»Das ist er in seinem ganzen Leben nicht gewesen; er hat es auch nicht nöthig gehabt, trotzdem ich früher vor der Hochzeit ziemlich viel Ankratz hatte.«
»Na, Alte, lobe Dich nur nicht so!«
»Ist’s etwa nicht wahr? Ich hätte noch im letzten Augenblicke abspringen können. Da gab mir Korbmacher Andres noch himmlische gute Worte.«
Der Rath war ein Lebemann und liebte eine heitere Unterhaltung. Er trank den beiden Alten wacker zu und brachte sie so in Laune, daß sie endlich ihre Heirathsgeschichte erzählten. Das geschah in so drastischen Ausdrücken, daß die Zuhörer aus dem Lachen gar nicht herauskamen. Aber dennoch hütete sie sich vor Ausdrücken, welche Anstoß hätten erregen können.
Man hatte sich wohl selten so amüsirt wie heute. Und als die Räthin sich erhob und damit das Zeichen gab, daß die Tafel beendet sei, fühlte sich die brave Köhlersfrau so sehr befriedigt, daß sie dem Fürsten mit der Hand auf die Achsel klopfte und zu ihm sagte: »Das war hübsch, daß Sie uns hierher geführt haben!«
»So hat es Ihnen gefallen?«
»Und wie! Ich kann’s sagen, daß ich erst Angst hatte.«
»Doch nicht!«
»Ja. Unsereins weiß doch nicht so ganz genau, wie man sich zu benehmen hat. Aber hier wird Einem Alles so leicht gemacht, und man kann reden, wie Einem der Schnabel gewachsen ist. Ich habe mir die vornehmen Leute ganz anders vorgestellt.«
»Wohl recht stolz und finster?«
»Ja, so recht bärbeißig. Wenigstens droben bei uns sind sie so. Da ist zum Beispiel die Frau Cantorin, die hat die Nasenspitze höher als die Haubenschleife, und gar dem Dorfrichter Seine, die weiß es gar nicht mehr, wie es unten auf dem Erdboden aussieht. Hier aber habe ich es mit Fürsten, Grafen, Barons, Räthen, Obersten und gnädigen Fräuleins zu thun und bin ganz genau und grad so vornehm gewesen wie diese alle. Na, wenn ich nur heim komme! Denen will ich schon den Rockbund bürsten. Die sollen merken, daß ich Gänseleberpastete gegessen habe!«
»Sie werden doch nicht!« lachte der Rath.
»O gewiß! Ich bin sonst eine alte gute Haut. Man kann mich um den kleinen Finger wickeln; aber den Stolz und den Hochmuth und den Eigendünkel, den kann ich vor dem Tod nicht leiden! Ich weiß auch, wer ich bin! Eine Frau, die dem Fürsten von Befour einen solchen Käse geschenkt hat, die braucht sich vor keiner Anderen zu verstecken. Soviel steht fest. Nicht wahr, Durchlaucht?«
»Ja, gewiß!«
»Wie, Durchlaucht sind beschenkt worden?« fragte der Rath, indem er sich Mühe gab, ein ernstes Gesicht zu machen.
»Ja, ich bin sehr überrascht worden.«
»Mit einem Käse?«
»Mit einem Wunderwerk von Käse! Wie alt ist er, Mama Hendschel?«
»Fünf bis sechs Jahre.«
»Und hart, hart wie ein Amboß!«
»Grad das ist eben der Vorzug!« fiel sie ein. »Herr Durchlaucht ißt nämlich nichts so gern wie solche steinharte und hornige Reibekäse. Sie müssen springen wie Glas.«
»Das ist uns neu!« meinte der Rath.
»Wie? Das wissen Sie nicht?«
»Ich habe noch nie davon gehört.«
»So hat der Herr Durchlaucht hier noch nicht davon gesprochen. Es hat eben ein Jeder seine Geheimnisse. Sie auch!«
»Ich?«
»Ja.«
»Woher vermuthen Sie das?«
»Vermuthen? Ich weiß es sogar.«
»Sie kennen meine Geheimnisse?«
»Eins wenigstens. Nicht wahr, Alter?«
»Ja,« nickte dieser.
»Darf ich fragen, welches Geheimniß Sie meinen?«
Alle waren gespannt, welche Antwort auf diese Frage des Rathes folgen werde.
»Na, Sie haben auch ein Leibgericht!«
»Also auf die Leibgerichte ist es von Ihnen abgesehen!«
»Nicht so ganz; denn eigentlich ist das, was ich meine, nicht Ihr Leibgericht. Sie müssen es aber essen. Sie sind gezwungen.«
»Gezwungen? Wer zwingt mich?«
»Na ich sollte nicht davon reden; ich bin gern verschwiegen. Aber denken Sie an Ihr Leiden!«
»Leiden?« fragte er, ernst werdend.
»Ja.«
»Ich habe ein Leiden?«
»Ja, eine Krankheit.«
»Sogar eine Krankheit?«
»Oder vielmehr einen Fehler.«
»Wo denn?«
»Na, in der Gegend des Kopfes.«
Da stieß er ein herzliches Lachen aus, deutete sich an die Stirn und fragte:
»Wohl gar hier?«
»Nein.«
»Wo denn?«
»Weiter unten.«
»Das müßte ich ja wissen!«
»O, Sie wissen es auch; aber Sie sagen es natürlich nicht. Sie dauern mich aber sehr!«
»Ah, das ist ja sehr hübsch von Ihnen!«
»Und darum will ich Ihnen helfen.«
»Womit?«
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, eben Das, was Sie wegen dieser Krankheit essen müssen.«
»Jetzt bin ich aber im höchsten Grade gespannt!«
»Nicht wahr? Das glaube ich wohl.«
»Wo haben Sie denn das Mittel?«
»Dort im Korbe.«
Sie ging zu dem Diwan und holte den Korb. Natürlich ahnten Alle irgend eine Teufelei und warteten mit Spannung, was da kommen werde.
»Das ist ein Präsentirteller,« sagte sie, »auf den kann ich es wohl schütten?«
»Ja, thun Sie das.«
Sie nahm das Brod aus dem Korbe und legte es einstweilen bei Seite und schüttete dann die Äpfel auf das Präsentirbrett. Alle traten neugierig herbei.
»Was ist denn das?« fragte der Rath.
»Backobst,« antwortete seine Frau.
»Backäpfel, speciell,« erklärte er nach einer näheren Untersuchung.
»Ja, aber wilde!« meinte sie.
»Keine zahmen?«
»Nein, sondern von Holzäpfeln.«
»Wozu sind sie denn eigentlich?«
»Beileibe nicht!«
»Gehen Sie! Verstellen Sie sich doch nicht!«
»Sollten sie vielleicht zum Essen sein?«
»Na freilich!«
»Gekocht?«
»Versteht sich!«
»Wie schmeckt denn das Zeug?«
»Na, es zieht den Gaumen etwas zusammen.«
»O weh!«
»Na, Ihnen ist doch grad das sehr lieb, zumal sie schon so alt sind; da ziehen sie viel besser.«
»Hm! Wie alt sind sie denn?«
»Einige zwanzig Jahre.«
»Sapristi! Wo haben sie denn gelegen?«
»In meinem Manne seinem Hut.«
»Der dort neben dem Regenschirm liegt?«
»Ja.«
»A quelle délicatesse! Aber welchen Zweck verfolgen Sie denn nun mit diesen wilden Backäpfeln?«
»Ich schenke sie Ihnen.«
»Und Sie meinen, daß ich sie essen soll?«
»Freilich. Sie schicken ja überall herum und können keine mehr bekommen, wenigstens keine solchen.«
»Was? Ich schicke herum?«
»Ja.«
»Ja.«
»Wer sagt denn das?«
»Das ganze Land weiß es.«
»Ah, jetzt naht sich die Lösung,« sagte der Fürst. »Das ganze Land weiß es, daß ich ganz des Teufels auf alten, harten Käse bin. Und das ganze Land weiß es, daß Sie, Herr Rath, überall nach wilden Äpfeln forschen lassen!«
»So ist es auch!« behauptete die Alte.
»Wer hat es Ihnen denn gesagt?«
»Das braucht mir gar Niemand extra zu sagen. Es ist ja überall bekannt.«
»Gut!« meinte der Rath. »So wissen Sie wohl auch, warum ich solche Äpfel essen muß?«
»Ja.«
»Also warum?«
»Eben wegen Ihrer Krankheit. Die Brühe von den Äpfeln muß die Geschichte zusammenziehen, sonst können Sie ja gar nicht reden.«
»Nicht reden? Jetzt zerplatze ich vor Neugierde, wenn Sie nicht sofort Antwort geben. Welche Krankheit habe ich denn?«
»Sie werden doch nicht verlangen, daß ich es sage!«
»Warum denn nicht?«
»Ich mag sie nicht kränken und blamiren.«
»Sapperment! Ich will es aber haben, daß Sie mich kränken und blamiren! Heraus damit!«
»Wirklich?«
»Ja. Ich befehle es Ihnen sogar.«
»Na, aber mir schieben Sie dann die Schuld nicht etwa in die Schuhe! Ich bin lieber still.«
»Nein. Heraus damit! Welche Krankheit habe ich?«
»Den Wolfsrachen.«
»Den Wol – – –?«
Das Wort blieb ihm im Munde stecken.
»Ja, den heimlichen Wolfsrachen!«
»Den heiml – – –?«
»Es heißt auch noch anders. Sie leiden an einer unterirdischen Hasenscharte.«
»Hasensch – – –! Heimlich, unterirdisch! Wolfsrachen! Hasenscharte! Ich?«
»Ja.«
»Und deshalb soll ich solche wilde Apfelbrühe trinken?«
»Freilich.«
»Und diese Brühe zieht mir die unterirdische Scharte wieder zusammen, gute Frau?«
»Natürlich, so ist es!«
Es war still gewesen wie in der Natur vor einem Gewittersturme. Jetzt aber brach es los, das schallende, allgemeine Gelächter, in welches selbst die Damen mit einstimmten. Die alte Köhlersfrau stand da, ganz ernsthaft, und blickte Eins um das Andere an. Da aber begann sie zu bemerken, daß sie doch wohl dupirt worden sei, und nun stimmte sie sehr kräftig mit ein.
Endlich nahm sich der Rath mit Gewalt zusammen und fragte:
»Und das weiß das ganze Land?«
»Ich dachte es.«
»Wer hat Ihnen das weiß gemacht?«
»Ich soll es nicht verrathen.«
»Sagen Sie es immerhin!«
»Sie werden ihm bös sein!«
»O nein. Ich bin dem Betreffenden sogar im hohen Grade dankbar, denn er hat mir einen lustigen Augenblick bereitet, wie ich ihn wohl noch nie gehabt habe. Also, wer ist es?«
»Der Doctor.«
»Welcher Doctor?«
»Unser Bezirksarzt.«
»Ach, Sapristi! Da geht mir ein Licht auf! Heißt er auch Eichendörffer wie ich?«
»Ja.«
»Also mein Neffe?«
»Er sagte, Sie wären sein Onkel.«
»Dieser Sausewind also! Na, das ist köstlich! Der hat den Kopf stets voll Raupen! Aber wie kommt er denn dazu, Ihnen zu sagen, daß Sie mir einen Vorrath solcher wilder Äpfel mitnehmen sollen?«
»Er sah sie in meinem Korbe. Ich hatte sie eingepackt.«
»Ach so! Die Gelegenheit macht Diebe!«
Da fragte auch der Fürst, noch immer lachend:
»Der ist es wohl auch gewesen, der Ihnen gesagt hat, daß ich gern steinalten Käse esse?«
»Freilich ist er es!«
»Dann, lieber Rath, müssen wir uns schriftlich bei ihm bedanken. Der Spaß war zu kostbar.«
Der Köhler war bei Alledem sehr ernsthaft geblieben. Jetzt sagte er ärgerlich zu ihr:
»Dumme Gans!«
»Was denn? Was willst Du mit der Gans?«
»Dir solchen Unsinn weiß machen zu lassen!«
»Hast Du es etwa nicht selbst auch geglaubt?«
»Es hat mir gleich geschwant, daß eine Dummheit dahinter steckt. Nu hast Dus da!«
»Entzweien Sie sich nicht!« lachte der Rath. »Ich bin im höchsten Grade zufrieden mit Ihnen! Ein verborgener Wolfsrachen oder eine unterirdische Hasenscharte! Ich möchte nur wissen, wie der Mensch auf diese verteufelte Idee gekommen ist! Aber das sage ich: die wilden Backäpfel werden angenommen und heilig aufbewahrt.«
»Und mein Käse auch.«
»Ja, ein Andenken haben wir also Beide. Aber damit diese beiden braven Leute uns nicht umsonst beschenkt haben, wollen wir ihnen ein Gegengeschenk machen. Was meinen Sie dazu, Durchlaucht?«
»Ja, gewiß. Wenn sie es nur annehmen.«
»Wollen sehen. Herr Hendschel, Frau Hendschel, haben Sie vielleicht irgend einen Herzenswunsch?«
»Hm!« antwortete sie. »Wünsche hat man immer.«
»Na, so wünschen Sie sich einmal etwas!«
Sie zögerte verlegen. Dann, als ihr von mehreren Seiten zugeredet wurde, sagte sie:
»Ich möchte gern ein neues Waschbecken von weißen Porzellan und nachher blaue Strickwolle zu zwei Paar neuen Strümpfen.«
Ein herzliches Lachen antwortete.
»Und Sie, Herr Hendschel?« fragte der Rath.
»Na, wenn es auf mich ankäme, so möchte ich gern ein Pfund Tabak haben. Ich habe seit einigen Jahren nicht rauchen können. Die Zeiten sind schlecht.«
»Du lieber Gott, sind das glückliche Leute!« meinte der Rath, jetzt sehr ernsthaft. »Wer nur solche Wünsche hat, der ist zu beneiden.«
»Nun,« sagte sie, durch diese Worte ermuthigt, »so würde ich dazu auch noch eine weiße Kaffeekanne und zwei Tassen nehmen, wenn’s nicht zu viel ist.«
»Nein, zu viel gar nicht. Aber hört, ich will Euch Beiden einmal etwas sagen. Wißt ihr, was eine Fee ist?«
»Nun, was denn?«
»Eine Fee ist ein Geist, der – – –«
»Unsinn Alte,« unterbrach sie ihr Mann. »Eine Fee ist doch kein Geist, kein Gespenst! Sie geht doch nicht um! Eine Fee ist eine sehr schöne Frau. Die kommt des Nachts und fragt, was man sich wünscht.«
»Ja,« fügte die Alte hinzu. »Und was man sich wünscht, das geht in Erfüllung.«
»Ihr habt recht. Aber zuweilen kommt die Fee auch in männlicher Gestalt.«
»Davon habe ich noch nichts gehört.«
»Da seht jetzt mich einmal an! Wer bin ich?«
»Der Herr Oberlandesgerichtsrath.«
»Gewöhnlich bin ich das, jetzt aber nicht. Jetzt bin ich so eine männliche Fee. Thut einmal drei Wünsche! Ich will sehen, ob ich sie Euch erfüllen kann.«
Sie sahen ihn verblüfft an. Er aber fuhr fort:
»Ich spreche im Ernste. Nicht wahr, Durchlaucht?«
»Ja,« antwortete der Fürst. »Thun Sie einmal drei Wünsche, Hendschel, Sie oder Ihre Frau! Wenn Sie nicht gar zu viel verlangen, gehen sie vielleicht in Erfüllung.«
»Sie foppen uns!« meinte die Alte.
»Nein, wir meinen es gut und ehrlich.«
»Ach was! Das, was man sich bei einer Fee wünschen würde, kann man sich doch hier nicht wünschen!«
»Weil Sie eben keine Fee sind.«
»So sagen Sie wenigstens, was Sie thun würden, wenn eine Fee Ihnen drei Wünsche gestattete, und Sie wüßten, daß diese in Erfüllung gehen würden.«
Die Alte sah sich sehr ernsthaft im Kreise um, blickte dann nachdenklich ihrem Manne in’s Gesicht und sagte: »Du, Alter, die Herren machen wirklich Ernst!«
»Meinst Du?«
»Ja, es steckt etwas dahinter. Wollen wir wünschen?«
»Na, ja.«
»Was denn?«
»Sag Du es!«
»Nein, Du!«
»Du könntest nachher zanken, wenn es Dir nicht paßt.«
»Na, Du hast doch Deinen Verstand, und wenn Du Dir einbildest, es wäre in Wirklichkeit eine Fee da, so wirst Du Dir wohl keine Dummheiten wünschen.«
»Das ist wahr.«
»Also, sage Du, was Du Dir wünschest!«
»Wenn es denn einmal sein soll, und wenn die Herrschaften es ernst nehmen, so will ich denn gerade so thun, als ob die Fee da wäre. Also erstens wünsche ich für mich und für meine gute Alte die ewige Seligkeit.«
»Bravo!« sagte der Fürst. »Wer diesen Wunsch allen anderen Wünschen voransetzt, der wird die Seligkeit auch ganz gewiß erlangen. Er ist also erfüllt. Weiter!«
»Sodann wünsche ich, daß wir Beide immer gesund bleiben mögen, bis wir sterben!«
»Auch dieser Wunsch geht voraussichtlich in Erfüllung. Sie besitzen Beide eine eiserne Natur und sind an ein mäßiges, ordentliches Leben gewöhnt. Weiter!«
»Na, was noch! Das ewige Leben und die Gesundheit; das ist die Hauptsache. Das Dritte wäre noch, daß wir so viel Geld hätten, daß wir bis an unser Ende nicht Noth zu leiden brauchten. Bist Du es zufrieden, Alte?«
»Ja, gern. Aber der dritte Wunsch geht nicht so leicht in Erfüllung wie die beiden ersten.«
»Er ist erfüllt,« sagte der Rath.
»Erfüllt? Wieso denn?«
»Wieviel Geld brauchten Sie denn wöchentlich?«
»Na, wenn wir wöchentlich drei Gulden verdienen könnten bis an unser Ende, dann wären wir froh.«
»Ja,« meinte er, »dann fielen wohl auch wöchentlich für fünf Kreuzer Tabak ab. Herrgott, wäre das ein Leben!«
»Verdienen Sie denn nicht mehr?«
»Du lieber Gott! Wir haben heute, als wir von daheim fortgingen, vierzehn Gulden eingesteckt! Das sind die Ersparnisse einer ganzen Reihe von Jahren.«
»Na, dann sollen Sie es von jetzt an besser haben! Warten Sie einen Augenblick.«
Er ging hinaus und kehrte bald zurück, mit einem großen, versiegelten Couvert in der Hand.
»Hier, Herr Hendschel,« sagte er. »Was steht darauf?«
Der Alte las:
»Dem Kohlenbrenner Hendschel.«
»Machen Sie es auf!«
Hendschel blickte rundum, kratzte sich hinter dem Ohre und meinte dann verlegen:
»Meine Herren, das ist wohl nur ein Jux?«
»O nein!«
»Etwa so wie mit unserem alten Käse!«
»Nein, es ist Ernst!«
»Oder wie mit der unterirdischen Hasenscharte!«
Da griff sie resolut zu, nahm ihm das Couvert aus der Hand, öffnete es und sagte dabei:
»Mach keinen Unsinn! Das ist ein Brief. Dein Name steht darauf. Da muß etwas für Dich drin sein.«
»Na ja, aber was denn?«
»Dieses Papierpacket.«
Die Augen der Anwesenden ruhten mit Spannung auf den beiden Alten. Sie faltete den Umschlagbogen aus einander, warf einen Blick auf den Inhalt und rief: »Kassenbillets!«
»Herrgott, ja!« stimmte er bei.
»Richtige Kassenbilletts, Alter!«
»Wie viele denn?«
»Eins, zwei – vier, fünf – zehn – – fünfzehn!«
»Zeig her, zeig her!«
Er nahm ihr eins aus der Hand, betrachtete es genau und rief fast überlaut vor Freude:
»Frau, weißt Du, was da drauf steht?«
»Na, was denn?«
»Eine Tausend!«
»Du bist nicht gescheidt!«
»Ja, eine Tausend. Schau her!«
Sie prüfte die Banknote und zählte:
»Eine Eins mit drei Nullen. Eine Null ist Zehn, zwei Nullen sind Hundert, drei Nullen sind Tausend! Herrgott ja, es sind Tausendguldenscheine!«
»Und wie viel, Alte?«
»Fünfzehn.«
»Merkst Du etwas?«
»Was denn?«
»Du merkst nichts, wirklich nicht? Na, zehntausend Gulden todt und fünfzehntausend Gulden lebendig!«
Da schlug sie die Hände zusammen und rief:
»Für den Hauptmann?«
»Freilich, freilich!« jubelte er.
»Du heiliges Weihnachten! Ich muß mich setzen, gleich hierher! Mir schlägt der Schreck in die Glieder!«
Sie setzte sich gleich auf der Stelle, wo sie stand, auf die Diele nieder. Er aber warf die Cassenscheine auf den Tisch, kniete neben sie hin, faßte sie beim Kopfe und fragte voller Angst: »Alte, meine liebe Alte, wird es Dir schlecht?«
»Nein, gut, aber so schwach«, antwortete sie, den Kopf an seine Achsel legend.
»Werde mir nur nicht etwa krank, sonst pfeife ich auf das ganze Geld! Du bist mir lieber als die Scheine!«
»Alter, Alter! Ist das wahr?«
»Natürlich, natürlich! Nimm Dich zusammen! Wird es Dir noch nicht besser?«
Es war eine wirklich rührende Scene. Den Anwesenden wollten die Thränen in die Augen treten. Fanny von Hellenbach goß Wein in ein Glas, kniete zu der Alten nieder und sagte: »Trinken Sie einen Schluck. Das wird Sie stärken!«
»Sie Gute! Ja, ich will trinken.«
Sie nippte und nippte, bis das Glas halb leer war. Dann sagte sie seufzend:
»Das thut gut, das stärkt. Es wird mir besser.«
Da nahm ihr der Alte, welcher noch neben ihr kniete, das Glas aus der Hand und meinte:
»Da will ich auch trinken. Es ist mir ganz schwummrig.«
Er trank es vollends leer. Die Anwesenden mußten unwillkürlich lachen. Es sah ja so possirlich aus und klang auch tragikomisch. Er aber sagte ernsthaft: »Na, wegen des Geldes wird mir nicht schwach, sondern wegen meiner Alten. Ich habe gehört, daß auch die Freude den Menschen umbringen kann. Was würde mir das Geld nützen, wenn ich meine Frau dafür hingeben müßte. Das wäre kein Spaß. Komm, stehe auf!«
Er zog sie empor und führte sie zu einem Stuhl. Dort setzte sie sich nieder und sagte:
»Alter, wir sind doch recht sehr dumm!«
»Wieso denn?«
»Lassen wir uns so in’s Bockshorn jagen!«
»Na, doch wohl nicht!«
»Wie kann denn dieses Geld unser sein!«
»Ich habe ja die Polizei nach Langenstadt geführt!«
»Aber gefangen hast Du den Hauptmann nicht!«
»Lassen Sie diese Bedenken ruhen«, meinte der Rath. »Ich habe höheren Orts den Befehl erhalten, Ihnen die Prämie auszuzahlen, weil Sie es ermöglicht haben, daß der Hauptmann gefangen wurde. Er hat jedenfalls beabsichtigt, nur bis zur Ankunft gewisser Postsachen in Langenstadt zu bleiben; dann wäre er mit dem Vermögen des Amerikaners verschwunden und wir hätten ihn nie in unsere Hand bekommen. Das Geld gehört nur allein Ihnen.«
»Lassen Sie das«, sagte der Fürst. »Was er gethan hat, das wird ihm auch ohnedies belohnt.«
»Also ist das Geld unser, wirklich unser?«
»Ja. Es ist Ihr Eigenthum.«
»Alte, meine liebe Alte.«
Sie umarmten sich und weinten, bitterlich zwar, aber vor Freude. Dann, als sie sich gefaßt hatten, legte der Rath ihnen die Quittung vor, welche der Köhler unterschreiben mußte. Dann wurde ihnen von sämmtlichen Anwesenden herzlich gratulirt.
»Jetzt können Sie sich Waschbecken und Kaffeekanne kaufen«, sagte Fanny von Hellenbach.
»Und ich«, meinte der Alte, »ich kaufe mir sofort, wenn ich jetzt auf die Gasse komme, eine Cigarre für drei Kreuzer. Da will ich qualmen.«
»Das können Sie schon jetzt thun«, meinte der Rath. »Hier nehmen Sie!«
Er reichte ihm sein Etui hin und Hendschel brannte sich die Cigarre an. Fanny von Hellenbach lud die Alten ein, sie und ihre Eltern zu besuchen. Auch die Anderen waren herzlich gegen sie, und als dann das Paar entlassen war und die Straße erreichte, blieb der Alte stehen, faßte seine Frau beim Arme und sagte: »Du, das hätte die Cantorin sehen sollen!«
»Und die Dorfrichterin.«
»Waren das noble Leute, Herrgottsakra!«
»Und gute Leute!«
»Ja. Diesen Tag werde ich im Leben nicht vergessen! Fünfzehntausend Gulden und eine Cigarre im Munde, von einem adeligen Herrn, welcher Oberlandesgerichtsrath ist! Man kann es kaum ausdenken.«
»Was wird der Vetter sagen?«
»Wollen machen, daß wir hinkommen!«
»Ja. Du, wie wäre es, wenn wir führen?«
»Meinst Du?«
»Na, wir sind reich!«
»Und es ist so weit.«
»Gut, wir fahren. Wenn wir wieder in unserem Walde sind, werden wir von selbst laufen müssen.«
Sie nahmen sich also eine Droschke. Es war ein ganz neuer Geist in sie gefahren.
Als sie in der Wohnung des einstigen Wachtmeisters ankamen, saß – Anton dort. Er lächelte ihnen entgegen, nickte verständnißvoll und sagte: »Fertig mit dem Geschäft?«
»Mit welchem denn?«
»Mit dem Geldgeschäft.«
»Nur sachte, lieber Freund! Denken Sie, ich hätte nicht gewußt, weshalb man Sie nach der Residenz bestellte?«
»Was? Sie hätten es gewußt?«
»Sehr gut. Fragen Sie hier den Herrn Wachtmeister. Ich habe ihm gestern Abend erzählt, daß der Köhler Hendschel den Preis von fünfzehntausend Gulden ausgezahlt bekommen werde.«
»Woher wußten Sie es denn?«
»Vom Fürsten.«
»Und mir sagten Sie vorhin nichts davon!«
»Das war gar nicht nöthig. Mir scheint, daß Sie Ihren Käse sehr gut verkauft haben.«
»Ausgezeichnet. Aber eins thut mir leid.«
»Was denn?«
»Daß ich Ihnen das Geld weggenommen habe.«
»Mir? Mir gehörte es ja gar nicht.«
»Sie haben aber den Hauptmann gefangen genommen, noch dazu mit Lebensgefahr!«
»Aber Sie haben mir den Weg gezeigt.«
»Wir hätten wenigstens theilen sollen.«
»Lassen Sie das! Ich bin Ihnen nicht bös.«
»Aber sind Sie denn so reich, daß Ihnen fünfzehntausend Gulden so schnuppe sind?«
»Für mich ist gesorgt.«
»Sind Sie avancirt?« fragte der Wachtmeister.
»Noch nicht. Aber da ich den Hauptmann ergriffen habe, wird man wohl ein Einsehen haben. Uebrigens machte der Fürst mir heute eine Ueberraschung, die ich nicht für möglich gehalten hätte.«
»Freudig?«
»Sehr. Als er sich vor einiger Zeit hier niederließ, erbat er sich zu gewissen Zwecken zwei Geheimpolizisten, welche unter der Firma von Lakaien bei ihm wohnen sollten. Ich wurde mit Adolf zu ihm commandirt. Es ist uns gelungen, ihm nützlich zu werden, und so machte er uns heute die Eröffnung, daß er uns von jetzt an bis zu unserem Tode eine Pension von jährlich tausend Gulden bestimme. Ist das nicht nobel?«
»Außerordentlich. Er ist überhaupt ein außerordentlicher Mann. Mir zahlt er ja auch die Pension, ohne daß ich ihm etwas genützt habe.«
Anton lächelte.
»Hm!« sagte er. »Vielleicht weiß ich, warum er sie Ihnen zahlt, bester Herr Wachtmeister.«
»So? Nun, weshalb denn?«
»Wegen des einzigen Fehlers, den Sie begangen haben.«
»Das wäre mir unbegreiflich. Sie meinen doch die Flucht Brandt’s damals?«
»Ja.«
»Was geht ihm dieser Brandt an?«
»Er kennt ihn.«
»Ja.«
»Und wo befindet er sich?«
»Das ist Geheimniß. Aber er wird wiederkommen –«
»Um sofort festgenommen zu werden!«
»Nein, sondern um zu beweisen, daß er unschuldig war.«
»Was Sie sagen!«
»Brandt ist in der Fremde reich geworden. Er hat erfahren, daß Sie ohne Amt und Pension sind, und da er den Fürsten kennt, so hat er ihn beauftragt, Ihnen die Pension zu zahlen.«
»So bekomme ich sie nicht vom Fürsten, sondern von Brandt?«
»Ja.«
»Wer hätte dies geahnt! Hörst Du es, Anna?«
»Ja«, antwortete sie.
Sie hatte überhaupt dem Gespräch mit glückstrahlendem Gesicht zugehört, und hatte Veranlassung dazu.
»Wer aber soll damals der Mörder gewesen sein, wenn Brandt unschuldig war?« fragte der Wachtmeister.
»Ganz derselbe, welcher im vergangenen Winter Fräulein Anna nach der Restauration lockte.«
»Wo sie der Fürst errettete?«
»Wer war dieser Mensch? Man kannte ihn ja nicht.«
»O doch! Es war der Hauptmann.«
»Herrgott!« entfuhr es dem Mädchen.
»Ist’s wahr?« fragte der Vater.
»Ja, der Baron von Helfenstein war es. Der Fürst hat es mir später erzählt.«
»Und der Baron soll auch damals der Mörder gewesen sein?«
»Ja.«
»Wie aber soll dies jetzt noch bewiesen werden können?«
»Das ist Sache der Juristen und der – Polizei.«
»Ah! Sind Sie da auch mit thätig?«
»Ein wenig.«
»Darf man neugierig sein?«
»Bitte, nein. Ich kann Ihnen nur sagen, daß dem hiesigen Publikum Gerichtsverhandlungen zur Verfügung stehen werden, wie es noch nie welche gegeben hat.«
»Na, damals bei Brandt’s Verurtheilung!«
»Ist nichts gegen jetzt. Ebenso wüßte ich nicht, zu welcher Zeit die Polizei in solcher Thätigkeit gewesen wäre, wie gerade in der Gegenwart. Ich zum Beispiel muß morgen verreisen, um ein Dunkel aufzuklären.«
»Ist es Amtsgeheimniß?«
»Streng nicht. Sie wissen, daß der Akrobat Bormann gefangen ist?«
»Ja.«
»Er sollte bereits im vorigen Winter ergriffen werden. Das war droben in Brückenau, wo er während einer Vorstellung einen Knaben tödtete. Bisher hat man geglaubt, dieser Junge sei sein eigenes Kind gewesen, jetzt aber stellt es sich heraus, daß dies nicht der Fall ist. Aus ihm ist nichts zu bringen. Seine Frau sagt, daß sie nichts wisse, und so soll ich nach Brückenau, um nachzuforschen.«
»Wer sendet Sie?«
»Der Fürst.«
»Daß doch dieser überall seine Hand im Spiel hat!«
»Er ist ein Criminalgenie ersten Ranges; das werden Sie noch besser bewiesen bekommen als bisher.«
»Also sollen Sie die Eltern jenes todten Knaben ausfindig machen?«
»Ja.«
»Vielleicht war er doch Bormann’s eigner Sohn?«
»Nein. Bormann hat niemals ein Kind gehabt.«
»Hätte er ihn geraubt?«
»Das vermuthet man.«
»Schrecklich! Wie muß es solchen Eltern zu Muthe sein! Kann ich doch bereits nicht solche Eltern begreifen, welche ihr Kind für Geld hingeben.«
»Hier in der Nachbarschaft.«
»Was? Ein Kind für Geld hergeben? Als verkauft? Oder meinen Sie, daß arme Eltern ihr Kind an kinderlose Leute gegeben und dafür ein Geschenk erhalten haben?«
»Vielleicht ist es so gewesen.«
»Wer sind diese Eltern?«
»Der Holzhacker Schubert hier nebenan in Nummer Elf.«
»Was war es für ein Kind?«
»Ein allerliebster Knabe.«
»Wer sind seine Pflegeeltern?«
»Das weiß ich nicht. Ich erfuhr damals, daß ihn der fromme Seidelmann erhalten hat.«
Da fuhr Anton blitzschnell von seinem Stuhle auf.
»Seidelmann? Wissen Sie das genau?«
»Ja.«
»Also ein Verbrechen! Adieu!«
Mit zwei raschen Schritten war er zur Thür hinaus.
»Was ist mit ihm?« fragte der Köhler.
»Lassen wir ihn. Erzählen Sie mir lieber, was Sie in der letzten Stunde erlebt haben, Herr Vetter!« –Anton war schnell die Treppe hinunter und in das Nachbarhaus. Er kannte sämmtliche Bewohner desselben. Es war ja gerade in diesem Hause so Vieles geschehen, was zu seinem Verhältnisse zum Fürsten in Beziehung stand.
Als er bei dem Holzhacker eintrat, war nur dessen Frau zu Hause. Sie, die frühere Waschfrau, war noch immer gelähmt. Sie konnte kaum ein Glied bewegen.
»Guten Abend«, sagte er, denn es fing bereits an, dunkel zu werden. »Ist Herr Schubert zu Hause?«
»Nein.«
»Wo ist er?«
»Auf Arbeit in der Töpferstraße.«
»Das ist so weit, daß ich zuviel versäumen würde. Kennen Sie mich vielleicht?«
»Ich muß Sie wohl gesehen haben.«
»Aber was ich bin, wissen Sie nicht?«
»Nein.«
»Ich bin Criminalpolizist. Hier ist meine Marke.«
»Herrgott! Was wollen Sie bei uns?«
»Erschrecken Sie nicht. Ich komme nicht in feindlicher Absicht. Ich möchte mich nur nach einem Gliede Ihrer Familie erkundigen. Hatten Sie nicht einen Knaben, der sich nicht mehr bei Ihnen befindet?«
»Ja.«
»Wo ist er?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wie? Sie wissen nicht, wo sich Ihr Kind befindet?«
»Nein.«
»So kann es sterben und verderben, Ihnen ist’s egal!«
»O nein. Es ist viel, viel besser aufgehoben als bei uns.«
»Woher wissen Sie das?«
»Herr Seidelmann sagte es.«
»Sie meinen doch denjenigen Seidelmann, welcher Administrator dieses Hauses war?«
»Ja.«
»Haben Sie etwa ihm Ihr Kind gegeben?«
»Ja.«
»Und Sie wissen nicht, wohin er es weitergegeben hat?«
»Nein. Er machte es zur Bedingung, daß wir nicht darnach fragen sollten. Ein großer Künstler wollte den Jungen an Kindesstatt annehmen. Wir sollten ganz verzichten. Um unser Kind glücklich zu machen, willigten wir ein.«
»Erhielten Sie etwas?«
»Ja.«
»Wieviel?«
»Zehn Gulden.«
»So wenig? Von einem großen Künstler? Wenn so einer einmal zahlt, giebt er mehr.«
»Wir waren froh, daß wir so viel erhielten. Ich lag krank da. Mein Mann hatte sich in’s Bein gehackt und konnte nicht arbeiten. Meine Kinder sollten auf dem Weihnachtsmarkte feilhalten, wurden aber arretirt, weil sie gebettelt hatten. Wir erhielten Strafe. Da kam uns die Summe sehr gelegen.«
»So, so! Also vor Weihnachten war es?«
»Ja.«
»Wie alt war der Junge?«
»Gegen fünf Jahre.«
»Welches Haar?«
»Blond. Er war überhaupt ein Bild von einem Jungen, sehr gut gewachsen. Ich habe sehr viel geweint, ehe ich mich an seine Abwesenheit gewöhnen konnte.«
»Haben Sie nichts wieder von ihm gehört?«
»Nie.«
»Ist er nach auswärts gekommen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber Sie wissen, welch’ ein Künstler der Betreffende war? Es giebt sehr verschiedene Künste.«
»Ich weiß es nicht.«
»Was? Auch das hat Ihnen Seidelmann nicht gesagt?«
»Nein.«
»Dann haben Sie im höchsten Grade unverantwortlich gegen Ihr Kind gehandelt. Bedenken Sie, daß ein Kartenschläger, ein Seiltänzer sich auch Künstler nennt. Wie nun, wenn Ihr schöner Knabe einem solchen Menschen in die Hände gefallen wäre! Solche Menschen pflegen ihre Ziehkinder schlimmer zu behandeln als das Vieh.«
»Das wird Herr Seidelmann doch nicht gethan haben!«
»Kennen Sie diesen Herrn so wenig?«
»Er war so gottesfürchtig, so fromm!«
»Ach so! Gute Nacht!«
Er eilte fort. Es war ihm, als ob er einen Faden gefunden habe, den er verfolgen müsse. Er begab sich nach dem Gerichtsgebäude, und zwar da zu dem Wachtmeister Uhlig.
»Ist Seidelmann von Rollenburg gebracht worden?« fragte er diesen.
»Ja, heute.«
»In welchem Zustande?«
»Ganz apathisch.«
»Hört er?«
»Wie es scheint nicht.«
»Wie steht es mit dem Gesicht?«
»Er stiert nur so vor sich hin.«
»Das Gefühl?«
»Wenn man ihn angreift, merkt er es.«
»Spricht er?«
»Kein Wort.«
»Essen und trinken?«
»Er muß gefüttert werden wie ein Säugling.«
»Hm! Führen Sie mich einmal zu ihm. Er hat doch eine Zelle für sich?«
»Nein. Er liegt auf der Krankenstation.«
»Wer hat das befohlen?«
»Der Gerichtsarzt.«
»Er wird sich doch nicht etwa von diesem schlauen Menschen täuschen lassen?«
»Ich habe ihn auch gewarnt.«
»Dieser Arzt ist überhaupt kein großes Lumen. Das haben wir gesehen, als damals der unschuldige Robert Bertram internirt war. Bitte, führen Sie mich einmal zu diesem frommen Patienten.«
Sie gingen durch mehrere Gänge, bis sie in ein wohlverwahrtes Zimmer gelangten, in welchem mehrere Betten standen. Die Fenster waren stark vergittert und die Thüren mit Riegeln und festen Schlössern versehen. Es befand sich nur ein einziger Patient hier und das war Seidelmann. Der Wärter saß an seinem Bette.
»Hat sich etwas geändert?« fragte der Wachtmeister.
»Nein.«
Anton trat an das Bett. Er erkannte den frommen Schuster sofort wieder, obgleich derselbe bleich und abgemagert aussah. Der Hieb, welchen Petermann ihm mit der Weinflasche versetzt hatte, war verhängnißvoll gewesen. Er hatte lange Zeit mit dem Tode gerungen und noch jetzt lautete das ärztliche Gutachten dahin, daß er die Fähigkeit, zu denken, noch nicht wieder erlangt habe.
Sein blödes, ausdrucksloses Auge stierte gerade aus. Er schien die Anwesenden gar nicht zu bemerken.
»Herr Seidelmann!« sagte Anton.
Der Gerufene gab kein Lebenszeichen von sich. Anton hielt ihm den Mund ganz nahe an das Ohr und rief laut: »Hören Sie mich?«
Keine Antwort.
Da faßte er ihn bei der Hand und preßte ihm die Finger mit aller Gewalt zusammen. Das bleiche Gesicht färbte sich roth, weiter war nichts zu bemerken.
»Der Kerl ist schon dreiviertel todt«, sagte er. »An dem ist jede Arznei verloren. Kommen Sie!«
Der Wachtmeister folgte ihm und sagte draußen:
»Man hätte ihn in Rollenburg lassen können.«
»Warum?«
»Es ist gleich, ob er hier stirbt oder dort.«
»Meinen Sie? Lassen Sie sich nicht täuschen, Herr Wachtmeister. Seien Sie vorsichtig!«
»Sie sagten doch selbst, daß er dreiviertel todt sei!«
»In seiner Gegenwart, um ihn sicher zu machen.«
»Ah! Sie denken, er hat es verstanden?«
»Sehr gut.«
»Sie meinen, daß er simulirt, daß er sich verstellt?«
»Ganz gewiß. Ich werde es Ihnen morgen oder bald beweisen. Als ich ihm die Hand zusammenpreßte, mußte er sich alle Mühe geben, um nicht aufzuschreien. Er wurde ganz roth im Gesicht. Das ist genug für mich.«
»Hatten Sie etwas mit ihm vor?«
»Ja, doch es ist vergeblich. In welcher Zelle sitzt sein Dienstmädchen, die doch auch gefänglich eingezogen ist?«
»Frauenabtheilung Nummer Drei.«
»Danke. Ich will Sie nicht belästigen. Die Schließerin kennt mich ja. Guten Abend!«
Er begab sich nach der betreffenden Abtheilung und hörte von der Schließerin, daß die Gefangene seit einiger Zeit mittheilsamer geworden sei. Er ließ sich die Zelle öffnen. Es war dunkel darin. Er nahm ein Licht und trat allein ein.
Die Gefangene hatte bereits auf dem Strohsacke gelegen, welcher bei Beginn der Dunkelheit in die Zelle gegeben wurde. Sie erhob sich.
»Kennen Sie mich?« fragte er.
»Nein.«
»Es ist auch unnöthig, denn ich komme nur in einer privaten Angelegenheit, um bei Ihnen eine Erkundigung einzuziehen.«
»Ich sage nichts.«
»Sie mißverstehen meine Absicht. Meine Gegenwart hat mit Ihren Acten gar nichts zu thun.«
»Schuberts wollen ihren Jungen gern wieder haben.«
Er hatte nur auf den Strauch geschlagen, aber es glückte, denn sie antwortete sofort:
»Da mögen sie ihn sich doch holen!«
»Sie wissen ja gar nicht, wo er ist!«
»Hat Seidelmann es Ihnen nicht gesagt?«
»Nein, weil die Eltern gänzlich verzichten sollten.«
»Mir kann es gleich sein, ob sie ihn wieder bekommen oder nicht. Aber er wird seine hundertzwanzig Gulden wieder verlangen.«
»Die er Seidelmann gegeben hat?«
»Ja.«
»So erhält er sie. Wer ist es denn?«
»Der Circusdirector.«
»Sie meinen den Director des hiesigen ständigen Circus. Nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich danke. Gute Nacht.«
»Gute Nacht. Gott sei Dank, das war doch wenigstens einmal kein Polizist!«
Diese Worte hörte er noch.
Als er nun durch die Stadt nach dem Circus ging, war es ihm, als ob er von seiner Ahnung nicht betrogen worden sei. Er wollte sich nun volle Sicherheit holen.
Er kannte die Verhältnisse des Circus sehr genau. Er hatte sich mit einer früheren Schulreiterin befreundet, welche jetzt, da sie alt und abgeblüht war, nun zu allerlei Nebenleistungen verwendet wurde, durch welche sie sich beleidigt fühlte. Sie war nicht mehr geachtet und hatte ein sehr geringes Einkommen. Das hatte sie erbittert, und nun war sie leicht geneigt, gegen ihren Prinzipal zu conspiriren, was Anton bereits öfters zu statten gekommen war.
Er hatte freien Zutritt. Die Zeit der Proben war vorüber, und diejenige der Vorstellung noch nicht gekommen. Er schlenderte also durch die leeren Räume und nach dem Stalle, ohne sie zu sehen.
Eine Ecke des Baues wurde während der Vorstellung als Restauration benutzt. Dort endlich fand er sie, bei einem großen Schnapsglase sitzend. Sie winkte ihm mit der Hand einen Gruß entgegen und bedeutete ihm, sich zu ihr zu setzen.
»Nichts zu thun?« fragte er.
»Ich? Was soll ich thun? Wozu braucht man mich?«
»Na, na!«
»Was denn? Sie sagen, ich sei zu alt!«
»Das ist nicht wahr.«
»Warum haben sie mir denn wieder für den Monat fünf Gulden abgezogen?«
»Schon wieder?«
»Das ist schändlich!«
»Vor zehn Jahren, ja, da poussirte er mich noch.«
»Der Esel! Sie sind jetzt noch ebenso appetitlich!«
»Meinen Sie?«
»Eine geistreiche Frau wird nie alt.«
»Sie sind der einzige gescheidte Kerl, den ich kenne! Aber es nützt mir nichts. Wenn man halb verhungert, wo soll man da noch schön und appetitlich sein. Eine Frau muß Formen haben; der Hunger aber zehrt.«
»Na, hungern werden Sie doch nicht gerade!«
»Nicht? Habe ich etwa heute schon etwas gegessen?«
»Wirklich nicht?«
»Nein. Einige Gläser Schnaps, das ist Alles, was mir über die Lippen gekommen ist.«
»Du lieber Gott! Ich wollte, ich wäre reich.«
»Ja, Sie würden es anwenden. Sie würden mir ganz gewiß Etwas borgen.«
»Ja, denn ich habe ein ganz eigenthümliches Interesse für Sie.«
»Könnten Sie denn nicht wenigstens etwas thun?«
»Wohl nicht. Gerade heute nicht.«
»Warum gerade heute nicht?«
»Weil ich mich ganz ausgegeben habe. Und wenn Sie mich aufschneiden, so finden Sie doch nur zwei Gulden bei mir.«
Er hatte nämlich aus Vorsicht zwei Gulden im Portemonnai gelassen, das andere Geld aber versteckt.
»Zwei Gulden, das ist für mich schon viel!«
»Ich muß damit drei volle Tage reichen.«
»Pah! Sie haben Credit.«
»Nicht übermäßig.«
»Aber doch. Wie wäre es, wenn Sie mir die zwei Gulden bis zum nächsten Gagentage borgten?«
»Sapperment! An wie viel Gagentagen haben Sie mich eigentlich schon bezahlen wollen?«
»Diesesmal sicher.«
»Es war allemal sicher.«
»Mensch, auch Sie werden obstinat! Ich hänge mich noch.«
»Warten Sie lieber noch! Zum Hängen kommt man stets zeitig genug. Hier sehen Sie mein Geld: Gerade zwei Gulden. Ich kann nun einmal gegen Sie nicht anders sein. Nehmen Sie das Geld! Ich will sehen, wie ich verkomme.«
»Mensch, Christ, Engel! Sie sind weiß Gott der beste Kerl, den ich kenne. Ich hätte nicht einmal diesen Schnaps bezahlen können. Jetzt bin ich gerettet!«
»Wenigstens auf einen Tag!«
»Das genügt. Trinken Sie einen Doppelkümmel mit?«
»Ich danke! Wer reitet heute die hohe Schule?«
»Miß Rocca. Hole sie der Teufel!«
»Hörte ich nicht, daß ein neuer Clown engagirt sei?«
»Weiß nichts davon.«
»Oder war es etwas Anderes. Ich bin überhaupt seit längerer Zeit nicht im Circus gewesen.«
»Ja, Sie haben auch mir gefehlt.«
»Wie haben Sie denn eigentlich jetzt die Kinderrollen besetzt?«
»Seit wann interessiren Sie sich dafür?«
»Das Interesse ist nicht bedeutend. Ich dachte eben nur so daran.«
Sie blickte ihn von der Seite an und antwortete:
»Wollen Sie mir das weiß machen? Mir?«
»Wieso?«
»Spielen Sie doch wenigstens nicht mit mir Verstecken. Ich bin zu gescheidt dazu. Oder wenigstens habe ich Sie zu gut studirt, als daß ich nicht wüßte, was Sie meinen.«
»Na, was meine ich denn?«
»So speciell läßt es sich nicht sagen. Etwas aber wollen Sie erfahren. Gestehen Sie es nur! Es ist besser. Sie wissen ja, daß ich Ihnen gern gefällig bin.«
»Na, dann meinetwegen, ja.«
»Ist’s gefährlich für uns?«
»Gar nicht!«
»Für den Director?«
»Auch nicht. Aber einen Anderen kann es packen.«
»Wen? Kenne ich ihn?«
»Ja. Ich meine den Herrn Seidelmann.«
»Den Jesuiten? Den kann der Teufel reiten. Wenn ich dem Eins auswischen kann, so thue ich es ganz gewiß. Also, um was handelt es sich?«
»Um einen Jungen.«
»So, so! Wie alt?«
»Fünf Jahre und blond. Sehr hübsche Figur.«
»Zu welcher Zeit?«
»Vor Weihnachten.«
»Stimmt, stimmt! Ein Engel von einem Kinde! Wird aber wohl auch Engel geworden sein.«
»Sie besinnen sich also!«
»Ja. Der Seidelmann kam und tuschelte einige Male mit dem Director. Dann wurde der Junge gebracht. Er kostete, glaube ich, hundertzwanzig Gulden.«
»Das ist richtig.«
»Nach einigen Tagen hatte er aber schon das Bein gebrochen. Armer Wurm!«
»Mein Gott.«
»Der Alte wollte ihn gern loswerden, und als der Bormann zufällig kam –«
»Meine Ahnung! Der Bormann hat ihn bekommen?«
»Ja.«
»Gott bewahre, das Bein hing nur so an der Flechse; aber der Bormann machte das Wimmern doch sofort still.«
»Mit der Peitsche?«
»Natürlich.«
»Bestie!«
»Ich denke, der Kleine wird es nicht lange getrieben haben.«
»Er ist todt.«
»Nicht wahr? Dachte es mir! Bei dem Bormann steckte das Leben eines Kindes nicht fest. Hoffentlich wird es ihm nun aber selbst an den Kragen gehen. Er hat gemordet.«
»Ja. Ich glaube nicht, daß er mit dem Leben davonkommt. Jetzt aber will ich wieder aufbrechen.«
»Schon!«
»Ja. Ich muß doch sehen, wo nun ich etwas gepumpt bekomme, da ich Ihnen meinen Rest gegeben habe. Guten Abend!«
»Guten Abend, Liebling! Bald wieder!«
»Sobald ich wieder bei Casse bin!«
»Schön! Desto willkommener!«
Er ging, um dem Fürsten das Ergebniß seiner Nachforschung mitzutheilen.
Es war an demselben Abende wenig vor Mitternacht. Der Wachtmeister Uhlig hatte die Runde durch die Zellengänge gemacht und sich kaum erst zur Ruhe niedergelegt, so wurde er von dem wachthabenden Zellenschließer wieder aufgeweckt.
»Was giebt es denn?« fragte er den draußen Klopfenden.
»Nummer fünfundzwanzig plötzlich krank geworden.«
»Wer ist das gleich?«
»Apotheker Horn.«
»Was fehlt ihm denn?«
»Blutsturz.«
»Sapperment! Komme gleich!«
Er beeilte sich sehr, denn ein Blutsturz ist gefährlich. Als er an die betreffende Zelle kam, wartete der Schließer voller Rathlosigkeit auf ihn. Die Zelle schwamm im Blute, und der Kranke lag mit geschlossenen Augen und bleich wie der Tod auf dem Strohsacke.
»Herrgott! Lebt er noch?«
»Ich glaube.«
»Dann heraus einstweilen mit ihm auf einen reinlichen Strohsack.«
Strohsäcke lehnten an den Wänden. Es wurde einer neben die offene Zellenthür gelegt und der Kranke darauf. Die beiden Männer knieten bei ihm nieder.
»Ich fühle keinen Puls«, sagte der Wachtmeister. »Horn, heda, Horn!«
Der Patient schlug die Augen auf.
»Hören Sie mich?«
Er nickte leise.
»Wie befinden Sie sich?«
»Schwach«, lispelte er.
»Haben Sie Schmerzen in der Brust?«
»Ja.«
»So müssen wir gleich zum Doctor schicken.«
Der Kranke schüttelte den Kopf.
»Nicht? Warum nicht?«
»Doctor kann auch nichts thun.«
»Aber wenn Sie nun sterben?«
»Nein – schon gehabt – blos Ruhe – Bett.«
Er sagte das langsam und äußerst leise.
»Hm, er hat vielleicht Recht«, meinte der Wachtmeister.
»Ja; er ist ja Apotheker, er muß es verstehen.«
»Und der Bezirksarzt schimpft, wenn er geweckt wird.«
Und lauter fügte er hinzu.
»Sie wollen also keinen Arzt?«
»Nein.«
»Verantworten Sie es?«
»Ja.«
»Na, gut! So wollen wir ihn wenigstens nach der Krankenstation schaffen. Auf dem Strohsacke kann er nicht liegen bleiben. Er muß ein Bett haben. Fassen Sie an!«
Sie packten den Strohsack an, der Eine vorn und der Andere hinten, und trugen ihn nach der Krankenstation.
Dort war es finster, doch wurde Licht gemacht. Es lag Niemand da als Seidelmann in tiefster Lethargie. Auch Horn war ganz theilnahmslos. Er wurde in’s Bett gelegt und leicht zugedeckt.
»Wünschen Sie etwas?« fragte der Wachtmeister.
»Nein«, hauchte der Kranke.
»Etwa Tee oder Wasser?«
»Ruhe.«
»Die soll er haben. Wir müssen jetzt vor allen Dingen die Zelle scheuern, daß sich das Blut nicht festsetzt. Verteufelte Geschichte, so ein Blutsturz! Und dann sehen Sie, wenn sie patroulliren, alle halben Stunden einmal hier nach, wie es steht. So! Und nun löschen Sie das Licht wieder aus!«
Es wurde finster in dem unheimlichen Raume, in welchem schon mancher Unglückliche gestorben war. Die beiden Beamten gingen. Die Riegel klirrten, die Schlüssel knirschten in den Schlössern, und dann hörte man die Schritte sich entfernen.
Eine Zeit lang herrschte in der Krankenstation nicht nur tiefe Dunkelheit, sondern auch tiefe Stille. Sodann erklang es leise und vorsichtig: »Seidelmann!«
»Herr Seidelmann.«
Abermals keine Antwort.
»Wenn Sie nicht antworten, so sind Sie verloren. Ich will Sie ja retten!«
Aber auch das half nichts. Seidelmann bewegte sich nicht.
»Vielleicht haben Sie mich nicht genau gesehen. Ich bin Horn, der Apotheker.«
Das half sofort, denn drüben rauschte die Bettdecke, und eine leise Stimme ließ sich hören:
»Himmeldonnerwetter! Ist’s wahr?«
»Ja.«
»Gott sei Dank! Aber ich hörte doch, daß Sie einen Blutsturz gehabt haben!«
»Unsinn! Fällt mir gar nicht ein!«
»Aber diese Kerls müssen doch Blut gesehen haben!«
»Natürlich! Chemisches Präparat, aufgelöst im Wasserkruge. Ich bin so gesund, wie ein Fisch im Wasser.«
»Gut, sehr gut! Also auch Sie sind eingezogen!«
»Leider.«
»Weshalb?«
»Als Mitglied der Bande.«
»Was kann man Ihnen denn beweisen?«
»Nichts, dachte ich. Aber dieser Fürst von Befour hat entweder den Teufel, oder er ist allwissend. Jetzt soll mir wegen Giftmischerei der Prozeß gemacht werden.«
»Ja. Ich gehe auf und davon.«
»Du lieber Gott! Als ob das so leicht wäre!«
»Kinderleicht!«
»Wer’s glaubt!«
»Kinderleicht, sage ich! Ich will Sie mitnehmen.«
»Können Sie hexen?«
»Nein. Heute war ich auf den Kübel gestiegen und guckte durch das Gitter. Da sah ich, daß ein Kranker gebracht wurde. Ich sah schärfer hin und erkannte Sie. Da stand es fest, daß ich einen Blutsturz bekommen würde. Ich mußte hierher in die Krankenstation, um die Flucht mit Ihnen zu besprechen. Wollen Sie?«
»Ich wage mein Leben.«
»Das ist gar nicht nöthig, obgleich es den Anschein hat. Aber sagen Sie mir zunächst, wie es mit Ihnen steht! Wessen werden denn Sie beschuldigt?«
»Hunderterlei bringt man vor.«
»Hat man Beweise?«
»Genug.«
»Verdammte Geschichte!«
»Ja. Es ist nun einmal das Kreuzdonnerwetter hineingerathen. Hole es der Teufel!«
»Wie? Herr Seidelmann, Sie fluchen!«
»Faseln Sie nicht! Jetzt hat die Maske keinen Zweck mehr. Jetzt ist man Wolf und muß heulen.«
»Richtig. Aber ich hörte, Sie seien todtkrank?«
»Verstellung.«
»Ah so!«
»Aber eine fürchterliche Anstrengung, Tag und Nacht diese Lethargie und Gefühllosigkeit heucheln. Und dabei kann es Einem an jedem Augenblick passiren, daß Jemand Einem unerwartet in die Ohren brüllt, so daß man sich doch verschnappt. Na, bis jetzt ist es gelungen. Das Allerschlimmste war die Unkenntniß mit den äußeren Verhältnissen. Wie steht es da?«
»Schlecht, sehr schlecht!«
»Doch nicht!«
»Oh, viel, viel schlimmer, als Sie denken!«
»Wieso denn?«
»Es ist Alles, Alles entdeckt.«
»Das ist ja unmöglich!«
»Ach, was Sie denken! Hören Sie! Zunächst ist der Hauptmann gefangen.«
»Ist’s wahr?«
»Ja. Er war schon einmal gefangen. Es gelang ihm aber, zu entkommen. Jetzt haben sie ihn wieder. Nun kommt er aber sicher nicht wieder hinaus.«
»So weiß man, wer er ist?«
»Natürlich.«
»Weiter. Die beiden Tannensteiner Schmiede und die beiden Bormänner gefangen. Ferner unsere ganzen Eingeweihten in Gefangenschaft.«
»Wer hat sie gefangen?«
»Der Fürst von Befour.«
»In die Hölle mit diesem Hunde!«
»Und was noch außerdem geschehen ist und noch geschehen wird!«
»Erzählen Sie!«
Der Apotheker berichtete leise flüsternd Alles, was Seidelmann noch nicht wußte. Unterdessen hörten sie draußen Schritte kommen.
»Still! Der Schließer!«
Er öffnete die Thür und kam mit der Laterne bis an das Bett des Apothekers.
»Schlafen Sie?« fragte er.
»Nein«, hauchte der Kranke.
»Wie steht es?«
»Gott wird helfen.«
»Versuchen Sie zu schlafen!«
Er entfernte sich wieder und schloß zu. Die Beiden warteten eine Weile, dann sagte Seidelmann:
»Wenn es so steht, so ist es schrecklich. Einigen geht es an das Leben, Viele erhalten lebenslänglich Zuchthaus.«
»Wie zum Beispiel ich.«
»Also brenne ich durch.«
»Wie denken Sie sich denn dieses Durchbrennen?«
»Es ist kinderleicht. Vorher aber muß man wissen, wohin.«
»Nach Amerika?«
»Fällt mir nicht ein. Da haben sie Einen gleich.«
»Dann wo anders hin. Der Ort ist mir gleich, nur hinaus!«
»Aber Geld! Geld!«
»Ach so! Ja, das ist die Hauptsache.«
»Ich habe keins.«
»Ich habe genug.«
»Vorräthig liegen?«
»Einiges. Das Uebrige weiß ich zu nehmen.«
»Wenn man so an die fünfzigtausend Gulden zusammenbringen könnte!«
»Ich garantire für noch mehr.«
»Wirklich?«
»Ganz gewiß. Das erste aber, wenn ich frei werde, ist, daß ich diesem Fürsten von Befour das Licht ausblase.«
»Ich helfe mit. Er ist’s, wegen dessen ich hier stecke.«
»Wissen Sie das?«
»Ja. Er hat es mir gesagt!«
»Kommt er denn in’s Gefängniß?«
»Ja. Er ist bei den Verhören anwesend. Er geberdet sich, als ob er wirklich der Justizminister sei.«
»Ah, könnte ich hinaus! Der sollte eines zehnfachen Todes sterben. Darauf schwöre ich!«
»So wollen wir!«
»Aber wie? Man wird jetzt schrecklich vorsichtig sein.«
»Das ist wahr. Noch niemals sind solche Maßregeln getroffen worden wie jetzt. Mich aber hält man doch nicht.«
»Also wie?«
»Wir müssen sterben.«
»Dann schleppen sie uns freilich hinaus, Sie Esel!«
»Na, ich meine sterben zum Scheine.«
»Ach so! Wie fangen Sie das an?«
»Wie ich meinen Blutsturz bekommen habe. Ich habe eine sehr kleine, aber auch sehr auserlesene und brauchbare Apotheke mit.«
»Mit hereingebracht?«
»Natürlich.«
»Wie ist das möglich?«
»Auch wieder sehr leicht. Ich war schon längst darauf gefaßt, arretirt zu werden –«
»Und haben gewartet? Welch ein Dummkopf!«
»Hm! Ich dachte, man würde nichts auf mich bringen können und mich in Folge dessen wieder herauslassen.«
»Ach so! Sehr kindliche Meinung!«
»Ich konnte nicht ahnen, daß dieser Fürst von Befour fast alle meine Geheimnisse kennt. Also war ich überzeugt, daß ich nicht lange gefangen sein würde. Dennoch sah ich mich vor, um für alle Fälle vorbereitet zu sein. Ich setzte mir also eine Apotheke zusammen. Mit einem einzigen Medicamente kann man unter Umständen mehr erreichen, als mit aller Gewalt und aller List.«
»Der alte Giftdoctor! Ja! Wie aber haben Sie denn die Apotheke hereingebracht?«
»Auf dem Kopfe.«
»Fast unglaublich!«
»Und doch sehr leicht. Vor einiger Zeit bildete sich bei mir eine Platte, ein umschriebener Kahlkopf. Ich ließ mir eine runde Haartour machen, welche diese Stelle vollständig bedeckt und von dem echten Haar gar nicht zu unterscheiden ist. Unter diesen falschen Haaren nun steckt meine Apotheke.«
»Etwa Flaschen und Büchsen!«
»Dummheit! Geben Sie mir eine Retorte, und ich concentrire das Weltmeer zu einem einzigen Tropfen. Meine Medicamente nehmen kaum den Raum eines Punktes weg, den Sie mit der Spitze Ihrer Feder auf Papier machen, und doch wirken sie mit der Gewalt des Blitzes oder einer Kanonenkugel.«
»Ich kenne Ihre Kunst und zolle ihr alle meine Bewunderung. Sagen Sie nur, auf welche Weise sie uns diese verdammten Thüren öffnen soll!«
»Dadurch, daß wir, wie ich bereits sagte, scheinbar sterben.«
»Um nicht wieder aufzuwachen.«
»Trauen Sie mir nichts Besseres zu?«
»Hm! Gefährlich ist es doch!«
»Noch gefährlicher ist das Hierbleiben.«
»Das ist freilich wahr.«
»Ich zwinge Sie übrigens gar nicht. Ich biete Ihnen meine Hilfe an. Gehen Sie mit, dann gut; wir können einander nützen. Bleiben Sie, so gehe ich allein und habe doch nur riskirt, daß Sie mich verrathen.«
»Nun und nimmermehr!«
»Ich traue es Ihnen auch nicht zu. Wissen Sie, wie die Leichen der Verstorbenen behandelt werden?«
»Ja. Man läßt sie eine Nacht in der Zelle oder auf der Station. Am nächsten Tage werden sie mittelst Siechkorbes nach dem Gottesacker geschafft und in dem Leichenhause aufgebahrt. So wenigstens denke ich.«
»Ja, und so würde man es auch mit uns machen.«
»Was dann weiter?«
»Ich habe ein Mittel mit, welches den Scheintod verleiht, aber nur für genau dreißig Stunden. Es wirkt genau nach zwölf Stunden. Nehmen wir es heute ein, so sterben wir morgen und kommen übermorgen in das Leichenhaus. Von dort ist es leicht, zu entkommen.«
»Mit wahrhaft göttlicher Sicherheit.«
»Aber der Athem?«
»Steht still!«
»Der Puls?«
»Ist nicht zu gewahren.«
»Hm! Bei Leuten, wie wir sind, wird man mit der allergrößten Sicherheit zu Werke gehen. Ich setze den Fall, man läßt uns zur Ader!«
»Doch nur an den Extremitäten. Es kommt kein Tropfen Blut, höchstens ein Bischen Wasser.«
»Das ist ja aber der factische Tod!«
»Scheinbar.«
»Wie steht es mit den Sinnen?«
»Sie sind außer Thätigkeit.«
»Man hört, sieht und fühlt also nicht?«
»Nein.«
»Das ist ein Trost, denn man würde während dieser kurzen Zeit Höllenqualen ausstehen.«
»Sie machen also mit?«
»Ja. Aber es giebt noch einige Bedenken.«
»Welche?«
»Wenn man uns nun sofort einscharrt?«
»Das geht nicht. Das ist gegen das Gesetz.«
»Oder uns gleich in den Sarg nagelt?«
»Bah! Den sprengen wir auf. Soviel Luft, um einige Minuten athmen zu können, ist in jedem Sarge.«
»Oder man läßt uns hier stehen und begräbt uns dann von hier aus.«
»So bleiben wir das, was wir jetzt sind: Gefangene.«
»Man wird Verdacht schöpfen, wenn wir zusammen sterben. Man kennt Sie als Giftmischer.«
»Ich sterbe in meiner Zelle, in welche ich mich morgen früh gleich bringen lasse, Sie aber hier. Sie sterben an den Folgen Ihrer Gehirnerschütterung, ich aber an den Folgerungen meines heutigen Blutsturzes.«
»Hm!«
»Na, man wird sich nicht gar zu sehr um uns bekümmern, sondern man wird froh sein, daß uns der Teufel geholt hat.«
»Recht haben Sie. Wir müssen es wagen, denn wir können nur gewinnen, nicht aber verlieren.«
»Das ist sehr vernünftig gedacht. Uebrigens dürfen sie einen Todten nicht so mir nichts dir nichts einscharren. Man müßte meine Leute benachrichtigen. Und diese haben für diesen Fall ihre genaue Instruction.«
»Ach so!«
»Ja. Meine Frau und meine Töchter warten von Stunde zu Stunde, daß ein Bote kommt, ihnen zu melden, daß ich plötzlich gestorben bin. Sie werden meine Leiche schleunigst reclamiren.«
»Ich kann dann für Sie sorgen. Also, entscheiden Sie sich. Wollen Sie?«
»Ja.«
»So will ich Ihnen das Mittel geben.«
Es währte eine kleine Weile, dann verließ er das Bett und kam zu Seidelmann.
»Geben Sie mir Ihre Hand!«
»Hier.«
»So! Fühlen Sie das kleine Körnchen?«
»Ja.«
»Nehmen Sie es in den Mund! Es wird jetzt zwei Uhr sein. Morgen Mittag um dieselbe Zeit sind Sie todt.«
»Alle Teufel, es ist doch eine verfluchte Geschichte!«
»Sie haben Furcht!«
»Das nicht! Na, wenn ich mir überlege, was ich bisher ausgestanden habe und was mir noch bevorsteht, so kann ich gar nicht zaudern. Also hinein damit!«
»Haben Sie es im Munde?«
»Ja.«
»Wie schmeckt es?«
»Nach gar nichts.«
»So ist es richtig. Das ist die Kunst. So ein Mittel darf weder Geruch noch Geschmack haben. Es wirkt sicher.«
»Aber da fällt mir noch Eins ein!«
»Was?«
»Man wird uns untersuchen.«
»Jedenfalls.«
»Und da Ihre Haartour nebst der Apotheke finden. Dann weiß man Alles und wartet einfach, daß wir erwachen.«
»Keine Angst. Man findet nichts. So dumm bin ich nicht, mich auf solche Art und Weise zu verrathen. Haben Sie noch eine Frage oder so Etwas?«
»Jetzt nicht.«
»Ich möchte mich nämlich wieder zurückschaffen lassen.«
»Warum?«
»Je kürzer wir beisammen gewesen sind, desto weniger wird man ein Einverständniß zwischen uns vermuthen.«
»Das ist freilich wahr. Suchen wir also, was vielleicht noch zu erwähnen wäre!«
Sie flüsterten noch eine Weile fort, bis der Schließer wiederkam. Er leuchtete dem Apotheker abermals in das Gesicht und fragte wie vorhin: »Wie geht es?«
»Schlecht.«
»Ja. Schrecklich hier! Der dort! Die Leiche!«
»Ja, angenehm wird das freilich nicht sein!«
»Aufregung – wieder Blutsturz!«
»Alle Teufel! Das wäre lebensgefährlich! Ich werde da lieber – hm, wollen Sie nicht lieber wieder in Ihre Zelle zurück?«
»Viel lieber!«
»Ich werde ein paar Gefangene holen, die mögen Sie gleich mit sammt dem Bette fortschaffen.«
Er ging.
»Gelungen!« sagte der Apotheker.
»Wann werden Sie das Mittel nehmen?«
»In einer Stunde.«
»Da wollen wir nur immer Abschied nehmen. Also, adieu bis nach dem Tode!«
»Adieu bis – diesseits der Hölle! Ich bin wirklich neugierig, wo ich stecken werde, wenn ich erwache.«
»Ich auch. Wir spielen mit dem Tode und mit der Ewigkeit. Es ist wirklich ungeheuer vermessen!«
»Wollen Sie nicht lieber ein Gesangbuchlied anstimmen, Sie Vorsteher der Brüderschaft zur Seligkeit?«
»Sie haben Recht! Wir müssen Männer sein. Denken wir lieber an die Gesichter, welche unsere lieben Freunde vom Gericht schneiden werden, wenn sie uns einscharren wollen, und es tönt ihnen das biblische Wort entgegen: Sie sind auferstanden und nicht mehr hier!«
»Herrlich! Ich möchte dabei sein!«
»Ich gäbe ein Jahr meines Lebens hin, wenn ich diese Schafskopfsphysiognomieen sehen könnte. Ah, da kommen sie!«
Der Schließer kehrte mit einigen Gefangenen zurück, welche er geweckt hatte. Sie mußten den Apotheker im Bette nach seiner Zelle tragen und wurden dann wieder eingeschlossen.
Am anderen Morgen war der Wachtmeister weit eher munter, als zu anderen Tagen. Er kam zu dem Schließer und fragte nach den beiden Patienten.
»Ich habe doch nicht gleich daran gedacht«, sagte er, »daß gerade diese Beiden wegen ganz derselben Sache in Untersuchung sind. Gut, daß der Seidelmann nicht bei Sinnen ist; sie hätten sich sonst Mittheilungen machen können.«
»Haben Sie keine Sorge, Herr Amtswachtmeister! Die beiden haben nicht neben einander geschlafen.«
»Nicht? Wie denn?«
»Der Apotheker fürchtete sich vor dem Halbtodten; es regte ihn auf. Er befürchtete eine Wiederkehr des Blutsturzes. Ich habe ihn daher in seine Zelle zurückschaffen lassen. Ich weckte dazu einige Gefangene, da ich Sie doch nicht wieder stören wollte.«
»Das haben Sie sehr klug angefangen. Da kommt mir ein Stein vom Herzen!«
Dann, als die Amtirungszeit begonnen hatte, kam der Gerichtsarzt zum Staatsanwalte, welcher ihm gestern gesagt hatte, daß er ihn zu Seidelmann begleiten wolle, um sein Urtheil über den Zustand desselben zu hören. Sie begaben sich mit einander nach der Krankenstation.
Der Kranke lag mit geschlossenen Augen, bleich und bewegungslos im Bette. Der Arzt befühlte den Puls an der Hand und am Herzen, horchte an Mund und Nase, zog ihm das eine Augenlid prüfend etwas empor und sagte dann: »Er wird den Mittag nicht weit überleben.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ich behaupte es sogar.«
»Schade! Welch ein Beweismaterial gegen den Hauptmann geht uns da verloren!«
»Man hätte ihn ruhig in Rollenburg sterben lassen können.«
»Der Fürst wollte es so?«
»Pah! Da schickt er diesen jungen, unerfahrenen Doctor Zander nach Rollenburg, um Seidelmann untersuchen zu lassen und den Riesen Bormann ebenso. Der Zander sagt, sie seien transportabel – nun haben wir die Bescheerung da! Es fehlt nur noch, daß der Riese auch noch stirbt. Glücklicher Weise steckt der in der Abtheilung für Geisteskranke, mit der ich nichts zu schaffen habe.«
»Meinen Sie nicht, daß es hier doch noch ein Mittel gebe, die Lebensgeister wieder anzuregen?«
»Was sollte das sein?«
»Nun, irgend eine Stimulation. Ich bin nicht Arzt und kenne diese Mittel nicht.«
»Es ist zu spät. Es knüpft ihn langsam ab. Lassen wir ihm das Einzige, was er noch hat: daß ihn der Teufel in Ruhe holt. Denn selig wird dieser Fromme nicht; er ist es hier schon genug gewesen.«
Sie verließen die Station. Draußen meldete der Wachtmeister dem Gerichtsarzt:
»Herr Doctor, heute Nacht ein Blutsturz.«
»Und mich nicht geholt?«
»Der Patient wollte nicht.«
»Wer ist es?«
»Der alte Apotheker Horn.«
»Na, da habe ich nichts versäumt. Wenn er es selbst gewollt hat, daß ich nicht geholt werde, so mag er es auch verantworten. Er versteht es ja selbst.«
»Wollen Sie ihn nicht jetzt besuchen?«
»Hat er es gewünscht?«
»Nein. Er spricht gar nicht.«
»So läßt er es bleiben, der alte Giftmischer.«
Da aber meinte der Staatsanwalt:
»Ich möchte Sie aber doch bitten, zu ihm zu gehen. Ich begleite Sie. Das Leben dieses Mannes hat einen sehr hohen Werth für mich, als den Vertreter des Gesetzes, und Blutstürze sind bei seinem Alter gefährlich.«
Der Apotheker lag mit halb offenen, außerordentlich müden Augen auf seinem Bette.
»Was machen Sie denn für Dummheiten, Horn!« sagte der Arzt in seiner derben Weise. »So ein alter Pharmaceut wird doch nicht krank werden. Wie geht es denn?«
»Müde!« hauchte der Gefragte.
»Zeigen Sie den Puls.«
Das Gesicht des Arztes wurde bedenklicher.
»Hat er viel Blut verloren?« fragte er den Wachtmeister.
»Die Zelle schwamm förmlich.«
»Das ist gut. Nur heraus mit dem schlechten Zeuge! Ich werde etwas verordnen, dann wird sich’s rasch bessern.«
Draußen aber im Corridore, als die Thüre der Zelle wieder verschlossen war, blieb er kopfschüttelnd stehen und sagte zu dem Staatsanwalte: »Ich sagte drin nur so, um ihm Muth zu machen. Ich glaube, Sie werden heute zwei Leichen haben.«
»Doch nicht!« meinte der Beamte erschrocken.
»Ja. Er hat zu viel Blut verloren. Der Rest ist in den Adern kaum zu bemerken.«
»Glauben Sie vielleicht, daß ich ihm die Adern voll Blut pumpen kann? Ein Wenig anregen kann ich ihn wohl, desto schneller aber wird es alle sein. Schade ist es auch um ihn nicht. Er hat viel auf seinem Gewissen.«
»So möchte ich zu dem Gefängnißgeistlichen schicken.«
»Thun Sie es! Diese Herren meinen ja, daß sie die einzigen Wegweiser zum Himmel sind. Ich werde übrigens baldigst wiederkommen. Vielleicht ist wenigstens der Apotheker noch zu retten.«
»Thun Sie, was Sie thun können. Beide Patienten sind mir für die Acten fast unersetzlich!«
Er schickte nach dem Anstaltsgeistlichen und sandte dann dem Fürsten von Befour ein Billett mit dem kurzen Inhalte:
»Seidelmann und Apotheker Horn im Sterben. Könnte ich Sie einmal sehen?«
Der Pfarrer kam sehr bald, mit den zur heiligen Handlung nöthigen Requisiten ausgerüstet, und begab sich zu dem Apotheker. Er fand ihn in einem Zustande außerordentlicher Schwäche, doch hatte der Kranke noch das Bewußtsein und konnte auch noch sprechen, wenn auch so leise, daß es kaum zu verstehen war.
Der Geistliche war nicht allein gekommen, sondern Assessor von Schubert war bei ihm. Er als Untersuchungsrichter hatte es für werthvoll gehalten, zu sehen, wie der Sterbende sich zu dem Seelsorger verhalten werde.
»Hören Sie mich?« fragte dieser Letztere.
Der Apotheker nickte.
»Sehen Sie mich auch?«
»Nicht gut«, antwortete der Gefragte mit leiser Stimme.
»Aber Sie wissen, wer ich bin?«
»Der Pfarrer.«
»Ja. Ich bin gekommen, Ihnen in Ihrer letzten Stunde den Beistand der Religion zu bringen. Gott ist allen Sündern gnädig. Er vergiebt selbst die schwerste That, wenn sie bereut wird. Sie stehen an den Pforten der Ewigkeit. Was Sie unbereut mit hinüber nehmen, werden Sie im Jenseits noch schwer zu tragen haben.«
»Ja.«
»Ich meine, ob Sie beichten wollen?«
»Ja.«
»Wir sind nicht allein. Der Herr Untersuchungsrichter befindet sich mit zugegen. Wünschen Sie, daß er sich entferne?«
»Nein.«
»Nun gut. So lassen Sie uns zunächst zum Allbarmherzigen beten, daß er Ihr Herz öffne, damit Sie in Reue alles Dessen gedenken, was Sie verbrochen haben.«
Er kniete vor dem Bette nieder und betete laut. Dann erhob er sich und sagte:
»Ich bin nicht allwissend und kann nicht Herzen und Nieren prüfen; darum ist es mir unmöglich, Sie zu fragen. Sagen Sie selbst mir alle Punkte, welche Sie von Herzen bereuen, und für welche Sie Vergebung erheischen!«
Es war eine tiefe, weihevolle Stille in der Zelle. Der Untersuchungsrichter war näher getreten, um die leise Stimme des Beichtenden verstehen zu können. Er war im höchsten Grade gespannt auf die Bekenntnisse, welche derselbe machen werde. So warteten die beiden Beamten; aber der Sterbende schwieg. Er ließ kein Wort hören.
»Haben Sie mich verstanden?« fragte endlich der Pfarrer.
»Ja.«
»Also, was haben Sie uns zu bekennen?«
»Nichts.«
Er sagte das in einem sehr eigenthümlichen Tone. Der Assessor raunte dem Geistlichen zu:
»Das klang ja fast wie Hohn!«
»O nein,« antwortete dieser ebenso leise. »Ein Sterbender und Hohn, das wäre ja entsetzlich!«
»O, ich habe Erfahrung gemacht! Fragen Sie weiter!«
Der Geistliche wendete sich wieder an den Gefangenen:
»Wollen Sie etwa sagen, daß Sie kein Sünder sind?«
»Nein.«
»Also gestehen Sie!«
»Ich kann nichts gestehen. Ich bin unschuldig.«
»Aber Sie wollten doch beichten?«
»Ja, wie jeder Andere beichtet.«
»Sie wollen also eine allgemeine Beichte ablegen, so wie man sie bei der Communion nach den Worten des Geistlichen ablegt?«
»Ja.«
»Sind Sie sich keiner besonderen Sünde bewußt?«
»Nein.«
Er zuckte die Achsel und sah den Assessor fragend an. Dieser flüsterte ihm zu:
»Ich sagte es Ihnen ja. Er ist verstockt und wird ohne Geständniß sterben. Ich kenne diese Art von Menschen.«
»Und ich kann nicht wissen, was grad Sie von ihm hören möchten. Wollen Sie ihn fragen?«
»Das wäre ein Verhör, aber keine Beichte. Ich habe kein Recht, zu Untersuchungszwecken das Hinscheiden eines Sterbenden zu erschweren.«
»Nehmen Sie es nicht als Verhör. Er hat gesagt, daß er beichten wolle, und da ich die Sünden, welche ihm zur Last gelegt werden, nicht kenne, so ist es für sein Seelenheil nur vortheilhaft, wenn Sie ihn an sie erinnern.«
Darauf hin trat Schubert nahe an das Bett heran und fragte den Apotheker:
»Sie wissen doch, weshalb Sie gefangen sind?«
»Nein.«
»Sie standen mit dem sogenannten Hauptmann im Bunde?«
»O niemals!«
»Sie haben sich gewisser giftiger Arzneimittel zu Zwecken bedient, welche vom Gesetz verboten sind?«
»Nein.«
»Sie haben Gifte gefertigt, welche man dann dem Riesen Bormann und der Baronin von Helfenstein eingegeben hat.«
»Das ist nicht wahr.«
»Aber wir haben Zeugen, welche ganz genau wissen und es auch beschwören, daß der Hauptmann bei Ihnen gewesen ist.«
»Auch das ist eine Lüge. Ich will beichten, weil ich ein sündiger Mensch bin; ein Verbrecher aber bin ich nicht. Ich habe mit Ihnen nichts zu thun; ich will nur mit dem Pfarrer sprechen. Lassen Sie mich doch ruhig sterben!«
Da trat der Assessor enttäuscht vom Bette zurück und sagte zum Pfarrer.
»Er ist verstockt. Ich bin überzeugt, daß er schuldig ist. Thun Sie Ihre Pflicht, so, wie Sie es verantworten können!«
Der Geistliche versuchte es, dem Kranken in’s Gewissen zu reden, doch ohne Erfolg. Darum entschied er endlich: »Nun wohl! Es ist mir als dem verordneten Diener der christlichen Kirche das Amt der Schlüssel gegeben. Ich kann binden und lösen, je nachdem der Sünder reuig ist oder nicht. Dieses Amtes werde ich jetzt walten, so wie es mein Gewissen mir gebietet. Sie bekennen sich also nur im Allgemeinen für einen Sünder?«
»Ja.«
»Eine besondere, hervorragende und im Strafgesetzbuche erwähnte That aber haben Sie nicht begangen?«
»Nein, nie!«
»So werde ich Ihnen die allgemeine Beichte vorsprechen. Ist es Ihnen möglich, sie nachzusprechen?«
»Ich bin müde. Das Reden fällt mir schwer.«
»So hören Sie!«
Der Geistliche las ihm langsam und deutlich den Wortlaut der Beichte vor und fragte dann:
»Haben Sie mich verstanden, und ist dies das ganze Sündenbekenntniß, welches Sie ablegen wollen?«
»So verkündige ich Ihnen an Gottes Stelle die Vergebung derjenigen Sünden, welche Sie mir gebeichtet haben. Sollten Sie aber Lasten, welche Ihre Seele bedrücken, aus Verstocktheit verheimlicht haben, so kann ich sie Ihnen nicht vergeben. In diesem Falle also werden Sie ohne Absolution sterben und sich am Tage des Gerichtes vor dem allwissenden und allgerechten, ewigen Richter zu verantworten haben. Sterben Sie in Frieden, wenn Sie es können, und Gott sei Ihrer armen Seele gnädig!«
Er sprach den Segen nicht über ihn und entfernte sich mit dem Assessor.
»Schrecklich!« meinte dieser. »Wie wichtig wäre mir ein jedes Wort gewesen, selbst wenn es nur eine Andeutung enthalten hätte! Solche Menschen glauben weder an Gott, noch an eine Ewigkeit. Man kann nur mit Schaudern von ihnen fortgehen!«
Den Fürsten hatte die Botschaft des Staatsanwaltes nicht rechtzeitig angetroffen. Er kam erst nach der Mittagsstunde, als die Expedition in den Gerichtsräumen nach dem Essen wieder begonnen hatte. Er kam nicht allein, sondern er brachte Doctor Zander mit.
Er ließ sich eben von dem Staatsanwalte und dem Assessor das Vorgekommene erzählen, als der Gerichtsarzt eintrat. Als dieser den jungen Collegen erblickte, nahm er eine sehr reservirte Miene an und sagte: »Störe ich vielleicht bei einer ärztlichen Consultation?«
»O nein,« antwortete der Staatsanwalt. »Bringen Sie mir vielleicht eine Neuigkeit?«
»Eine Neuigkeit, ja, aber doch etwas bereits Erwartetes. Seidelmann ist soeben gestorben.«
»Ach! Also doch! Wohl in Ihrer Gegenwart?«
»Nein. Ich kam, um nach Horn zu sehen. Dabei wurde mir vom Wachtmeister der Tod des Anderen gemeldet.«
»Mir aber nicht!«
»Bitte, der Tod war soeben erst eingetreten, und ich übernahm die Meldung, welche der Wachtmeister Ihnen schuldig war.«
»Haben Sie nach der Leiche gesehen?«
»Ja. Ich kann nach einer sehr eingehenden Untersuchung nur constatiren, daß Seidelmann wirklich todt ist.«
»Woran gestorben?«
»Unzweifelhaft an Gehirnerschütterung.«
»Fatal, höchst fatal! Mit ihm ist uns ein höchst wichtiger Zeuge entgangen.«
Da meinte der Fürst von Befour:
»Grad weil Seidelmann für uns von solcher Wichtigkeit sein muß, dürfen wir hier nicht das Allergeringste versäumen. Es muß unwiderlegbar constatirt werden, daß er wirklich todt ist. Gehen wir zu ihm.«
Da antwortete der Gerichtsarzt in unterdrücktem Zorne:
»Durchlaucht, ich bin Arzt und zwar Gerichtsarzt. Ich glaube, an dieser Stelle und in dieser Angelegenheit competent zu sein!«
»Bitte, bester Herr Doctor, es fällt uns auch gar nicht ein, an Ihrer Competenz zu zweifeln; nur werden Sie zugeben, daß wir Grund haben, uns den Todten einmal anzusehen.«
»Dagegen kann ich allerdings nichts haben, bitte aber, mich von dieser Ocularinspection zu dispensiren.«
»Es wäre uns aber sehr lieb, wenn Sie sich mit betheiligen wollten!«
Der Arzt fühlte sich aber beleidigt; er antwortete:
»Das ist mir unmöglich. Ich habe andere Pflichten auch. Ich muß soeben zu einem Fieberkranken am Altmarkte.«
»Bitte, sind Sie nicht zunächst Gerichtsarzt?«
»Allerdings, doch habe ich als solcher nicht die Verpflichtung, den Tod eines Menschen zweimal zu constatiren. Selbst wenn ich hier bleiben wollte, würde ich mich nicht mehr mit dieser Leiche beschäftigen können; ich müßte vielmehr zu dem Apotheker Horn, dessen Tod in jeder Minute zu erwarten ist.«
»Ja.«
»Das ist allerdings auffällig. Ich bin überzeugt, daß dieser Mann es vermag, sich scheintodt zu machen, und da er mit dem todten Seidelmann früher zweifellos in Verbindung gestanden hat, so liegt für uns die Veranlassung, sehr vorsichtig zu sein, gewißlich sehr nahe.«
Der Arzt zuckte beinahe höhnisch die Achseln:
»Sich etwa scheintodt machen, um entfliehen zu können?«
»Ja.«
»Das wäre kühn, nein, das wäre sogar wahnsinnig.«
»Wenn es keinen anderen Weg der Rettung giebt, so wagt man eben das Äußerste.«
»Wie hätte Horn in seiner Zelle zu dem betreffenden Mittel kommen können?«
»Er kann es mitgebracht haben. Jedenfalls ist er auf seine Arretur vorbereitet gewesen.«
»Und wie hätte er es Seidelmann geben können, welcher übrigens ohne Verstand gewesen ist?«
»Hm! Da haben wir freilich ein unübersteigliches Hinderniß. Die Beiden haben sich ja während ihres hiesigen Aufenthaltes gar nicht sehen können.«
»O doch!« fiel da schnell der Staatsanwalt ein. »Der Wachtmeister hat mir mitgetheilt, daß sich Horn infolge seines Blutsturzes in der Krankenstation befunden habe, wo auch Seidelmann liegt, allerdings nur für kurze Zeit. Seidelmann lag ohne Bewegung, wie eine Leiche, und es war für Horn so aufregend gewesen, so ganz allein und im Finstern mit diesem todtenähnlichen Menschen zu sein, daß er sich wieder in seine Zelle schaffen ließ.«
»Ach, das giebt zu denken! Wie nun, wenn Seidelmann nur simulirt hätte, wenn er gar nicht krank gewesen wäre? Es ist ihm das sehr wohl zuzutrauen.«
»Er war krank, er war besinnungslos und unzurechnungsfähig!« fiel der Gerichtsarzt ein.
»Sehen wir uns aber dennoch seine Leiche an!«
»Ich habe keine Zeit dazu!«
Da legten sich die Züge des Fürsten in den tiefsten Ernst. Er sagte:
»Ich habe hier nichts zu befehlen. Will der Herr Staatsanwalt Sie dispensiren, so hat er es zu verantworten.«
Auf diese indirecte Aufforderung wendete sich der Genannte an den Gerichtsarzt:
»Ich muß Sie wirklich bitten, uns zu begleiten, da die Angelegenheit von solcher Wichtigkeit ist.«
»Wenn Sie befehlen, gehorche ich, bitte aber zu bedenken, daß ich keineswegs gezwungen bin, ein Amt weiter zu führen, bei dessen Verwaltung ich auf solche Unannehmlichkeiten stoße, Herr Staatsanwalt.«
Der Genannte zog es vor, nicht zu antworten, und so begaben sich die Herren nach der Krankenstation, wo Seidelmann lag, nackt und nur in ein Betttuch gehüllt.
Der Gerichtsarzt zog das Tuch ganz fort, faßte den Scheintodten bei einem Arme und zog an demselben. Der Arm gab nicht nach, sondern der ganze Körper war so steif, daß er sich mitbewegte.
»Glauben Sie, daß bei so einer ausgesprochenen Todesstarre es noch möglich ist, daß er lebt?« fragte der Gerichtsarzt in ironischem Tone.
»Allerdings,« antwortete Doctor Zander schnell.
Sein College fuhr mit dem Kopfe zu ihm herum und sagte in höchstem Erstaunen:
»Ah! Wirklich! Mir vollständig neu!«
»Aber mir nicht, Herr College.«
»Wahrscheinlich sind Sie bedeutend älter als ich!«
»Ich glaube nicht, daß nur das Alter Erfahrung macht. Es kann durch Zufall auch einmal einem Jüngeren ein Blick dahin gestattet sein, wohin ein Älterer noch nicht schaute. Darf ich wohl wissen, wann Seidelmann starb?«
»Vor über einer Stunde.«
»Und bereits so steif? So steif wie Knochen! Bitte, fühlen Sie ihn an! Sein Leib greift sich an wie eine Statue aus Stein oder Metall. Grad die ungewöhnliche Schnelligkeit dieser Starre und der hohe Grad derselben erregt mein Bedenken. Ich gestehe aufrichtig, daß sie mir nicht natürlich vorkommt, will aber keineswegs der Competenz meines verehrten Herrn Collegen vorgreifen. Ich spreche nur eine persönliche Meinung aus.«
Da erklärte der Gerichtsarzt giftig:
»Und ich bescheinige amtlich, nicht aus persönlicher Meinung, daß dieser Mann hier eine Leiche ist!«
»Welcher Prüfung haben Sie diese Leiche unterworfen?« fragte da der Staatsanwalt.
»Derjenigen, welche für mein Urtheil hinreichend ist. Der Mann hat weder Puls noch Athem.«
»Haben Sie ihm nicht vielleicht eine Ader geöffnet?«
»Das war überflüssig.«
»Was meinen Sie, Herr Doctor Zander?«
»Ich meine, daß es immerhin geboten sein dürfte, nach der Circulation des Blutes zu suchen. Ich möchte den Herrn Collegen bitten, eine Ader zu öffnen.«
Das brachte den Gerichtsarzt vollends aus dem Häuschen. Er hielt seinen Zorn nicht mehr zurück und sagte: »Meine Herren, ich bitte, mir mitzutheilen, ob Herr Doctor Zander anwesend ist zum Zwecke eines ärztlichen Consiliums mit mir!«
Da nahm der Fürst das Wort:
»Ich erhielt die Nachricht von dem bevorstehenden Tode der beiden Gefangenen. Ich hegte Verdacht und begab mich zu Herrn Doctor Zander, welcher mein Vertrauen besitzt. Wir wußten nicht, daß der Herr Gerichtsarzt anwesend sein würde; wir mußten die Umstände nehmen, wie wir sie finden würden. Daher versah sich der Herr Doctor mit den Instrumenten, welche unter Umständen nöthig werden konnten. Das will ich bemerken. Mein Verdacht ist nicht beseitigt worden, sondern er hat sich verstärkt. Das Uebrige überlasse ich dem Herrn Staatsanwalt. Doch bemerkte ich allen Ernstes, daß ein Mann der Wissenschaft sich nie gekränkt fühlen kann, wenn er einen Fingerzeig erhält, der sich nicht auf seine Person, sondern auf die Sache bezieht.«
Doctor Zander richtete freundlich bittende Worte an den selbstbewußten Collegen; die anderen Beiden sprachen auch zur Sühne, und so konnte er endlich nicht anders, als auf ihre Intention eingehen.
»Nun gut,« sagte er, »ich will nicht länger widerstreben; aber ich bin überzeugt, daß es vollständig unnöthig ist. Haben Sie den ganzen Aderlaßapparat mit?«
»Ja, und sogar noch Einiges dazu.«
»So nehmen Sie selbst die Operation vor; denn ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Leiche zur Ader gelassen und werde es auch künftighin nicht thun. Bitte, bewaffnen also Sie sich mit der Fliete oder dem Schnepper, Herr College!«
Das war in sehr hörbarem Hohn gesprochen. Zander aber antwortete in überlegener Ruhe, indem er das Etui und einige Fläschchen aus der Tasche zog: »O, über den Schnepper und die Fliete sind wir ja längst hinaus. Wir nehmen die Lanzette.«
»Schön! Aber wozu die Fläschchen? Wollen Sie vielleicht das Leichenwasser auf Flaschen ziehen?«
»Warum nicht?«
»Na, wenn es Ihnen Spaß macht, dann meinetwegen. Also, hier liegt die Basilica-Vene!«
Er hatte die Hand des Todten ergriffen und deutete auf die Stelle, an welcher die genannte Ader lag. Es war ja eine Zurücksetzung Zanders, wenn diesem dieser Ort erst gesagt und gezeigt werden mußte. Dieser aber ließ sich nicht aus der Fassung bringen und antwortete: »Erlauben Sie, daß ich lieber die Mediana-Vene nehme; die liegt ja am Bequemsten.«
Das war eine collegiale Ohrfeige, welche der zornige Mann erhielt. Er trat zurück und schwieg. Zander aber öffnete die Vene.
»Hm!« sagte er. »Kein Blut, nicht einmal ein Tropfen Wasser! Nehmen wir einmal den Fuß.«
Auch da gab es keinen Erfolg. Da stieß der Gerichtsarzt ein befriedigtes Lachen aus und sagte:
»Vielleicht machen die Herren doch nun eine Erfahrung, daß eine Leiche, bei welcher die Todesstarre eingetreten ist, kein Blut mehr haben kann!«
»Noch haben wir die Drosselader und die Stirnvene,« antwortete Zander. »Versuchen wir es mit der Ersteren.«
Kaum war die Lanzette in die genannte Ader eingedrungen, so spritzte eine Flüssigkeit heraus, welche einem schmutzigen Wasser ähnlich sah. Zander hielt eins der kleinen Fläschchen hin, bis es voll war. Freilich währte der Erguß dieses Wassers nur wenige Secunden.
»Blutwasser, welches in einigen Stunden in Verwesung übergehen wird,« sagte der Gerichtsarzt achselzuckend.
Zander aber trat an das vergitterte Fenster, hielt das Fläschchen gegen das Licht und betrachtete es eine sehr lange Weile. Dann steckte er es ein, trat an die Leiche zurück und zog eine Aderbinde hervor. Da konnte sich sein College nicht halten. Er rief: »Was! Sie verbinden eine Leiche?«
»Ich verbinde alle drei Oeffnungen, welche ich gemacht habe, denn ich will nicht, daß dieser Mann sich verblute, falls er ja noch leben sollte.«
»Sie glauben also wirklich noch, daß er leben kann?«
»Ja, es ist die Möglichkeit vorhanden. Es giebt Gifte, nach deren Genuß sich die Thätigkeit des Herzens gar nicht mehr bemerken und nachweisen läßt, außer wenn man mit einem Messer in das Herz selbst stößt. Das aber würde Mord sein. Hört die Wirkung des Giftes auf, so beginnt die Thätigkeit des Herzens wieder; das Blut erhält seine frühere chemische Zusammensetzung und füllt die Adern, und der Todte steht so ruhig wieder auf, als ob er sich zum Schlafe in’s Bett gelegt hätte. Dieser Fall scheint mir hier möglich. Ich nehme also dieses Blutwasser mit, um es chemisch zu untersuchen. Diese Untersuchung wird uns Gewißheit geben, ob wir es mit einer Leiche zu thun haben oder nicht.«
Da stieß der Gerichtsarzt ein lautes Lachen aus und rief:
»Wünsche guten Erfolg, Herr College! Adieu, meine Herren!«
Dann rannte er fort. Er hätte sich nicht zurückhalten lassen, selbst wenn die drei Herren den Versuch dazu gemacht hätten. Der Staatsanwalt sagte: »Ein Mann, mit dem sich niemals reden läßt. Ich hoffe, daß er thut, was er vorhin andeutete. Man stellt doch lieber eine Kraft an, welche auf der Höhe der wissenschaftlichen Erfahrung steht. Bis wann kann Ihre Untersuchung beendet sein, Herr Doctor?«
»Binnen drei oder vier Stunden kenne ich die mechanische Zusammensetzung des Blutes; ob das Letztere ein Gift enthält, das werde ich erst morgen wissen.«
»Sie meinen also, daß wir die Leiche nicht aus sicherer Verwahrung geben?«
»Ich rathe zur Vorsicht, welche ja auf keinen Fall schaden kann.«
Als er die drei Verbände angelegt hatte, entfernten sie sich. Im Corridore kam ihnen der Schließer entgegen.
»Meine Herren,« meldete er, »soeben ist der Apotheker gestorben.«
»Wirklich!« meinte der Staatsanwalt. »Da sollte der Gerichtsarzt noch da sein.«
»Er ist noch da. Der Herr Wachtmeister schickte mich zu Ihnen; ich traf unterwegs den Herrn Doctor und führte ihn in die Zelle des Todten. Er befindet sich noch dort.«
Sie hatten die angegebene Zelle noch nicht erreicht, so trat der Gerichtsarzt heraus. Er sah sie kommen und sagte: »Hier giebt es wieder Blut auf Flaschen zu ziehen, meine Herren. Der Giftmischer ist verschieden.«
»Ist er todt?« fragte der Staatsanwalt.
»Ohne allen Zweifel. Vielleicht aber thut der Herr College Zeichen und Wunder und weckt ihn wieder auf.«
Er eilte fort, die Herren aber traten in die Zelle. Doctor Zander ergriff die Hand Horns, untersuchte Puls und Athem und sagte dann: »Todt! Aber sind wir bei dem Einen vorsichtig gewesen, so können wir es auch bei dem Anderen sein. Da er erst jetzt gestorben ist, wird es genügen, eine Handvene zu öffnen.«
Er hatte recht. Er bekam so viel Blutwasser als zu einer chemischen Untersuchung genügte, und verband die kleine Wunde mit einer Sorgfalt, als ob er einem Lebenden zur Ader gelassen habe.
Jetzt wurde berathen, wo die Todten aufzubewahren seien, und der Staatsanwalt bestimmte, daß der Apotheker zu dem Schuster Seidelmann zu schaffen sei. In der Krankenstation waren sie gut aufgehoben. Von einer Flucht war keine Rede, da die Station ja im Gefängnisse lag.
»Außerdem sind sie ja nackt,« meinte der Assessor. »In diesem Zustande würde es ihnen, falls sie ja wieder lebendig würden, wohl nicht möglich sein, zu entkommen.«
»Und,« fügte der Staatsanwalt hinzu, »ich werde dem Wachtmeister sagen, daß von Stunde zu Stunde die beiden Leichen revidirt werden. Es handelt sich hier um einen Fall, welcher eine solche Vorsicht entschuldigt, obgleich sie dem Herrn Gerichtsarzt lächerlich erscheint.«
Als sich Zander mit dem Fürsten unterwegs befand, zog er die beiden Fläschchen hervor, betrachtete sie nochmals aufmerksam und meinte dann: »Hier im Wagen auf der Straße ist es heller als in der Zelle. Mir scheint es, als ob dieses Blutwasser eine ganz eigenthümliche Färbung habe. So gesund röthlich sieht Wasser aus, in welchem man frisches, mageres Rindfleisch gewaschen hat. Waschen Sie aber einmal faules Fleisch, dann wird das Wasser ein schmutziges Aussehen erhalten. Ich sehe die Möglichkeit ein, daß ich mich vor diesem Herrn Gerichtsarzt ungeheuer lächerlich mache; aber ich will diese Blamage riskiren. Ich spiele in einer Lotterie, in welcher tausend Nieten gegen einen einzigen Gewinn stehen. Desto größer ist das Glück, wenn ich den Treffer ziehe.«
»Und ich will Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich ein ungewöhnliches Vertrauen zu Ihnen hege. Ihre Kenntnisse sind so bedeutend, wie das Glück groß ist, welches Sie besitzen. Und dieses letztere ist ja nicht das Geringste, was einem Arzte zu wünschen ist. Sie sind ja durch Ihre letzten Curen förmlich berühmt geworden. Wie steht es denn jetzt mit Doctor Holm’s Vater?«
»Wir haben nicht weit hin. Wollten Sie mich vielleicht begleiten, Durchlaucht?« fragte Zander lächelnd.
»Das klingt ja verheißungsvoll!«
»Ja. Ich habe die Electricität in Anwendung gebracht. Es würde mich freuen, Ihnen den Erfolg zeigen zu dürfen.«
»Ich fahre mit. Und wie steht es mit der armen Frau des Theaterdieners Werner?«
»Hm! Wir können ja gleich vom Altmarkte zu ihm fahren. Seine Frau litt keineswegs am Krebse, sondern an einer Gesichtsflechte, welche nur in Folge einer ungeheuer verkehrten Behandlung einen solchen Grad von Gefährlichkeit annehmen konnte. Und dann – – aber ich glaube, daß ich Ihre kostbare Zeit zu sehr in Anspruch nehme!«
»In wiefern? Giebt es noch einen Ort, an den ich mit Ihnen fahren soll?«
»Ja; in eine, nämlich meine Wohnung.«
»Was giebt es da?«
»Da warten nämlich bereits Zwei, welche gar nicht wissen, was sie bei mir sollen, nämlich Marie Bertram und der Mechanikus Fels.«
»Ihr früherer Geliebter?«
»Ja.«
»Was haben Sie mit den Beiden vor?«
»Nun, es versteht sich ganz von selbst, daß ich mich für die Familie Bertram, welche unter Ihrem besonderen Schutze steht, lebhaft interessire. In Folge dessen dachte ich auch an Fels, dessen Mutter als unheilbar Irrsinnige im Bezirkshause war. Ich ging zu ihr und untersuchte sie. Sie war, wie Sie wissen, blind. Ich nahm sie zu mir und habe, ohne ein Wort davon zu sagen, sie operirt.«
»Was! Ist’s möglich! War sie denn heilbar?«
»Ich dachte es. Und heute glaube ich, daß die Operation gelungen ist.«
»Eine Irrsinnige, welche sehen wird!«
»O bitte! Es mag kühn von mir sein, aber ich habe den Gedanken gehabt, daß das wiederzugewinnende Augenlicht vortheilhaft auf den Geist der Kranken wirken könne. Ich will heute die Binde entfernen.«
»Und dazu haben Sie das Liebespaar geladen?«
»Ja. Auch hier spiele ich ein gewagtes Spiel; aber ich sage mir, daß nichts zu verlieren, hingegen aber Alles zu gewinnen sei.«
»Sie sind trotz Ihrer Jugend ein außerordentlicher Mann. Gelingt Ihnen das Wagniß mit den beiden gestorbenen Gefangenen, so dürften Sie sehr leicht in kurzer Zeit Bezirksarzt sein.«
»Möglich, daß man mir es anbieten würde, doch fragt es sich, ob ich acceptire. Also, darf ich hoffen, daß Sie sich mit nach meiner Wohnung verfügen, Durchlaucht?«
»Natürlich! Sogar sehr gern! Hier sind wir auf dem Altmarkte. Also, wollen wir zu Holm? So sage ich es dem Kutscher.«
Der Doctor bejahte und in Folge dessen mußte der Kutscher vor dem betreffenden Hause halten. Sie stiegen die drei Treppen empor und klopften an. Hilda öffnete.
Es sah jetzt in der Wohnung bedeutend freundlicher aus als früher.
Aus der Nebenstube hörten die Eintretenden eine fröhlich lachende, glockenreine Frauenstimme. Holm’s Vater saß am Fenster, durch welches er blickte und – eine lange Pfeife rauchte.
»Der Herr Doctor!« sagte er erfreut, indem er sich von dem Stuhle erhob, und wenn auch noch schwerfällig, aber doch einige Schritte ihm entgegen kam, um ihm die Hand zu geben und ihn willkommen zu heißen.
»Was?« sagte der Fürst. »Ist das der vollständig gelähmte Mann, von dem ich gehört habe?«
»Ja, Herr, der bin ich,« antwortete Holm, vor Glück über das ganze Gesicht lachend. »Der Herr Doctor Zander hat ein Wunder an mir gethan. Ich kann es ihm nicht genug danken.«
Da wurde die Thür zum Nebenzimmer geöffnet. Doctor Holm erschien.
»Durchlaucht!« rief er überrascht. »Welche Ehre! Und Doctor Zander? Herzlich willkommen!«
»Durchlaucht? Welche Durchlaucht?« fragte es hinter ihm.
»Siehe es selbst!«
Er trat zur Seite, und es kam die Amerikanerin Ellen Starton herein. Sie erröthete zwar, als sie den Fürsten erblickte, gab ihm aber freimüthig die Hand mit den Worten: »Das ist freilich eine große Ueberraschung, Durchlaucht, ich wollte mir heute die Ehre geben, zu Ihnen zu kommen, um mir eine Audienz zu erbitten.«
»Sie sind herzlich willkommen.«
»Ich hatte Ihnen etwas so sehr Hochwichtiges mitzutheilen.«
»Ich werde ganz Ohr sein.«
»Nun ich Sie aber so erfreulicher Weise bereits jetzt sehe, so möchte ich Ihnen diese Mittheilung doch lieber gleich jetzt machen.«
»Ich muß mich Ihnen auch jetzt zur Verfügung stellen. Also bitte! Etwas Hochwichtiges?«
»Ja, aber nur für mich. Lieber Max, ist es nicht eigentlich Deine Sache, es Durchlaucht zu sagen?«
»Ja, eigentlich; aber –«
Sie blickten sich unter glücklichem und einigermaßen verlegenem Lächeln an, bis der Fürst sagte:
»Bitte, bitte, ich mag gar nichts hören! Ich weiß es schon!«
»O nein, gewiß nicht!« antwortete Ellen.
»Soll ich rathen?«
»Ja, bitte?«
»Sie wollen mich einladen?«
»Richtig, richtig! Aber wozu?«
»Zur Verlobung einer sehr berühmten amerikanischen Tänzerin mit einem ebenso berühmten europäischen Violinvirtuosen. Nicht wahr?«
»Ja, es ist errathen; unser Geheimniß ist enthüllt!«
»Ich komme! Wann aber und wo?«
»Das ist wirklich noch unbestimmt. Hier bei Max ist es zu eng für unsere Gäste und im Hotel Union, wo ich noch wohne, giebt es keinen Saal.«
»Ich wüßte einen!« lachte der Fürst.
»Wirklich? Wo?«
»Muß er groß sein?«
»Nein. Eine kleine Hütte, wo einige glückliche Schiller’sche liebende Paare Platz finden.«
»Das ist bei mir zu finden.«
»Bei Ihnen? O nein!«
»O doch, beste Miß Ellen. Sie werden Ihre Verlobung bei mir feiern; das verlange ich partout. Es giebt gar nichts dagegen zu sagen. Ihr Bräutigam hat mir so bedeutende Dienste geleistet, daß er mir doch jetzt nicht eine Absage geben darf. Also topp! Eingeschlagen!«
Er hielt den Beiden die Hände hin. Doctor Holm zögerte, aber die Amerikanerin war muthiger.
»Ja, unhöflich dürfen wir nicht sein, Max. Also eingeschlagen! Doch unter einer Bedingung!«
»Welcher?«
»Herr Doctor Zander muß mitkommen. Der Mann, welcher unserem Papa den Gebrauch der Glieder wiedergegeben hat und meinem Max die – ah, da kann ich es doch gleich sagen: Wissen Sie, Herr Doctor, was wir eben thun wollten?«
»Ich bitte, es erfahren zu dürfen.«
»Geigen, ja geigen wollten wir!«
Zander machte ein ironisch erstauntes Gesicht und sagte:
»Ist das hier etwas so Seltenes?«
»O, sehr selten!«
»Ich denke, Herr Doctor Holm geigt täglich.«
»Verkehrt, ja; aber heute möchte er die Violine endlich wieder in die Linke nehmen. Wie steht es mit dem Verbande?«
»Na, lassen Sie sehen! Ich hatte mich doch geirrt. Ich glaubte, daß die Heilung in vierzehn Tagen eintreten werde, aber es ist doch eine so viel längere Zeit nöthig gewesen.«
Er entfernte den Verband von der linken Hand Holm’s, ließ diesen die Finger bewegen, untersuchte jeden einzelnen derselben und sagte dann: »Es geht. Aber, bitte, gehen wir lieber sicher. Warten Sie noch einige Tage.«
»O weh!« seufzte Ellen. »Sie sind grausam.«
»Nein, ich bin nicht grausam, sondern ich verfolge nur einen gesellschaftlichen Zweck,« lächelte er.
»Bleibt es dabei, daß ich zur Verlobung geladen bin?«
»Natürlich!«
»So erlaube ich, daß er bei diesem Feste vor den versammelten Gästen zum ersten Male seine Meisterschaft zeigt, eher aber nicht. Einverstanden, Miß?«
»Ja, darauf gehe ich ein! Er mag also dafür sorgen, daß er sich möglichst bald überzeugt, ob die Hand brauchbar geworden ist oder nicht.«
»Sie ist es; ich garantire.«
Er beschäftigte sich noch kurz mit Holm’s Vater und dann verließ er mit dem Fürsten die glückliche Familie, um eine Minute später die vier Treppen zu dem Theaterdiener Werner hinaufzusteigen.
Als sie da eintraten, waren die sämmtlichen Glieder der Familie vorhanden. Emilie und Laura kannten ja den Fürsten und verbargen die Freude nicht, mit welcher sie ihn sahen. Ihr Vater verbeugte sich, so tief es ihm möglich war, und auch seine Frau erhob sich von dem Stuhle, auf welchem sie gesessen hatte.
Früher war ihr Gesicht mit mehreren Tüchern verhüllt gewesen, jetzt aber hatte diese Hülle in Wegfall kommen können. Sie trug nur einen Schirm über den Augen, welche sehr angegriffen waren.
Zander entfernte diesen Schirm, so daß der Fürst das Gesicht sehen konnte.
»Bitte, Durchlaucht,« sagte er. »Vor Kurzem war da weder Haut noch Fleisch zu sehen. Jetzt haben sich die Muskeln gebildet und die Gesichtshaut erscheint. In einem Monate wird Frau Werner auf die Straße gehen können, ohne sehr großes Aufsehen zu erregen.«
Die früher sehr unglückliche Frau brach vor Glück in ein lautes Schluchzen aus, in welches ihr Mann und ihre Kinder einstimmten. Es war eine Scene, welche zu Herzen ging. Der Fürst ergriff die Hand des Arztes, drückte sie herzlich und sagte: »Fast möchte ich Sie beneiden. So glücklich wie Sie, vermag Unsereiner keinen Menschen zu machen. Ich will aber sehen, ob es mir möglich ist, auch einen kleinen Beitrag zu leisten. Herr Werner, wenn Sie einen Wunsch haben, den ich erfüllen kann, so sprechen Sie!«
»O Durchlaucht!« meinte der brave Mann zaghaft. »Einen Wunsch hätte ich schon, aber –«
»Weiter!«
»Aber er ist zu groß!«
»Na, wir werden ja sehen!«
»Ich möchte gern – gern –«
»Was möchten Sie gern? Sehe ich denn gar so fürchterlich aus, daß Sie nicht zu reden wagen?«
»O nein. Aber Sie haben schon so Viele!«
»Was denn?«
»Ach so! Sie möchten gern in meinen Dienst treten?«
»Ja. Gott sei Dank! Jetzt ist es heraus!«
»Das ist freilich ein Wunsch, den ich wohl kaum erfüllen kann!«
Er hatte das sichtlich nur im Scherze gesagt; Werner aber antwortete sehr ernst darauf.
»Das dachte ich mir! Verzeihung, Durchlaucht.«
»Aber ich wüßte eine Stelle für Sie.«
»Wirklich?«
»Ja, und zwar eine Stelle, welche Ihnen behagen würde.«
»Darf ich darnach fragen?«
»Nein. Ich werde Ihnen aber den Contract schicken. Gefällt er Ihnen, so können Sie ihn unterschreiben.«
»Ach, da bin ich gespannt!«
»Ich mache freilich eine Bedingung. Nämlich Derjenige, welcher Ihnen diesen Contract bringt, beansprucht eine Belohnung dafür.«
»Die soll er haben, wenn es in meinen Kräften steht.«
»Es steht in Ihren Kräften und ich werde Ihre Geduld auch nicht sehr lange auf die Probe stellen.«
Das war ein Versprechen, welches die ganze Familie mit Freude erfüllte. Sie hätten freilich am liebsten gleich jetzt gewußt, um was es sich handelte. Auch Doctor Zander, welcher sich für Werner’s sehr interessirte, war neugierig und erkundigte sich darnach, als er mit dem Fürsten wieder in dem Wagen saß.
»Es war ein kühnes Versprechen, welches ich gab,« antwortete dieser. »Ich weiß zwar eine Stelle; vielleicht aber ist sie schon vergeben, auch habe nicht ich darüber zu verfügen, aber ich werde doch versuchen, ob es mir gelingt, sie dem braven Manne zu verschaffen. Jetzt nun bin ich gespannt, was ich bei Ihnen sehen und erfahren werde. Also Fels ist mit seiner Geliebten bereits da?«
»Jedenfalls. Ich erwartete die Beiden, als Sie zu mir kamen, um mich nach dem Gefängnisse abzuholen.«
Marie Bertram hatte, wie bekannt, eine Stellung bei Alma von Helfenstein gefunden. Wilhelm Fels, der Mechanikus, war als Gehilfe bei einem Meister eingetreten und befand sich wohl bei demselben. Nur eins bedrückte ihn, nämlich er bekam die Geliebte nicht zu sehen. Er ging täglich des Abends, wenn die Arbeit zu Ende war, an dem Palaste der Baronesse vorüber; er stand ganze Stunden lang auf der Straße und beobachtete die Fenster. Zuweilen war es ihm, als stehe die Geliebte oben und blicke auf die Straße herab, aber wenn er sich dann sehen ließ und ein Zeichen gab, so war sie verschwunden.
Dann kam er auf den Gedanken, ihr zu schreiben. Er schrieb mehrere Briefe, erhielt aber keine Antwort. So kam es, daß er trüber und trüber gestimmt wurde und sich recht einsam und verlassen fühlte. Er hatte nun Niemand mehr; seine Mutter war ja unheilbar wahnsinnig. Dennoch besuchte er sie wöchentlich einige Male, aber sie kannte ihn nicht. Sie wimmerte leise und schmerzlich vor sich hin, wie sie es seit dem Tage gethan hatte, an welchem sich ihr Geist verwirrt hatte.
Vorige Woche nun hatte er sie auch besuchen wollen, war aber mit dem Bescheide, daß sie nicht zu sprechen sei, abgewiesen worden. Dasselbe war gestern wieder geschehen. Er befand sich in großer Sorge, und als er heute eine briefliche Aufforderung erhielt, sich am Nachmittage zu einer angegebenen Zeit bei Doctor Zander einzufinden, ahnte er nicht, daß diese Einladung sich auf seine Mutter beziehe.
Er begab sich zu der bestimmten Zeit nach der Wohnung des Arztes, den er von Rollenburg her kannte. Im Vorzimmer saß eine alte Verwandte Zander’s, welche er zu sich genommen hatte, um nicht allein zu sein. Er sagte ihr seinen Namen. Sie sah von ihrem Strickstrumpfe weg und über ihre Brille hin ihm in’s Gesicht und sagte: »Treten Sie da durch diese Thür. Der Herr Doctor ist abgerufen worden und wird hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen.«
Sie machte dabei ein eigenthümliches, wohlwollend-verschmitztes Gesicht. Und das hatte seinen Grund. Sie hatte nämlich von Zander alle Verhältnisse der Kranken, die jetzt bei ihm wohnte, erfahren; sie wußte also auch, daß Marie Bertram die Geliebte Fels’ sei.
Er folgte der Aufforderung und trat in das Zimmer. Am Fenster stand eine schlanke aber volle Mädchengestalt, welche sich, als die Thüre ging, nach derselben umdrehte. Er erschrak freudig, trat schnell auf sie zu und rief: »Marie! Du hier? Du?«
»Wilhelm! Herr Fels!« antwortete sie verwirrt.
Sie wollte ihm die Hand entziehen, welche er ergriffen hatte, aber er gab dieselbe nicht wieder her.
»Herr Fels! So nennst Du mich?« fragte er. »Welchen Grund hast Du dazu?«
»Den, welchen Du weißt.«
»Ich weiß keinen, gar keinen.«
»O doch!«
»Sage mir ihn, schnell!«
»Nein, nein! Lassen wir das! Was thust Du hier?«
»Ich weiß nicht, was ich soll. Ich wurde bestellt.«
»Ich auch.«
»Du auch? Du hast eigentlich nichts hier zu thun?«
»Nein. Ich erhielt diese Zeilen.«
Sie zog den Brief hervor und zeigte ihm denselben.
»Gerade so wie ich,« sagte er. »Das ist mir räthselhaft. Was mag dieser Doctor Zander von uns wollen!«
»Wir werden es jedenfalls erfahren. Willst Du Dich nicht setzen?«
Sie zeigte auf einen Stuhl und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen. Er hielt sie noch immer fest und antwortete: »Ja, ich werde mich setzen, wenn Du Dich neben mich setzt. Komm! Ah, nicht? Magst Du nichts von mir wissen?«
Sie wandte sich ab und antwortete nicht.
»Sag es, Marie!« bat er. »Du magst nichts mehr von mir wissen?«
Sie antwortete nicht. Darum fuhr er fort:
»Hast Du meine Briefe erhalten?«
»Ja,« sagte sie, doch ohne ihn anzusehen.
»Und auch gelesen?«
»Ja.«
»Ich bat Dich, mit Dir sprechen zu dürfen. Ich bat um Antwort, ich gab meine Adresse an. Du schriebst nicht wieder. Nun schrieb ich einen nächsten Brief. Ich bat Dich um eine Zusammenkunft. Ich gab Dir die Zeit und den Ort an. Ich ging hin, aber Du kamst nicht.«
»Ich konnte nicht,« antwortete sie zögernd.
»Warum nicht?«
»Ich hatte keine Zeit.«
»Keine Zeit! Für mich! Auf solche Bitten! Ich habe so viele, viele Male vor dem Hause gestanden, und Du mußt mich auch gesehen haben. Nicht wahr, Du hast mich gesehen?«
Sie nickte, ohne zu sprechen.
»Ich dachte, Du würdest einmal herunterkommen, Du aber kamst nicht. Du hattest auch da keine Zeit?«
»Ja.«
»Das ist traurig! Ich denke nun, daß Du auch fernerhin keine Zeit haben wirst. Du magst nichts mehr von mir wissen. Es soll zwischen uns aus sein. Nicht wahr?«
Sie athmete schwer und stieß erst nach einer Weile hervor:
»Ja, es ist aus!«
»Ganz gewiß und unwiderruflich?«
»Ganz gewiß.«
Da endlich ließ er ihre Hand los, ging langsam zum Stuhle und setzte sich nieder. Sie wankte zum Fenster und blieb dort stehen, mit dem Rücken nach ihm gekehrt. So blieb es eine ziemliche Weile still im Zimmer.
»Marie!« sagte er endlich.
Sie antwortete nicht.
»Warum soll es denn aus sein?«
Auch jetzt erhielt er keine Antwort.
»Weißt Du noch, wie schön es war in der Wasserstraße, wenn wir mit einander auf der alten Ofenbank saßen, und die Mutter ging hinaus, um uns allein zu lassen?«
Sie schluchzte leise vor sich hin.
»Wir waren arm, sehr arm; aber es war schön!«
Sie hielt die Hand an die Augen, antwortete aber nicht.
»Jetzt freilich ist es anders,« fuhr er fort. »Ihr seid reich.«
»Wilhelm!« stieß sie hervor.
»Nun ja. Dein Bruder ist beim Fürsten, und Du bist bei einer Baronesse. Was soll da der arme Mechanikus!«
»Wilhelm, das ist’s nicht!«
»Was denn?«
»Du weißt es.«
»Ach ja, ja, ich weiß es,« sagte er, wie sich besinnend. »Der arme Mechanikus arbeitete Tag und Nacht, damit seine Mutter nicht hungern sollte und weil er ein Mädchen so sehr, so sehr lieb hatte. Er war unvorsichtig und nahm einiges Arbeitsmaterial; er wollte es nicht stehlen –«
»Wilhelm!« rief sie in bittendem Tone.
»Bei Gott, er wollte es nicht stehlen; er wollte es bezahlen, aber es kam nicht dazu. Er wurde arretirt und mit Gefängniß bestraft. Das ist es, ja, das ist es.«
Da fuhr sie rasch herum und fragte:
»Der Grund, warum Du nichts mehr von mir wissen magst. Ich bin gefangen gewesen.«
»Nein, nein, das ist es nicht!«
»O doch! Gewiß!«
»Nein.«
»So sage es mir!«
Sie wurde unter Thränen glühend roth und antwortete:
»Du weißt es ja. Du weißt, wo ich gewesen bin.«
»Nun, wo denn?«
»An der Ufergasse.«
»Du hast doch nicht hingewollt und hast Dich gewehrt. Das weiß ich genau.«
»Und dann bei der Melitta in Rollenburg.«
»Auch dafür kannst Du nicht. Und was hast Du denn dort gethan? Nichts, gar nichts. Wir sind ja gekommen und haben Dich geholt!«
»Wenn auch. Wer in einem solchen Hause gewesen ist, der – –«
Thränen erstickten ihre Stimme. Er aber stand schnell bei ihr, ergriff ihre Hand wieder und fragte: »Nichts Anderes? Weiter nichts?«
»Nein, weiter nichts.«
»Es soll zwischen uns aus sein Deinetwegen, nicht aber meinetwegen?«
»Ja.«
»Herrgott! Mädchen, was fällt Dir ein! Würde ich Dich aus Rollenburg geholt haben, wenn es aus sein soll?«
»Aber so etwas läßt sich nie vergessen!«
»So etwas? Was denn? Du hast ja gar nichts Unrechtes gethan! Ich habe Alles erfahren, wie es gewesen ist. Der Tod Deines Vaters hat Dich so verstört gemacht. Dazu ich gefangen und Robert gefangen! Du bist ja fast irrsinnig gewesen. Du warst es ja noch in Rollenburg. Erst als Du mich erkanntest, bist Du so langsam wieder zum Bewußtsein gekommen. Geh, Du mußt mich aber doch für einen schlechten Menschen halten!«
Er sagte zwar ›Geh‹, zog sie aber doch an sich heran, und jetzt ließ sie es geschehen. Er blickte ihr in das liebliche Angesicht; sie aber hielt die Augen niedergeschlagen.
»Mariechen!« bat er.
»Wilhelm!«
»Ist’s wirklich aus?«
»Ich dachte, es müßte.«
»Und darum kamst Du nicht? Und darum schriebst Du mir nicht? Nur darum allein?«
»Ganz allein,« hauchte sie.
»Ich dachte, Du hättest mich nicht mehr lieb.«
»O sehr, sehr!«
Dabei verbarg sie das Gesicht an seinem Herzen.
»Gott sei Dank!« sagte er. »Was bin ich doch für ein großer Esel gewesen! Weißt Du, was ich hätte thun sollen?«
»Was?«
»Ich hätte schnurstracks zu Dir kommen sollen. Deine Baronesse hätte mir wohl erlaubt, einige Worte mit Dir zu sprechen. So aber habe ich mir dumme Sorgen gemacht und mich ganz unnöthig gegrämt. Das aber wird nun anders. Mariechen, ich sage Dir: Ich schreibe nicht wieder!«
»Nicht?« fragte sie, in seiner Umarmung glücklich zu ihm auflächelnd.
»Nein. Was ich Dir zu sagen habe, kann ich Dir mündlich sagen. Soll ich? Darf ich?«
»Ja.«
»Also wir treffen uns alle Tage vor Eurer Thür, Abends punkt neun Uhr.«
»Gut!«
»Wenigstens heute, morgen und übermorgen. Fällt uns etwas Anderes, Besseres ein, können wir es uns sagen. Jetzt aber darfst Du nicht widersprechen!«
»Das thue ich nicht.«
»Und die Augen zu machen!«
»Gut! So?«
Er gab ihr einen Kuß, daß es laut schallte. Im Nu waren ihre Augen auf.
»Um Gottes willen! Was machst Du!« sagte sie.
»Das hast Du nicht gemerkt? Dann gleich noch einmal! Komm!«
Er wollte ihr noch einen Kuß geben; sie aber wehrte ihn von sich ab und sagte:
»Nein, nein! Die alte Dame draußen hört es ja!«
»Gott bewahre!«
»Freilich!«
»Hätte sie es wirklich gehört?«
»Natürlich! Du bist viel zu laut!«
»Ach so! Na, dann leiser, viel leiser! Komm, Mariechen!«
Er nahm sie beim Kopfe, hob ihr Gesicht in die Höhe und näherte seinen Mund ganz, ganz langsam ihren Lippen.
»Paß auf!« flüsterte er. »Jetzt sollst nicht einmal Du etwas hören!«
»So gar sehr leise braucht es nicht zu sein!«
»Wie denn? Halb und halb?«
»Ich will es Dir zeigen. So!«
Sie schlang die Arme um seinen Nacken, zog seinen Kopf zu sich herab und küßte ihn.
»Ach so!« sagte er. »Das muß ich mir merken, und damit ich es nicht vergesse, rasch noch einmal!«
Er küßte sie wieder und immer wieder. Sie entgegnete seine Küsse mit glückstrahlendem Gesichte. Sie waren Beide so vertieft in diese angenehme Beschäftigung, daß sie weder hörten noch sahen, was geschah.
Die Thür hatte sich geöffnet und mit durch den Teppich gedämpften Schritten waren der Fürst und Doctor Zander eingetreten. Sie blickten lächelnd den Beiden zu. Endlich aber sagte Zander laut: »Gesegnete Mahlzeit, meine Herrschaften!«
Die beiden Ertappten fuhren herum. Marie stieß einen Schrei des Schreckens aus und wußte sich keinen anderen Rath, als daß sie blitzschnell nach dem Fenster sprang und sich dort hinter die Gardine steckte. Fels blieb stehen. Auch sein Gesicht erglühte, aber er verlor doch die Fassung nicht, sondern er antwortete: »Ich danke, Herr Doctor! Hatten Sie uns vielleicht zu dieser Mahlzeit eingeladen?«
»Ja.«
»Ah! Das ist verwunderlich!«
»Nicht so sehr. Ich wußte, daß Sie Appetit hatten.«
»Woher?«
»Es stand Einer zuweilen vor der Wohnung der Baronesse von Helfenstein und blickte mit solcher Sehnsucht nach den Fenstern, daß ich mir vornahm, ihm seinen Herzenswunsch zu erfüllen. Bitte, Fräulein Bertram!«
Er holte sie hinter der Gardine vor. Wohl selten ist ein Mädchen so roth gewesen wie Marie in diesem Augenblicke. Ihr Gesicht glühte förmlich, und ihre Augen standen voller Thränen der Verlegenheit.