ich mich darein ergeben.«
»Also, ich wiederhole: Was hat Sie auf jene Idee gebracht?«
»Das, was der Kranke sagte.«
»Ah, er hatte gesprochen?«
»Ja, aber im Fieber oder so ähnlich.«
»Was sagte er denn?«
»Er redete davon, daß er vom Felsen geworfen worden sei, daß er nach Langenstadt wolle, zum Holzschnitzer Weber, und daß er aus Amerika komme.«
»Das war freilich wichtig.«
»Den Weber kannte ich, denn er ist mein Gevatter. Auch wußte ich, daß er Verwandte in Amerika hat.«
»So haben Sie also gleich gedacht, daß der Verwundete einer dieser Verwandten ist?«
»Ja.«
»Das war aber doch kühn. Sie mußten ihn doch nach Allem für den Hauptmann halten.«
»Eigentlich, ja.«
»Uneigentlich aber nicht. Sie hatten wohl noch andere Gründe?«
»Hm! Ja.«
»Welche?«
»Es wurde erzählt, daß ein Lieutenant im Walde einen Menschen gefunden habe, einen Amerikaner, der ihn erst auf den Verunglückten aufmerksam gemacht habe.«
»So, so! Weiter!«
»Ich dachte, daß dieser Mensch der Hauptmann gewesen sei und den Amerikaner vom Felsen geworfen habe, um sich seiner Kleider und seines Geldes zu bemächtigen.«
»Das war ein Zeichen eines ganz und gar ungewöhnlichen Scharfsinnes, den ich Ihnen, offen gestanden, fast gar nicht zutrauen kann. Sie müssen unbedingt noch andere Gründe gehabt haben.«
»O nein. Uebrigens hatte der Fremde, der sich für einen Amerikaner ausgab, dem Hauptmanne sehr ähnlich gesehen.«
»Wer sagt das?«
»Der Militärarzt und der Obergensd’arm redeten davon.«
»Sie aber haben den Hauptmann auch gekannt!«
»Ich? Oh, oh, Herr Durchlaucht!«
»Nicht?«
»Nein.«
Der Blick des Fürsten war mit durchdringender Schärfe auf den Alten gerichtet. Daß dieser verlegen wurde, sah der Fürst; er war also überzeugt, das Richtige vermuthet zu haben, und sagte darum in ernstem Tone: »Ich habe Sie für einen aufrichtigen Mann gehalten.«
»Das bin ich auch.«
»Wirklich?«
»Ja. Nicht wahr, Alte!«
»Ja, Durchlaucht,« antwortete sie.
»Und dennoch verschweigen Sie mir die Wahrheit!«
»O nein!«
»O doch! Sie verkennen mich. Ich bin weder Polizist noch Richter. Ich spreche nicht in amtlicher Eigenschaft mit Ihnen. Ich meine es im Gegentheile sehr gut mit Ihnen und möchte Sie gern vor Schaden bewahren. Das können Sie mir glauben.«
»Hm! Ich wüßte nicht, was ich Ihnen sagen sollte.«
»Sie wissen es! Ich will Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie zum Herrn Oberlandesgerichtsrath müssen. Er wird Sie nach Verschiedenem fragen, vielleicht auch nach Sachen, über welche Sie nicht gern Auskunft ertheilen. Wenn ich um diese Sache wüßte, könnte ich den Herrn abhalten, davon zu sprechen. Das ist es, was ich beabsichtige. Sie sehen also, daß ich es sehr gut mit Ihnen meine. Befolgen Sie meinen Rath, und seien Sie aufrichtig zu mir. Sie werden dadurch vor Schaden bewahrt.«
Diese Rede machte einen sichtlichen Eindruck auf die Beiden. Der alte Köhler besann sich einige Augenblicke und fragte dann: »Sie halten uns wohl für böse Menschen?«
»O nein.«
»Ich dachte!«
»Wenn dies der Fall wäre, würde ich ganz anders mit Ihnen sprechen; das können Sie sich doch denken!«
»Aber Sie meinen, daß wir dennoch etwas Böses gethan haben?«
»Böses nicht; aber eine Unvorsichtigkeit haben Sie begangen.«
»Welche denn?«
»Wollen Sie denn nicht aufrichtig davon sprechen?«
»Wüßte ich nur, was Sie meinen! Hm! Was denkst Du, Alte?«
»Ich denke gar nichts,« antwortete sie vorsichtig.
»Das ist auch ein Wunder. Du denkst doch sonst immer mehr, als Du sollst.«
»Halte das Maul! Was soll denn Herr Durchlaucht von mir denken, wenn Du solche Dummheiten redest!«
»Na,« meinte der Fürst, »ich sehe ein, daß es Ihnen schwer fällt, selbst anzufangen. Ich will es Ihnen also sagen: Sie haben den Hauptmann bei sich gehabt!«
»Herrgott!« rief der Köhler.
»Wer sagt das? Wer sagt das?« fragte seine Frau.
»Ich sage es!«
»Das ist ja gar nicht wahr!«
»Jetzt lügen Sie! Und mit Lügnern habe ich nicht gern zu thun. In der Bibel steht: Die Lüge ist ein häßlicher Schandfleck an dem Menschen, und sie ist gemein bei ungezogenen Leuten. Wollen Sie Ihre ehrwürdigen Häupter mit Lügen beflecken?«
Der Alte fuhr sich mit der Hand nach dem Auge, machte eine verzweifelte, ungeheure Bewegung mit beiden Armen, so daß es aussah, als ob er die Flügel einer Windmühle fangen wolle, und antwortete in höchster Verlegenheit: »Das ist eine verteufelte Geschichte!«
»Eine böse Geschichte!« nickte auch sie.
»Und wir sind doch ehrliche Leute!«
»Das weiß ich eben,« antwortete der Fürst. »Es ist jetzt noch Zeit, sich zu retten. Dazu aber gehört ein offenes Geständniß. Unwahrheit schadet Ihnen nur.«
»Aber wie kommen Sie denn auf den Gedanken, daß der Hauptmann bei uns gewesen ist?«
»Dadurch, daß ich meine Schlüsse ziehe.«
»Schlüsse?«
»Ja. Haben Sie von dem Pascherkönig gehört?«
»Ja.«
»Hat es da nur Einen gegeben?«
»Nein, es soll mehrere gegeben haben.«
»Kennen Sie vielleicht Einen?«
»Den Schmied Wolf aus Tannenstein.«
»Weiter keinen?«
»Nein.«
»Sehen Sie, daß Sie mir jetzt wieder die Wahrheit verheimlichen! In Obersberg giebt es auch Einen. Kennen Sie ihn?«
»Sapperment! Alte, mich fängt bald an, zu schwitzen! Herr Fürst, meinen Sie etwa den Wagner Hendschel?«
»So, so! Nun ja, der soll auch zuweilen gepascht haben.«
»Er hat nicht nur gepascht, sondern er ist sogar Waldkönig gewesen. Ich weiß das sehr genau. Ich hätte ihn verderben können, ich allein, denn ich bin der Einzige, der die Beweise gegen ihn in den Händen hat.«
»Herjesses, er ist mein Vetter, Durchlaucht!«
»Gut! Ich werde sehen, ob ich schweigen darf. Daß der Hauptmann kürzlich bei dem Herrn von Scharfenberg gewesen ist, das haben Sie wohl erfahren?«
»Ja.«
»Er hat die Kleidung gewechselt, und so ist es ihm gelungen, zu entkommen. Für die öffentliche Polizei war seine Spur verschwunden; ich aber habe sie verfolgt bis Obersberg.«
»Doch nicht!«
»Doch! Bis zu dem Wagnermeister Hendschel, Ihrem Vetter.«
»Wer hätte das gedacht!«
»Ich behielt das für mich, denn ich dachte, daß es besser sei, zu thun, als ob gar keine Ahnung vorhanden sei. Ihr Vetter aber war verschwunden, und mit ihm der Hauptmann. Jetzt nun habe ich gehört, daß dieser Vetter bei Ihnen gewesen ist.«
»Vom Obergensd’arm, der mit ihm gesprochen hat. Wollen Sie das etwa leugnen?«
»Nein.«
»Gut! Mit diesem Vetter aber ist auch der Hauptmann bei Ihnen gewesen. Das weiß ich ganz genau.«
»Woher denn?«
»Sie gestehen es nicht ein?«
»Na, ich möchte doch gar zu gerne erfahren, woher Sie es so genau wissen können.«
»Das will ich Ihnen sagen. Wo schlafen Sie?«
»Oben in der Kammer.«
»Mit Ihrer Frau?«
»Ja.«
»Wo schlief der Vetter?«
»In der anderen Kammer am Giebel.«
»Und wer schlief noch da?«
»Hat noch Jemand da geschlafen?«
»Ja. Es waren zwei Lager da, und alle Beide waren erst kürzlich gebraucht.«
»Sapperment! Woher wissen Sie das?«
»Ich war bei Ihnen, als Sie mit meinem Anton in Langenstadt waren, und habe mir Alles genau angesehen, ohne daß Ihre Frau etwas bemerkt hat.«
»Aber das ist pfiffig!«
»Nicht so sehr wie Sie denken! Nun aber heraus mit der Sprache! Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich es sehr gut mit Ihnen meine und daß ich Ihnen nicht schaden, sondern nützen will. War der Hauptmann bei Ihnen?«
»Hm, Alte, was sagst Du dazu?«
»Na, sage die Wahrheit! Der Herr Durchlaucht hat so ein gutes, ehrliches Gesicht, daß wir wohl gar keine Angst vor ihm zu haben brauchen. Wir haben ja gar nicht gewußt, wer der ist, dem wir Unterkunft gegeben haben.«
»Na denn gut: der Hauptmann war bei uns.«
»Er kam mit Ihrem Vetter?«
»Ja.«
»In dem schwarzen Anzuge, welchen dann der Verwundete anhatte?«
»Ja.«
»Für wen gab er sich aus?«
»Er nannte sich Hirsch. Weiter fragte ich nicht, da er ja mit dem Vetter gekommen war.«
»Ich verstehe. Sie hielten ihn für einen Pascher?«
»Hm, ja.«
»Sehr unvorsichtig von Ihnen!«
»Das sehe ich jetzt auch ein. Heute würde ich es nicht wieder thun.«
»Wie kam es, daß er Ihr Haus verließ?«
»Ich hatte ihm durch den Vetter sagen lassen, daß er gehen solle, da ich ihn nicht länger behalten könne.«
»So hatten Sie wohl eine Ahnung bekommen, wer er sei?«
»Ja.«
»Woher?«
»Ich wußte wohl von dem Pascherkönig, gar nichts aber von dem Hauptmanne oder dem Baron von Helfenstein. Da war ich in Obersberg zum Jahrmarkt und hörte dort erzählen, daß Schloß Hirschenau ihm gehöre. Der bei mir war, nannte sich Hirsch. Das machte ihn mir verdächtig. Ich fragte weiter und ließ ihn mir beschreiben. Dadurch kam ich zu der Ahnung, daß der Hauptmann bei mir sei.«
»Und so jagten Sie ihn fort?«
»Ja.«
»Warum riefen Sie nicht die Polizei?«
»Herr, er war mein Gast!«
»Schön! Aber hörten Sie nicht, welche Preise auf ihn gesetzt waren?«
»Ja, fünfzehntausend oder zehntausend Gulden.«
»Die hätten Sie sich doch verdienen können.«
»Ich mochte nicht, denn ich sage, er war mein Gast.«
»Diese Gesinnung ist brav. Sie haben Ihren Fehler übrigens wieder gutgemacht, indem Sie nach Langenstadt gegangen sind. Ich begreife, daß Sie mir diese Geständnisse nicht gern gemacht haben, aber es wird zu Ihrem Nutzen sein.«
»Gewiß. Ich nehme an, daß Herr von Eichendörffer Sie nach Verschiedenem fragen wird. Sind seine Fragen für Sie verfänglich, so werde ich schnell einfallen und die Antwort an Ihrer Stelle geben, so daß Sie nicht in Verlegenheit kommen können. Das könnte ich aber nicht thun, wenn Sie nicht in dieser Weise aufrichtig mit mir gewesen wären.«
»Ja, das sehe ich ein, und darum bin ich Ihnen auch zum allergrößten Dank verpflichtet.«
Da erhob die Alte ihren Korb, so hoch sie konnte, und sagte:
»Du, Alter, den Dank wollen wir gleich abstatten.«
»Ja, Frau: es ist gerade die rechte Zeit dazu.«
»Wir haben nämlich etwas mitgebracht, Durchlaucht.«
»Für mich?« fragte er.
»Ja, für Sie.«
»Etwas Gutes!« bemerkte der Alte, indem er mit der Hand eine Bewegung machte und den Mund so aufsperrte, als ob er ein Rinderviertel verschlingen wolle.
»Ja, etwas Feines!« fügte sie unter einem sehr bedeutungsvollen Nicken hinzu.
»Wohl hier in dem Korbe?«
»Ja, freilich.«
»Wahrscheinlich etwas zu essen?«
»Eine Delicatesse, eine große Delicatesse!«
»Sie machen mich sehr neugierig!«
»Es ist eben gerade für Sie! Etwas, was Sie zu gern essen!«
»So! Kennen Sie denn meinen Geschmack?«
»Na, den werden wir doch kennen!«
»Woher denn?«
»O, den kennt ja das ganze Land!«
»Davon weiß ich noch nichts. Sollte sich wirklich das ganze Land unterrichtet haben, welche Lieblingsspeisen ich besitze?«
»Wenigstens von dieser einen wissen’s Alle.«
»Na, da zeigen Sie einmal.«
Er war wirklich sehr wißbegierig, was sie ihm als eine so große Delicatesse mitgebracht hatten. Sie öffnete den Korb und zog das schwarzblaue Haferbrod hervor.
»Ah, ein echtes Gebirgsbrod!« meinte er.
»Ja, das ist echt!« nickte sie.
»Das soll für mich sein?«
»Nein. Das bekommt vielleicht der Wachtmeister.«
»Welcher Wachtmeister?«
»Landrock.«
»In der Wasserstraße?«
»Ja.«
»Kennen Sie den?«
»So logiren Sie wohl bei ihm?«
»Ja.«
»Das ist mir lieb. Ich verkehre auch zuweilen bei ihm.«
»Erst wollten wir beim Tanzmeister Elias bleiben, der aber hat uns hinaus geschmissen und arretiren lassen.«
»Meinen Sie den Balletmeister?«
»Ja, Balletmeister und Kunstmaler.«
»Sind Sie auch mit ihm verwandt?«
»Sehr nahe sogar, von unserem alten Viehdoctor aus.«
»Na, grämen Sie sich nicht. Er wird seine Strafe erhalten. Wie aber kam es, daß er Sie gar arretiren ließ?«
»Na, er wurde grob und seine Lieblingsaurora noch gröber; da nahm ich mir denn auch kein Blatt vor den Mund und habe ihm meine Ansicht nach Noten vorgegeigt. Da holten sie Polizei. Wir wurden arretirt und fortgeschafft.«
»Und weiter?«
»Da gab mein Alter Ihren Brief zu lesen hin; das half; denn man ließ uns nicht nur frei, sondern man bezahlte sogar die Droschke, die uns zum Wachtmeister bringen mußte. Es ist immer gut, wenn man von einem Fürsten Briefe erhält.«
»Ja, ja,« lachte er. »In diesem Falle hat es Ihnen Nutzen gebracht. Aber was ist denn das?«
Sie hatte nämlich während ihrer Rede ein weiß eingeschlagenes Packet aus dem Korbe gezogen.
»Das?« sagte sie. »Das ist er!«
»Wer?«
»Den Sie kriegen sollen.«
»Ach so! Was ist es denn?«
»Rathen Sie einmal!«
»Ja, wer kann da rathen!«
»Ihr Lieblingsessen.«
»Weiß ich immer noch nichts.«
»Da riechen Sie einmal!«
Sie hielt ihm das Packet entgegen.
»Ah, Käse!«
»Und was für welcher! Ich habe ihn in mein Schnupftuch gewickelt; aber Sie brauchen sich nicht zu grauen; ich habe mich nur zweimal hinein geschnaubt, nämlich bei der Hochzeit damals. Seit dieser Zeit ist es stets neuwaschen und ungebraucht gewesen.«
Er lachte laut und herzlich auf und sagte:
»Ja, ja, es ist neuwaschen; das sehe ich.«
»Freilich! Ich bin mein Lebtag an Reinlichkeit gewöhnt gewesen. Nun aber wollen wir einmal aufmachen!«
Sie wickelte den Käse aus dem Taschentuche heraus, hielt ihm den Ersteren triumphirend entgegen und fragte: »Nun, was sagen Sie dazu?«
Er fuhr erschrocken zurück. Sie hielt das für ein Zeichen des Erstaunens und fuhr fort:
»Nicht wahr? Ein Reibekäse so riesengroß! Das hätten Sie wohl nicht gedacht?«
»Allerdings nicht,« antwortete er, sehr der Wahrheit gemäß.
»Wenigstens fünf Jahre alt!«
»So sehr alt?« fragte er kleinlaut.
»Ja, Sie sehen ja, daß er durchsichtig ist wie Horn.«
»Er wird sehr hart sein!«
»Steinhart! Aber das schadet nichts. Sie scheinen ja sehr gute Zähne zu haben. Oder sind die hinteren vielleicht hohl?«
»Nein.«
»Na, da können Sie ihn beißen. Nämlich gerieben schmeckt er so nicht; da kann man ihn nur zum Eierkuchen gebrauchen. Haben Sie einen guten Magen?«
»Ja.«
»Na, der gehört dazu, denn solcher Capitalkäse liegt Einem wie Blei im Magen. Unter vier bis fünf Tagen kann man ihn gar nicht verdauen. Aber das ist eben das Gute. Das hilft außerordentlich wirthschaften, denn wer ein halbes Viertelpfund solchen Käse im Magen hat, der braucht eine halbe Woche lang keinen Bissen zu essen.«
»Das ist sehr gut,« lachte er.
»Ja. Aber viel trinken muß man, denn der Käse muß natürlich im Magen aufgeweicht werden, ehe er verdaut werden kann. Es war mein allereinziger, aber ich habe ihn für Sie bestimmt, weil Sie ihn so sehr gern essen.«
»Aber wer sagt denn das?«
»Gehen Sie! Thun Sie doch nicht so!«
»Ich möchte es wirklich gern wissen.«
»Na, ich sagte es ja schon. Das ganze Land weiß es, daß Sie nichts lieber essen, als solchen harten, steinigen Stänker.«
»Hm! Ich habe es aber keinem Menschen gesagt.«
»Da fragen Sie doch einmal Ihre Dienerschaft! Solche Leute können das Maul nun einmal nicht halten; sie verrathen Alles, und nachher wundert man sich, wie es so unter die Leute hat kommen können.«
»Müßte es das sein!«
»Ganz sicher ist es so! Es sind ein paar Ecken weg. Ich hatte ihn zwar hoch gelegt, auf den Balken unter das Dach, aber die Mäuse sind mir doch hinaufgeklettert. Oder sind es die Ratten gewesen. Diese Viecher klettern ja wie die Eichhörnchen. Aber Sie brauchen sich nichts daraus zu machen. Ich habe die Stellen mit dem Messer abgeputzt und dann auch noch mit der Schuhbürste abgebürstet. Er ist ganz appetitlich.«
»So sehr viel Mühe haben Sie sich meinetwegen gegeben!«
»Na, was will man denn machen? Wenn man einmal etwas verschenkt, muß es auch gut und ordentlich sein.«
»Das werde ich Ihnen hoch anrechnen.«
»Schon gut. Ist sehr gern geschehen. Da nehmen Sie ihn, daß ich ihn endlich los werde. Er ist schwer.«
Und als er ihn bereits in der Hand hatte, bemerkte er:
»Aber sagen werden Sie mir doch noch, von wem Sie es erfahren haben, daß ich so erpicht auf solchen Käse bin.«
»Jetzt gleich noch nicht.«
»Wann denn?«
»Wenn wir mit dem Herrn Oberlandesgerichtsrath fertig sind, dann nachher vielleicht.«
»Warum erst dann?«
»Das kann ich jetzt nicht verrathen.«
»Ah! Sie bringen ihm auch etwas mit?«
»Ja.«
»Was denn?«
»Das ist noch Geheimniß.«
»So, so! Vielleicht auch ein Lieblingsgericht?«
»Ja, so viel kann ich schon sagen.«
»Auch so hart?«
»Und ebenso alt?«
»Noch viel, viel älter! Ueber zwanzig Jahre.«
Er schmunzelte am ganzen Gesicht, als er meinte:
»Da machen Sie sich nur auf recht großen Dank gefaßt, denn ich sage Ihnen im Vertrauen, daß Herr von Eichendörffer ein tüchtiges Leckermäulchen ist.«
»Leckermaul? Ah!«
»Ja.«
»Das wundert mich.«
»Warum?«
»Bei seiner Krankheit.«
»Welche Krankheit hat er denn?«
»Ach so! Das wissen Sie ja noch gar nicht! Der arme Teufel ist zu bedauern. Etwas Ordentliches kann er freilich wohl nicht genießen und so wird er sich an Leckereien halten müssen.«
»Ich verstehe Sie nicht recht.«
»Ist auch nicht nöthig. Sie werden es seinerzeit vielleicht auch einmal erfahren.«
»Ich hoffe es. Aber, bitte, seien Sie vorsichtig und verrathen Sie es nicht, daß ich es bin, der ihn ein Leckermäulchen genannt hat. Es wäre mir das nicht angenehm.«
»Ist er so übelnehmisch?«
»Das nicht; aber es ist doch immer besser, man schweigt.«
»Natürlich! Haben Sie denn einen passenden Ort, an welchem Sie den Käse aufheben können?«
»Ja. Werde es gleich besorgen.«
Er öffnete ein Tresor und nahm eine goldene Fruchtschale heraus, in welche er den Käse legte. Dann sagte er: »Wir werden jetzt zu dem Herrn Oberlandesgerichtsrath fahren. Warten Sie draußen im Vorzimmer, bis angespannt ist. Es dauert nur wenige Minuten.«
Sie machten einen tiefen, tiefen Knix und er schwenkte das linke Bein mit solcher Kraft hinten hinaus, daß er beinahe zu Boden gefallen wäre; dann traten sie ab.
Draußen sagte sie zu ihm:
»Du, wie gefällt er Dir?«
»Ausgezeichnet!«
»Mir auch. Aber, haben wir Ehre eingelegt!«
»Mit dem Käse?«
»Ja. Hast Du es gesehen, wie er ihn in die goldene Schüssel legte? Golden, golden!«
»Ja, ja!«
»Daraus sieht man, daß wir seinen Geschmack getroffen haben. Er hätte ihn doch auch nur in einen braunen, töpfernen Teller legen können. Mit solchen Leuten läßt es sich eben viel besser reden, als mit gewöhnlichem Packs!«
»Das ist freilich wahr. Wie er das von dem Hauptmann herausgelockt hat!«
»Es wird uns doch nichts schaden!«
»Was fällt Dir ein! Wenn wir ihm einen solchen Käse mitbringen, wird er doch nicht schlecht gegen uns sein!«
Jetzt trat Anton ein.
»Nun, wie ist’s gegangen?« fragte er.
»Danke schön! Sehr gut!«
»So sind Sie zufrieden?«
»Ja. Aber wir haben uns auch nobel gemacht.«
»Wieso?«
»Mit unserem Geschenk.«
»Bin neugierig, was es ist.«
»D’rin auf dem Tisch steht es, in einer goldenen Schüssel.«
»Da werde ich doch lieber gleich einmal nachsehen.«
Er ging hinein, und die Alte flüsterte stolz:
»Ja, den brächte auch die Neugierde um, wenn er es nicht gleich erfahren könnte. Horch!«
»Was?«
»Hat da drin nicht Jemand laut gelacht?«
»Ich habe nichts gehört.«
»Es war mir ganz so.«
Anton kam zurück. In seinem Gesichte zuckte es wie allerhand Zurückgehaltenes; aber er sagte ernst: »Der ist freilich delicat!«
»Na und wie! Werden Sie auch ein Stückchen davon bekommen?«
»Ich hoffe es.«
»Lassen Sie es ihm so von der Seite her oder von hinten herum merken, daß Sie Appetit haben!«
»Ja, das werde ich thun. Den kann man ja in eine Kanone laden! Nicht?«
»Ja, und durch neun Häuser schießen. Ich habe ihn extra für den Fürsten mitgebracht. Er mag nur sparsam damit umgehen, geben Sie es ihm zu verstehen, denn diese Sorte giebt es nur alle Jubeljahre einmal.«
»Wo sind Sie denn abgestiegen?«
»Abgestiegen?«
»Nun ja?«
»Von wo denn herunter?«
»Ach so, Sie verstehen mich nicht. Ich meine, in welchem Gasthofe Sie eingekehrt sind.«
»In gar keinem.«
»So wollen Sie heute wieder zurück?«
»Nein. Wir bleiben hier, aber nicht im Gasthofe, sondern beim Vetter Landrock auf der Wasserstraße.«
»Landrock auf der Wasserstraße. Meinen Sie etwa den früheren Amtswachtmeister?«
»Ja.«
»Und den nennen Sie Vetter?«
»Natürlich. Vom alten, seligen Landrock her. Ich bin nämlich eine geborene Landrock.«
»Das ist schön, das freut mich. Da sehen wir uns wieder.«
»Heute etwa?«
»Ja. Ich besuche nämlich zuweilen den Herrn Wachtmeister.«
»Das ist recht. Kommen Sie heute Abend ein bischen hin.«
»Gut, ich komme. Aber horch, es klingelt. Durchlaucht sind bereits auf der Treppe. Kommen Sie!«
Der Fürst erwartete sie. Drunten stand eine prächtige Equipage mit zwei Vollblutpferden.
Sie stieß ihn in die Rippen und flüsterte:
»Setzen wir uns vorn oder hinten hin?«
»Wie denn?«
»Na, auf den Bock oder ganz hinten drauf?«
»Der Anton wird uns schon hinstecken, wo wir hingehören.«
Der Diener stand hinten, vorn saß der Kutscher. Anton öffnete den Schlag und der Fürst stieg ein. Der Letztere winkte nach dem gegenüber liegenden Sitze und die beiden Alten nahmen da Platz.
Es fiel den dienstbaren Geistern gewiß sehr schwer, das Lachen zu verbeißen, aber es lief doch Alles glücklich ernsthaft ab, bis auf den Augenblick, an welchem die Pferde rasch anzogen. Da verlor nämlich der hohe Cylinderhut des Köhlers das Gleichgewicht. Der Alte griff schnell zu, um ihn fest zu halten, warf ihn aber erst recht zum Wagen hinaus.
Es wurde gehalten, und der Diener brachte den Hut.
»Er ist das Fahren nicht gewöhnt,« entschuldigte sich der Köhler. »Er ist noch gar nicht in der Hauptstadt gewesen, er ist mir überhaupt ein Bischen enge geworden.«
»Drücke ihn fest!«
Bei diesen Worten erhob sich seine Alte vom Sitze und pochte ihm dreimal so kräftig auf die Feueresse, daß diese ihm bis auf die Ohren herunterfuhr.
»Donnerwetter!« meinte er.
»Na, was denn?«
»Der zerquetscht mir ja den Schädel!«
»Aber nun sitzt er auch fest!«
»Ich bringe ihn gar nicht wieder herunter.«
»Dazu haben wir ja den Diener und den Kutscher. Wenn die sich richtig einstemmen, bringen sie ihn schon los. Nicht wahr, Herr Durchlaucht?«
Der Fürst stimmte lachend bei. Er hatte seinen Spaß über die Gesichter der Leute, welche das seltene Paar in seiner wohlbekannten Equipage sitzen sahen. Er konnte sich sagen, daß er noch nie ein solches Aufsehen erregt habe wie heute. Die Alten spielten gar zu curiose Figuren.
Die Equipage hielt vor einem prächtigen Hause an.
»Verschütten Sie nichts!« sagte die Alte zu dem Diener, als sie ihm zunächst den Korb aus dem Wagen gab.
Sie gelangten glücklich zur Erde und in den Flur hinein. Während sie die Treppe empor stiegen, gelang es der Anstrengung des Alten, seinen Kopf von der Umschlingung des Cylinders zu befreien.
»Aber hier ist doch kein Amtsgebäude,« meinte er.
»Warum erwarten Sie ein solches?«
»Weil ein Oberlandesgerichtsrath doch im Gerichtsgebäude gesprochen werden muß.«
»Mit mir macht dieser Herr eine Ausnahme. Ich darf ihn in seiner Privatwohnung besuchen.«
»Und wir dürfen mit?«
»Hoffentlich wird er uns nicht bös darüber sein. Es ist jetzt die Stunde, in welcher er zu diniren pflegt.«
»Diniren?«
»Ach so! Das heißt zu Mittag essen.«
»Um Fünf?«
»Vornehme Herren machen es so.«
»Du lieber Gott, müssen die Hunger haben. Seit dem frühen Morgen nichts in den Leib bis Nachmittags um Fünfe! Da haben wir es doch anders.«
Der Fürst konnte nicht antworten, denn sie hatten das Vorzimmer erreicht. Dort hingen mehrere Hüte, Ueberröcke und Damengarderobestücke. Ein gallonirter Bedienter stand dabei und verbeugte sich tief vor dem Fürsten.
»Herr von Eichendörffer?« fragte dieser.
»Bei Tafel. Das Diner hat soeben erst begonnen.«
Der Fürst gab Hut und Ueberrock ab und winkte den beiden Alten, ihm zu folgen. Der Diener wollte ihr den Handkorb abnehmen, sie aber sagte rasch: »Halt! Der bleibt meine!«
Er griff nach Hut und Regenschirm ihres Mannes; dieser aber meinte kopfschüttelnd:
»Nicht nöthig, lieber Mann!«
Der Fürst sah und hörte es, ließ es aber ruhig geschehen. Er freute sich des Eindruckes, den seine Begleiter hervorbringen würden. Als er mit den Beiden eintrat, erhoben sich die Herrschaften von den Stühlen.
»Durchlaucht!« meinte der Rath. »Eine freudige Ueberraschung. Herzlich willkommen!«
Der Fürst begrüßte zunächst die Räthin, dann ihn und sodann die anderen Anwesenden. Unter diesen Letzteren befand sich auch der Oberst von Hellenbach mit Frau und Tochter. Auch Assessor von Schubert war anwesend. Er hatte sich auf die Initiative des Fürsten hin in letzter Zeit so ausgezeichnet, daß er jetzt in so hohen Beamtenkreisen heimisch geworden war.
»Ich störe,« meinte der Fürst, »bin aber doch gekommen, weil ich weiß, daß Sie mit meinen Schützlingen zu sprechen wünschen, Herr Oberlandesgerichtsrath.«
»Darf ich um die Namen bitten, Durchlaucht?«
»Kohlenbrenner Hendschel mit Frau Gemahlin.«
»Ah, das ist auch eine Ueberraschung. Liebe Frau!«
Eine kurze Handbewegung sagte der Dame, was er wolle. Sie winkte dem Diener und im Nu waren noch drei Stühle an die Tafel gerückt. Der Fürst nahm sofort ungenirt Platz; der Rath ging auf die beiden Alten zu und sagte: »Sie haben doch die Güte, mit zu diniren?«
»Das ist das, was Mittagessen heißt?« fragte sie.
»Ja.«
»Danke schön! Es ist so gut, als wär’s geschehen!«
»O nein! Sie müssen sich mit heransetzen.«
»Aber ich habe wirklich noch keinen Appetit. Du Alter!«
»Hm! Wie Du denkst!«
Er schnüffelte mit der Nase. Er mochte doch Appetit haben.
»Setzen Sie sich nur,« meinte der Rath.
Und der Diener faßte die Alte resolut am Arme und zog sie an den Tisch.
»Halt!« sagte sie. »Ich muß doch erst den Korb wohin stellen!«
»Bitte, geben Sie. Ich placire ihn in’s Vorzimmer.«
»Nein! Da könnte man mir hineingucken. Setzen Sie ihn lieber dorthin auf das Canapee. Wenn’s auch von Seide ist, es wird doch nicht dreckig, denn ich habe erst vorgestern den Korb abgewaschen. Thun Sie auch meinem Manne seinen Hut und Regenschirm mit hin. Besser ist besser. Aber nehmen Sie sich mit dem Schirm ein bischen in acht. Der Griff ist nicht ganz mehr so feste!«
Der Diener gehorchte, innerlich fast platzend. Sie aber nahm gravitätisch auf dem Stuhle Platz und wendete sich an die Räthin mit den freundlichen Worten: »Aber, Madame, nöthig war’s gerade nicht. Wir hätten auch warten können. Wir haben Zeit.«
Der Diener servirte ihr die Platte. Sie stach sich etwas herunter und meinte dann zu ihrem Manne, der ihr gegenüber saß und zu dem der Diener jetzt ging: »Du brauchst Dir das größte Stück nicht zu nehmen. Und laß fein ein bischen übrig. Das ist nobel!«
Ein augenblickliches Rücken der Stühle war der Beweis, daß sich die Anwesenden höchlichst belustigt fühlten, und Aller Augen richteten sich mit dankbarem Blicke nach dem Fürsten, der ihnen diesen seltenen Genuß bereitete.
Frau Hendschel zerschnitt das Stück, kostete und kostete, schüttelte den Kopf und meinte dann zu Fanny von Hellenbach, welche ihr zur rechten Hand saß: »Hm! Daraus werde ich nicht klug. Sie etwa?«
»Es ist Straßburger Gänseleberpastete.«
»Straßburger?«
»Ja.«
»Haben denn dort die Gänse Pasteten in den Lebern?«
Ein allgemeines Hüsteln; dann antwortete Fanny:
»So ist es nicht gemeint. Was Sie hier haben, das ist die Pastete. Sie ist in Straßburg aus Gänseleber zubereitet worden.«
»Ach so! Danke schön! Sie schmeckt pikant. Nicht?«
»Gewiß.«
»Ein bischen zu pikant, so, was man bei uns droben im Gebirge müffig nennt. Nicht?«
»Hm, ja.«
»Die Leber muß ziemlich anrüchig gewesen sein. Aber das Gewürz verdeckt es wieder. Man glaubt gar nicht, was ein Lorbeerblatt thut. Wenn das Fleisch stinkigt geworden ist, dann nur ein paar Lorbeerblätter mehr in die Brühe. Man schmeckt und riecht es viel weniger.«
»Na,« meinte der Alte, »so viel Fleisch, wie Du in den Topf kriegst, da wird es nicht müffig.«
»Geh, Alter! Thu nur nicht gar so arm! Wir haben zu Weihnachten ein halbes Pfund Schweinefleisch gehabt und jetzt am ersten Osterfeiertage gar dreiviertel Pfund Kälbernes. Die Leute müssen doch denken, daß bei uns die Armethei zu Hause ist!«
Der Diener goß ihr ein Glas Wein ein, und der Fürst hielt ihr das seinige hin.
»Prosit, Mama Hendschel!«
»Gott segne es, Herr Durchlaucht!«
Sie nippte.
»Na, das kenne ich auch nicht,« meinte sie. »Wachholder ist es nicht, Kümmel auch nicht, Anis vollends gar nicht.«
»Alte, wo denkst Du denn hin!« rief er über den Tisch herüber. »Das ist doch Wein!«
»Wein!« meinte sie fast erschrocken. »Ist’s wahr?«
»Natürlich!«
»Na, Herr Oberlandesgerichtsrath, Sie leben aber nicht ganz schlecht! Sogar Wochentags Wein! Bei unserem Herrn Oberförster kommt er nur zu den großen Festtagen auf den Tisch. Ich aber habe noch nie welchen getrunken, außer wenn ich communiciren gehe.«
»So lassen Sie ihn sich heute wohl bekommen!«
Sie nickte ihm dankbar zu, nippte noch einmal und fragte:
»Ist er etwa bösartig?«
»O nein, gar nicht.«
»Schön! Ich möchte auch nicht etwa mit so einem Zipfelchen zu Wachtmeisters kommen. Was müßten die von ihrer Muhme denken! Das wäre eine Blamage!«
Jetzt kam Braten und verschiedenes Compot. Sie war klug, und aß, ohne viel zu sprechen. Es schien ihr ausgezeichnet zu schmecken. Später gab es Pudding in Sauce.
»Was ist denn das?« fragte sie ihre Nachbarin.
»Man nennt es Pudding, ein englisches Wort.«
»Bei uns heißt man solches Zeug Hefenkloß. Es läßt sich aber essen.«
Zuletzt kamen überwintertes Obst und allerhand Confituren. Die Alte sah, daß Fanny von Hellenbach ihrem Vater einen Apfel schälte. Sie erkundigte sich frischweg: »Ist das hier Mode, daß man den Männern schält?«
»Ja. Es ist eine Aufmerksamkeit, welche den Herren angenehm zu sein scheint.«
»Ja, mein Alter schält auch nicht gern. Er beißt gleich so hinein. Es schmeckt gerade so gut.«
Sie nahm einen Apfel, schälte ihn und sagte dann zum Ergötzen aller Anwesenden:
»Da, Durchlaucht, essen Sie ihn! Für mich kann ich ja noch einen anderen schälen!«
»Danke, danke! Geben Sie ihn Ihrem Herrn Gemahl. Es wäre eine Beleidigung für ihn, wenn Sie einem Anderen eine solche Aufmerksamkeit erwiesen.«
»Ach, halten Sie ihn etwa für eifersüchtig?«