Drittes Capitel

Ende gut, Alles gut!

Der Frühling war in’s Feld gegangen und hatte dem Sommer Platz gemacht. Es waren längst die duftenden Blüthenflocken von den Bäumen gefallen, und an den Zweigen begannen die Früchte sich zu färben und zu runden.

In der Residenz gab es davon freilich nicht viel zu sehen. Da reiften jetzt andere Früchte, und zwar die Früchte, auf welche die Erwartung der ganzen Bevölkerung des Landes gerichtet war: die Früchte des Monstreprozesses gegen den Baron Franz von Helfenstein.

Es war an einem Vormittage, als Edmund von Randau eine Treppe emporstieg und an eine Thür klopfte, an welcher der Name ›Oberlieutenant von Hagenau‹ zu lesen war. Es dauerte eine Weile, ehe sich drin ein schnarrendes »Herein!« vernehmen ließ.

Als Randau eintrat, lag der lange Offizier quer über dem Sopha und hatte beide Beine auf dem Tische liegen.

»Randau! Sapperment!« rief er erfreut, indem er die langen Beine herunternahm und dann aufsprang. »Das ist einmal eine Ueberraschung. Ich will Dich herzlich willkommen heißen, obgleich ich das eigentlich wohl nicht thun sollte.«

»Warum nicht?«

»Weil Du fahnenflüchtig geworden bist.«

»Ich flüchtete ungern, lieber Freund, und gestehe Dir, daß es erst nach innerem Kampfe geschah.«

»Weiß, weiß, Alter! Wolltest heirathen!«

»O nein. Mein Bruder ging zur Marine, und so mußte ich den Dienst quittiren, um nun die Bewirthschaftung unserer Güter übernehmen zu können.«

»Und nebenbei die interessanteste Frau, die es geben kann, heimzuführen! Mensch, was bist Du glücklich! Na, setze Dich. Da stehen Cigarren, und draußen habe ich eine Flasche Extrafeinen, den ich gleich hereinholen will. Entschuldige!«

Er ging in die Nebenstube und bemerkte nicht, daß ihm zwischen Rock und Weste etwas entfiel, was er vorher, als es klopfte, schleunigst dort versteckt hatte. Es war eine Photographie. Randau bückte sich, um sie aufzuheben. Als sein Blick auf das Bild fiel, nahm sein Gesicht den Ausdruck größten Erstaunens an. Er erkannte das Porträt von Hilda Holm, der Schwester des einstigen Reporters.

»Ah!« dachte er. »Er hat das Bild vor mir versteckt; das hat mehr als Gewöhnliches zu bedeuten. Wollen einmal sehen!«

Er zog seine Brieftasche heraus, legte die Photographie hinein und hatte Beides kaum eingesteckt, als Hagenau wieder eintrat.

»So, hier ist sie. Es ahnte mir, daß in diesen Tagen etwas Außergewöhnliches passiren werde. Für diesen Fall hob ich mir die Flasche auf. Jetzt wollen wir sie leer machen.«

»Ist mein Besuch etwas so Außergewöhnliches?«

»Jetzt, ja. Da, prosit! Die Melitta soll leben – Deinetwegen! Und der Teufel soll sie holen – meinetwegen!«

»Hast Du gar so einen Pick auf sie?« fragte Randau, indem er mit ihm anstieß.

»Natürlich! Du freilich hast ihr viel zu verdanken. Mensch, Du bist ein Glückspilz!«

»O bitte!«

»Ja, gewiß, gewiß! Mein damaliger Vorschlag, die Melitta zu besuchen, war famos. Er stammte von mir, war meine eigene Erfindung.«

»Ich bin Dir höchst dankbar dafür!«

»Das glaube ich. Mir aber hat er nichts als Unheil gebracht. Ich wollte Euch die größte Schönheit zeigen, welche ich jemals gesehen hatte. Wer hätte es ahnen können, daß dieses Mädchen später eine Baronesse von Scharfenberg und dann sogar Deine Frau werden könne! Wann ist die Hochzeit?«

»In einigen Wochen. Der Tag ist noch unbestimmt. Natürlich bist Du geladen.«

»Unsinn.«

»Du, der Gründer unseres Glückes! Das versteht sich ja ganz von selbst, Langer!«

»Danke! Danke sehr!«

Er spreizte alle zehn Finger abwehrend aus.

»Aber warum denn?«

»Ich habe damals eine verdammt unrühmliche Rolle gespielt.«

»Deshalb willst Du absagen? Deshalb nur?«

»Natürlich!«

»Ah pah! Du glaubst gar nicht, wie gut meine Braut gegen Dich gesinnt ist. Sie nennt Dich ihren Retter. Ohne Deinen Einfall wäre ich nicht zur Melitta gekommen.«

»Verfluchter Einfall! Ich wollte, ich hätte an alles Andere gedacht, nur nicht an dieses!«

Er machte ein so ernstes Gesicht, daß Randau fragte:

»Ist’s denn noch nicht verwunden?«

»Das kann ich wohl niemals verwinden. Es scheint, als ob es gar kein Ende nehmen sollte. Man nimmt diese Geschichte weiß Gott viel zu streng. Ich muß jämmerlich bluten.«

»Wieso?«

»Na, Du warst ja auch dabei. Hast Du noch keine Vorladung wieder bekommen?«

»Nein.«

»Also nur ich und immer ich. Die dort im Gerichtsamte sind nahe dabei, die Geschichte spruchreif zu machen, und denke Dir, daß man auf den Gedanken gekommen ist, auch mich in Anklage zu setzen.«

»Unmöglich!«

»Ah, Du glaubst gar nicht, was heutzutage Alles möglich ist! Ich habe gewettet; ich bin dieser Dame, nämlich Deiner jetzigen Braut, unanständig begegnet – und so weiter! Es hat mir Mühe gemacht, mich heraus zu winden. Und nun erst die Versetzung in die andere Truppe, und vorgestern erhalte ich unter der Hand den Fingerzeig, womöglich um meinen Abschied einzukommen. Urlaub hat man mir unbeschränkten ertheilt.«

»Das ist freilich schlimm, lieber Freund.«

»Schlimm? Pah, schlimm! Was ist schlimm? Nichts, gar nichts! Es ist teuflisch, satanisch, höllisch! Es giebt gar kein Wort, welches hinreichend wäre, meinen Grimm zu beschreiben, meine Wuth zu schildern.«

»Du mußt Dich eben beruhigen.«

»Na, schließlich bleibt mir nichts Anderes übrig; aber das Unheil ist doch zu stark und zu dick. Man läßt sich wohl gefallen, daß es Tropfen regnet, aber klumpenweise braucht das Wasser doch nicht vom Himmel zu fallen. Den Abschied nehmen! Verflucht!«

»Was sagt Dein Onkel dazu?«

»Der Kommandirende in Rollenburg? Von dem kommt ja eben jener Fingerzeig! Und dabei bemerkt er, daß es ihn freuen werde, mich nach fünf oder zehn Jahren zum ersten Male wiederzusehen! Und heute erhalte ich von meinem Vater einen Brief oder vielmehr einen Wisch, der mir auch zu denken giebt.«

»Kennt er die Prozeßgeschichte?«

»Weiß nicht. Geschrieben habe ich ihm natürlich kein Wort. Es handelt sich um etwas Anderes, um den leidigen Mammon. Mein Banquier kam auf einmal auf den Gedanken, nicht zu Hause zu sein, wenn ich ihn besuchte.«

»Was? Er verweigert Dir den Credit?«

»Ja, denke Dir!«

»Das ist doch kaum glaublich!«

»Es ist so. Natürlich beschwerte ich mich darüber bei meinem Vater. Als Antwort erhielt ich die Aufforderung, ohne Versäumniß zu ihm zu kommen. Heute Nachmittag dampfe ich ab.«

»Du befindest Dich doch nicht etwa in Verlegenheit?«

Randau machte mit den Fingern die Bewegung des Geldaufzählens.

Hagenau zog beide Schultern empor, machte eine Grimasse dazu und antwortete:

»Meine Passionen haben Geld gekostet.«

»Passionen? Die habe ich doch gar nicht an Dir bemerkt!«

»Ja. Damals hatte ich nur die eine; die andere ist erst später dazugekommen.«

»Darf man sie erfahren?«

»Na, ja. Ich habe ein verdammt weiches Gemüth, ein altes, gutes, dummes Herz. Ich habe viel wohlgethan, im Stillen, ohne daß Jemand es so recht erfahren hat, an Kameraden und an Anderen. Das hat Geld gekostet, viel Geld. Später kam ich gar in’s Spielen. Ich hatte Glück, dann Unglück, viel Unglück.«

»Hm! Ich hörte allerdings davon. Hatte nicht Scharfenberg Dich mit falschen Banknoten bezahlt?«

»Freilich, freilich!«

»Da hattest Du allerdings Verlust!«

»Gar nicht. Der Schurke erschoß sich, und ich mußte vor den Untersuchungsrichter. Du kannst Dir denken, daß dies weder nach meinem Geschmacke, noch zu meinem Vortheile war. Sein Onkel, der Zuchthausdirector, löste zwar sämmtliche Falsificate, welche sein Neffe ausgegeben hatte, ein, und ich kam also zu meinem Gelde, allein es lag kein Segen darauf. Ich verlor und verlor. Ich machte Schulden und verlor immer und immer wieder. Ich spielte, um zu gewinnen und meine Schulden zu bezahlen und dann dieser unseligen Passion für immer zu entsagen; aber ich blieb im Verluste. Mein Bankier gab mir nichts mehr, und mein Vater schickte nichts mehr. Ich schrieb ihm; ich sagte zwar nichts Genaues, aber ich ließ es ihm vermuthen, daß ich in Noth sei. Statt mir Geld zu schicken, ruft er mich zu sich. Ich vermuthe, daß es einige Scenen geben wird.«

»Und dann aber Geld!«

»Hm!« brummte Hagenau nachdenklich. »Ich möchte beinahe befürchten, daß mein Vater plötzlich Ursache erhalten hat, sparsam zu sein. Ein Bankier schickt einen Kunden, wie ich war, nicht ohne Ursache heim.«

»Bitte, sind Deine Gläubiger verständig?«

»Donnerwetter! Verständig! Ja, wenn sie das wären! Diese Blutsauger aber hetzen mich außer Athem. Uebermorgen kommt ein Wechsel – na, ich bat um Verlängerung der Frist, fand den Kerl aber so obstinat, wie ein altes Maulthier. Was nun thun?«

Er schritt zornig im Zimmer auf und ab. Randau folgte lächelnd seinen Bewegungen und sagte:

»Aber, Mensch, hast Du denn keine Freunde?«

»Freunde? Unsinn! Welcher Mensch hat wahre Freunde! Früher pumpte das ganze Regiment von mir jetzt hat keiner einen einzigen Kreuzer für mich.«

»Du siehst zu schwarz.«

»Nein, ich sehe richtig.«

»Denkst aber wenigstens nicht an mich.«

»An Dich? Mann, Edmund, soll ich etwa Dich anpumpen, der niemals von mir gepumpt hat!«

»Ja, das wünsche ich! Grad mich sollst Du anpumpen! Du bist der beste, liebenswürdigste Kamerad gewesen; ich nenne mich Deinen Freund; das thue ich nicht nur aus Lust zur Phrase, sondern in aller Aufrichtigkeit. Kannst Du mir vielleicht sagen, wieviel Du brauchst?«

Da stellte Hagenau sich breitbeinig vor ihn hin und sagte:

»Mensch, bist Du toll?«

»Nein. Ist es eine Tollheit, Dein Freund zu sein?«

»Fast, wenigstens in dieser Beziehung.«

»Nun, so will ich es einmal mit dieser Tollheit versuchen.«

Es legte sich wie eine tiefe Rührung über Hagenau’s unschönes Gesicht. Er streckte ihm beide Hände entgegen und meinte: »Edmund, das werde ich Dir nie vergessen, nie, obgleich es wohl nur bei dem bloßen Versuche bleiben wird.«

»Warum beim Versuche?«

»Ich brauche zu viel.«

»Das wollen wir erst sehen. Welche Summe ist nöthig, um Dich von den Manichäern zu befreien«

»Höre und erschrecke: Ich brauche volle zwölftausend Gulden.«

»Hm! Das ist freilich nicht unbedeutend.«

»Da hast Du es!«

»Bist Du dann wirklich alle Sorgen los?«

»Alle nicht, aber die meisten und größten.«

»So erlaube einmal!«

Er stand auf und zog die Brieftasche hervor. Er öffnete sie, schob die auf dem Tische befindlichen Gegenstände zurück und begann aufzuzählen, Banknote an Banknote, eine neben die andere.

»So,« sagte er endlich, als er aufhörte. »Das sind fünfzehntausend Gulden. Schaffe Dir die Raben vom Halse und gieb Dich nicht wieder mit ihnen ab.«

Hagenau’s Augen wanderten vom Freunde auf die Noten, und wieder hin und her. Nach und nach füllten sie sich mit Thränen. Er wischte sie fort und sagte dann: »Ja, das ist Freundschaft! Das ist eine Freundschaft, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Ich werde es Dir, wie ich bereits sagte, nie vergessen, obgleich es bei dem Versuche bleiben wird.«

»Ich hoffe, daß Du das Geld annimmst.«

»Nein, das thue ich nicht.«

»Warum aber nicht?«

»Weil ich kein Schuft sein will, der da borgt, ohne überzeugt zu sein, daß er auch bezahlen kann.«

»Du kannst bezahlen.«

»Nein. Laß mich aufrichtig sein! Ich habe –«

»Pah! Rede nicht, sondern stecke das Geld ein!«

»Das thue ich nicht, wenigstens nicht, bevor Du mich angehört hast.«

»Na, so rede meinetwegen!«

»Ich habe meinen Vater stets für sehr reich gehalten. Aber ich habe in Erfahrung gebracht, daß er ebenso wie ich zwei Passionen hatte. Er ist ein großer Freund von Gemälden, ohne aber Kenner zu sein. Er hat für Gemälde, von denen er überzeugt war, daß sie echt seien, Unsummen ausgegeben. Sodann hat er, ebenso wie ich, hoch gespielt, nicht mit Karten, sondern an der Börse. Er hat viel, sehr viel verloren. Als mein Bankier mir Zahlung verweigerte, machte er mich darauf aufmerksam. Er rieth mir, mit dem Vater einmal genau Bilanz zu ziehen; dann soll ich wiederkommen. Das ist genug gesagt. Ich weiß, woran ich bin, und Du wirst es nun auch wissen.«

»Ich habe es eher gewußt als Du.«

»Ah! Wirklich?«

»Ja. Die theueren Gemälde Deines Vaters sind fast werthlos. Er ist betrogen worden.«

»Alle Wetter!«

»Er hat ferner sich sehr verspeculirt. Er hat Chilenen in Masse gekauft und –«

»Chilenen?« fiel Hagenau ein. »Das sind doch wohl jene unglücklichen Papiere, mit denen Scharfenberg so hereingeflogen ist, wie die Untersuchung ergeben hat?«

»Ja, dieselben. Dein Vater hat fürchterlich verloren. Euer Bankier ist auch der unserige. Ich ging zu ihm, um diese fünfzehntausend Gulden zu deponiren. Wir hatten die entbehrliche Frucht verkauft und erhielten vorgestern Zahlung. Beim Bankier kam die Rede auch auf Deinen Vater. Der Mann machte mir zwar keine Mittheilung; das verbot ihm ja die Discretion; aber ich merkte doch Einiges. Ich erfuhr, daß Du wiederholt bei ihm gewesen seiest, schloß weiter und gab mein Geld nicht hin, sondern habe es lieber Dir gebracht.«

»Mensch, Du bist des Teufels!«

»Das will ich doch nicht befürchten!«

»Du weißt, daß es schlecht mit uns steht, und kommst gerade darum, um mir so einen Haufen Geldes anzubieten!«

»Ja, gerade darum. Ich kenne Dich. Du bist ein halber Sonderling, aber ein Ehrenmann. Du wirst keinen Menschen in Verlust bringen. Ich leihe Dir das Geld gegen vier Procent bei jährlicher Kündigung. Deine Verhältnisse werden sich bessern, dann bezahlst Du mich.«

Hagenau holte tief, tief Athem.

»Bedenke, daß ich meinen Abschied nehmen muß!«

»Das eben bedenke ich. Bliebst Du bei der Fahne, so wäre es Dir unmöglich, auch nur die Zinsen zu bezahlen. Nun Du aber ausscheidest, wirst Du Deinem Vater helfen, Eure Verhältnisse aufzubessern. Auf diese Weise kann ich überzeugt sein, viel eher zu meinem Gelde zu kommen. Ich hoffe, Du nimmst es!«

»Ah! Du bringst mich wirklich in eine Versuchung, der ich kaum zu widerstehen vermag. Was wird Dein Vater sagen, wenn er es erfährt?«

»Da sorge Dich nicht! Er wird es billigen.«

»Meinst Du?«

»Ich versichere es Dir mit meinem Ehrenworte. Also streiche nur getrost ein!«

Da drückte Hagenau ihn an sich und rief:

»Edmund, der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht alles Mögliche thue, um Dir dankbar zu sein! Ja, ich will das Geld nehmen. Ich habe zu leicht gelebt, weil ich mich für reich hielt; aber lüderlich bin ich nicht. Wenn es gilt, so kann ich arbeiten, und das werde ich thun, und sollte mir das Blut von den Fingern laufen. Um Dein Geld kommst Du nicht, darauf verlasse Dich!«

»Diese Ueberzeugung habe ich auch ohne Deine Versicherung. Greif also zu; ich mag das Geld nicht mehr sehen.«

»Gut. Das Document stelle ich Dir gleich aus.«

Er strich das Geld zusammen und verschloß es; dann stellte er ihm die Schuldverschreibung aus, welche Randau mit jener Behaglichkeit einsteckte, welche die natürliche Folge einer guten, ehrenhaften That ist.

»Jetzt trink weiter!« sagte Hagenau, indem er einschänkte. »Ich will Dir mittheilen, daß ich grad noch so eine Flasche habe. Ich kaufte ein Dutzend dieser Sorte, als ich noch nicht wußte, daß bei mir einmal das Geld alle werden könne. Jetzt freilich werde ich es mit einer billigeren Marke halten müssen.«

»Doch nur für kurze Zeit, hoffe ich.«

»O, das Geld fliegt viel schneller fort, als es zurückkehrt.«

»Na,« lachte Randau, »es giebt Wege, welche schnell zum Wohlstand führen!«

»Schnell? Meinst Du etwa Arbeit?«

»Nein. Die führt zwar sicher zum Ziele, aber langsam.«

»Was dann?«

»Zum Beispiel eine reiche Heirath.«

Hagenau lachte laut auf und antwortete:

»Heirath? Ich?«

»Nun ja!«

»Jetzt möchte ich abermals fragen, ob Du toll bist.«

»Ich bin sehr bei Sinnen.«

»Siehe meine Figur an!«

»Die ist etwas in die Länge gezogen, aber doch proportionirt.«

»Ja. Ihr habt mich ja stets nur den Kranich genannt. Dieses Wort bezeichnet den ganzen Inbegriff meiner Schönheit! Schaue ferner meine Nase an!«

»Auch ein Wenig lang, aber nicht unmäßig.«

»Ja, sie paßt grad so zu mir, wie der Schnabel des Kranichs zu dem ganzen Vogel.«

»Deshalb brauchst Du nicht zu verzagen. Du trägst einen alten, berühmten Namen.«

»Da kann ich eine ebenso alte Jungfer heirathen, deren Schnabel ebenso lang ist, wie der meinige.«

»Heirathe bürgerlich, aber reich!«

Das Gesicht Hagenau’s nahm einen außergewöhnlichen Ernst an. Er antwortete:

»Höre, Freund, ich wäre der letzte, welcher mit den Gefühlen seines Herzens Speculation treibt. Wenn ich ja einmal heirathen sollte, dann sicherlich nur Eine, welche mich trotz meiner Häßlichkeit lieb hat. Und da dies ein Wunder sein würde und also wohl nicht gut möglich ist, so bleibe ich ledig. Mein alter Name wird trotzdem nicht auf den Aussterbeetat kommen, da der liebenswürdige Onkel Oberstkommandirender ja zwei Jungens hat, die hübscher sind als ich, und also wohl auch Frauen bekommen werden. Es hat jeder Mensch ein Herz, ich also auch; aber es ist eben nicht Jeder so glücklich, auf die Stimme des Herzens hören zu dürfen.«

Sein Ton klang klagend und resignirt, gar nicht so schnarrend wie gewöhnlich. Randau sagte:

»Du wirst ja beinahe schwermüthig! Fast scheint es, als ob Dein Herz schon einmal gesprochen hätte!«

»Hm! Möglich.«

»Ah, Alter, ertappe ich Dich!«

»Na, gegen einen Anderen würde ich nichts sagen; Du aber hast mir heute einen solchen Beweis wahrer Freundschaft gegeben, daß ich mich einmal lächerlich machen will. Denke Dir also, die Stunde des Kranichs hat geschlagen.«

»Das ist freilich wundersam!«

»Nicht wahr?«

»Du und verliebt! Der kalte, sarkastische, prosaische Kranich, der sich bisher nur über die Liebe und überhaupt über die Damenwelt lustig machte, ist verliebt!«

»Ja; aber er ist nur deshalb verliebt, weil es nicht eine von Euren sogenannten Damen ist.«

»Also wohl bürgerlich?«

»Hm, vielleicht noch weniger!«

»Soll ich erschrecken?«

»Thue es! Es ist freilich schauderhaft, aber dieser gefühllose Hagenau hat sich in eine – Schusterstochter verliebt.«

»Rede kein Blech!«

»Es ist die Wahrheit.«

»Oho!« sagte Randau ungläubig. »Das machst Du Allen weiß, aber nur mir nicht!«

Er hatte das Bild, und Hilda Holm war doch keine Schuhmacherstochter.

»Ja, man sollte es eigentlich für unmöglich halten,« meinte Hagenau; »aber es ist dennoch so. Darum kann ich mich auch selbst gar nicht begreifen. Ich bin seit kurzer Zeit ein ganz anderer Mensch geworden. Ich esse nicht, ich trinke nicht, ich spiele nicht, ich rauche nicht – –«

»Was thust Du denn?«

»Sapperment, ich rede mit dem Mond und rasire mich täglich fünfmal, um so glatt wie möglich zu sein. Schau, dort steckt die Puderquaste, und da liegt der Liebesbriefsteller. So verrückt macht Einen ein hübsches Gesicht.«

»Darf man neugierig sein?«

»Warum nicht? Ich mache regelmäßig meinen Spaziergang. Da begegnete sie mir eines schönen Tages. Als sie an mir vorüber wollte, stockte ihr kleines Füßchen; sie sah mir neugierig und allerliebst freundlich in das Gesicht, erröthete, schlug die Augen nieder und ging dann weiter. Das frappirte mich natürlich.«

»Ist sie hübsch?«

»Wie eine – – hm! Wenn ich Maler wäre, sie müßte mir zur Psyche sitzen.«

Randau lächelte. Er wußte ja, daß Hilda bei dem Balletmeister einmal fast gezwungen worden wäre, als Psyche Modell zu sitzen. Er sagte nichts und fragte weiter: »Wie alt?«

»Leider sehr jung. Vielleicht achtzehn.«

»Blond?«

»So mittelblond, schlank aber voll. Sie läßt ahnen, daß sie sich in einigen Jahren zu einer wirklichen Schönheit entwickelt haben wird.«

»Du hast sie natürlich wieder gesehen?«

»Wie kannst Du nur fragen! Ich war sofort weg, und wer weg ist, der rennt ja nur immer hinter Derjenigen her, welche Diejenige ist. Du hast das jedenfalls auch an Dir erlebt?«

»So ziemlich.«

»Na also! Kurz und gut, als sie vor mir stehen blieb und mich so eigenthümlich und erröthend anblickte, da war es mir wie – wie – Donnerwetter, wie doch nur gleich?«

»Als hättest Du Klöse mit Sauerbraten gegessen?«

»Unsinn! Es gab mir so einen Stich – einen Stich – – hm, ja, einen Stich gab es mir.«

»Wo denn?«

»Das kann ich eigentlich nicht sagen; er schien durch und durch zu gehen, that aber keineswegs wehe.«

»Das war Amors Pfeil.«

»Amors Pfeil? Du, ja! Sapperment, das ist der richtige Ausdruck! Und der Pfeil sitzt tief und fest.«

»Trotz der Schusterstochter?«

»Trotzdem. Natürlich machte ich Kehrt und folgte ihr.«

»Richtig! Ganz wie Schiller sagt: Erröthend folgt er ihren Spuren.«

»Nun, erröthend zwar nicht, sondern recht neugierig. Ich mußte wissen, wer sie war.«

»Du hast es erfahren?«

»Hols der Teufel, nein.«

»Na, na, na, na! Wer soll das glauben!«

»Es ist wahr. Ich sah, daß sie in das Hotel Union ging. Ich will Dir gestehen, daß ich dann drei Viertelstunden lang Pflaster gestampft habe; aber sie kam nicht wieder heraus.«

»O weh!«

»Ja, ich habe auch das Blaue vom Himmel herunter geflucht, ohne daß es etwas half. Länger konnte ich nicht da vor der Thür auf-und ablaufen; das wäre ja aufgefallen. Ich mußte also leider fort.«

»Da hieß es: Meine Ruhe ist hin, mein Herz ist so schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr.«

»So war es allerdings. Sie hatte es mir angethan. Ich sage Dir, ich war wie verhext. Ich hätte singen und zwitschern können wie eine Haidelerche, aber auch raisoniren wie ein Rohrspatz, daß sie nicht wieder herausgekommen war. Es war mir, ab ob ich das große Loos gewonnen habe, und im nächsten Augenblicke hätte ich wetten können, als ob die größte Niete gerade nur auf mich gefallen sei. Die Liebe ist ein verrücktes, aber auch ein höchst angenehmes Ding. Ich bin hier auf der Stube auf-und abgelaufen wie ein Bieresel und habe nur immer mit mir selbst gesprochen. Im Schlafe habe ich dann natürlich von ihr geträumt, und als ich am anderen Morgen aufstand, habe ich die Hosen als Unterjacke angezogen und bin mit dem rechten Fuße in den linken Stiefel gefahren. Hältst Du so etwas für möglich?«

»O, sehr,« lachte Randau.

»Dann ist es Dir also auch so gegangen?«

»Genau so!«

»Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich sei eine außerordentliche anthropologische Abnormität und hatte schon Angst, daß der erste beste Raritätensammler auf den Gedanken kommen könne, mich in Spiritus zu setzen und für Geld sehen zu lassen. Denn, denke Dir, was weiter passirte! Du wirst es kaum glauben!«

»O, ich glaube es! Ich errathe es sogar.«

»Nun, was denn?«

»Du befandest Dich natürlich am nächsten Tage zu derselben Secunde auf derselben Straße ganz und auf derselben Stelle.«

»Bei Gott, der Mensch hat es errathen!«

»Hm! Ich kenne das!«

»Ist es nicht verrückt?«

»Nein. Was glücklich macht, kann nicht verrückt sein. Doch sage: Kam sie denn?«

»Freilich.«

»Dachte es mir!«

»Ich war so neugierig, ob sie kommen werde, wie ich es in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen bin. Ich glaube gar, daß ich ein gelindes Fieber hatte.«

»Einer Schusterstochter wegen!«

»Ja, es ist eigentlich himmelschreiend. Aber wer kann es ändern? Ich nicht!«

»Was thatet Ihr denn?«

»Sie erröthete schon von Weitem, ging aber an mir vorüber, ohne mich dieses Mal anzusehen.«

»Und Du?«

»Ich schwenkte natürlich wieder um, lief ihr bis in’s Hotel Union nach, stampfte da über eine Stunde lang Pflaster und ging nach Hause. Da kam es wie gestern. Ich sprach mit ihr und träumte von ihr; nur den einen Unterschied gab es, daß ich am anderen Morgen, als ich die Wäsche wechselte, mit den beiden Beinen in die Hemdärmel fuhr. Als ich dann ausgehen wollte – ich war in Civil –, sahen mich unten die Hausleute lachend an und machten mich darauf aufmerksam, daß ich die Hutschachtel auf dem Kopfe hatte. In den Hut hatte ich das schmutzige Waschwasser gegossen. Wenn das keine Liebe ist, so giebt es überhaupt keine Liebe.«

Er lachte ironisch vor sich hin, und Randau stimmte munter ein. Der Letztere fragte:

»Wie und wo aber hast Du erfahren, daß dieses Mädchen eine Schusterstochter ist?«

»Im Hotel.«

»Ah, da hast Du gefragt?«

»Ja; aber auch erst, nachdem ich sechs-oder achtmal vergebens gewartet hatte, ob sie wieder aus dem Hause kommen werde.«

»Mensch, das ist ja höchst auffällig gewesen!«

»Das vermuthe ich auch, denn der Portier machte mir ein Gesicht wie ein Nußknacker, und die Kellner standen an den Fenstern und visirten auf mich los, als ob ich eine Meßstange sei.«

»Deine Figur ist schuld.«

»Freilich! Also ich ging in’s Hotel und trat in das Restaurationszimmer. Dort ließ ich mir etwas zu trinken geben. Was es war, weiß ich nicht mehr. Ein Verliebter schluckt Alles hinunter, und wenn es Terpentinöl sein sollte. Ich erkundigte mich, ob man wisse, wer das junge Mädchen sei, die so pünktlich komme und nicht wieder gehe. Da sagte man mir, sie sei eine Schuhmacherstochter und komme um diese Zeit in die Hotelküche, um das Kochen zu lernen. Sie gehe erst Abends elf Uhr zu Hause.«

»Hm! Ihr Name?«

»Den wußte der Kellner nicht, daß heißt ihren Familiennamen; der Taufname aber war ihm bekannt, denn er sagte, sie werde Jette genannt.«

»Wo wohnt sie?«

»Ja, wer das wüßte!«

»Du nicht!«

»Nein.«

»Mensch, wie dumm!«

»Dumm? Wo denkst Du hin! Volle drei Wochen lang habe ich alle Abende von zehn bis zwölf Uhr vor dem Hotel gestanden und auf sie gewartet. Aber sie kam nicht.«

»O weh! Welch’ eine Ausdauer!«

»Ja. Der Portier sah mich natürlich. Er hat mich angegrinst wie der Affenpinscher die Speckschwarte; aber ich habe mir einfach nichts daraus gemacht.«

»Hast Du denn nicht mit ihr gesprochen?«

»Kein Wort.«

»Obgleich Du sie täglich sahst?«

»Ja. Ich habe gehört, daß die wahre Liebe bescheiden und sogar muthlos sein soll.«

»Kranich! Du und muthlos!«

»Na, was willst Du denn? Mein ganzes Wesen war wie Butter geworden. Meine Seele zerfloß wie Provenzeröl, und mein Herz schwamm wie ein Pfannkuchen in amerikanischem Schweinefett. Ich war und bin das reine Kind. Ich verstehe mich selbst nicht mehr.«

Randau blickte lächelnd vor sich hin. Er hatte durch Petermann, dem Vater seiner Braut, die Bekanntschaft Holms gemacht. Er war in der Wohnung des Letzteren gewesen und hatte Hilda dort kennen gelernt. Er wußte, daß Hilda täglich zur bestimmten Zeit in das Hotel Union zu Ellen Starton ging, um sich einige Stunden lang mit derselben wissenschaftlich zu beschäftigen. Wenn Hagenau des Abends dort auf sie wartete, konnte er sie natürlich niemals treffen, da sie eher zurückkehrte. Randau ging mit sich zu Rathe, ob er dem Freunde Aufschluß geben solle oder nicht. Er fragte: »Hast Du sie denn nicht wenigstens gegrüßt?«

»Ei freilich! Und wie! Ich habe den Hut so tief herab gerissen, als ob sie eine Königin sei.«

»Und sie dankte?«

»Ja. Zuletzt lächelte sie mir schon von Weitem entgegen. So ein Lächeln! Edmund, ich sage Dir, dieses Lächeln könnte mich zu Vielem bringen. Ich könnte die größten Dummheiten begehen, um es immer zu sehen. Leider habe ich bereits seit vierzehn Tagen verzichten müssen.«

»Wieso?«

»Gerade so lange Zeit habe ich sie nicht gesehen. Das hat mir zu Denken gegeben. Ob sie vielleicht mit ihrem Kochcursus schon zu Ende ist?«

»Möglich,« lachte Randau, der es viel besser wußte. »Der Herr Oberlieutenant von Hagenau hält es für eine Lebensfrage, ob eine Schusterstochter das Kochen bereits völlig gelernt habe oder nicht! Es ist eigentlich toll!«

»Ja, es ist toll; aber Du machst es nicht anders. Wenn ich nur wüßte, woran ich bin. Leider muß ich heute verreisen, wie ich Dir bereits sagte, und da ist es möglich, daß ich viel, sehr viel, wo nicht gar Alles versäume.«

»Wo befindet sich Dein Vater jetzt?«

»Auf Schloß Reitzenhain.«

»Dorthin also fährst Du?«

»Ja, natürlich.«

»Sage, giebt es dort nicht ein Bad?«

»Gewiß. Warum fragst Du?«

»Weil ich zufällig von diesem Bade sprechen hörte.«

»Pah! Es hat einen anderen Grund. Du machst ein so geheimnißvolles Gesicht, daß Dich eine ganz besondere Absicht zu dieser Frage veranlaßt haben muß.«

»Du täuschest Dich. Aber sage mir einmal, was soll aus dieser Neigung werden?«

»Das wissen die lieben Engel.«

»Du nicht?«

»Nein. Ich lasse Gottes Wasser über Gottes Land laufen. Es muß sich dann finden, welch’ ein Hühnchen aus diesem Eie schlüpft.«

»Du spielst mit dem Feuer!«

»Thut nichts. Ich bin ja bereits verbrannt. Vielleicht finde ich die richtige Stelle, und dann – – –«

Er hielt inne. Draußen hörte man den Glockenschlag von den Thürmen hallen. Er zog seine Uhr und sagte erschrocken: »Alle Wetter! Du, verzeihe! Ich muß fort!«

»Wohin?«

»Nach der Schillerstraße.«

»Besuch machen?«

»Unsinn.«

»Wozu denn?«

»Das kannst Du Dir doch denken! Es ist jetzt die Zeit, in der sie gewöhnlich kommt. Willst Du hier warten?«

»Nein. Ich gehe mit.«

»So mach schnell! In anderthalb Minuten muß ich dort sein.«

»So laß’ uns laufen!«

Sie stürmten fort, Hagenau mit größtem Eifer voran und Randau heimlich lachend hinterdrein.

Der Letztere wußte, daß sich Hilda Holm mit ihrem Vater und der alten Nachbarin jetzt in Reitzenhain befand, wo der Vater auf Anordnung Doctor Zander’s Moorbäder zu nehmen hatte. Als sie die Schillerstraße erreichten, ging Hagenau ein wenig langsamer, so daß Randau wieder mit ihm sprechen konnte. Darum sagte der Letztere: »Würdest Du mir vielleicht einen Gefallen thun?«

»Gern! Lieber hundert als einen.«

»Einen Gruß mitnehmen.«

»An wen?«

»An ein Fräulein Holm, welches sich mit ihrem kranken Vater dort befindet.«

»Also bürgerlich?«

»Ja. Ihr Bruder ist Doctor der Philosophie und ein guter Bekannter von mir. Ich glaube, daß sie sich freuen wird, wenn Du ihr meinen Gruß bringst.«

»Schön! Ist sie zu ertragen?«

»Ich denke es.«

»Vielleicht alte Jungfer?«

»Ja, ich schätze sie so über dreißig.«

»O wehe! Aber da Du es wünscht, so will ich es thun. Was ist Ihr Vater?«

»Musikdirector gewesen. Sein Sohn, der Doctor, ist auch musikalisch, so etwas wie Geigenvirtuos.«

»Vortrefflich! Ich werde also – – alle Himmel! Sie ist wieder da! Dort biegt sie um die Ecke!«

Randau erkannte Hilda, welche jedenfalls nur für kurze Zeit nach der Residenz zurückgekehrt war.

»Soll ich sie auch grüßen?« fragte er lächelnd.

»Natürlich! Das gehört sich ja.«

»Rede sie doch endlich einmal an! Sonst verschwindet sie Dir wieder, und zwar auf Nimmerwiedersehen.«

»Meinst Du? Gut, Deine Gegenwart giebt mir Muth. Ich werde sie anreden. Aber daß Du nicht etwa lachst!«

»Gott bewahre!«

»Schön! Donnerwetter, aber wie spreche ich denn?«

»Närrischer Mensch! Du sagst, was Dir gerade einfällt. Da ist sie! Muth, Alter!«

Sie waren langsam vorwärts gegangen, und Hilda war ihnen nun ganz nahe. Randau griff an den Hut, und auch Hagenau zog den seinigen. Der sonst so sichere, selbstbewußte Offizier war über das ganze Gesicht weg tief roth. Er verbeugte sich und sagte: »Entschuldigung, Fräulein! Darf ich mir vielleicht eine Frage gestatten?«

»Gern,« antwortete sie, ebenso erröthend.

»Wo hat Ihr Herr Vater seinen Laden?«

Sie blickte erstaunt zu ihm auf.

»Seinen Laden?« fragte sie.

»Ja. Ich meine natürlich seinen Verkaufsladen.«

»Er hat keinen; er braucht ja keinen,« antwortete sie ganz verlegen.

»Also keinen Laden? Ich hätte mir gern ein Paar Stiefel bei ihm gekauft. So aber bessert er wohl nur aus? Darf ich erfahren, wo seine Werkstatt ist?«

Sie blickte erst den Sprecher, dann auch Randau ganz verwirrt an; dann aber zuckte es ganz plötzlich über ihr Gesichtchen wie ein unwiderstehlicher Reiz zum Lachen.

»Adieu!« brachte sie noch hervor; dann riß sie ihr Taschentuch heraus und hielt es vor den Mund, indem sie sich eiligst entfernte.

Die Beiden blickten ihr nach, Hagenau mit weit aufgerissenen Augen. Ebenso weit stand sein Mund offen. Randau gab sich Mühe, ernst zu bleiben. Er fragte möglichst unbefangen: »Also das war sie?«

»Ja, das war sie.«

»Scheint ein kleiner Kobold zu sein!«

»Habe vom Kobold noch nichts bemerkt.«

»Aber dieses Lachen?«

»Kann es auch nicht begreifen. Verflucht! Also ihr Vater hat keinen Laden, ist vermuthlich nur Flickschuster!«

»Das kühlt, nicht wahr?«

»Hm, ja! Aber wenn man es recht nimmt, so ist es ganz egal, ob er nur flickt oder auch neues Schuhwerk macht. Schuster ist Schuster. Warum aber hat sie gelacht?«

»Wer weiß es!«

»Das möchte ich erfahren.«

»So mußt Du ihr nach.«

»Jetzt freilich nicht. Das war ja gerade, als ob sie mich auslache! Aber dennoch muß ich wissen, ob sie wieder nach dem Hotel geht. Kommst Du mit?«

»Ja.«

Während sie ihr nachschritten, nahm Randau seine Brieftasche hervor und die Photographie heraus. Er blieb einen halben Schritt zurück, ließ sie fallen und bückte sich dann, um sie aufzuheben. Die Brieftasche hatte er schon wieder eingesteckt.

»Etwas gefunden?« fragte Hagenau.

»Eine Photo – – ah! Kennst Du diese hier.«

»Natürlich!« sagte Hagenau rasch. »Her damit!«

Er langte zu.

»Oho! Sie hat sie verloren, und ich bin der Finder.«

»Nein, nein! Ich habe sie verloren.«

»Das ist doch wohl nicht denkbar.«

»O, gewiß. Ich hatte sie da unter die Weste gesteckt, und da ist sie mir herabgerutscht.«

»Unter die Weste? Ich glaube gar, Du trägst diese Photographie auf Deinem treuen Herzen!«

»Für gewöhnlich nicht. Ich will Dir aufrichtig sagen, daß ich das Bild in der Hand hielt, als Du klopftest. Ich wußte nicht, wer Einlaß begehrte und wollte es nicht sehen lassen. Darum schob ich es unter die Weste.«

»Und dachtest nicht wieder daran!«

»Leider! Ich konnte es hier verlieren. Wie gut, daß Du bei mir gewesen bist.«

»Wie aber kommst Du zu ihrer Photographie, da Du sie noch so wenig kennst?«

»Hm! Auf eine sehr schlaue Weise. Ist meine eigene Erfindung, habe es mir selbst ausgedacht.«

»Nun, wie denn?«

»Es ist ein Augenblicksbild.«

»Ah, ich verstehe. Du hast einen Photographen da postirt, wo sie vorüber mußte?«

»Ja. Habe ein einfenstriges Zimmer gemiethet, kostet für diese fünf Minuten fünf Gulden, der Photograph dreißig Gulden, macht fünfunddreißig.«

»Theure Photographie!«

»Schadet nichts! Ich wollte sie haben, und ich habe sie; das ist genug. Schau, da tritt sie in’s Hotel!«

»Ja. Was nun?«

»Hm! Weiß nicht.«

»Etwa patroulliren?«

»Ich möchte doch abwarten, ob sie vielleicht bald herauskommt. Nicht?«

»Ich verzichte. Du wirst es mir verzeihen, da ich doch kein Interesse dabei habe.«

»Natürlich! Wo sehen wir uns wieder?«

»Für heute wohl nicht. Du verreisest und ich habe noch verschiedene Besuche zu machen.«

»So willst Du Dich verabschieden? Na, also, wenn Du nicht anders willst. Nochmals herzlichen Dank für – –«

»Pah! Schweig davon! Wenn Du glaubst, mir Dank schuldig zu sein, so grüße mir Fräulein Holm. Mehr verlange ich nicht.«

Sie schieden.

Hagenau schritt noch eine ganze Weile auf der Straße hin und her, verlor aber dann doch die Geduld und entfernte sich.

Es war ihm sehr unlieb, jetzt verreisen zu müssen, da er die Geliebte nach vierzehntägigem Warten zum ersten Male wieder gesehen hatte; doch ließ sich dies leider nicht ändern. Er nahm sich vor, schleunigst zurückzukehren.

Am Nachmittage fuhr er zum Bahnhofe und nahm in einem Copee zweiter Classe Platz. Kurz bevor der Zug abgehen sollte, hörte er eine männliche Stimme rufen: »Station Mildau! Damencoupee!«

»Damencoupee ist bereits voll!« antwortete der Schaffner.

»Dann Coupee für Nichtraucher.«

»Hier! Bitte!«

Der Conducteur machte Hagenau’s Thür auf und dieser Letztere erblickte zu seinem freudigen Schreck – die Geliebte. Ihr Bruder hatte sie zur Bahn begleitet. Schon hob sie das Füßchen, um einzusteigen, da fiel ihr Auge auf den Offizier. Sofort wich sie wieder zurück.

»Nein, nein! Hier herein nicht!« rief sie.

»Warum denn nicht?« fragte der Doctor.

»Später davon! Ein anderes Coupee.«

»Dann giebt es aber keins für Nichtraucher!«

»Mag sein. Bitte, weiter!«

Sie verschwanden. Die Thür wurde wieder geschlossen und der Zug setzte sich nach kurzer Zeit in Bewegung.

Hagenau legte sich höchst verstimmt in die Ecke zurück.

»Verflucht!« brummte er. »Wohin fährt sie? Warum wollte sie nicht zu mir? Wegen der Scene heute am Vormittage? Jedenfalls. Ich werde aufpassen.«

Er blickte an jeder Station zum Fenster hinaus, sah sie aber nicht. Endlich mußte er selbst in Wildau aussteigen, und nun erinnerte er sich, daß sie diese Station ja angegeben hatte. Sie stieg auch wirklich aus und eilte, ohne ihn anzublicken, in das Stationsgebäude.

Er folgte langsam nach. Sie saß im Wartezimmer und er nahm ebenda Platz, wagte aber nicht, sie anzureden.

Von hier aus gab es Postverbindung bis Reitzenhain. Er nahm sich Fahrschein und bemerkte zu seiner großen Freude, daß sie das Gleiche that. Man hatte zu warten. Trotzdem gab es keinen zweiten Passagier, und als dann das Zeichen zur Abfahrt gegeben wurde, nahmen sie ganz allein im Wagen Platz.

Sie hatte den Schleier vor das Gesicht gezogen, und er legte sich möglichst weit in seine Ecke hinein, um ihr ja nicht prätentiös zu erscheinen. Es herrschte tiefe Stille. Sie schien zu schlafen, denn sie bewegte sich nicht. Er sah die kleinen behandschuhten Händchen und dachte im Stillen: »Daß die Tochter eines Flickschusters so zart gebaut sein kann, ist doch sonderbar! Und das Füßchen dort! Himmelsakkerment! Ob sie wohl schläft? Ich werde sie anreden!«

Er nahm sich fest vor, dies zu thun, aber es wollte ihm nicht so leicht werden. Er sann und sann, was er sagen werde, brachte es aber zu keinem Resultat.

Sie kamen durch ein Dorf. Der Postillon hielt vor dem Gasthause an und fragte:

»Wollen die Herrschaften vielleicht einmal aussteigen?«

»Haben wir denn Zeit?« fragte Hagenau.

»Zu einem Glase Bier allemal.«

»Schön! Trinken Sie auch eins!«

Und jetzt nahm er seinen ganzen Muth zusammen, um Hilda zu fragen:

»Wünscht Fräulein vielleicht auch etwas?«

»Ich danke,« antwortete sie.

Somit waren sie wieder fertig, und als das Bier getrunken war, ging es so schweigsam weiter wie vorher.

Hagenau kannte die Gegend und den Weg. Bei jedem Dorfe und Orte, durch welches sie kamen, besorgte er, daß die Reisende aussteigen werde. Die Tour war bereits über die Hälfte zurückgelegt, und noch hatte er nicht den Versuch gemacht, sie zu einem Gespräch zu bringen. Eine bessere Gelegenheit als heute konnte es gar nicht geben. Darum nahm er sich endlich vor, anzufangen.

»Fräulein!« sagte er.

Sie antwortete nicht.

»Fräulein!«

Jetzt drehte sie ihm das Köpfchen zu.

»Darf ich fragen, wohin Sie fahren?«

»Nach Reitzenhain,« antwortete sie.

»Ich auch!«

Jetzt fiel ihm nichts weiter ein. Er gab sich die größte Mühe, etwas ausfindig zu machen, vergebens. Sollte er etwa vom Wetter anfangen? Damit hätte er sich blamirt. Endlich kam ihm ein Gedanke. Er freute sich darüber, als ob er Amerika entdeckt habe. Einer Anderen gegenüber hätte er diesen Gedanken für ganz selbstverständlich befunden.

»Bleiben Sie lange dort?« fragte er.

»Einige Wochen.«

»Ah, das ist herrlich!«

Er sagte das mit Begeisterung, zog sich aber sofort in sich selbst zurück, da er befürchtete, bereits zu viel gesagt zu haben. Erst als er bemerkte, daß in zehn Minuten das Ziel erreicht sein werde, nahm er sich zu einer weiteren Frage zusammen: »Sie haben also ausgelernt?«

»Ausgelernt?« klang es ihm entgegen. »Bitte, in welcher Beziehung meinen Sie, mein Herr?«

»Die Küche meine ich, die Küche.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Nun, Sie konnten bisher nicht kochen?«

»Nicht kochen? Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Ich erfuhr es so nebenbei.«

»Von wem?«

»Von dem Kellner im Hotel Union.«

»Der sagte, ich könnte nicht kochen?«

»Er sagte das nicht direct, sondern er theilte mir mit, daß Sie das Kochen im Hotel lernten.«

Er konnte das Gesicht durch den Schleier nicht deutlich sehen, aber es klang ihm ein helles, lustiges Lachen entgegen.

»Sie haben sich also nach mir erkundigt?« fragte sie.

»Ja,« sagte er verlegen. »Ich habe mir erlaubt!«

»Weshalb?«

Das klang ganz wie neckischer Backfisch.

»Weil – weil – wegen – hm, in der Absicht, von wegen des Grundes, daß die Veranlassung – eigentlich war die Ursache – hm, ich sah Sie zuweilen.«

»Ach so! Sie wünschten zu wissen, wer ich bin?«

»Ja,« antwortete er, erleichtert aufathmend.

»Sagte man es Ihnen?«

»Gewiß.«

»Daß ich dort kochen lerne?«

»Und daß Sie Abends elf Uhr nach Hause gehen.«

»O.«

»Leider habe ich Sie aber gerade zu dieser Zeit niemals gesehen. Ich wartete da – wollte sagen, ich befand mich zufällig einige Male in der Nähe.«

Sie lachte wieder halblaut auf und sagte:

»Und welchen Namen hat man Ihnen gesagt?«

»Je – Jet – Jette.«

Jetzt legte sie schnell beide Hände auf den Mund. Ihr Körper zuckte zusammen, doch ließ sie keinen Laut hören; erst nach einer Weile fragte sie: »Einen weiteren Namen hat man Ihnen wohl nicht genannt?«

»Leider nicht.«

»Warum nicht?«

»Der Kellner wußte ihn selbst nicht. Ihm war nur bekannt, daß Sie in der Küche Jette genannt werden.«

Sie hatte Mühe, ein lautes Lachen zu unterdrücken.

»Ja. Dieser Name ist sehr wohlklingend.«

»Meinen Sie?«

»Ja. Er hat so etwas Schnelles, Rasches an sich.«

»Das finde ich freilich auch.«

»So etwas Saloppes, Gewandtes. Ich habe gerade diesen Namen stets sehr gern gehabt.«

»Ich nicht.«

»Es soll freilich vorkommen, daß es Personen giebt, welche ihren eigenen Namen für unschön erklären. Vielleicht gefällt Ihnen Ihr Familienname besser?«

»Der klingt allerdings hübscher als Jette.«

»Vielleicht höre ich ihn auch einmal?«

»Das ist möglich, da ich ja einige Zeit hier bleibe.«

»Ich hoffe, mich auch länger zu verweilen.«

»Dann ist es möglich, daß wir uns wiedersehen. Aber bitte, haben Sie noch mehr über mich erfahren?«

»Ueber Sie selbst eigentlich nicht, aber über Ihren Vater.«

»Was ist es, das Sie erfahren haben?«

»Seine Profession.«

»Ah! O, jetzt, jetzt geht mir – Welche Profession hat man Ihnen genannt?«

»Er ist Schuhmacher.«

Er ging wieder wie vorhin ein Zittern über ihren Körper, aber zum Ausbruch ließ sie ihre Lustigkeit doch nicht kommen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie diesen Anfall überwältigt hatte, dann sagte sie: »Darum also fragten Sie heute Vormittag nach dem Laden meines Vaters, Herr von Hagenau?«

»Ja. Wie? Sie kennen mich?«

»Ja, man hat mir Ihren Namen genannt. Auch habe ich Sie einige Male gesehen.«

»Das ist mir sehr interessant!«

»Es war im Winter. Eine alte Frau war gestürzt, eine Bettlerin. Niemand bot ihr Hilfe. Da gingen Sie vorüber, oder vielmehr nicht vorüber, denn Sie halfen ihr auf, führten Sie durch zwei Gassen nach ihrer Wohnung und drückten ihr dort fünf Gulden in die Hand.«

»Woher wissen Sie das?« fragte er erröthend.

»Die arme Frau hat Ihr Lob verkündet.«

»Meinerseits ganz unverdient.«

»Dann im vorigen Sommer kamen Sie zufälliger Weise in ein Haus des Altmarktes. Im Hofe saß ein gelähmter Mann. Er konnte sich nicht bewegen. Man hatte ihn dahin gesetzt, damit er einmal reine Luft athme. Sie blieben bei ihm stehen, betrachteten ihn mitleidig und drückten ihm zehn Gulden in die gelähmte Hand.«

»Ah, woher wissen Sie das?«

»Der Mann war – und ein anderes Mal begegnete Ihnen eine Frau mit fast ganz verhülltem Gesicht. Sie dachten, daß sie krank war. Sie blieben stehen und fragten nach ihrem Leiden. Sie hatte geglaubt, unheilbar krebskrank zu sein; glücklicher Weise aber handelte es sich nur um eine Flechte. Sie befand sich auf dem Wege der Besserung, so daß sie bereits ausgehen konnte. Sie gaben auch ihr zehn Gulden, ohne von ihr um eine Gabe gebeten zu sein.«

Er war wirklich schamroth geworden. Sie schob jetzt den Schleier empor. Er blickte in ein rosig schönes, liebes Angesicht, aus welchem zwei milde Augensterne ihm freundlich entgegenstrahlten. Er wußte gar nicht, wie es kam, aber er fühlte plötzlich einen Muth, als ob er jetzt Alles thun und sagen könne.

»Wie haben Sie auch das erfahren?« fragte er.

»Ich kenne diese Frau; sie heißt Werner. Und jener gelähmte Mann ist mein Vater.«

»Ah – O – tausendmal Verzeihung!« stammelte er.

»Warum Verzeihung?«

»Weil ich es wagte, ihm ein – ein – ein –«

»Ein Almosen zu geben, wollen Sie sagen?«

»Nein, nein! Ein Almosen möchte ich es keinesfalls nennen. Das wäre eine Beleidigung für sie.«

»Und doch war’s ein Almosen, und beleidigt hat es uns nicht. Sie gaben es freiwillig, Sie waren reich und wir waren arm. Wir hatten nichts zu essen, wir hungerten, und nun konnten wir uns so unerwartet sättigen. Es ist Ihnen noch nicht dafür gedankt worden. Ich muß Ihnen jetzt die Hand geben. Gott mag Ihnen vergelten!«

Sie streckte ihm das kleine Händchen entgegen; er ergriff es und hielt es fest. Er wußte nicht, was er thun und sagen sollte. Es wurde ihm so warm und so weich um das Herz. Am allerliebsten hätte er dieses Händchen geküßt und das Mädchen dazu. Aber, ob sie das wohl gelitten hätte? Und zudem fiel ihm ein, daß ein Oberlieutenant und Cavalier doch nicht einem Schustermädchen die Hand küßt. Infolge dieses Gedankenvorganges entfuhr ihm der Ausruf: »Sapperment! Ich wollte, ich wäre auch Schuster!«

»Warum?« fragte sie lächelnd.

»Weil – weil ein Schuster viel eher und viel leichter glücklich sein kann als Unsereiner.«

»Sie mögen in gewisser Beziehung Recht haben.«

»Ganz gewiß habe ich Recht. Nur müßte auch noch Eins viel anders sein.«

»Was?«

»Ich selbst.«

»Sie anders sein? Warum denn wohl?«

»Sehen Sie mich doch an! Mein Gesicht!«

Es war ein aufrichtiges Erstaunen, mit welchem sie ihn anblickte. Sie sagte kopfschüttelnd:

»Ihr Gesicht? Was ist mit demselben?«

»Es ist so häßlich.«

Da lachte sie lustig auf und fragte:

»Sind Sie eitel?«

»Ganz und gar nicht. Auf was oder weswegen sollte ich auch wohl eitel sein! Es ist doch ganz naturgemäß und ganz menschlich, wenn man nicht gern häßlich sein will.«

»Und Sie meinen wirklich, häßlich zu sein?«

»Ja, natürlich.«

»Sie sind es aber nicht.«

»Oho! Wollen Sie mich auslachen, Fräulein?«

»Das fällt mir nicht ein. Ja, ich weiß, daß andere Leute Sie für häßlich halten –«

»Ah, wissen Sie das? Woher denn wohl?«

»Sie haben uns wohlgethan, darum beschäftige ich mich mit Ihnen. Wenn von Ihnen gesprochen wurde, merkte ich auf. So weiß ich Manches, was – was – was ich doch nicht sagen kann.«

»So, so! Auch mir können Sie es nicht sagen?«

»Nein.«

»Wenn ich es nun aber wünsche?«

Sie blickte ihm nachdenklich in das Gesicht. Ihr Blick nahm einen eigenthümlichen, undefinirbaren, übermächtigen Ausdruck an. Dann antwortete sie wie unter einem schnellen Entschlusse: »Dann würde ich es Ihnen freilich sagen.«

»So bitte! Was wissen Sie?«

»Daß man Sie den Kranich nennt,« antwortete sie, ihm vertraulich entgegenlachend.

»Auch das wissen Sie? Wunderbar! Weiter!«

»Daß Sie gern spielen.«

»Ah! Sapperment!«

»Daß Sie noch lieber wohlthun, meist ohne zu fragen, ob der Empfänger der Gabe werth ist.«

»Das ist freilich wahr. Weiter!«

»Daß Sie in neuerer Zeit im Dienste mehrfach Verdruß gehabt haben.«

»Fräulein, sind Sie allwissend?«

»Nein. Ich merke mir aber das, was ich höre, wenn es sich nämlich auf Personen bezieht, für welche ich mich interessire.«

Er blickte rasch auf. War das Berechnung? Nein. Ihr Auge blickte ihm so aufrichtig, so wahr und so ruhig entgegen. Hier gab es weder Koketterie noch Verstellung.

»So interessiren Sie sich also für mich?« fragte er.

»Natürlich! Sie sind ja unser Wohlthäter. Und wenn das nicht wäre, müßte ich Ihnen doch meine Aufmerksamkeit schenken, da Sie sich für mich interessiren.«

Auch jetzt sprach sie voller Unbefangenheit. Er konnte dies gar nicht begreifen; er fragte:

»Ich mich für Sie? Woher wissen Sie das?«

»Erstens sagt man es mir und zweitens habe ich es ja täglich selbst gesehen. Sie waren nur meinetwegen zur bestimmten Zeit auf der Schillerstraße?«

»Ja,« antwortete er aufrichtig.

»Und folgten mir nur meinetwegen nach dem Hotel?«

»Nur Ihretwegen.«

»Warum das?«

»Weil – weil – Donnerwetter! Wenn ich ein Schuster wäre, so würde ich sagen: Weil ich Sie liebe.«

»Aber da Sie kein Schuster sind, können Sie das nicht sagen. Die Liebe existirt also nicht und gerade darum darf ich so aufrichtig mit Ihnen sprechen. Die Schusterstochter steht so unter Ihnen, daß einer Liebe, selbst wenn sie existirte, gar nicht Erwähnung zu geschehen brauchte. Darum sagte ich Ihnen auch so ehrlich, daß Sie nicht häßlich sind.«

»Da spotten Sie natürlich!«

»Nein, ich sage die Wahrheit.«

»Das kann ich nicht glauben.«

»Glauben Sie es nur getrost. Es denkt und fühlt ja nicht der Eine wie der Andere. Ueber den Begriff des Schönen läßt sich streiten. Das Wort schön darf doch nicht blos auf körperliche Vorzüge oder Eigenschaften Anwendung finden.«

»Das sagen Sie?« fragte er erstaunt. »Um über den Begriff der Schönheit zu discutiren zu können, muß man mehr als Schuhmacherstochter sein.«

»Ach so! Nun, ich habe hier und da etwas gehört und es mir gemerkt. Das ist Alles. Ich wollte nur sagen, daß ich Sie nicht häßlich finde, weil Sie großmüthig und barmherzig sind. Und sodann ist ja auch die Seelenrichtung des Weibes eine ganz andere, als diejenige des Mannes.«

»Seelenrichtung?« fragte er erstaunt.

»Worüber wundern Sie sich?«

»Ueber Ihre Art, sich auszudrücken.«

»Es ist meine gewöhnliche.«

»Wo haben Sie das gelernt?«

»Von meinem Bruder.«

»Was ist er?«

»Musikant,« antwortete sie mit einem kleinen Anfluge von Ironie.

»Ah! Er muß ein belesener Musikant sein.«

»Das ist er freilich.«

»Wo hat er musicirt?«

»Auf dem Saale des Tivoli, zweite Geige.«

»So, so. Was meinten Sie vorhin, als Sie von der Verschiedenheit der Seelenrichtung sprachen?«

»Ich meinte, daß der Mann, wenn er liebt, mehr oder weniger durch die Schönheit der Formen beeinflußt wird. Das Weib liebt weniger die Form als vielmehr den Inhalt. Ich könnte einen schönen Mann hassen und einen häßlichen lieben, beides um ihrer Herzenseigenschaften willen.«

»Wären Sie dessen wirklich fähig?«

»Ja.«

Da bog er sich weiter vor und fragte gespannt:

»Könnten Sie zum Beispiel mir gut sein?«

Er glaubte, sie in Verlegenheit zu bringen, sie aber antwortete in aller Seelenruhe:

»Ja, nämlich wenn Sie Schuster wären.«

»So aber nicht?«

»Nein. Oder könnten Sie mich, die Schusterstochter, lieben, obgleich Sie der Sohn eines hocharistokratischen Hauses sind?«

Ihre Art und Weise der Beweisführung frappirte ihn.

»Vielleicht dennoch,« antwortete er.

»Nun dann auch ich Sie vielleicht dennoch,« lächelte sie, indem sie ihm die Hand entzog, welche er bisher festgehalten hatte.

In diesem Augenblicke stieß der Postillion in’s Horn. Die Beiden hatten in letzter Zeit nicht auf die Gegend geachtet. Jetzt bemerkten sie, daß sie in Reitzenhain angekommen waren.

Jetzt ging’s an’s Scheiden. Er fragte noch schnell:

»Wo waren Sie in letzter Zeit?«

»Hier,« antwortete sie.

»Jedenfalls in dienender Stellung?«

»Gewiß,« nickte sie ihm zu.

»Kennen Sie eine Familie Holm?«

»Sehr genau.«

»Es soll eine Tochter da sein?«

»So viel ich weiß, ja.«

»O bitte! Sie blicken mich so forschend an. Sie scheinen etwas vorauszusetzen, nicht?«

»Hätte ich dazu etwa ein Recht?«

»Nein. Dennoch aber sage ich Ihnen, daß ich diese Dame noch gar nicht kenne.«

»Noch nicht? Sie wollen sie aber kennen lernen?«

»Ja. Ich muß nämlich.«

»Warum?«

»Ich habe sie zu grüßen. Das ist Alles.«

»Von wem?«

»Von einem Freunde, nämlich von dem Herrn, welchen Sie heute am Vormittag bei mir gesehen haben.«

Es glitt ein höchst schalkhaftes Lächeln über ihre fein ausgearbeiteten Züge, als sie fragte:

»Hat dieser Herr auch von mir gesprochen?«

»Natürlich, da er Sie ja gesehen hat.«

»Was sagte er?«

»Daß Sie sehr, sehr – hübsch seien.«

»Das ist nicht viel. Weiter nichts?«

»Nein.«

»So, so! Ah, aussteigen! Sie fahren jedenfalls bis zum Schlosse weiter?«

Der Kutscher hatte gehalten und war abgestiegen, um den Schlag zu öffnen, damit sie aussteige.

»Bitte,« sagte Hagenau noch in Eile, »darf ich erfahren, bei wem Sie in Condition sind?«

»Schweigen wir,« antwortete sie. »Was würde man sagen, wenn man bemerkte, daß Sie mit einer Schusterstochter sprechen!«

Sie eilte fort, und er konnte ihr nicht einmal nachblicken, da sich der Wagen wieder in Bewegung setzte.

Als er dann oben im Schloßhofe ausstieg, erfuhr er von dem Diener, daß sein Vater sich in seinem Arbeitszimmer befinde. Er begab sich dorthin und trat ein, als Sohn natürlich unangemeldet.

An dem Tische saß eine lange, schmächtige, weit nach vorn gebeugte Gestalt mit grauen, wohl zu früh gebleichten Haaren. Der Mann blickte sich um und erhob sich vom Stuhle, als er seinen Sohn erkannte.

»Walther, Du?« sagte er. »So rasch habe ich Dich freilich nicht erwartet.«

»Du wünschtest Eile, und ich gehorchte natürlich.«

Sie umarmten und küßten sich. Jetzt sah man die Ähnlichkeit, welche zwischen Vater und Sohn herrschte. Der Erstere fragte: »Bist Du vielleicht von der Reise sehr ermüdet?«

»Gar nicht, lieber Vater.«

»So restaurire Dich, und dann wollen wir von der Angelegenheit sprechen, welche Deine Gegenwart wünschenswerth macht.«

»Restauriren? Meinst Du essen und trinken, die Kleidung wechseln? Das ist nicht nöthig. Ich habe weder Hunger noch Durst. Sprechen wir also gleich jetzt.«

»Gut. Du bist wie ich. Was man zu fassen hat, das soll man schleunigst fassen. Also setze Dich!«

Sie nahmen einander gegenüber Platz. Der Vater steckte sich eine Cigarre an und schob dann dem Sohne das Kistchen zu. Als beide Cigarren dampften, begann der Erstere: »Du schriebst um Geld – –«

»Wörtlich nicht, obgleich mein Wunsch zwischen den Zeilen zu lesen war.«

»Brauchst Du viel?«

»Einstweilen nichts. Die Angelegenheit hat sich erledigt.«

»Das ist mir lieb, denn meine Kasse ist leer. Weißt Du, wer sie geleert hat?«

»Wir Beide wohl,« antwortete der Sohn lächelnd.

»Ganz richtig, wir Beide. Wir sind eben echte Hagenaus, sorglos, wohlthätig, großmüthig; dagegen laßt sich nichts sagen. Du weißt, ich liebe es nicht, über Geschehenes zu raisonniren oder gar zu jammern. Man kann das Geschehene niemals ändern, unter Umständen aber es vielleicht wieder gutmachen; durch Heulen und Klagen aber ist dies nicht möglich. Also sehen wir dem Dinge offen in das Gesicht. Wenn wir noch ein halbes Jahr in der jetzigen Weise fortleben, sind wir bankerott!«

Er sagte dies ohne Leidenschaft und strich dabei ruhig die Asche von der Cigarre.

»In sechs Monaten,« meinte der Sohn nachdenklich.

»Ja, dann sind wir vollständig fertig.«

»Das ist schlimmer, als ich dachte.«

»Wie dachtest Du Dir die Angelegenheit?«

»Ich hielt einfach unsere Activen für bedeutender. Wenn Du von sechs Monaten sprichst, so beträgt unser activer Besitz also nicht mehr als eine Summe, welche wir bisher in einem halben Jahr zu verbrauchen pflegten.«

»So meine ich es.«

»Das ist verdammt wenig. Ich glaubte Deinen Schrank voller Papiere – Deine Gemälde – –«

»Ah pah! Meine Gemälde taugen nichts; ich bin von einer ganz infam organisirten Bande scheußlich betrogen worden. Ich glaubte, ein Kenner zu sein, und sehe nun zu spät ein, daß ich nichts als ein Esel gewesen bin. Es sind Hunderttausende hinausgeworfen worden. Und meine Papiere? Ich habe speculirt und dabei nichts gewonnen als die Ueberzeugung, daß ich Alles hinauswarf, mein Bankier aber Alles für sich auflas. Wir haben also Tabula rasa. Wie steht es nun mit Dir?«

Der Sohn zuckte die Achseln.

»Schulden natürlich!« meinte der Vater.

»Ich befand mich in schlimmer Verlegenheit, bis Randau mir heute unaufgefordert fünfzehntausend Gulden lieh.«

»Braver Kerl! Er soll sie bald zurückerhalten!«

Der Vater kam gar nicht auf den Gedanken, einen Tadel gegen den Sohn hören zu lassen. Dieser Letztere horchte auf und fragte: »Bald zurück? Wovon denn? Du sprachst ja von Tabula rasa

»Geld muß werden, mein lieber Walther; ist’s nicht auf die eine, so ist’s doch auf die andere Weise. Laß uns nur erst noch von Dir sprechen. Da schreibt mir mein Bruder aus Rollenburg einige Zeilen. Hast Du vielleicht eine Ahnung, welchen Gegenstand es betrifft?«

»Ich kann es mir denken.«

»Du bist unvorsichtig gewesen!«

»Leider! Wohl aber nicht in der Weise, wie er es vielleicht schildert.«

»Er ist allerdings ein wenig überschwenglich. Er erzählt da von einer gewissen Melitta – –?«

»Pah! Wir tranken einige Flaschen Wein bei ihr; aber sonst ist nichts geschehen.«

»Sodann von gewissen gefälschten Banknoten –?«

»Ich habe sie nicht gefälscht!«

»Sie aber im Spiele gewonnen. Du sollst überhaupt in letzter Zeit ein großer Freund dieser Unterhaltung gewesen sein.«

»Nicht mehr als jeder Andere auch. Ich spiele nicht leidenschaftlich; ich bin im Stande, dieser Passion zu jeder Zeit und ohne alle Mühe zu entsagen.«

»Das freut mich! Also Du weißt, über welche Mittel wir noch gebieten. Man hat angefangen, uns in die Fensterscheiben zu blicken. Es sind mir zwei Hypotheken gekündigt. Zahle ich nicht, so folgen die anderen Gläubiger nach, und wir sind ruinirt. Ich muß binnen jetzt und zwei Monaten baare hunderttausend Gulden schaffen.«

»Höchst angenehm!«

»Lassen wir allen Sarkasmus. Die Sache ist wirklich sehr ernst. Kannst Du dieses Geld schaffen?«

»Nein.«

»Ich auch nicht.«

»So sind wir eben bankerott!«

»Oho! ein Hagenau macht nicht bankerott. Für ihn, als den Träger eines so wohlklingenden Namens, giebt es stets ein Mittel, in der angegebenen Zeit lumpige hunderttausend Gulden zu schaffen.«

»Du meinst die Heirath?«

»Ja.«

Der Sohn lachte beinahe lustig auf und fragte:

»Wer soll sich dazu bequemen? Du oder ich?«

»Natürlich Du!«

»Sieh mich an! Was giebt es so Schönes an mir?«

»Du bist ein Hagenau, das ist genug.«

»Hast Du Dich vielleicht bereits unter den Töchtern des Landes umgesehen?«

»Natürlich. Ich pflege, wie Du ja weißt, in allen Dingen methodisch zu verfahren.«

»Und Eine gefunden?«

»Ohne Mühe.«

»Mit diesen Hunderttausend?«

»Mit noch mehr.«

»So bin ich begierig, die Herrliche kennen zu lernen.«

»Du kennst sie bereits, wenigstens hast Du sie früher gekannt, wenn Du ihr auch während der letzten Jahre nicht wieder nahe getreten bist.«

»Wer ist es?«

»Theodolinde.«

»Donnerwetter!« rief Walther.

»Was sagst Du dazu?«

»Es giebt meines Wissens nur eine Theodolinde; das ist Fräulein Theodolinde von Tannenstein.«

»Diese meine ich.«

»Sapperment! Sollte die wirklich anbeißen?«

»Gewiß.«

»Sie soll sich zu einer Schönheit entwickelt haben.«

»Sie ist prächtig, sage ich Dir!«

»Hast Du sie gesehen?«

»Erst gestern wieder.«

»Und steinreich!«

»Der Kerl ist ein Krösus. Und denke Dir, daß er jetzt die ganze Baronie Helfenstein erbt.«

»Wieso?«

»Der Stamm hat den Namen Tannenstein geführt; so heißt ja auch das Dorf, bei welchem Schloß Hirschenau liegt. Später hat sich eine jüngere Linie unter dem Namen Helfenstein abgezweigt. Diese Linie stirbt jetzt aus und all ihre Besitzthümer fallen natürlich nun dem Tannensteiner zu.«

»Das wäre abzuwarten!«

»Darüber giebt es gar keinen Zweifel.«

»Noch lebt Franz von Helfenstein!«

»Er verfällt ganz bestimmt dem Henker.«

»So ist Alma von Helfenstein da!«

»Das ändert nichts. Sie wird einfach hinausbezahlt.«

»Und ferner munkelt man so allerlei von – –«

»Was munkelt man?«

»Daß ein verlorener Sohn vorhanden sei.«

»Unsinn! Der Junge ist seinerzeit verbrannt. Ich habe gestern mit dem Tannensteiner gesprochen und Alles glatt gemacht. Du brauchst nur zuzugreifen.«

»Was sagte die Tochter?«

»Sie ist einverstanden.«

»Ohne mich zu kennen!«

»Sie sah Dich früher, und außerdem nahm ich ihr Deine Photographie mit. Du schienst ihr ganz gut zu gefallen.«

»Freut mich ungeheuer. Du wirst einsehen, daß ich sie mir doch einmal in Augenschein nehmen möchte, ehe ich eine Entscheidung treffe.«

»Meinetwegen, obgleich eine Entscheidung gar nicht zu treffen ist. Wir brauchen Geld, der Tannensteiner giebt es, und seine Tochter ist eine wahre Juno an Schönheit.«

»Du machst mich wirklich neugierig. Wann könnte ich sie wohl zu sehen bekommen?«

»Drüber in Grünbach, wo sie sich jetzt aufhalten.«

»Lieber möchte ich da gleich noch heute hinüber.«

»Das geht nicht. Der Tannensteiner ist nämlich heute hinauf nach Schloß Hirschenau, um seine Ansprüche geltend zu machen, und kommt erst morgen zurück!«

»So muß ich bis morgen warten.«

»Ich betrachte die Angelegenheit als erledigt. Du heirathest die schöne Theodolinde, und wir bleiben im Besitze unserer sämmtlichen Güter. Am schwersten hätte mich der Verlust unseres schönen Reitzenhain getroffen. Seit wir die Mineralquelle entdeckt und analysirt haben, geht dieser Ort einer Zukunft entgegen.«

»Die Hauptsache wären eclatante Kuren.«

»Die können wir nachweisen. Da ist zum Beispiel ein Herr Holm, früherer Musikdirector, vom Schlage gelähmt und von seinem Arzte so weit hergestellt, daß er nach Reitzenhain transportirt werden konnte. Kaum vierzehn Tage hier, ist er bereits beweglich wie eine Lachsforelle.«

»Kennst Du ihn persönlich?«

»Ja. Ich spreche gern mit ihm. Er ist ein sehr unterrichteter Mann. Er sitzt gegen Abend vor der Thür. Ich pflege vorüber zu gehen und mich da einige Zeit bei ihm zu verweilen.«

»Er hat eine Tochter?«

»Ja. Kennst Du sie etwa?«

»Randau kennt sie. Von ihm soll ich sie grüßen.«

»Das wirst Du gern besorgen, denn sie ist ein sehr reizendes Mädchen. Sie wird sich zur wirklichen Schönheit entfalten. Schade, daß sie nicht reich und vom Adel ist. Ich würde sie dann sogar dieser Theodolinde vorziehen.«

»Du machst mich gespannt!«

»Und ich warne Dich. Nimm Dich in Acht vor ihren Augen. Da liegt eine ganze Welt von Reinheit, Unschuld und Naivetät darin. Sie ist wirklich gefährlich.«

»Wann könnte man sie sehen?«

»Es ist grad die Zeit, in welcher ich meine Promenade zu machen pflege. Wärst Du nicht ermüdet, so könntest Du mitgehen.«

»Ah, keine Spur von Müdigkeit.«

»Aber essen doch!«

»Wenn wir zurückkehren.«

Sie promenirten vom Schlosse aus durch den Wald, über die Wiesen und dann in das Dorf. Bei einem der letzten Häuser bogen sie um die Ecke desselben und standen da auch sofort vor einem Manne, welcher neben der Thür auf einer Bank saß. Neben ihm sitzend erblickte der Offizier seine schöne Reisegefährtin.

Bei dem Anblicke der beiden Männer erhob sie sich, leicht erröthend, aber keineswegs verlegen.

»Ah, da sind Herr und Fräulein Holm!« sagte der alte Hagenau. »Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Sohn vorzustellen, welcher heute hier angekommen ist!«

Der Offizier stand ganz unbeweglich vor Erstaunen.

»Was hast Du?« fragte sein Vater.

»Fräulein Holm ist das?«

»Ja.«

»Also nicht die Schu – Schu – –«

»Schusterstochter!« fiel Hilda ein, indem sie ihm die Hand zum Gruße entgegenstreckte.

»Aber Fräulein,« sagte er in vorwurfsvollem Tone, »da haben Sie mich getäuscht!«

»Ich? O nein! Ich habe mich nicht zu einer Schuhmacherstochter gemacht. Freilich hatte ich auch keine dringende Veranlassung, Sie auf das Irrige Ihrer Meinung hinzuweisen, Herr Oberlieutenant.«

»Also lernten Sie auch nicht kochen?«

»Nein, gewiß nicht,« lachte sie.

»Was aber thaten Sie so regelmäßig im Hotel?«

»Ich besuchte eine befreundete Dame, welche dort logirt.«

»Aber da brauchten Sie doch nicht bis elf Uhr zu bleiben.«

»Das ist mir auch nie eingefallen.«

»Wie? Sie sind eher gegangen?«

»Stets nach genau zwei Stunden.«

»Himmelsakkerment! Und ich stehe täglich von zehn bis zwölf – – ah, na das gehört nicht hierher!«

Sein Vater hatte erstaunt zugehört. Er fragte jetzt:

»Du kennst also die Dame?«

»Ja, obgleich ich nicht gewußt habe, wie ihr Name lautet. Aber, Fräulein, noch Eins zur Aufklärung! Herr von Randau war doch heute bei mir. Warum thaten Sie so, als ob er Ihnen unbekannt sei?«

»Ich habe nicht so gethan.«

»O doch! Warum sprachen Sie nicht mit ihm?«

»Erstens hatte ich keine Zeit dazu und zweitens sprach er ja nicht mit mir. Sie nahmen mich sofort und gänzlich in Beschlag. Sie sprachen von Schustertochter, vom Laden, von der Werkstatt. Ich wußte gar nicht, was sie meinten. Und als ich es errieth, mußte ich schleunigst flüchten, um nicht durch mein Lachen Ihr Mißfallen zu erregen.«

»So hat also Randau Komödie mit mir gespielt?«

»Jedenfalls hat er sich einen Scherz gemacht.«

»Warte, Bursche! Die Lust dazu will ich Dir in Zukunft versalzen!«

Der ältere Hagenau bat um Aufklärung und erhielt sie, soweit dieselbe nöthig erschien. Dann saßen die Vier beisammen in ernsthafter Unterhaltung, abwechselnd mit scherzhafter Plauderei, bis die Sonne gesunken war. Dann schieden sie.

Zunächst schritten Vater und Sohn schweigend neben einander her; dann unterbrach der Erstere die Stille:

»Nicht wahr, ein reizendes Wesen?«

»Ein Engel.«

»Beinahe gefährlich!«

»Mehr als beinahe! Ich möchte ihren Bruder kennen, an dem sie mit solcher Liebe hängt.«

»Er war hier, und ich sprach mit ihm. Er nimmt Einen sofort gefangen, genauso wie sie.«

»Verfluchte Einrichtung.«

»Was?«

»Daß Einem grad Diejenigen gefallen, welche man nicht heirathen darf.«

»Leider! Wäre sie nur wenigstens reich. Ueber die bürgerliche Abkunft könnte man sich beruhigen. Man ist ja nicht mehr so penibel wie früher.«

»Nun bin ich neugierig auf diese Theodolinde.«

»Sie ist die aufgebrochene Rose gegen diese Hilda, welche noch völlig Knospe ist. Du darfst überzeugt sein, eine sehr schöne Frau zu bekommen.«

»Werde sie mir also morgen ansehen, sobald ihr Vater zurückgekehrt ist.« –

Dieser, nämlich der Herr von Tannenstein, war allerdings nach Schloß Hirschenau gefahren. Er war ein wohl gewachsener Mann mit einem fast ganz kahlen Schädel und trug sich auffallend jugendlich. Er schien ganz besonderen Werth auf Pretiosen zu legen. Er hatte an jedem seiner zehn Finger mehrere Ringe und über seine Weste hingen zwei höchst werthvolle Uhrketten.

Er war seit einiger Zeit auf Schloß Hirschenau bekannt, während er früher niemals dort gesehen worden war. Auch heute kam der Verwalter selbst herbeigeeilt, um ihm aus dem Wagen zu helfen. Der Mann hatte seinen Verwalterposten erst seit Kurzem inne. Es war jener Diener, von welchem der fromme Schuster dem Apotheker Horn erzählt hatte. Er war wenige Wochen vor der Festnahme des Baron Franz in seine jetzige Stelle eingerückt und haßte die Feinde seines Herrn auf das Grimmigste.

»Ist nichts Neues passirt?« fragte der Tannensteiner.

»O, sehr, sehr viel!« antwortete der Verwalter. »Bitte, heraufzukommen! Droben sind wir unbeobachtet. Da stehe ich zu Diensten.«

Er führte ihn eine Treppe hoch in einen Ecksalon, setzte ihm einige Erfrischungen vor und stelle sich dann zur Verfügung.

»Die Zeitungen schweigen sich aus,« sagte Herr von Tannenstein. »Seit der alte Schmied sich aus dem Fenster stürzte, hat man nichts Neues mehr gehört. Es soll mich verlangen, wie es noch enden wird.«

»Unglücklich für den armen Herrn. Er soll Alles, Alles gestanden haben.«

»Dummkopf!«

»O, bitte! Die Arme waren ihm ausgedreht; es kam eine Entzündung hinzu, welche ihm wahnsinnige Schmerzen bereitete, die ihn zum Geständnisse trieben.«

»So ist er verloren.«

»Er war nun auf alle Fälle verloren.«

»Nein. Hätte er fortgeleugnet, so wäre Zeit gewonnen worden. Man hätte ihn befreien oder die schlimmsten Zeugen beseitigen können. Nun er aber gestanden hat, ist er dem Henker verfallen.«

»O Gott! Der gute Herr!«

»Ja. Auch ich lasse nichts auf ihn kommen. Er hätte Viele, Viele verderben können, die er nicht verrathen hat, mich, Sie, den jungen Schmied und noch eine ganze Menge Anderer. Wir wollen ihm dafür ein schnelles Ende wünschen.«

»Glauben Sie wirklich, daß es ihm an den Kragen geht?«

»Unbedingt. Dieser verfluchte Fürst von Befour ruht nicht eher. Na, ein Trost ist es, daß dann die Baronie nicht in fremde Hände kommt. Da sind wir da, die alten Tannensteiner, noch fähig, neue, kräftige Zweige zu treiben.«

»Wenn es nur so würde!«

»Ohne allen Zweifel. Es kann gar nicht anders werden.«

Der Verwalter zuckte die Achsel und sagte:

»Andere denken nicht so wie Sie, gnädiger Herr.«

»Andere? Wer denn?«

»Hm! Man sagte, der kleine Robert solle noch leben.«

»Unsinn?«

»Man erzählt es sich überall.«

»Das ist Erfindung.«

»Der alte Schmied soll den Auftrag gehabt haben, ihn zu tödten, hat ihn aber am Leben gelassen. Jetzt nun ist er aufgefunden worden.«

»Das ist eine ebenso großartige wie dumme Fabel.«

»Wie aber, gnädiger Herr, wenn wir Beweise hätten?«

»Unmöglich, ganz unmöglich!«

»O doch! Davon, daß Sie die Baronie erhalten, kann gar keine Rede sein. Robert lebt.«

Der Tannensteiner war bleich geworden. Er fuhr von seinem Sitze auf und rief:

»Verflucht! Wenn dieser Bube wirklich noch lebte! Wir haben treu zusammengehalten, der Franz und ich, und nun soll nicht nur der Eine gerichtet werden, sondern auch der Andere um die Früchte aller Anstrengungen kommen. Das geht nicht; das dulden wir nicht!«

»Was soll man dagegen thun?«

»Das wird sich finden. Bringt mir nur erst den Beweis, daß der Junge noch lebt!«

»Dieser Beweis ist da, er liegt vor den Acten beim Untersuchungsrichter. Es ist heute ein Verbündeter hier angekommen, der die Kette der Helfensteiner in der Hand gehabt hat.«

»Wer ist das?«

»Ein Uhrmacher und Goldarbeiter. Er ist einer von den Wenigen gewesen, die das Geschick gehabt haben, sich nicht fangen zu lassen; aber jetzt geht es ihm auch an den Kragen. Da hat er sich aus dem Staube gemacht und ist zu mir gekommen, um mir verschiedene Winke zu geben.«

»Der Mann ist hier im Schlosse?«

»Ja.«

»Bringen Sie ihn einmal her!«

Der Verwalter ging und brachte den Goldarbeiter Jacob Simeon herbei, welcher für den Juden Salomon Levi damals die Kette verändert hatte. Er bewies zunächst, daß er ein Verbündeter sei, und wurde sodann nach dem Dasein Roberts von Helfenstein gefragt.

»Der ist da,« sagte er, »ich weiß es genau, obgleich man es noch so geheimhält.«

»Woher wollen Sie es wissen?«

»Vom Staatsanwalt.«

»Oho! Der wird es Ihnen sagen.«

»Mir nicht, aber Anderen, die seine Collegen sind.«

»Und das hörten Sie?«

»Ich nicht, aber meine Tochter.«

»Wieso?«

»Sie dient bei ihm.«

»Ah! Ist es das!«

»Ja,« schmunzelte Simeon. »Als das Unglück herein brach, las ich in der Zeitung, daß der Staatsanwalt ein Stubenmädchen brauche. Ich vermiethete ihm eiligst meine Tochter, um ihn aushorchen zu lassen. Er sagt nicht einmal seiner Frau Etwas; aber wenn Collegen bei ihm sind, so sprechen Sie davon, und meine Tochter hört es und sagt es mir wieder.«

»Schlaukopf! Da haben Sie auch von Robert gesprochen?«

»Ja.«

»Der lebt wirklich?«

»Ja. Er heißt Robert Bertram und wohnt beim Fürsten von Befour. Ich habe ihn beobachtet; er ist die meiste Zeit bei Alma von Helfenstein oder bei dem Oberst von Hellenbach.«

»Verflucht! Wenn er wirklich nicht umgekommen wäre! Wenn man nur wüßte, wie es dazumal zugegangen ist.«

»Das kann ich Ihnen sagen, meine Tochter hat es erlauscht. Hören Sie!«

Er erzählte Alles, was sich auf Robert Bertram bezog. Als er geendet hatte, war der Tannensteiner vollständig überzeugt, daß Robert noch lebe. Er rannte wütend im Zimmer auf und ab und suchte nach Auswegen, fand aber keinen.

»Es ist hin, Alles hin!« knirschte er. »Dieser Schneidersbube wird hier als Baron einziehen mit Sang und Klang. Mir war diese prächtige Erbschaft schon gewiß und sicher; nun aber muß ich verzichten.«

»Vielleicht nicht!«

Der Goldarbeiter sagte diese Worte nur halblaut vor sich hin, aber der Tannensteiner fuhr doch zu ihm herum und fragte schnell: »Was soll das heißen?«

»Daß doch noch nicht aller Tage Abend ist.«

»Redensart.«

»Ich bin nicht der Mann, der mit unnützen Redensarten um sich wirft. Ich pflege zu denken, zu überlegen und dann auch schnell zu handeln.«

»Haben Sie vielleicht eine Idee?«

»Eine köstliche.«

»Heraus damit.«

»Wie nun, wenn dieser Bertram nicht beweisen könnte, daß er Robert von Helfenstein ist.«

»Die Beweise liegen doch vor! Sie haben dies ja soeben selbst erzählt.«

»Ja. Aber wie nun, wenn diese Beweise falsch wären?«

»Sapperment!«

»Unecht, nachgemacht!«

»Mensch, Sie reden nicht ohne Grund und Absicht. Aber es ist doch bewiesen, daß dieser Bertram der Junge ist, welcher vom Schmied in das Findelhaus gebracht wurde.«

»Das ist wahr. Aber es ist nicht erwiesen, daß dieser Junge auch wirklich der kleine Robert gewesen ist.«

»Er hat ja die Kette gehabt!«

»Sie ist unecht!«

»Alle Teufel! Ist das wahr?«

»Ja.«

»Können Sie das beweisen?«

»Ja, ich allein.«

»Auf welche Weise.«

»Durch Vorzeigung der echten Kette.«

»Die haben Sie, Sie, Sie, Sie?« rief der Tannensteiner in fast fieberhafter Aufregung.

»Ich nicht. Aber ich kenne einen, der sie hat.«

»Er muß Sie herschaffen!«

Jacob Simeon lächelte ihm ruhig in das Gesicht und sagte:

»Meinen Sie, daß er es thut?«

»Er muß!«

»Wer will ihn zwingen?«

»Ich! Die Kette gehört ihm nicht!«

»Sie gehört ihm. Wissen Sie, wie er zu ihr gekommen ist? Und wenn Sie ihn zwingen wollen, wo würde er sie nicht Ihnen geben, sondern Robert Bertram, dem sie gehört und welcher der wirkliche Baron von Helfenstein ist.«

»Verdammt!«

»Sie sehen, Zwang müssen Sie vermeiden. Durch Güte kommen Sie weiter.«

»Wer ist denn der Mann, welcher die Kette hat?«

»Das darf ich natürlich nicht sagen.«

»Wie aber will ich mit ihm verkehren?«

»Durch mich.«

»Hat er Ihnen Auftrag gegeben?«

»Ja. Ich habe Vollmacht von ihm und kenne die Bedingungen, welche er macht.«

»Ah! Bedingungen! Ich ahne, daß er uns die Kette vielleicht verkaufen will.«

»Allerdings beabsichtigt er das.«

»Wieviel verlangt er?«

»Fünfzigtausend Gulden.«

Der Freiherr fuhr entsetzt empor. Auch der Verwalter wich erschrocken zurück.

»Fünfzigtausend Gulden! Höre ich recht?« fragte der Erstere.

»Sie haben mich richtig verstanden.«

»Der Mensch ist wohl irrsinnig?«

»Schwerlich. Wenn ich meine Meinung aufrichtig gestehen soll, so halte ich seine Forderung für sehr niedrig.«

»Ich glaube, es rappelt bei Ihnen.«

»Was ist die Baronie wohl werth?«

»Millionen natürlich.«

»Diese gehen Ihnen ohne die Kette verloren.«

»Mit derselben vielleicht ebenso.«

»O nein.«

»Was nützt mir die Kette eigentlich? Ich kann mit ihr doch nur beweisen, daß die Kette Bertrams unecht ist. Was aber antworte ich, wenn man mich fragt, woher ich sie habe, he?«

Der Goldarbeiter machte ein unendlich pfiffiges Gesicht und antwortete:

»Das wissen Sie nicht?«

»Nein, factisch nicht.«

»Man müßte nur zu der echten Kette einen Robert von Helfenstein finden.«

Der Tannensteiner fuhr gleich drei Schritte weit zurück.

»Welch’ – ein – Gedanke!« stieß er langsam hervor.

»Ja. Es gehört dazu ein junger Mann von zwanzig bis einundzwanzig Jahren, welcher – – –«

»Schweigen Sie!« rief ihm der Freiherr zu. »Mir kommt da ein Gedanke. Ich muß überlegen!«

Er ging eine Weile wortlos auf und ab; dann blieb er vor Jacob Simeon stehen und fragte:

»Also die echte Kette ist wirklich da?«

»Ja.«

»Ist sie der einzige Beweis?«

»Nein. Das Kind hat Wäschestücke gehabt mit R.v.H. gezeichnet. Diese sind im Findelhause zurückbehalten worden, liegen aber jetzt beim Beweismaterial im Actenschranke.«

»Ist der Mann, welcher die Kette hat, weit von hier?«

»Nein.«

»Wie lange dauert es, um ihn herbeizuholen?«

»Er ist schon da.«

»Wie? Was? Sind Sie es etwa selbst?«

»Ja.«

»Und Sie wagen es, fünfzigtausend Gulden zu verlangen?«

»Das ist außerordentlich billig.«

Er zuckte hinterlistig über das Gesicht des Tannensteiners. Er machte ein freundliches Gesicht und sagte:

»Na, wir werden ja einig werden. Zeigen Sie einmal!«

Jacob Simeon lachte ihm und dem Verwalter in die Gesichter und antwortete:

»Meinen Sie, daß ich sie mit hier habe?«

»Nicht?«

»Fällt mir gar nicht ein. Ich bin ein vorsichtiger Mann und liebe einen ehrlichen Handel. Ich sage Ihnen, wie ich zu der Kette gekommen bin, ich zeige Sie Ihnen, aber ohne Gefahr für mich; ich gebe sie ihnen nur gegen baares Geld, bin aber auch bereit, Ihnen zu dem Kinderzeug zu verhelfen, welches der kleine Robert damals getragen hat.«

»Wie wollen Sie das anfangen?«

»Das werde ich Ihnen sagen, wenn wir über unsern Handel einig geworden sind.«

»Warum nicht eher?«

»Ich gebe keinem Menschen einen guten Rath, wenn ich nicht selbst einen Nutzen davon haben kann.«

»Das ist ein sehr menschenfreundlicher Grundsatz. Ich glaube aber, daß Sie uns durch dieses Versprechen nur bereitwillig machen wollen, Ihnen die verlangte Summe zu bezahlen. Uns zu dem Kinderzeug zu verhelfen, das ist doch wohl eine Unmöglichkeit.«

»Oho!«

»Ganz gewiß. Sie sagten doch, daß diese Sachen bei den Acten aufbewahrt werden?«

»Ja.«

»Sie befinden sich im Gerichtsgebäude, unter Schloß und Riegel.«

»Natürlich.«

»Wie wollen wir sie herausbekommen?«

»Für Denjenigen, der Muth besitzt, ist es gar nicht schwer.«

»Das bezweifle ich.«

»Nun, wenn Sie es nicht glauben, will ich Ihnen sagen, wie das anzufangen ist. Ich thue mir dabei keinen Schaden, da Sie mich ja doch dabei brauchen.«

»So bin ich neugierig. Es versteht sich ganz von selbst, daß man sich die Sachen bei Nacht holen müßte.«

»Natürlich nicht bei Tage!«

»Man müßte also den Schlüssel haben.«

»Den versorge ich.«

»Ferner den Schlüssel zu dem betreffenden Zimmer.«

»Nur den Hauptschlüssel, und den könnte ich bekommen.«

»Auch den Schlüssel zu dem Schranke, oder überhaupt zu demjenigen Gelaß, in welchem sich das Kinderzeug befindet?«

»Ja.«

»Donnerwetter! Das wäre viel!«

»Sie vergessen, was ich Ihnen gesagt habe. Meine Tochter dient bei dem Staatsanwalte.«

»Ah! Ich beginne, Sie zu begreifen.«

»Der Staatsanwalt ist im Besitze aller dieser Schlüssel.«

»Wissen Sie das?«

»Ja.«

»Sollte er wirklich den Thorschlüssel haben?«

»Auch. Ich habe von meiner Tochter gehört, daß er zuweilen des Nachts nach dem Gerichtsgebäude geht, um zu inspiciren. Er muß also diesen Schlüssel haben.«

»Hm! Der Gedanke ist nicht schlecht! Also Ihre Tochter soll Ihnen die Schlüssel versorgen?«

»Ja. Er hat sie stets in den Hosen stecken, welche sie zu reinigen und früh an die Schlafzimmerthür zu hängen hat.«

»Aber er wird gerade da den Verdacht auf sie werfen.«

»Nein. Die Schlüssel müssen früh natürlich wieder in der Tasche stecken.«

»Hm! Ganz gut! Aber kann uns der ganze Plan Etwas nützen? Wohl kaum!«

»Gnädiger Herr, wie kommen Sie mir vor? Dieser Plan kann Ihnen nichts nützen?«

»Nein. Man merkt, daß die Sachen gestohlen sind. Später kommen wir und legen sie vor. Man wird uns natürlich sofort beim Schlafittchen nehmen, und zwar als Diebe.«

Der Goldarbeiter lächelte überlegen und sagte:

»Darüber bin ich gar nicht bange. Man wird Niemand als Dieb festnehmen, denn die Sachen werden gar nicht vermißt.«

»Das bilden Sie sich nur gar nicht ein. Diese Sachen haben als Beweismittel einen so hohen Werth, daß man sie sofort vermissen würde, darauf können Sie sich verlassen.«

»Man kann sie unmöglich vermissen, da sie sich ja stets an Ort und Stelle befinden.«

»Wieso? Wir nehmen sie ja mit!«

»Allerdings; aber wir legen andere, täuschend nachgemachte, an ihre Stelle.«

»Ah! Sapperment!«

»Begreifen Sie jetzt? Später treten Sie auf und zeigen die echten Sachen vor, auch die echte Kette. Es wird natürlich verglichen; man wird das Andere für nachgemacht erklären müssen, und Sie haben gewonnen.«

»Hm! Ja, wenn es so leicht ausgeführt werden könnte, wie es gesagt worden ist. Woher Kinderzeug nehmen, welches ganz genauso ist?«

»Wir holen das Zeug, und meine Frau sieht es sich an. Als frühere Stickerin versteht sie sich auf so Etwas. Sie fertigt die Duplicate an. Unterdessen tragen wir natürlich die Originale zurück. Der Umtausch findet später statt.«

»So muß man zweimal das Wagniß unternehmen, in das Gerichtsgebäude einzudringen?«

»Natürlich.«

»Eine heikle Sache!«

»Wer die Frucht haben will, muß den Baum schütteln. Ohne Arbeit kein Lohn.«

»Würden Sie mit helfen?«

»Ja. Vorausgesetzt, daß Sie die fünfzigtausend Gulden zahlen.«

»Hm! Ihr Plan ist nicht schlecht; aber wenn man erwischt wird, ist Alles verloren.«

»Das ist überhaupt stets der Fall. Lassen Sie sich doch nicht erwischen. Das ist die Hauptsache.«

»Wenn man Jemand finden könnte, der Einem für gutes Geld die Sachen holte!«

»Sie haben Angst! Ich versichere Ihnen, daß ich keinen Andern als nur Ihnen die Schlüssel versorge. Bei solchen Dingen muß man so wenig Mitwisser wie möglich haben.«

Der Freiherr ging einige Male nachdenklich im Zimmer auf und ab und sagte dann:

»Gut, ich bin bereit, das Wagniß zu unternehmen; aber ich muß vorher die Kette sehen.«

Der Goldarbeiter antwortete nicht sogleich. Auch er überlegte. Dann meinte er:

»Giebt es hier im Schlosse vielleicht eine Glasthür?«

»Ja. Wozu?«

»Das werden Sie sehen. Führen Sie uns hin, Herr Verwalter. Aber natürlich dürfen wir unbeobachtet sein.«

Der Verwalter schüttelte den Kopf über das sonderbare Verlangen, ging aber doch darauf ein. Er brachte die Beiden in ein Zimmer, welches durch eine Glasthür mit dem nebenan liegenden verbunden war.

»Bleiben Sie hier,« sagte Jacob Simeon. »Ich gehe hinaus.«

Er trat in das Nebenzimmer und verriegelte die Thür desselben. Er blieb einige Augenblicke unsichtbar, dann kam er an das Fenster der Thür und sagte: »Ich selbst habe die Kette. Ich habe sie mit. Ich zeige sie Ihnen, aber durch dieses Fenster, so daß die Glasscheibe zwischen uns ist.«

»Donnerwetter, welch’ ein Mißtrauen!« meinte der Freiherr.

»Das brauchen Sie mir nicht übel zu nehmen. Gebe ich Ihnen die Kette in die Hand, und Sie behalten sie, so kann ich einfach gar nichts dagegen thun.«

Er hielt von jenseits die Kette an das Glas und drehte sie nach allen Seiten, so daß sie ganz genau betrachtet werden konnte. Auch das herzförmige Medaillon mit den Buchstaben R.v.H. war deutlich zu sehen.

»Also das ist wirklich die echte?« fragte hüben der Freiherr.

»Ja.«

»Nun, so läßt sich über den Handel sprechen.«

Jacob Simeon verschwand drüben eine kurze Weile, während welcher er die Kette an sich versteckte. Dann trat er wieder heraus. Der Freiherr lächelte ihm überlegen entgegen, klopfte ihm auf die Achsel und sagte: »Sie sind ein höchst vorsichtiger Mann. Sie betrachten mich ja wirklich als einen gefährlichen Menschen!«

»Das sind Sie auch.«

»Ich? Ah, das ist stark!«

»Ist Einer, der des Nachts in das Gerichtsgebäude eindringen will, denn nicht gefährlich?«

»Hm, ja, wenn Sie es so nehmen.«

»Ein solcher Mann ist auch im Stande, mir die Kette nicht zurückzugeben, wenn ich so leichtsinnig bin, sie ihm anzuvertrauen.«

»O, wenn ich wirklich so gefährlich wäre, würde Ihnen alle Vorsicht nichts nützen.«

»Wie so?«

»Was wollen Sie machen, wenn ich Ihnen jetzt die Kette abnehme, mein Bester?«

»Sie wissen nicht, wo ich sie habe.«

»Wir suchen sie aus.«

»Das werden Sie unterlassen.«

»Wenn wir es aber doch thun?«

»So weiß ich mich zu wehren.«

»Pah! Wir sind Zwei gegen Einen!«

»Und ich bin für alle Fälle vorbereitet. Sehen Sie!«

Er zog einen Revolver aus der Tasche.

»Teufel noch einmal! Sie würden schießen?«

»Ganz gewiß!«

Der Freiherr war kein Held. Er wich einen Schritt zurück und sagte in begütigendem Tone:

»Na, na! So ist es auch gar nicht gemeint. Lassen Sie uns in Vernunft weiter sprechen. Ich hoffe aber, daß Sie von der geforderten Summe Etwas nachlassen!«

»Keinen Kreuzer! Ich verhelfe Ihnen zur Baronie; das kostet fünfzigtausend Gulden, keinen Deut mehr, aber auch keinen weniger. Ich handle nicht.«

»Wenn ich nicht darauf eingehe, so haben Sie gar nichts!«

»Oho! Glauben Sie, es ließe sich kein anderer Robert von Helfenstein finden?«

»Sie sind wahrhaftig ein Hauptschurke!«

»Ich bin ein ehrlicher Kerl. Ich bediene Sie ehrlich und will dafür auch ehrlich bezahlt sein.«

»Wie aber nun, wenn Sie mich doch betrügen? Wer giebt mir die Garantie, daß die Kette wirklich echt ist?«

»Da müssen Sie sich allerdings auf mein Wort verlassen.«

»Wie sind Sie in den Besitz derselben gekommen?«

»Der Althändler Salomon Levi brachte sie mir. Er ließ zuweilen bei mir arbeiten. Ich sollte ihm ein täuschend ähnliches Herz machen und das v in ein u verwandeln. Ich ahnte sofort, daß es sich hier um eine Sache von Wichtigkeit, vielleicht gar um eine Geburtslegitimation handle. Daraus war Geld zu schlagen. Ich machte das Medaillon, aber dann auch noch von der ganzen Kette ein täuschend ähnliches Exemplar, gab ihm Beides und behielt das Original für mich.«

»Schuft!« lachte der Freiherr.

»O, der Jude ist auch Schuft. Ihn zu betrügen, halte ich für keine Sünde. Jetzt nun erfuhr ich durch meine Tochter, welchen Werth diese Kette hat. Man forscht nach, wer das Medaillon gefertigt hat. Der Jude hat es noch nicht gestanden.«

»Sie aber machen sich dennoch aus dem Staube?«

»Wegen der Kette nicht. Kein Mensch kann mich bestrafen, wenn ich einen solchen Auftrag ausführe. Aber ich habe auch noch andere Geschäfte mit diesem Salomon Levi gehabt. Wenn er plaudert, faßt man mich beim Kragen. Ich habe einen Gehilfen, welcher schon längst wünschte, mein Geschäft zu kaufen, um selbständig zu werden. Ich bot es ihm an; er bezahlte baar, und so bin ich frei. Ich will mir nun noch die fünfzigtausend Gulden verdienen, dann schüttele ich den Staub von den Füßen und gehe meine Wege.«

»Ja, wer sich eine solche Summe so leicht verdienen kann!«

»Und wer eine Baronie so leicht und billig haben kann!«

»O, es ist schwerer als Sie denken. Woher nehme ich einen Robert von Helfenstein?«

»Das ist Ihre Sache.«

»Und wenn ich einen finde, so gehört die Baronie ihm, aber nicht mir.«

»Sie wird dennoch Ihnen gehören. Sorgen Sie nur dafür, daß der Betreffende ein von Ihnen abhängiges Subject ist.«

»Was das betrifft, so giebt es allerdings eine ganz gut passende Person. Also Sie gehen nicht herab von Ihrer Forderung?«

»Nein.«

»Und wann soll bezahlt werden?«

»Ich will es doch nicht so streng nehmen. Sie bezahlen die Hälfte, wenn ich Ihnen die Kette gebe, und die andere Hälfte, wenn Sie die Kindersachen in die Hand bekommen.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis der Freiherr antwortete:

»Ich will Ihnen jetzt noch keinen Bescheid geben. Kommen Sie übermorgen zu mir nach Rittergut Grünbach; da werden Sie erfahren, was ich beschlossen habe und – – ah, da kommt ja ein Wagen!«

Man hatte Pferdegetrappel gehört. Die drei Männer traten an das Fenster und blickten in den Schloßhof hinab.

»Eine offene Kutsche,« sagte der Verwalter. »Es steigen drei Herren aus. Ich kenne sie nicht.«

»Donnerwetter!« rief Jacob Simeon.

»Was ist’s. Kennen Sie Einen davon?«

»Alle Drei! Was wollen diese hier?«

Der Goldarbeiter war erschrocken, das sah man ihm an.

»Wer ist es denn?« fragte der Freiherr.

»Der eine Herr mit der vornehmen, sicheren Haltung ist der Fürst von Befour, die anderen Beiden sind der Staatsanwalt, bei welchem meine Tochter dient, und der Assessor von Schubert, welcher die Untersuchung gegen den Baron Franz von Helfenstein führt.«

»Alle Teufel! Was mögen sie wollen?«

»Sie dürfen mich natürlich nicht sehen. Geben Sie mir ein abgelegenes Zimmer, Herr Verwalter.«

»Mich aber sollen sie sehen!« sagte der Freiherr in entschiedenem Tone. »Ich bin der rechtmäßige Erbe und werde mich als solcher zeigen. Sie stellen mir also diese drei Herren vor!«

Jacob Simeon wurde in eine abgelegene Stube eingeschlossen, und die beiden Anderen begaben sich nach dem Salon, in welchem die Angekommenen empfangen werden sollten. Dem Fürsten war es nicht eingefallen, sich bei dem Verwalter anmelden zu lassen. Er fragte, wo derselbe sei und trat mit seinen beiden Begleitern unangemeldet ein. Der Verwalter gab sich als solcher zu erkennen und sagte dann: »Darf ich fragen, wer die Herren sind und was sie bei mir wünschen?«

»Ich bin der Fürst von Befour,« antwortete dieser. »Sie haben von Seiten Ihres zuständigen Gerichtsamtes in Erfahrung gebracht, daß Sie diese Besitzung jetzt nicht mehr für den Baron von Helfenstein, sondern unter behördlicher Inspection zu verwalten haben?«

»Ja.«

»Nun, eine solche Inspection wird heute stattfinden.«

Als er nun die Namen seiner beiden Begleiter nannte, trat der Freiherr auf ihn zu und sagte:

»Dann werden Sie mir wohl gestatten, an dieser Inspection Theil zu nehmen?«

Er vermochte es nicht, den Haß zu beherrschen, welchen er gegen den Fürsten hegte, obgleich er denselben noch nie gesehen hatte. Dieser Letztere betrachtete ihn mit einem forschenden, kalten Blicke und fragte dann: »Wer sind Sie?«

»Ich bin der Freiherr von Tannenstein und hoffe, daß Sie von meiner Existenz gehört haben!«

»Allerdings,« antwortete der Fürst lächelnd. »Aber was hat diese Ihre unbestrittene Existenz mit der heutigen Inspection zu thun, mein Herr?«

»Das sollten Sie nicht wissen?«

»Nein.«

»Die Helfensteins sind nur eine Seitenlinie der Tannensteins.«

»Das weiß ich allerdings.«

»Gegenseitig erbberechtigt!«

»Ganz richtig!«

»Die Baronie Helfenstein wird frei –«

»Glauben Sie?«

»Ja.«

»Der gegenwärtige Baron lebt noch!«

»Man ist überzeugt, daß er nicht mehr lange leben werde.«

»Ah, ich verstehe! Sie wollen ihn beerben?«

»Ganz folgerichtig. Es giebt keinen anderen Erben.«

»Nun, dann wollen wir doch vorher erst seinen Tod abwarten, mein Herr.«

»Das werde ich allerdings. Aber ich habe jedenfalls das Recht, mich um Angelegenheiten zu kümmern, welche später meine eigenen sein werden. Wenn Sie also zu inspiciren beabsichtigen, betheilige ich mich.«

Es glitt ein lustiges Lächeln über das Gesicht des Fürsten, als er antwortete:

»Sehr gut. Wir werden also auch Sie inspiciren.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Freiherr schnell. »Ich hoffe nicht, daß Sie mich für übermäßig spaßhaft halten!«

»O nein, das thue ich nicht. Ich kenne Sie überhaupt noch nicht, weiß also auch gar nicht, was ich von Ihnen zu halten habe; doch denke ich, es baldigst zu erfahren. Sie verlangen, an der Inspection betheiligt zu sein, und ich gewähre Ihnen Ihre Bitte, indem wir Sie mit inspiciren.«

»Bitte? Ich habe keineswegs gebeten. Ich weiß mich im Besitze meiner Rechte und habe also nur zu fordern. Natürlich will ich inspiciren, nicht aber inspicirt werden.«

»Ah, so! Thut mir leid! Da muß ich Ihnen freilich sagen, daß wir von Ihren Rechten noch nicht die richtige Ueberzeugung haben. Sie werden also wohl verzichten müssen, sich uns zu collegiren.«

»Ich verzichte nicht!«

»So bin ich neugierig, wie Sie es anfangen werden, als Inspector neben uns thätig zu sein.«

»Das werden Sie baldigst sehen.«

»Natürlich aber werden wir jede unberufene Einmischung zurückweisen müssen.«

»Ich lasse mich nicht zurückweisen!«

»So giebt es einen Paragraphen, welcher den Widerstand gegen die Staatsgewalt mit schwerer Strafe bedroht!«

»Es hat kein Mensch das Recht, hier diesen Paragraphen in Anwendung zu bringen.«

»Dennoch aber nehmen wir Drei vorläufig dieses Recht für uns in Anspruch.«

»Ich befinde mich in meinem zukünftigen Eigenthume!«

»Jetzt aber ist es noch nicht Ihr Eigenthum. Sie sind hier völlig fremd. Nebenbei ertheile ich Ihnen den guten Rath, überhaupt zu verzichten. Es ist ein anderer, viel näherer Erbe, als Sie es sind, vorhanden.«

»Den giebt es nicht!«

»Sie werden ihn kennen lernen.«

»Jetzt aber kenne ich ihn noch nicht und beharre also auf meinem Rechte. Wollen Sie sich die Bücher vorlegen lassen, so nehme auch ich Einsicht von ihrem Inhalte.«

»Sie werden, wie gesagt, verzichten. Sie bekommen nichts vorgelegt, und erzwingen läßt sich nichts.«

»Das wird sich finden!«

Er sprach das in übermüthigem Tone. Der Fürst zog die Stirn in Falten und antwortete:

»Hören Sie! Bis jetzt habe ich Ihr Verlangen für einen unzeitigen, etwas kindlichen Scherz gehalten und es demgemäß beantwortet. Sollten Sie wirklich Ernst machen, so mache ich Sie auch in allem Ernste darauf aufmerksam, daß Sie es mit den Vertretern des Gesetzes zu thun haben, welche die nöthige Macht besitzen, ihren Verordnungen Nachdruck zu geben. Wir sind nicht allein gekommen. In wenigen Minuten werden hier Gensd’armen eintreffen, denen wir einen Jeden überweisen werden, welcher sich unterfangen sollte, uns zu incommodiren.«

Und sich zu dem Verwalter wendend, fuhr er fort:

»Es handelt sich heute um die Ermordung des Barons Otto von Helfenstein und die Ermordung des Hauptmanns von Hellenbach. Der Baron Franz von Helfenstein hat die That eingestanden und wird unter Bedeckung binnen einer Viertelstunde hier eintreffen, um an Ort und Stelle verhört zu werden. Sie haben sämmtliche hier anlangende Herren als Gäste zu betrachten und für standesgemäße Verpflegung zu sorgen. Uns weisen Sie jetzt drei nebeneinander liegende Wohnungen an. Sie haben uns jetzt als Ihre Herren anzusehen und jedem unserer Worte augenblicklichen Gehorsam zu leisten. Also, jetzt vorwärts!«

Ohne den Freiherrn eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ er mit dem Assessor und dem Staatsanwalt den Salon. Tannenstein stieß einen Fluch aus und murmelte: »Verdammter Kerl! Er ist an Allem schuld, er allein! Also ein näherer Erbe ist da! Gut, ja! Aber diesen näheren Erben werde ich Euch nennen, ich! Und dann – sapperment, was ist das? Jetzt geht es los.«

Es rollten mehrere Wagen in den Hof. Gensd’arme und Gerichtsbeamte stiegen aus. Aus einem der Wagen wurde eine Gestalt gezogen, bei deren Anblick der Freiherr vor Schreck fast laut aufgeschrieen hätte.

Es war der Baron Franz von Helfenstein. Aber wie sah dieser Mann jetzt aus! Die Arme waren nicht zu sehen. Sie wurden durch einen Gypsverband fest an den Leib gehalten. Er trug Sträflingshosen, ebenso Weste und darüber einen sackartigen Ueberwurf. Sein Gesicht war eingefallen, wie dasjenige eines Todten, seine Lippen waren blutleer, und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. So weit hatte ihn die Verletzung der beiden Arme gebracht. Das Wundfieber hatte seine früheren Kräfte verzehrt, seinen Muth zerstört und seine Hartnäckigkeit vernichtet. Er hatte Alles gestanden.

»Das ist er!« murmelte der Freiherr. »Wie sieht er aus! Ja, da tauge ich hier nichts. Ich mag die Geschichte gar nicht mit ansehen, sondern ich will machen, daß ich fortkomme.«

Er wartete noch kurze Zeit, bis es ihm möglich war, ohne Aufsehen zu erregen, einspannen zu lassen. Dann kutschirte er fort.

Als er bei sich in Grünbach ankam, suchte er sogleich seine Tochter auf. Sie stand vor einem bis auf den Boden reichenden Spiegel und musterte ihre Gestalt.

Sie war schön, aber von jener rein fleischigen Schönheit, welche nur die Sinne in Beschlag nimmt und später in Formen übergeht, welche man Dickheit nennt.

»Vater,« sagte sie, »tritt einmal hierher und betrachte mich im Profil. Meinst Du nicht, daß ich ein Wenig zu dick werde?«

»Dick! Dick! Theodolinda, welch ein Ausdruck!«

»Nun ja, ästhetisch ist er nicht, aber er trifft das Richtige. Da, greife einmal meine Arme an! Ist das nicht dick, he?«

»Du bist grad so, wie Du sein sollst!«

»Nein. Ich nehme viel zu sehr zu! Ich werde Essig trinken und Kaffeebohnen kauen. Und die rothen Backen! Ich sehe wie ein Bauernmädchen aus. Was soll Herr von Hagenau denken!«

»Hagenau? Hast Du von ihm gehört?«

»Er ist da.«

»Woher weißt Du das?«

»Der Gärtner war in Reitzenhain und hat ihn aussteigen sehen.«

»Und es Dir erzählt?«

»Wo denkst Du hin! Er hat zur Zofe davon gesprochen, und diese theilte es mir mit.«

»Weiß sie denn von unserem Projecte?«

»Sie scheint gehorcht zu haben.«

»Sapperment! Das werden wir ihr abgewöhnen! Hoffentlich kommen die beiden Hagenau’s morgen schon herüber.«

»Wenn sie wüßten!«

»Hm, ja! Es ist eine alte berühmte Familie. Die Partie ist also gut, zumal –«

»Zumal wir speculiren.«

»Gerade so wie sie. Sie wollen Geld, und wir wollen uns in ihrem Stammbaume sonnen. Wenn der Alte wüßte, daß wir fast ärmer sind als er und daß wir nur dem Pascherkönig die Einnahmen verdankten, welche es uns ermöglichten, standesgemäß zu leben. Und nun soll und muß ich fünfzigtausend Gulden schaffen!«

»Fünfzigtau – –!«

Das Wort blieb ihr im Munde stecken.

»Ja, freilich!« nickte er.

»Wozu? Bist Du sie denn schuldig?«

»Nein. Ich soll sie bezahlen als Preis für den Reichthum der Helfensteins.«

»Ich verstehe Dich nicht.«

»Laß Dir erzählen. Du bist in Allem meine Vertraute gewesen, ich kann Dir also unbedenklich auch diese Angelegenheit anvertrauen.«

Er erstattete ihr ausführlichen Bericht. Sie hörte aufmerksam zu und fragte dann:

»Was hast Du beschlossen?«

»Noch nichts. Ich wollte erst Dich hören.«

»Das ist gar nicht nöthig. Es versteht sich ganz von selbst, was hier zu thun ist.«

»Nun was?«

»Wir greifen zu.«

»Gut; aber dieser Jacob Simeon will auch zugreifen. Er verlangt zunächst die Hälfte.«

»Die muß geschafft werden.«

»Aber wie?«

»Hm! Könnte man diesen Menschen denn nicht betrügen?«

»Nein. Er ist zu schlau.«

»Oder ihm die Kette abnehmen?«

»Ich habe Dir ja erzählt, daß er bewaffnet ist.«

»Was das betrifft, so ist mir das gleichgiltig. Vor einem Revolver braucht man sich nicht zu fürchten.«

»Ja, da kenne ich Dich. Du hättest ein Junge werden sollen. Aber die Kette allein nützt uns nichts. Wir müssen auch das Kinderzeug haben, und das können wir ja ohne seine Hilfe nicht bekommen.«

»Hm! Die Fünfundzwanzigtausend müssen wir also unbedingt haben. Vielleicht betrügen wir ihn dann um die andere Hälfte.«

»Gott, mir macht ja bereits schon die erste Hälfte zu schaffen. Woher das Geld nehmen?«

»Wieviel hast Du?«

»Ich habe kaum fünftausend Gulden in der Casse. Und das ist mein ganzes Vermögen.«

Sie blickte nachdenklich vor sich hin. Dann sagte sie:

»So muß ich sehen, wie das Geld zu schaffen ist.«

»Du? Wie wäre Dir es möglich?«

»Vielleicht doch. Laß mich nur machen. Um so reich zu werden, darf man seine Gedanken schon einmal anstrengen. Das Geld muß geschafft werden, und also wird es geschafft!«

»Aber noch weißt Du ja nicht, ob wir für einen Heller Nutzen haben werden.«

»Ich weiß, daß wir reich sein werden; das ist genug.«

»Ja, zum Teufel! Wir brauchen doch einen Robert.«

»Ja, den brauchen wir freilich.«

»Woher nehmen?«

»Den haben wir schon.«

»Wo denn?«

»Hier im Hause. Ich meine Julius.«

»Deinen Bruder! Mädchen, wir haben ganz denselben Gedanken. An Julius habe ich auch sogleich gedacht.«

»Er paßt prächtig. Grad daß er blödsinnig ist, gereicht uns zum Vortheile. Du würdest sein Vormund.«

»Das Alter hat er auch.«

»Es paßt eben Alles, Alles!«

»Aber in Beziehung auf die Hauptsache finde ich keine Antwort auf die Frage.«

»Du meinst, wie Julius, wenn er wirklich jener Robert von Helfenstein, zu uns gekommen ist?«

»Auch da muß Rath geschafft werden. Man ist ja nicht auf den Kopf gefallen und wird sich doch wohl irgend eine wohlklingende Fabel aussinnen können.«

»Ich dachte bereits an unseren alten Daniel, der, bevor wir ihn engagirten, bei Baron Otto von Helfenstein Diener war.«

»Ganz recht! Er ist nun todt und kann nichts dagegen sagen, wenn wir ihn einen Streich verüben lassen, an den er zur Zeit seines Lebens gar nicht gedacht hat.«

»War er nicht fortgejagt worden?«

»Ja.«

»Könnte er nicht aus Rache –?«

»Hm! Ja. Das ginge wohl. Aber wie kommen wir denn dazu, das fremde Kind bei uns aufzunehmen? Wohin wäre dann das unsere gekommen?«

»Ja, das wird verwickelt. Wir müßten die todte Mama mit in die Angelegenheit ziehen.«

»Das geht beinahe gar nicht anders.«

»Julius müßte damals grad gestorben sein; sie hat seinen Tod verschwiegen und den fremden Knaben dafür untergeschoben.«

»Wie aber erfahren wir das jetzt?«

»Wir finden in einem alten Verstecke die Kette, das Kinderzeug und einen Brief der Mama. Ueberhaupt wollen wir uns darüber noch nicht die Köpfe zerbrechen. Dazu ist später auch noch Zeit. Zunächst müssen wir das Geld schaffen.«

»Ah, Du hast einen Gedanken?«

»Ja.«

»Meinst Du etwa den Einsiedler?«

»Du hast es errathen.«

»Da mache Dir keine Gedanken. Er giebt keinen Kreuzer mehr heraus. Ich war in letzter Zeit bei ihm wegen der sechstausend, die ich ihm schuldig bin. Er will sie wieder haben und drohte mit dem Gerichte.«

»Er wird warten.«

»Ich glaube es nicht.«

»O, ich weiß gewiß, daß er warten wird!«

Sie sagte das in einem so zuversichtlichen Tone, daß er sie erstaunt ansah. Er fragte: »Wie kannst Du das so bestimmt behaupten?«

»Das will ich Dir sagen. Ich habe bisher darüber geschwiegen. Der Alte ist in mich verliebt.«

»In Dich ver – liebt? Ist er toll?«

»Ja, er ist toll, nämlich ganz toll vor Liebe.«

»Du hast es bemerkt, oder hat er gar davon gesprochen?«

»Er hat auf den Knieen vor mir gelegen.«

»Unglaublich!«

»O, er hat mir seine Liebe gestanden. Er hat mir seine Reichthümer angeboten. Er hat geschluchzt und gejammert und mir den Himmel versprochen, wenn ich seine Frau werden will.«

»Das ist stark! Er ist fast siebzig.«

»Das sind die schlimmsten. Uebrigens verdenke ich es ihm gar nicht!«

Sie sagte diese letzten Worte unter einem cynischen Lachen und fuhr dann weiter fort:

»Vorigen Sommer badete ich unten im Flusse. Ich hatte Lust, einmal im Freien zu baden, anstatt im engen Badehäuschen. Die Gegend ist einsam; es gab keinen Menschen in der Nähe, und so ging ich in’s freie Wasser, ganz ohne Badeanzug, den ich nicht mit hatte, weil ich nicht auf’s Baden ausgegangen war. Und denke Dir, der Alte hat mich belauscht!«

»Ah! Er war in der Nähe?«

»Er hat in den Weiden gesteckt, welche am Ufer stehen.«

»Sahst Du ihn dann noch?«

»Nein. Ich hatte keine Ahnung von der Gegenwart eines Menschen. Er erzählte es mir, als er mir die Liebeserklärung machte.«

»Das ist stark! Es auch noch zu erzählen!«

»Ja. Nun denke Dir einen Menschen, wie er ist. Ein alter Junggeselle, welcher wegen seiner Häßlichkeit keine Frau bekommen hat. Er sieht mir fast eine ganze Stunde lang zu. Es ist wirklich kein Wunder, daß er gemeint hat, es müsse hübsch sein, mich zur Frau zu haben.«

»Aber er, er! Ein Bürgerlicher, ohne Namen und Herkunft! Ein Mensch, der sich in eine halbe Ruine zurückgezogen hat, mit keiner Seele verkehrt, kein anderes Vergnügen kennt, als Geld zählen und immer wieder Geld zählen, häßlich wie ein Pavian – ah!«

»Er ist seit jener Zeit immer bemüht gewesen, mir zu begegnen. Erst kürzlich wieder traf er mich. Er wollte mir die Hand küssen, ich aber litt es nicht; aus Zorn darüber hat er Dir das Geld abverlangt und mit dem Gericht gedroht. Uebrigens hat er es Dir nur geborgt, weil er eben damals mich kurz vorher im Bade gesehen hat.«

»Also er soll Dir das Geld geben?«

»Du willst es von ihm verlangen?«

»Ich denke, daß er es mir selbst anbieten wird.«

»Und Du willst – ah, willst Du Dich verkaufen?«

»Fällt mir nicht ein!«

»Fünfundzwanzigtausend Gulden! Bedenke, welch eine Summe! Die borgt er nicht blos aus reiner Anbetung her. Er wird ein Äquivalent verlangen.«

»Das ist meine Sache. Sprechen wir nicht darüber. Die Angelegenheit ist zu zart dazu. Was ich thue, das thue ich für mich. Uebrigens brauchen wir ja das Geld nur für kurze Zeit, denn es versteht sich ganz von selbst, daß dieser Jacob Simeon es wieder hergeben muß.«

»Er wird sich hüten!«

»Ueberlaß auch mir Das! Du kennst mich!«

»Gut! Ueberlege Dir die Sache und thue, was Dir am Gerathensten erscheint.«

Er ging.

Diese beiden Menschen waren einander werth. Sie besaßen weder Gewissen noch wirkliches Ehrgefühl. Die Tochter war eine Amazone, von männlichem Character. Sie wollte reich sein und in der Gesellschaft eine Rolle spielen. Das Erstere war sie nicht, obgleich sie zu leben verstanden hatte, daß man sie für reich hielt. Das Letztere hoffte sie als Frau Hagenau’s zu erreichen.

Als ihr Vater sie jetzt verlassen hatte, trat sie wieder vor den Spiegel und betrachtete sich. Dabei murmelte sie: »Fünfundzwanzigtausend! Ob er sie baar da liegen hat! Wie fange ich es an? Ich mache ihn verrückt. Freilich werde ich – – ah, brrrr – mich von ihm küssen lassen müssen! Aber es geht nicht anders. Es ist bereits Dämmerung. Niemand sieht mich zu ihm gehen. Ich versuche es einmal!«

Sie machte Toilette und zwar in wirklich raffinirter Weise, dann verließ sie das Zimmer. Sie ging durch den Garten des Gutes und erreichte das freie Feld, wo sie einem schmalen Fußpfade folgte.

Es wurde dunkler und dunkler. Von weitem schimmerte ein einsames Licht. Es aus einem kleinen Fenster eines alten, thurmähnlichen Gebäudes, welches einsam hier im Freien lag. Seit langer Zeit wohnte da ein alter Hagestolz, welcher Winter hieß. Niemand wußte, woher er war und was er eigentlich sei. Man wußte nur, daß er reich sei. Er wohnte ganz allein in einem ruinenhaften Gebäude. Trotzdem wagte Niemand, ihm etwa seines Geldes wegen einen feindseligen Besuch zu machen, denn er besaß zwei Hunde von riesiger Größe, welche einen Jeden zerrissen hätten.

Jetzt befand er sich in einer Stube, welche ihm als Schlafzimmer diente. Hinter dem Bette stand eine altfränkische eiserne Truhe, welche sein Geld enthielt. Die Wände waren mit obscönen, schmierigen Bildern beklebt. Er saß vor einem Tische, auf welchem Goldhäufchen aneinander gereiht waren. Er zählte.

Das war seine Lieblingsbeschäftigung.

Da schlug draußen einer seiner Hunde an. Der andere fiel ein; sie bellten, als ob sie Jemand zerreißen wollten, und dazwischen ertönte der Schrei einer menschlichen Stimme.

»Wer ist da?« sagte er zu sich. »Am Abend! In der Dunkelheit! Wer hat sich hergewagt? Jedenfalls ein Spitzbube! Ich werde nachsehen.«

Er verließ den Raum, ging durch die Wohnstube und stieg eine schmale, steinerne Treppe hinab. Auf eine der Stufen setzte er die Lampe, deren Schein den dicken, schweren Riegel beleuchtete, welcher die massive Thür verschloß. Er öffnete die letztere ein wenig und fragte: »Wer ist da?«

Wegen des Hundegebelles konnte er die Antwort nicht verstehen; aber es war ihm, als ob die Stimme eine weibliche sei. Er gebot den Hunden Schweigen. Sie gehorchten, und er wiederholte seine Frage.

»Entsetzlich! Fast wäre ich auch noch zerrissen worden!«

Diese Stimme kannte er. Es durchzuckte ihn, als ob er electrisirt worden sei. Er wagte es nicht, an die Wahrheit zu glauben; darum fragte er: »Ein Frauenzimmer! Wie heißen Sie?«

»Helfen Sie mir doch lieber, anstatt zu fragen! Ah, welche Schmerzen!«

Im nächsten Augenblicke stand er neben ihr und sagte:

»Gnädiges Fräulein! Sie sind es, Sie!«

»Ja. Jagen Sie zunächst diese Bestien fort!«

»O, die thun Ihnen nichts! Haben Sie keine Sorge! Aber wie kommen Sie denn hierher?«

Sie saß auf einem Steine, welcher in der Nähe der Thür lag und ließ ein halb unterdrücktes Stöhnen hören.

»Ich war spazieren,« antwortete sie, »da drüben am Waldesrande. Ich sah eine Natter und sprang zur Seite. Da vertrat ich mir den Fuß.«

»O weh!« sagte er im Tone des Mitleides.

»Ich konnte nicht gehen. Ich wartete. Ich hoffte, es werde Jemand kommen; aber Niemand kam.«

»Hätte ich es gewußt!«

»Es wurde finster. Sollte ich die ganze Nacht dort auf der Erde liegen? Ich kroch fort, weiter und weiter, unter unsäglichen Schmerzen. Ich kam bis hierher, nun geht es aber nicht mehr!«

»Ich stehe zur Verfügung! Befehlen Sie, was soll ich thun?«

»Was Sie thun sollen? Ah, diese Schmerzen!«

»Soll ich einen Wagen holen?«

»Ja – nein – ja – ach Gott, dann sitze ich so alleine an diesem einsamen Orte! Wenn – wenn – haben Sie Essig da?«

»Essig? Ja, den habe ich.«

»Ein Essigumschlag würde wohl den Schmerz lindern.«

»Ja, gern, gleich! Aber, gnädiges Fräulein, da müßten Sie den Schuh ausziehen.«

»Ach ja, daran dachte ich nicht! Ausziehen. Hier – oh!«

»Wenn ich es wagen dürfte, Sie zu mir einzuladen!«

»Zu Ihnen! Da hinein?«

»Ja. Befürchten Sie nichts! Sie sind da so sicher wie daheim, wie in Abrahams Schooß!«

Er sagte das unendlich dringlich. Das schöne Mädchen bei sich, in seiner Stube! Er zitterte vor Erwartung, ob sie auf diesen Vorschlag eingehen werde.

»Es wird wohl nicht gehen,« antwortete sie. »Nein, unmöglich; es kann nicht sein.«

»Warum nicht?«

»So allein! Bei einem Herrn!«

»Ich schwöre Ihnen tausend Eide, daß Sie nichts zu befürchten haben!«

»O, welch ein Schmerz!« stöhnte sie.

»Sehen Sie! Wollen Sie hier sitzen bleiben? Können Sie denn hier einen Umschlag nehmen?«

Der verlorne Sohn
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