»Nein. Ich werde sie durch einen Dienstmann benachrichtigen.«
»Das klingt ja sehr geheimnißvoll!«
»Ist es auch. Ich will ein Geheimniß entdecken.«
»Sapperment! Ich auch.«
»Wo?«
»In Grünbach droben.«
»In Grünbach, wo auch ich ein Räthsel verfolge?«
»Sonderbar, lieber Bertram! Auch ich bin erst seit drei Minuten auf den Gedanken gekommen, da droben ein Geheimniß zu ergründen.«
»Wieso?«
»Ich belausche ein Gespräch.«
»Oh! Ich auch.«
»Zwischen einem Manne und einem Mädchen.«
»Ganz wie ich.«
»Sie schienen Vater und Tochter zu sein.«
»Wunderbar! Das ist ja ganz mein Fall!«
»Wirklich? Wir werden doch nicht ein und dasselbe Paar belauscht haben?«
»Ich glaube kaum.«
»Stecken Sie vielleicht in einer Bude?«
»Bude? Nein. Ich weiß von keiner Bude.«
»Dachte es mir! Aber desto sonderbarer ist es mir, daß wir Beide Vater und Tochter belauscht haben und da auf den Gedanken gekommen sind, droben in Grünbach ein Geheimniß zu entdecken. Nun fehlt nur noch, daß sich Ihr Geheimniß auf dieselbe Person bezieht wie das meinige.«
»Einen gewissen Robert von Helfenstein.«
»Herrgott, den meine auch ich!«
»Alle Teufel! Es handelt sich dabei um eine Kette?«
»Freilich!«
»Um Kinderwäsche?«
»So scheint es.«
»Mir bleibt der Verstand still stehen! Es scheinen hier Zeichen und Wunder zu geschehen. Sie müssen mir erzählen, was Sie erlauscht haben.«
»Und Sie mir auch.«
»Natürlich. Aber da kommt eine leere Droschke. Steigen wir ein, damit wir nicht zu gehen brauchen. Im Wartesaale können wir uns dann aussprechen.«
Mit Hilfe einer Droschke gelangten sie sehr schnell nach dem Bahnhofe. Dort setzten sie sich in eine ungestörte Ecke des Wartesaales, und Doctor Holm erklärte: »Ich habe freilich nicht dieses Geheimnisses wegen die Reise unternommen. Mein Vater befindet sich mit der Schwester in Bad Reitzenhain; meine Braut ist gestern hinauf, um Beide zu besuchen, und ich fahre heute nach, um einen Tag oder zwei bei ihnen zuzubringen. Ich komme da über den Wilhelmsplatz, als mir ein Kofferhenkel zerreißt. Ich nahm den Plaidriemen aus der Tasche, um den Koffer damit zu schnüren. Ich trat an eine der auf dem Platze stehenden Verkaufsbuden, weil sich auf dem Auslegebrete derselben die Sache bequemer machen ließ. Ich war beinahe fertig, als ich Schritte hörte, von rechts und von links. Ich lausche nicht gern; aber was ich da hörte, das bewog mich, meine Anwesenheit auf keinen Fall merken zu lassen.«
»Vielleicht. Die Beiden waren ein Mann und ein Frauenzimmer, Vater und Tochter, wie ich bald hörte. Die Letztere dient bei irgend einem Staatsanwalte und hatte dem Ersteren Schlüssel geborgt. Warum, das konnte ich nicht erfahren. Sie fragte, ob das Abenteuer gelungen sei; er antwortete bejahend. Dann war die Rede von viel Geld, ich glaube von fünfundzwanzigtausend Gulden, die für eine Kette bezahlt worden seien, und von einer ebenso großen Summe, welche heute Abend ausgezahlt werden solle, vielleicht auch morgen. Die Beiden sprachen für mich in halben Räthseln. Ich konnte nur so viel entnehmen, daß es sich darum handelte, nachzuweisen, daß irgend Jemand der echte Robert von Helfenstein sei. Dabei war von einem Freiherrn von Tannenstein und seiner Tochter die Rede. Kurz und gut, es handelte sich um ein Geheimniß, welches ich ergründen muß. Der Mann sagte, er werde von dem Freiherrn an der Linde erwartet, welche am Schloßwege stehe, heute punkt Mitternacht.«
»Konnten Sie die Beiden nicht festhalten?«
»Nein.«
»Warum nicht? Sie brauchten ja nur die Hände auszustrecken!«
»Werde mich hüten.«
»Auf Ihren lauten Ruf wären Ihnen genug Wächter zur Hilfe gekommen.«
»Das weiß ich sehr wohl. Ich hatte auch wirklich zunächst den Gedanken, das saubere Paar zu ergreifen, dann aber sah ich ein, daß dies die größte Dummheit sei, welche ich machen könne.«
»Warum eine Dummheit?«
»Die Beiden hätten sicherlich nichts eingestanden. Am Besten ist es, sie ihren Plan ausführen zu lassen und sie dabei zu ergreifen. Freilich kenne ich den Plan noch gar nicht, hoffe aber das Nöthige zu erfahren. Auf jeden Fall finde ich mich um Mitternacht bei der Linde ein.«
»Und ich bin dabei.«
»Wirklich? So handelt es sich also in der That um eine und dieselbe Geschichte?«
»Ja. Ich bin auch noch nicht klar, kann Ihnen aber doch noch einiges Weitere mittheilen. Der Mann, welchen Sie mit seiner Tochter belauscht haben, heißt Simeon.«
»Sapperment! Doch nicht etwa der jüdische Goldarbeiter Jacob Simeon, der steckbrieflich verfolgt wird?«
»Derselbe.«
»Ah! Dann hätte ich ihn freilich fassen sollen!«
»Vielleicht ist es doch besser, daß Sie es nicht gethan haben. Lassen Sie es sich erzählen, was ich belauscht habe!«
Er theilte es ihm mit. Als er geendet hatte, sagte Holm:
»Jetzt beginnt es in meinem Kopfe klar zu werden. Aber das mit dem Robert von Helfenstein kann ich nicht begreifen.«
»Bedenken Sie, bei wem ich gewesen war!«
»Nun, bei der Baronesse von Helf – – Sapperment, das ist derselbe Name! Betrifft es die Familie dieser Dame?«
»Ja, ihren Bruder.«
»Sie hat einen Bruder? Davon habe ich noch nichts gehört.«
»Es ist noch Geheimniß. Dieser Bruder ist vor langer Zeit verloren gegangen und erst vor Kurzem wieder gefunden worden. Wäre er verschwunden geblieben, so würde der Freiherr von Tannenstein sämmtliche Helfensteiner Besitzungen erben, nun aber – –«
»Alle Teufel! Ich verstehe! Er will den Wiedergefundenen zur Seite schaffen?«
»So muß man ihn warnen. Kennen Sie ihn?«
»Ja.«
»So sollten Sie nicht nach Reitzenhain fahren, ehe Sie ihn benachrichtigt haben.«
»Ich habe es gethan.«
»So? Das ist gut. Wie haben Sie ihn kennen gelernt?«
»Durch meinen Gönner, den Fürsten von Befour, welcher mir mittheilte, daß der Betreffende der verschwundene Robert von Helfenstein sei.«
»Höchst interessant! Ich möchte ihn auch kennen lernen.«
»Sie kennen ihn bereits.«
»Ah, er gehört in den Kreis, in welchem ich verkehre?«
»Ja. Natürlich aber trägt er jetzt noch nicht den Namen von Helfenstein.«
»Welchen denn?«
»Hm!« antwortete Robert lächelnd. »Ich sagte Ihnen vorhin, daß ich bei Baronesse Alma gewesen sei – –?«
»Allerdings.«
»Bis wie lange wohl?«
»Nun, seit Sie die BEiden belauschten, kann eine Stunde vergangen sein. Es ist also sehr spät gewesen, weit über Mitternacht, als Sie die Baronesse verließen.«
»Daß Sie sehr gern gesehen sind, daß Sie höchst intim – – Wetter noch einmal! Da kommt mir ein Gedanke!«
Er blickte Bertram mit weit aufgerissenen Augen an.
»Welcher Gedanke?«
»Sollte es möglich sein? Nicht wahr, Ihr Vorname ist Robert?«
»Ja.«
»Sind etwa gar Sie selbst jener verloren gegangene und wiedergefundene Robert von Helfenstein?«
»Würden Sie es mir gönnen?«
»Von ganzem, ganzem Herzen.«
»Nun, so will ich Ihnen gestehen, daß ich es bin.«
»Wirklich? Sie flunkern doch nicht etwa?«
»Kennen Sie mich als einen Flunkerer?«
»Nein. Ich glaube also Ihren Worten. Nehmen Sie meine herzlichste, innigste Gratulation und – –«
»Pst! Still!« meinte Robert, nach dem Eingange winkend, in welchem ein Herr und eine Dame erschienen.
»Wer ist das?« fragte Holm.
»Das ist der Freiherr von Tannenstein mit seiner Tochter. Ich habe den Mann allerdings nur von hinten gesehen und bei trügerischem Lampenschein, aber ich glaube nicht, daß ich mich irre.«
»Er fährt also mit demselben Zuge wie wir?«
»Ja.«
»Wollen wir in ein Coupé mit ihm?«
»Das will überlegt sein.«
»Kennt er Sie?«
»Er hat mich noch nie gesehen; so glaube ich nämlich.«
»Weiß er, daß Robert Bertram Robert von Helfenstein ist?«
»Darüber kann ich leider keine Auskunft geben.«
»Hm! Es wäre vielleicht gut, sich ihm vorzustellen. Vielleicht aber ist es auch besser, wenn er von uns gar nichts weiß und erfährt. Das Erstere können wir allemal noch thun, darum wollen wir das Letztere wählen.«
»Also ein anderes Coupé?«
»Ja. Am besten wird es sein, wir nehmen auch eine andere Wagenclasse. Fahren wir dritter!«
»Gut! Je ferner wir uns von ihm halten, desto weniger kann er vermuthen, daß wir uns in dieser Weise mit ihm beschäftigen.«
»Wir kommen jedenfalls noch früh genug mit ihm zusammen. Wir müssen nämlich mit ihm per Postwagen nach Reitzenhain fahren.«
»Ah, da bin ich neugierig!«
»Ich gar nicht. Neugierig bin ich nur auf die Linde heute Abend. In zehn Minuten geht der Zug ab. Es ist Zeit für Sie, die Ihrigen zu benachrichtigen.«
»Ich schicke ganz einfach einen Dienstmann zu Papa Brandt und lasse ihm sagen, daß ich mit Doctor Holm nach Reitzenhain gedampft sei, man solle keine Sorge um mich haben.«
»Ja; in dieser Weise laden Sie Alles auf mich. Aber es mag so am Besten sein. Wollen uns also die Fahrkarten besorgen. Später können wir ja weiter sprechen.«
Während der Eisenbahnfahrt war, wie sich sehr leicht denken läßt, meist die Rede von Bertrams Verwandlung in einen Baron. In Wildau stiegen sie aus und lösten sich sofort ihre Fahrscheine für die Post. Da sie die Ersten waren, welche dies thaten, erhielten sie die Plätze Nummer Eins und Zwei, also die Plätze im Fond des Wagens, welche die Besseren sind.
Holm übergab seinen Reisekoffer dem Postillion, welcher ihn zu besorgen hatte, und dann setzten sie sich in die Postrestauration, um den Abgang des Wagens zu erwarten.
Nach einiger Zeit kam der Freiherr mit seiner Tochter dazu. Sie würdigten die beiden Anderen keines Grußes, und während Theodolinde in hochmüthiger Haltung Platz nahm, ging der Freiherr, um die Fahrscheine zu besorgen.
»Die besten Plätze sind bereits weg,« meldete er, als er zurückkehrte. »Das ist unangenehm.«
»Wieso unangenehm?« fragte sie.
»Nun, wirst Du etwa mit einem schlechten Platze zufrieden sein?«
»Das nicht. Ich nehme mir eben den besten; das ist genug und versteht sich ganz von selbst.«
»Man wird ihn Dir nicht lassen.«
»Oho! Ich will Den sehen, welcher es wagt, gegen Theodolinde von Tannenstein unhöflich zu sein.«
Holm und Robert thaten, als ob die Worte sie gar nicht berührten. Sie wurden von den beiden Anderen auch gar nicht für Reisende gehalten.
Als das erste Zeichen gegeben wurde, entfernten sich Vater und Tochter. Holm und Robert folgten später und fanden allerdings ihre beiden Plätze besetzt. Sie grüßten sehr höflich, doch wurde ihnen nicht gedankt.
Sie hatten beschlossen, mit den zwei rückwärts liegenden Sitzen fürlieb zu nehmen; da aber lagen die Schirme, Hüte und andere Effecten der Tannensteins.
»Bitte, meine Herrschaften, dürften wir Sie um ein Wenig Platz ersuchen?« meinte der Doctor.
Er erhielt keine Antwort. Er wiederholte seine Worte, bekam aber auch jetzt keine Silbe zu hören. Da nahm er ganz einfach die unbequemen Gegenstände, legte sie den beiden Schweigenden in den Schooß und setzte sich.
»Rohheit!« stieß Theodolinde hervor.
»Hatten Sie etwas zu bemerken, Fräulein?« fragte der Doctor Holm.
Sie zuckte geringschätzend die Achsel, antwortete aber nicht. Darum fuhr er fort:
»Ich dachte, Sie hätten sprechen wollen. Ich liebe es, wenn dies so deutlich geschieht, daß man es verstehen kann, denn dann ist es wenigstens möglich, eine Antwort zu geben.«
»Eine Antwort wird von Ihnen gar nicht erwartet,« stieß der Freiherr hervor.
»Ach, dann hat man also gar nicht mit uns gesprochen, und wenn es richtig ist, wie ich vermuthe, nämlich das Wort ›Rohheit‹ gehört zu haben, so kann dasselbe also nur Ihnen gegolten haben. Bitte um Entschuldigung.«
Er verneigte sich sehr höflich und lächelte in sich hinein. Der Freiherr ärgerte sich außerordentlich, den ausgetheilten Stich in dieser Weise zurückerhalten zu haben, und wartete nur auf eine Gelegenheit, sich zu rächen.
Sie wollte aber nicht kommen; darum zog er sie später, als man bereits die erste Station passirt hatte, mit den Haaren herbei. Der Weg war schlecht geworden, der Wagen wurde hin und her geworfen, und so war es gar nicht zu vermeiden, daß sich die Passagiere zuweilen berührten. Bei einer solchen Gelegenheit fuhr der Freiherr Robert an: »Herr, was stoßen Sie? Sie scheinen es geradezu auf mich abgesehen zu haben.«
»Das ist wahr,« antwortete Robert ruhig.
»Unverschämtheit!«
»Nur in anderer Weise, als Sie meinen, sehe ich es auf Sie ab.«
»Was wollen Sie damit sagen? Halten Sie ihr Maul, und sitzen Sie ruhig!«
Und nach kurzer Pause meinte Theodolinde:
»Vater, ich bitte Dich! Befindet man sich hier denn in einem Mörser, um zu Mehl zerstoßen zu werden!«
»Nehmen auch Sie sich in Acht!« schnauzte in Folge dessen der Freiherr Holm an. »Sie befinden sich nicht in der Schnapspenne, wo sie zu verkehren scheinen!«
»Haben Sie mich jemals dort gesehen?« fragte Holm, indem er ihm in dieser Weise die Beleidigung zurückgab.
»Flegel!« war die Antwort.
Das war dem Doctor denn doch zu viel. Er klopfte an das Vorderfenster, ließ halten und stieg aus.
»Was giebt es?« fragte der Postillion.
»Man hat die Plätze verwechselt.«
»Wieso?«
»Lassen Sie sich die Fahrscheine zeigen.«
Dabei schob er ihm ein Trinkgeld in die Hand. Der Mann stieg sofort vom Bocke, nahm den Hut ab und sagte zum Freiherrn: »Darf ich die Herrschaften um die Fahrscheine bitten?«
»Wozu?«
»Es ist der Plätze wegen.«
»Pah! Wir Beide haben Plätze!«
»Aber vielleicht die falschen Plätze.«
»Geht uns nichts an. Wir sind zuerst eingestiegen.«
Da sagte Holm:
»Diese beiden Personen scheinen noch nie mit der Post gefahren zu sein, da sie nicht wissen, in welcher Weise die Plätze vergeben werden.«
»Schweigen Sie, Unverschämter!« antwortete Tannenstein. »Sie haben uns während der ganzen Fahrt belästigt.«
»Das ist freilich wahr. Wir haben sie gegrüßt. Das ist eine Belästigung, die Sie gar nicht zu verdienen scheinen.«
»Das ist stark! Postillion, befreien Sie uns von diesen beiden Personen.«
Der Genannte kratzte sich verlegen in den Haaren und antwortete:
»Was das betrifft, so mag es auf der nächsten Station ausgemacht werden. Ob Jemand unwürdig ist, mitzufahren, darüber habe nicht ich zu entscheiden. Aber ob jeder Passagier seinen richtigen Platz hat, darauf habe ich zu sehen. Bitte also die Fahrscheine.«
»Ganz richtig,« nickte Holm. »Es ist nicht nöthig, daß Sie die Fahrscheine der Anderen betrachten. Hier ist der meinige – Nummer Eins, sehen Sie? Und mein Freund hier hat Nummer Zwei.«
»Hm! Das ist dumm!« brummte der Rosselenker.
»Warum dumm? Die anderen Passagiere haben also Nummer Drei und Vier. Wir hätten uns schweigend verhalten. Da man uns aber unsere Höflichkeit mit Rohheit vergilt, so verlangen wir die uns gebührenden Plätze.«
»Verflucht!« brummte der Postillon in den Bart.
»Sie haben nicht zu fluchen, sondern Ihre Pflicht zu thun!«
»Das ist freilich wahr. Also Sie bestehen darauf?«
»Ja.«
Der Kutscher kannte den Freiherrn und dessen Tochter. Er meinte jetzt möglichst demüthig zu ihnen:
»Ja, meine Herrschaften, da kann ich nicht helfen. Sie müssen sich eben hier herüber setzen.«
»Sie phantasiren wohl?« fragte Tannenstein.
»Nein, das Nervenfieber habe ich noch nicht; aber ich kann es leicht bekommen, wenn es so fortgeht. Bitte, geben Sie Nummer Eins und Zwei frei!«
»Niemals! Fällt uns nicht ein. Fahren Sie weiter! Auf der nächsten Station werde ich mich übrigens beschweren. Wer mit seinem Platze nicht zufrieden ist, mag aussteigen und auf Schusters Rappen fahren.«
»Na, was soll man da thun!« meinte der Postillon, indem er Holm rathlos anblickte.
»Ihre Pflicht,« antwortete dieser.
»Die thue ich ja.«
»Nein. Sie bitten nur, aber Sie befehlen nicht.«
»Na, man gehorcht mir doch nicht!«
»So sind wir Beide also auf uns selbst angewiesen. Wir haben unsere Plätze gelöst und bezahlt; wir wollen sie haben. Wer uns dabei im Wege ist, der mag sehen, wo er bleibt. Ich bitte also zum letzten Male, unsere Sitze freizugeben.«
»Lassen Sie sich nicht auslachen!« sagte der Freiherr.
»Allerdings nicht. Wenigstens glaube ich nicht, daß Sie der Manne sind, uns auszulachen.«
»Keine Beleidigung weiter! Sie wissen nicht, wer und was ich bin!«
»Das weiß ich sehr genau.«
»Nun, was bin ich?«
»Ein Flegel!«
»Mensch! Ich werde Sie auf der nächsten Station arretiren lassen! Ich bin der Freiherr von Tannenstein.«
Da fiel Robert schnell ein:
»Das ist nicht wahr, das ist eine Lüge!«
»Ah! Sie Grünschnabel wollen auch mit reden?«
»Ja, und zwar nicht nur mit Worten, sondern mit Thaten. Hier meine Antwort auf den Grünschnabel!«
Er holte aus und gab ihm eine so mächtige Ohrfeige, daß dem Getroffenen Hören und Sehen verging.
»Sehr gut, so!« lachte Doctor Holm. »Wenn er damit nicht zufrieden ist, stehe auch ich zur Verfügung.«
Der Freiherr wußte gar nicht, ob er lachen oder weinen solle. Dann bemächtigte sich seiner eine entsetzliche Wuth, aber trotz derselben wagte er keine thätliche Erwiderung. Er schimpfte und tobte und drohte mit allem Möglichen. Seine Tochter stimmte ein. Beide befahlen dem Postillon, die Fahrt fortzusetzen, dieser aber, im Innern sehr erfreut über die Lection, welche der Freiherr erhalten hatte, antwortete: »Das geht nicht so rasch. Erst muß die Platzgeschichte in Ordnung gebracht werden.«
»Aber ich gebiete Ihnen, weiter zu fahren. Ich verantworte Alles, Alles, ich, der Freiherr von Tannenstein.«
»Es geht aber nicht.«
Da sagte Robert zu dem Postillon:
»Lassen Sie sich nicht etwa durch irgendeinen Titel einschüchtern. Dieser Mensch nennt sich zwar Freiherr, ist aber keiner. Ein Herr vom Adel kann niemals ein so gemeines Betragen haben.«
Da hielt es der Postillon nun freilich für seine Pflicht, die aufklärende Antwort zugeben:
»Da sind Sie aber falsch berichtet; er ist freilich ein wirklicher Freiherr. Ich kenne ihn.«
»Ich kenne ihn auch.«
»Na, da möchte ich wissen, für wen Sie ihn halten!«
»Er ist ein Kaufmann aus dem kleinen Orte Kirchenbach und heißt Moosberg.«
Da zuckte der Freiherr zusammen; der Postillion aber meinte zweifelnd:
»Wissen Sie das genau?«
»Ja. Er hat sich selbst so in das Fremdenbuch eingetragen. Fragen Sie ihn, ob er es leugnet!«
»Fremdenbuch? Das verstehe ich nicht; das geht über meinen Horizont. Aber da giebt es hier freilich eine Ähnlichkeit, welche ihres Gleichen sucht. Darf man denn vielleicht auch erfahren, wer und was Sie sind?«
»Ja. Mein Freund ist ein Baron, und ich bin ein Doctor der Philosophie; die Namen sind ja wohl hier gleichgültig. Nun aber ist des Schwatzens genug. Ich verlange meinen Platz; erhalte ich ihn nicht freiwillig, so nehme ich ihn mir. Auf hier und hinüber!«
Er faßte den Freiherrn mit unwiderstehlicher Stärke, zog ihn halb empor und schleuderte ihn auf den gegenüberliegenden Sitz. Theodolinde folgte ihrem Vater jetzt freiwillig. Der Kutscher stieg auf und setzte die Fahrt fort.
Es wurde kein Wort gesprochen; aber die Augen der beiden Tannenstein’s waren um so beredter. An der nächsten Station stiegen Beide aus.
»Jetzt macht er Anzeige,« meinte Robert.
»Ich gräme mich nicht darüber. Wir sind gekommen, eine Fehde mit ihm auszufechten und haben uns ihm einstweilen vorgestellt. Nun weiß er, was er von uns zu erwarten hat.«
Anstatt des Stationschefs kam der Postillon. Er sagte:
»Ich soll die Sachen hinein bringen.«
»Uns nicht auch?«
»Nein. Sie haben drin gar nichts erzählt, sich aber ein Extrageschirr bestellt. Nun fahren wir allein.«
»Recht so!«
»Verfluchte Geschichte! Ich hielt ihn wirklich für den Freiherrn; da er aber diese horrible Maulschelle so gemüthlich einsteckte, so kann er es nicht sein. Ein wirklicher Freiherr hätte den jungen Herrn dafür massacrirt.«
Die Fahrt wurde fortgesetzt und verlief von jetzt an ohne alle Störung. In Reitzenhain angekommen, wurde Holm von seiner Schwester und seiner Braut von der Post abgeholt. Es versteht sich von selbst, daß auch Robert Bertram willkommen geheißen wurde.
Dieser Letztere behielt den Zweck seines Hierseins im Auge. Er erwartete die Ankunft des Freiherrn. Als dieser anlangte, beobachtete er ihn unbemerkt. Er erfuhr, daß Tannenstein in die Apotheke gegangen war und sich dann mit seiner Tochter nach dem Schlosse zu Graf Hagenau begeben hatte. Hier waren die Beiden etwa eine Stunde lang geblieben und dann nach Grünbach weitergefahren.
Als Bertram dann in der Apotheke nachfragte, erfuhr er, daß der Freiherr sich einige Schlafpulver gekauft habe, da er seit Kurzem an Schlaflosigkeit leide.
Er theilte dies Doctor Holm mit.
»Das Schlafpulver geht uns jedenfalls nichts an,« meinte dieser. »Das ist Zufälligkeit.«
»Wahrscheinlich. Aber in einer Lage wie die unsrige gewinnt Alles eine erhöhte Bedeutung.«
»Wann brechen wir auf nach Grünbach?«
»Ich möchte keine Zeit versäumen. Man muß recognosciren, um das Schloß und die Umgegend kennen zu lernen. Das muß natürlich am Tage geschehen.«
»Versteht sich. Vielleicht treffen wir dabei auf den Kerl, den wir suchen.«
»Schwerlich.«
»O, er muß doch auch wahrscheinlich recognosciren.«
»Wenn er nicht bereits dort gewesen ist. Brechen wir nach Tische auf?«
»Mir ist es recht.«
So geschah es. Am Schlusse des Mittagessens verabschiedeten sich die Beiden, ohne aber zu sagen, was sie eigentlich vorhatten. Sie gingen spazierend nach Grünbach, schlugen einen Bogen um das Dorf und hielten dann auf die Linde zu, welche zwischen demselben und dem Schlosse lag. Doch nahmen sie sich in acht, und führten dies so unauffällig wie möglich aus. Darum gingen sie an dem Baume vorüber, ohne bei ihm stehen zu bleiben, und verschwanden dann in einem Gebüsch, welches sich nach dem Walde hin zog.
»Der Baum ist ganz passabel,« sagte der Doctor.
»Zum Lauschen, meinen Sie?«
»Ja.«
»Der Stamm ist so stark, daß man sich leicht hinter ihm verstecken kann.«
»Das werden wir freilich bleiben lassen.«
»Warum?«
»Weil man uns da erwischen würde. Dieser Simeon kommt und wartet da. Es versteht sich ganz von selbst, daß er sich genau umblickt. Nein. Wir dürfen uns nicht hinter dem Stamme verstecken, sondern wir müssen hinauf.«
»Hinauf? Das wäre zu schwer.«
»Ja, zum Erklettern ist der Baum viel zu stark. Er muß über tausend Jahre alt sein. Aber mit Hilfe eines Strickes, den wir über einen Ast werfen, wird es gehen. Und ein Strick wird wohl zu haben sein.«
»Ja. Und dann sitzen wir hoch da oben und hören kein Wort von dem, was unten gesprochen wird.«
»Das müssen wir freilich gewärtig sein. Der unterste Ast befindet sich wenigstens zwölf Ellen über der Erde.«
»Warum hinaufklettern? Das ist ja gar nicht nöthig. Die Linde ist hohl.«
»Wirklich? Das habe ich gar nicht bemerkt.«
»Weil Sie an der anderen Seite vorübergingen. An der meinigen sah ich den Spalt, der so breit ist, daß ich ganz gut hineinkriechen kann.«
»Da werden wir sehen, ob sich diese Gelegenheit für uns benutzen lassen wird. Jetzt nun wollen wir uns einmal das Schloß ansehen.«
Sie umstrichen dasselbe von allen Seiten, bis sie ganz genau orientirt waren. Dabei erblickten sie auch den Thurm, den der Einsiedler Winter bewohnte. Sie näherten sich ihm, um ihn zu betrachten. Dabei kamen sie über eine Erhöhung, von welcher aus man einen ziemlich weiten Rundblick hatte. Da blieb Bertram stehen und sagte: »Drehen Sie sich nicht um, sondern thun Sie so, als ob Sie den alten Thurm studirten!«
»Schielen Sie einmal da rechts hinüber. Sehen Sie die drei neben einander stehenden Kirschbäume?«
»Ja. Ah, dort kauert Einer an der Erde.«
»Ja.«
»Finden Sie dabei etwas Auffälliges?«
»An der Gegenwart dieses Mannes an und für sich nicht, aber die Art und Weise, wie er sich niederduckte, war höchst merkwürdig. Es sah ganz so aus, als ob er sich verbergen wolle.«
»Ach so! Er hat ein böses Gewissen?«
»Er kam dort den Feldrain herauf, gebückt und schleichend. Da bemerkte er uns Beide. Sofort machte er einige rasche Sprünge, um die Bäume zu erreichen, und kauerte sich hinter dieselben nieder.«
»Das ist freilich auffällig. Jetzt hat er sich ganz niedergelegt, so daß wir ihn gar nicht sehen können. Wollen wir ihn uns aus der Nähe betrachten?«
»Sie meinen, daß wir hingehen?«
»Nein. In diesem Falle würde er ausreißen, falls er Grund hat, die Menschen zu fliehen. Nein. Wir umgehen die Stelle im weiten Bogen, so daß er auch unsere Gesichter nicht erkennen kann, und treten dann in den Wald, dort wo der schmale Weg in denselben führt. Anstatt aber diesem Weg zu folgen, kehren wir rasch hinter den Bäumen nach der Stelle um, an welcher der Feldrain an den Waldesrand stößt. Dort kommt der Mann ganz sicher vorüber. Sind Sie einverstanden?«
»So kommen Sie!«
Sie bewegten sich in der angegebenen Weise vorwärts, bis sie den Wald erreichten, hinter dessen ersten Bäumen sie dann schnell zurückeilten. An der Stelle angekommen, wo der Rain auf die Büsche stieß und sich unter denselben verlor, kam ihnen wieder der Mann zu Gesicht.
»Sehen Sie, daß ich Recht hatte,« sagte Holm. »Eben jetzt steht er von der Erde auf.«
»Aber wie! Wie ein Spion, den jeder Blick tödten kann. Dieser Mann hat wirklich ein böses Gewissen.«
»Wir werden uns ein wenig um ihn bekümmern. Sehen Sie, daß er gerade auf dem Rain auf uns zukommt? Legen wir uns hier hinter das Haselgebüsch; da können wir ihn genau sehen und ihm doch so bequem nach rechts oder links ausweichen, daß er uns gar nicht zu bemerken vermag.«
Sie thaten das. Der Mann kam langsam näher. Es war der Goldarbeiter Jacob Simeon. Am Waldesrande angekommen, blieb er überlegend stehen. Er bewegte die Lippen, er schien mit sich selbst zu sprechen. Langsam und sinnend schritt er weiter. Im Vorübergehen hörten ihn die Beiden sagen: »Nein, mich fängt er nicht. Ich vergrabe Alles, Alles, bis ich weiß, woran ich mit ihm bin. Dann –«
»Haben Sie verstanden?« fragte Holm.
»Ja. Er will etwas vergraben.«
»Vielleicht etwas für uns Wichtiges. Wir müssen ihm unbedingt folgen.«
»Ja, aber vorsichtig! Warten wir. Dort ist er stehen geblieben. Er beobachtet das Schloß. Er kommt mir außerordentlich bekannt vor. Den muß ich in der Residenz gesehen haben.«
»Und mir kommt er nicht nur bekannt vor, sondern ich kenne ihn wirklich. Erst jetzt fällt es mir ein. Ich weiß, daß er ein jüdischer Goldarbeiter ist, nur seinen Namen wußte ich nicht. Jedenfalls ist es sicher, daß er der gesuchte Jacob Simeon ist.«
»Da machen wir einen guten Fang. Wir sollten ihn gleich jetzt festhalten.«
»O nein. Wir müssen wissen, was der Freiherr mit ihm beabsichtigt. Jetzt geht er weiter. Kommen Sie, immer hinter mir. Nur nicht sehen lassen!«
Sie folgten ihm unter den Bäumen, die den Rand des Waldes bildeten. Er schien nach etwas zu suchen.
»Was mag er wollen?« meinte Robert.
»Einen Ort, der sich gut eignet, etwas zu vergraben. Er muß sicher, aber doch auch leicht wiederzufinden sein.«
»Halt! Dort bleibt er stehen!«
»Ja, er scheint einen Entschluß gefaßt zu haben.«
»Wie vorsichtig und mißtrauisch er sich umsieht! Ah, er durchsucht die ganze Umgebung, ob Jemand da ist. Gehen wir noch ein wenig zurück.«
»Nicht nöthig. Jetzt kniet er nieder, dort bei jener Birke. Er nimmt das Messer heraus. Wahrhaftig, er sticht den Rasen aus und beginnt zu graben.«
Die Beiden hatten sich niedergekauert, um ihn besser beobachten zu können. Er arbeitete wohl eine volle Viertelstunde lang; die Einzelnheiten konnten sie nicht sehen. Dann erhob er sich. Er nahm zwei schwache, eng neben einander stehende Äste der Birke und flocht sie zusammen.
»Da macht er sich ein Zeichen, um den Ort leicht wieder zu finden,« sagte Robert Bertram. »Ich brenne förmlich vor Begierde, zu wissen, was er da versteckt hat.«
»Das werden wir sehr bald erfahren. Lassen wir uns nur ja nicht sehen. Treten wir lieber weiter in die Büsche hinein, wo wir schwerer zu bemerken sind!«
»Ja, schnell, da kommt er zurück.«
Sie versteckten sich. Er kam langsam vorüber und blieb dann für einige Secunden stehen, um sich den Ort einzuprägen, an welchem er seinen Schatz vergraben hatte. Dann schritt er weiter.
Die Beiden warteten eine ganze Weile, dann meinte Robert Bertram: »Jetzt wird er wohl fort sein!«
»Hoffentlich. Sehen wir einmal nach. Warten Sie hier!«
Er schlich sich in der Richtung fort, in welcher Simeon verschwunden war, und kehrte erst nach längerer Zeit zurück, sich entschuldigend: »Ich wollte ganz sicher gehen. Er konnte ja sehr leicht auf den Gedanken kommen, wieder umzukehren. Ich sah ihn über die Felder gehen, jenseits des Dorfes hinauf. Wir sind jetzt ungestört.«
Sie begaben sich nach der Birke. Es war nicht die mindeste Spur zu bemerken, daß Jemand hier gegraben habe. Er hatte seine Sache sehr gut gemacht. Da sie ihn aber so genau beobachtet hatten, war die Stelle sehr bald gefunden.
Es gab unter der Birke einen dünn bewachsenen Waldrasen, aus welchem Simeon ein viereckiges Stückchen ausgeschnitten hatte. Sie hoben dasselbe empor und kamen auf lockere Erde, welche sie vorsichtig entfernten, indem sie sie in ihre Taschentücher sammelten. Dann – stieß Holm einen Ruf der Freude aus.
»Hier!« sagte er. »Sehen Sie! Eine Brieftasche.«
»Ja. Ah! Was ist drin?«
Holm öffnete.
»Donner und Doria!« meinte er. »Banknoten! Und zwar zu tausend Gulden das Stück.«
»Echte?«
»Ich denke es.«
Er hob eine der Noten prüfend gegen das Licht und sagte dann:
»Ich möchte mit wetten, daß diese Noten echt sind. Wollen zählen – ah, Sapperment! Fünfundzwanzig Stück, also fünfundzwanzigtausend Gulden. Das ist ja ein ganzes Vermögen!«
»Und auch gerade die Summe, welche wir erlauscht haben. Heute will er sich abermals so viel holen.«
»Für was aber? Wofür?«
»Für die Kette natürlich und so weiter.«
»Wahrscheinlich. Sollte sich im Portefeuille hier nicht ein Fingerzeig finden?«
Holm suchte nach. Er fand mehrere Papiere; sie waren aber werthlos. Endlich, als er bereits die Geduld zu verlieren begann, fand er in einem ziemlich gut verborgenen Fache einen zusammengefalteten Bogen, welcher augenscheinlich neu war.
»Das ist vielleicht das Richtige!« meinte er.
»Bitte, öffnen!«
»Gleich! Das ist gutes, starkes Actenpapier. Wie kommt der Mann dazu? Sehen Sie, da ist auch der Wasserstempel, mit welchem das in den Gerichtsämtern gebrauchte Papier gezeichnet ist.«
»Aber der Inhalt! Bitte, bitte!« drängte Robert.
»Gleich, gleich! Hier sind die Zeilen und darunter befindet sich das Siegel des Freiherrn, ja, bei Gott, Freiherrn. Man sieht, daß er hier den Siegelring in Gebrauch genommen hat.«
»Gleich, gleich! Hören Sie!«
»Ich Endesunterzeichneter bekenne hiermit, daß ich Herrn Goldarbeiter Jacob Simeon 25.000 Fl., sage fünfundzwanzigtausend Gulden schulde. Ich mache mich nach Wechselrecht verbindlich, diese Summe bis spätestens übermorgen, den zwölften Juni a.c., Nachmittag sechs Uhr, an ihn zu entrichten und entsage hiermit ausdrücklich aller Weigerung und Ausrede.
(L.S.)
Ernst, Freiherr von Tannenstein
auf Grünbach.«
»Also eine Schuldverschreibung,« sagte Robert.
»Eine Schuldverschreibung in Wechselform. Was meinen Sie, behalten wir das Geld?«
»Natürlich.«
»Und diese Verschreibung?«
»Auch. Wir behalten überhaupt die Tasche nebst Inhalt, um sie der Behörde zu übergeben.«
»So wollen wir hier das Loch wieder schließen, aber so behutsam und sauber, wie er es gethan hatte.«
»Er wird fürchterlich erschrecken, wenn er zurückkehrt und das Nest leer findet.«
»Natürlich, denn dann sind ihm volle fünfzigtausend Gulden verloren. Da müssen wir nun vorsichtig sein. Es ist möglich, daß er schon heute wiederkommt. Findet er das Loch leer, so schöpft er natürlich Verdacht und unser Lauschen heute am Abend ist umsonst.«
»Sie meinen, wir legen die Brieftasche wieder hinein?«
»Gott bewahre! Das wäre das Allerdümmste, was wir thun könnten. Nein, die Brieftasche behalten wir.«
»Aber wenn er zurückkehrt, merkt er ihren Verlust!«
»Wenn wir es richtig machen, merkt er nichts. Wir müssen es nämlich so einrichten, daß er diesen Ort gar nicht wiederfindet.«
»Ah, dieser Gedanke ist allerdings sehr gut. Wir machen also das Loch sorgfältig zu.«
»Nicht blos das, sondern wir haben es auch mit übergestreutem Laub zu verdecken.«
»Warum das?«
»Weil da, wo er mit dem Messer den Rasen zerschnitten hat, das Gras welken wird. Das Viereck würde also sofort in die Augen fallen, wenn wir es nicht durch Laub unsichtbar machten. Nur muß das Laub das Aussehen haben, als ob es hergeweht worden sei.«
»Aber die Zweige, welche er hier verflochten hat?«
»Machen wir auseinander.«
»Schön; dann findet er den Baum nicht leicht.«
»O, er hat sich noch einmal umgesehen. Ich fürchte, er fände diesen Baum trotz alledem, wenn wir nicht noch etwas Anderes thun. Wir flechten nämlich die Zweige eines anderen Baumes zusammen.«
»Oder die Zweige zweier Bäume. Das wird ihn ganz bestürzt machen. Er wird gar nicht wissen, woran er ist. Er wird unter diesen Bäumen suchen und doch nur den unverletzten Boden finden. Das wird ihn dermaßen verblüffen, daß er gar nicht auf den Gedanken kommt, der Schatz sei ihm geraubt worden. Kommen Sie. Hier sind wir fertig. Suchen wir uns in einiger Entfernung einen passenden Ort.«
Der Plan Holm’s wurde sofort ausgeführt. Eben waren sie damit fertig, und wollten sich entfernen, als sie Jemand husten hörten. Sie nahmen rasch eine möglichst unbefangene Haltung an und bewegten sich, wie suchend, unter den Bäumen hin.
»Halt!« tönte es ihnen entgegen. »Was giebt es hier in meinem Walde zu suchen?«
Der Freiherr stand vor ihnen. Er trug eine Doppelbüchse auf der Schulter. Diese Waffe mochte ihm eine ungewöhnliche Sicherheit geben, denn er blickte die beiden jungen Männer wie triumphirend an und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Zweifeln Sie nun noch, daß ich der Freiherr von Tannenstein bin?«
»Ja,« antwortete Holm. »Sie haben sich in der Residenz Moosberg genannt; das wird Ihr richtiger Name sein.«
»O, es war ein Pseudonym; ich befand mich incognito in der Hauptstadt. Was haben Sie hier auf meinem Reviere zu thun?«
»Ihr Revier? Ich will einmal annehmen, daß es wirklich so ist; aber hier läuft ein Fußpfad. Wer will mir verbieten, ihn zu benutzen?«
»Ich,« sagte er stolz. »Ich lege meine Privatwege nicht für Jedermann an. Uebrigens haben Sie diesen Pfad gar nicht benutzt. Sie kamen da links zwischen den Bäumen hervor. Ich frage nun zum dritten Male, was Sie hier zu suchen haben?«
»Pflanzen.«
»Wozu? Sind Sie etwa Pflasterfabrikanten?«
»Wir botanisiren.«
»Und das thun Sie so ohne Weiteres da, wo es Ihnen beliebt!«
»Da, wo der Herrgott die Pflanzen wachsen läßt, welche Interesse erregen.«
»Schön! So werde auch ich jetzt einmal botanisiren.«
»Dagegen haben wir nichts.«
»Sie sind die Pflanzen, für welche ich mich interessire.«
»Ah, so! Weiter, Herr – Moosberg!«
»Ich werde Sie also mit nach Hause nehmen.«
»Wir danken.«
»Das hilft nichts, Sie haben sich heute thätlich gegen mich vergangen. Ich attrapire Sie hier auf meinem Jagdgebiet –«
»Etwa als Wilderer?«
»Wer kann das wissen. Sei dem, wie ihm sei. Ich bin hier Grund-und Polizeiherr. Ich arretire Sie und Sie haben mir zu folgen. Vorwärts!«
Er rückte martialisch an der Flinte und deutete ihnen durch eine gebieterische Handbewegung an, daß sie vor ihm hergehen sollten.
»Bei Gott, er macht Ernst!« sagte Holm.
»Ah, Sie denken etwa, daß ich mit solchem Volke scherze? Wenn Sie nicht gutwillig folgen, werde ich Sie an einander fesseln!«
Robert hatte ihn jetzt in ruhiger Verwunderung betrachtet. Jetzt lachte er laut auf und antwortete:
»Mann, Sie sind wirklich verrückt! Denken Sie an die Ohrfeige, welche Sie bereits erhalten haben!«
»Eben weil ich an sie denke, habe ich Sie arretirt. Ich werden mit Ihnen abrechnen.«
»Wir haben mit Ihnen nichts zu thun. Kommen Sie, Doctor!«
Er ergriff Holm’s Arm, um sich mit ihm zu entfernen. Da aber stellte sich der Freiherr ihnen in den Weg und sagte: »Halt! Sie entfernen sich ohne meine Erlaubniß keinen Schritt von hier. Solche naseweisen Jungens entläßt man erst dann, wenn man ihnen Mores gelehrt hat. Ich befehle Ihnen – au, Donnerwetter!«
Er unterbrach sich und fuhr mit beiden Händen nach dem Gesicht, denn kaum war das beleidigende Wort gefallen, so klatschte Robert’s Hand ihm blitzschnell erst auf die eine und dann auf die andere Wange.
»Da, Dummkopf! So machen es die naseweisen Jungens. Du wärst der Kerl dazu, uns zu arretiren!«
Da besann er sich auf sein Gewehr. Er riß es von der Schulter, legte an und rief wütend:
»Canaille, kniee nieder und bitte um Verzeihung, sonst jage ich Dir augenblicklich eine Kugel an den Kopf! Ich verstehe keinen Spaß!«
»Und dennoch machst Du Spaß, alter Esel! Siehst Du denn nicht, daß das Gewehrschloß verbunden ist! Schieß zu! Das wird Deinem Ruhme die Krone aufsetzen!«
Er zog lachend Holm mit sich fort. Der Freiherr machte keine Miene, sie festzuhalten. Er war ganz perplex. Daß er mit verbundenem Schlosse hatte schießen wollen, das kam auch ihm so albern vor, daß er gar keine Worte fand, seinem Zorne Luft zu machen.
Die beiden Anderen aber brauchten lange, um ihre Heiterkeit zu bewältigen.
»Wenn er wüßte, was wir eigentlich gegen ihn vorhaben, würde er noch ganz anders sein,« sagte Holm. »In einer halben Stunde wird es Nacht. Suchen wir noch einmal die Linde auf, um beurtheilen zu können, ob wir in ihrem Inneren Platz finden.«
»Das könnte auffallen. Gehen Sie allein. Wenn nur eine Person sich in der Nähe des Baumes befindet, erregt es die Aufmerksamkeit Anderer nicht so sehr.«
»Sie sind ja der reine Criminalpolizist! Aber Sie haben sehr Recht. Gehen Sie nach dem Dorfwirthshaus, um mich dort zu erwarten. Ich komme nach.«
Sie trennten sich. Robert fand das Wirthshaus, in welchem er nicht sehr lange Zeit zu warten brauchte. Nachdem Holm gekommen und sich zu ihm gesetzt hatte, sagte er: »Es wird sich machen. Ich glaube sogar, daß in der Höhlung Platz für zwei Personen ist. Aber wie nun, wenn man auf den Gedanken kommt, zu untersuchen, ob sich Jemand im Baume befindet?«
»Das wäre dumm.«
»Ja; aber da es dagegen kein Mittel giebt, so müssen wir es eben darauf ankommen lassen. Um Mitternacht soll es vor sich gehen. Wie bringen wir die Zeit bis dahin zu?«
»Hm, ja. Aber unsere Gegenwart kann hier auffallen.«
»Wir brauchen ja nicht bis Mitternacht hier zu bleiben. Es ist heute im Freien so schön, daß wir uns draußen irgendwo hinlegen können.«
»Ganz recht. Also spielen wir eine Weile und dann gehen wir.«
Das geschah. Als es zehn Uhr geschlagen hatte, entfernten sie sich und zwar begaben sie sich in die Nähe der Linde.
Es war still und einsam da. Sie konnten im Dunkel des Abends nicht gesehen werden. Jetzt probirten sie, ob sie im Inneren des Baumes Platz fanden. Es ging; aber die Stellung, welche sie dabei einzunehmen hatten, war so unbequem, daß sie in derselben nicht bis zur Ankunft des Erwarteten verharren konnten. Sie setzten sich darum auf den Rasen, welcher den Stamm umgab, und horchten lautlos auf jedes in ihr Ohr dringendes Geräusch.
Endlich, kurz vor Mitternacht, hörten sie von der Straße her nahende Schritte und sofort krochen sie in die Höhlung. Ein Mann kam und setzte sich gerade dahin, wo sie vorher gesessen hatten. Einige Minuten vergingen; dann hörte man abermals Schritte. Ein zweiter kam. Er trat herbei und grüßte.
»Sind Sie schon lange hier?« fragte er.
»Sind Sie vielleicht in der Umgegend gesehen worden?«
»Gott bewahre. Ich bin zwar bereits am Nachmittage hier angekommen, denn ich habe einen wirklichen Parforcemarsch gemacht, aber ich bin auf Schleichwegen gegangen und habe mich stets im Walde gehalten.«
»Das ist sehr gut. Man braucht Sie natürlich nicht zu sehen.«
»Wie steht es mit dem Gelde? Haben Sie es erhalten?«
»Noch nicht; aber der Bankier telegraphirte mir, daß ich es morgen am Vormittage bekommen werde. Sie brauchen keine Sorge zu haben. Sie bleiben ja bei mir und werden es also sofort erhalten.«
»Das hoffe ich. Gehen wir jetzt?«
Sie entfernten sich. Die beiden Lauscher krochen aus dem Baume und folgten ihnen.
»Das war verteufelt wenig, was sie sprachen,« meinte Holm leise. »Ich hatte geglaubt, Wichtigeres zu hören.«
»Ich auch; aber vielleicht sind wir so glücklich, noch mehr zu erfahren.«
»Wohl kaum. Sie begeben sich in das Schloß. Da können wir nicht horchen. Jedenfalls aber wissen wir das Eine, daß dieser Freiherr einen polizeilich verfolgten Verbrecher bei sich aufnimmt. Das ist genug, ihn zur Anzeige zu bringen. Lassen wir sie nicht aus den Augen.«
Es war zwar dunkel, aber doch nicht so sehr, daß man die beiden Voranschreitenden nicht hätte bemerken können. Sie gingen nicht auf der harten Straße, sondern auf einem weichen Wiesengrunde dem Schlosse zu. Das dämpfte die Schritte, und so war es Holm und Robert möglich, nahe hinter ihnen zu bleiben.
Der Freiherr ging mit seinem heimlichen Gaste am Haupteingange des Schlosses vorüber, bis an den dahinter liegenden Ausläufer des Waldes, so daß sie sich dem Gebäude von der Giebelseite desselben näherten.
Zwischen Schloß und Wald standen hier eine Anzahl alter Obstbäume, unter deren dichten Kronen es vollständig dunkel war. Das machte es den Verfolgenden möglich, sich ganz hart hinter den Beiden zu halten. Diese Letzteren blieben für einen Augenblick stehen und der Freiherr sagte: »Es schläft Alles und nur meine Tochter wacht.«
»Wohl da droben hinter dem einzigen erleuchteten Fenster?«
»Ja. Das ist die Stube, welche für Sie bestimmt ist. Da werden Sie wohnen, bis sie die Gegend in Sicherheit mit den Ihrigen verlassen können. Kommen Sie!«
Er führte ihn nach einem der hinteren Eingänge, den sie hinter sich verschlossen. Holm und Bertram waren ihnen bis hierher gefolgt.
»Da stehen wir nun,« sagte der Erstere. »Es ist unmöglich, etwas Weiteres zu hören.«
»Hm! Vielleicht doch! An einem der Obstbäume lehnte eine Leiter. Könnten wir diese nicht benutzen? Sie werden sich jedenfalls nach dem Zimmer begeben, von welchem sie sprachen. Dort ist auch die Tochter des Freiherrn. Wir legen die Leiter an das Fenster und werden vielleicht hören, was sie sprechen.«
»Wollen es wenigstens versuchen.«
Sie kehrten nach dem Obstplatze zurück und trugen die Leiter an die Giebelmauer, wo sie sie leise anlegten. Holm stieg voran, kam aber sogleich wieder zurück. Er sagte: »Ich bemerke da etwas für uns sehr Vortheilhaftes. Nur müßten wir ein wenig verwegen dabei sein. Haben Sie Muth?«
»Ich denke! Aber wozu?«
»Neben dem erleuchteten Zimmer befindet sich ein zweites, finsteres, dessen Fenster geöffnet ist. Wenn wir da hineinstiegen, könnten wir wohl Alles hören.«
»Das wäre prächtig; aber wenn man uns ertappt?«
»Die Hauptsache ist, geräuschlos und unbemerkt hineinzukommen. Vielleicht können wir den Riegel vorschieben, so daß man uns nicht zu überraschen vermag.«
»Uebrigens haben wir diese beiden Männer und dieses Mädchen selbst dann, wenn sie uns erwischen, nicht zu fürchten. Wir wissen bereits so viel von ihnen, daß sie sich wohl vor uns in Acht zu nehmen haben, nicht aber wir vor ihnen. Steigen wir hinauf, aber leise!«
Sie legten die Leiter an das offene, dunkle Fenster. Eben als Holm dasselbe erreichte, ertönten im Nebenzimmer laute Stimmen und Stühle wurden gerückt. Das gab so viel Geräusch, daß die Beiden ungehört zum Fenster hineinsteigen konnten.
Die Stube, in welcher sie sich befanden, war klein. Es standen nur wenige Möbel da. Es gab nur eine einzige Thür und diese führte nach dem Zimmer, in welchem gesprochen wurde. Holm untersuchte tastend diese Thür.
»Giebt es einen Riegel?« fragte Bertram flüsternd.
»Ja, Schlüssel und Riegel. Ich habe den Letzteren vorgeschoben. Nun können sie uns nicht ertappen.«
»Aber Sie können Verdacht schöpfen, wenn sie merken, daß man zugeriegelt hat.«
»Ist mir dann egal. Horchen wir! Da steht ein Stuhl und hier noch einer. Setzen wir uns ganz nahe an die Thür, so werden wir jedes Wort verstehen.«
Sie nahmen in aller Gemüthlichkeit Platz und lauschten. Es wurde so laut gesprochen, daß ihnen keine Sylbe entging. Soeben fragte der Goldarbeiter: »Haben Sie sich denn überlegt, wie es anzufangen ist? Die Kette und die Kinderwäsche dieses kleinen Robert von Helfenstein haben wir glücklich umgetauscht. Der Staatsanwalt hat keine Ahnung, daß meine Tochter ihm die Schlüssel zum Gerichtsgebäude und zu den Actenschränken zweimal entführt hat. Nun gilt es nur noch, eine Fabel zu erfinden, durch welche Sie beweisen, daß der wirkliche Robert von Helfenstein Ihnen und keinem Anderen anvertraut worden ist.«
»Das lassen Sie unsere Sorge sein, Herr Simeon! Sie haben zunächst für sich zu sorgen.«
»Aber ich könnte Ihnen ja doch behilflich sein.«
»Sie nicht. Als Zeuge können Sie uns nicht dienen, da Sie sich ja nicht sehen lassen dürfen. Sie müssen froh sein, wenn Ihr hiesiges Versteck unentdeckt bleibt, so daß sie mit Frau und Tochter das Land verlassen können, sobald Ihre Tochter ihren Dienst beim Staatsanwalt verlassen hat. Wir werden schon für uns selbst sorgen. Doch, da steht Essen. Sie haben einen so weiten Marsch gehabt und werden Hunger haben.«
»Ich danke. Appetit habe ich nicht. Ich hatte mich mit Mundvorrath versehen.«
»So trinken Sie wenigstens ein Glas Wein. Theodolinde, da drüben steht die Flasche und dabei sind die Gläser. Bitte, schenke ein!«
Man hörte Gläser klingen. Dann sagte der Freiherr:
»So! Greifen Sie zu! Prosit!«
Es entstand eine Pause. Der Goldarbeiter antwortete nicht sogleich. Die Lauscher konnten nicht sehen, daß er sein Glas, welches er von der Dame erhalten hatte, mißtrauisch prüfend gegen das Licht hielt.
»Was haben Sie?« fragte der Freiherr.
»Verdacht,« antwortete der Gefragte mit Betonung.
»Verdacht? Ich verstehe Sie nicht.«
»Dieser Wein kommt mir sehr eigenthümlich vor.«
»Wieso?«
»Es ist Etwas drin.«
»Vielleicht ein Stückchen vom Korke?«
»O nein. Das ist etwas Anderes!«
»Was soll es sein?«
»Irgendein Pulver.«
»Was fällt Ihnen ein! Ich werde doch meinen guten Wein nicht etwa mit einem Zuckerpulver verbessern suchen!«
»Das nicht. Aber, hm! Wollen wir nicht die Gläser vertauschen? Trinken Sie aus dem meinigen!«
»Ich begreife Sie nicht.«
»Aber ich Sie. Warum drehte sich das Fräulein so eigenthümlich um, als es einschenkte? Kommen Sie, tauschen wir um!«
»Fällt mir nicht ein! Das ist mein Glas, aus welchem ich zu trinken gewohnt bin.«
»Nun, so trinke ich gar nicht!«
»Aber ich verstehe gar nicht, was Sie meinen!«
»Soll ich es Ihnen erklären?«
»Ich muß Sie allerdings sehr darum bitten!«
Jetzt raunte Bertram Holm zu:
»Sollte das der Schlaftrunk sein, welchen der Freiherr von Reitzenhain mitgenommen hat?«
»Möglich. Aber dann ist dieser Goldarbeiter wirklich ein sehr schlauer Kerl. Horchen wir!«
Jacob Simeon sagte:
»Da, vergleichen Sie einmal die beiden Gläser! Das meinige ist viel trüber als das Ihrige. Es ist irgend etwas im Weine, was nicht hinein gehört.«
»Das will ich Ihnen erklären,« versuchte Theodolinde seinen Argwohn zu zerstreuen. »Es ist unser gewöhnlicher Hauswein. Wir Beide sind ihn gewöhnt, für Fremde aber ist er ein wenig zu sauer. Darum habe ich Ihnen Zucker hinein gethan.«
»Zucker? Nun, bitte, zeigen Sie mir einmal das Gefäß, in welchem sich der Zucker befunden hat!«
»Es steht in der Küche.«
»Ah, so haben Sie den Zucker bereits in der Küche in das Glas gethan?«
»Ja.«
»So sind Sie also der Ansicht, daß ich überhaupt nur dieses eine Glas trinke. Das ist auffällig. Ueberhaupt pflegt man den Zucker, wenn er so nöthig sein sollte, dem Gaste vorzusetzen, damit dieser nach Belieben nehmen kann. Ich danke!«
Da sagte der Freiherr in zornigem Tone:
»Herr Simeon, was Sie da vorbringen, ist höchst beleidigend für mich!«
»Und was Sie mir da vorsetzen, ist höchst gefährlich für mich. Ein Schluck wird mich nicht gleich umbringen. Ich will einmal kosten.«
Er nahm das Glas an die Lippen und probirte.
»Ah!« meinte er, »das ist Zucker?«
»Ja, natürlich!«
»Seit wann schmeckt Zucker bitter? Diesen Geschmack kenne ich. Er schmeckt ganz wie ein Schlafpulver, wie ein Schlaftrunk. Ich möchte behaupten, daß sich eine ziemliche Dosis Opium oder Morphium in dem Weine befindet.«
»Herr, sind Sie des Teufels?«
»Nein, mein werther Herr; aber vorsichtig bin ich.«
»Was könnte uns veranlassen, Ihnen Morphium in dem Wein zu thun?«
»Die Absicht, mich einschlafen zu lassen.«
»Donnerwetter! Warum das?«
»Um mir die Taschen zu leeren!«
»Da hört Alles auf! Halten Sie mich etwa für einen Spitzbuben, Herr Simeon?«
»Ja.«
»Wie? Das sagen Sie in solcher Ungenirtheit?«
»Warum nicht? Sie wollen die Helfenstein’schen Besitzungen an sich bringen; Sie sind lange Jahre hindurch an dem Paschergeschäfte des Hauptmannes betheiligt gewesen; Ihre Tochter hat nicht nur die Bücher geführt, sondern sie ist geradezu die Seele Ihrer Unternehmungen gewesen. Wie nennen Sie das? Etwa Ehrlichkeit?«
»Das haben aber Sie mir nicht vorzuwerfen, Sie, der selbst ein Mitglied der Bande war und ist und dem ich ein Obdach und Asyl gewähre.«
»Pah! Ich danke für ein Asyl, in welchem ich beraubt werden soll.«
»Beraubt! Sie müssen geradezu wahnsinnig sein!«
»Ein Wahnsinniger pflegt nicht so scharf zu beobachten und zu calculiren wie ich. Streiten wir uns nicht! Ihr Schlaftrunk ist überhaupt unnütz. Ich werde mich sehr hüten, mein Geld hier bei mir zu tragen.«
Die Beiden erschraken, ließen sich aber nichts merken. Der Freiherr meinte in möglichst gleichgiltigem Tone:
»Was geht mich Ihr Geld an!«
»Viel! Ich traue Ihnen die Absicht zu, es mir wieder abzunehmen, Herr von Tannenstein.«
»Da sind Sie sehr auf dem Holzwege!«
»Gut für Sie. Aber auch Ihre Schuldverschreibung habe ich nicht einstecken.«
»Nicht? Zum Donnerwetter! Sie haben sie doch nicht etwa unrechten Händen anvertraut!«
»Fällt mir gar nicht ein. Sie befindet sich überhaupt gegenwärtig in gar keinen Händen.«
»Aber Sie müssen sie doch zurückgeben, wenn ich Sie morgen bezahle!«
»Sie werden sie bekommen. Ich will Ihnen aufrichtig sagen, daß ich Geld und Verschreibung einstweilen beseitigt habe, um Sie nicht in Versuchung zu führen. Beides ist im Walde vergraben.«
»Das ist stark, sehr stark, wenn Sie die Wahrheit sagen.«
»Ich sage sie.«
»Wissen Sie, was ich da thun sollte?«
»Was?«
»Ich sollte Sie sofort hinauswerfen.«
»O, das werden Sie bleiben lassen!«
»Was wollten Sie dagegen machen? Sie können keine Hilfe anrufen.«
»Meinen Sie? Ich würde fünfundzwanzigtausend Gulden haben, genug, um vorwärts zu kommen. Ihre Verschreibung aber würde ich an den Staatsanwalt senden und brieflich dabei erklären, auf welche Weise ich zu ihr gekommen bin. Mit der reichen Erbschaft, die Sie haben wollen, wäre es also zu Ende. Auch würde ich sagen, daß Sie den Musikus Hauck niedergeschlagen haben, obgleich ich selbst es gewesen bin. Wer sich selbst zu vertheidigen hat, der muß zu jedem Mittel greifen, welches er findet.«
»So habe ich mir mit Ihnen allerdings eine schöne, eine prachtvolle Einquartirung in das Haus gebracht!«
»Klagen Sie nicht! Wir passen recht gut zu einander. Aber, horch! Klopfte das nicht hier an die Thür?«
»Wahrhaftig!« antwortete der Freiherr. »Wer mag das sein? Ich denke, es sind Alle schlafen gegangen.«
Er öffnete die zugeriegelte Thür und trat hinaus in die dunkle Bibliothek.
»Wer ist da?« fragte er.
»Ich, gnädiger Herr!«
Er erkannte die Stimme seines Dieners Daniel.
»Was willst Du? Warum störst Du?« fragte er ungehalten. »Ich denke, Du bist zu Bett!«
»Ich war es auch, aber ich bin geweckt worden.«
»Von wem?«
»Von Jemand, an den Sie nicht denken werden, nämlich von dem Einsiedler Winter.«
»Von dem? Was will er?«
»Er sagt, ich solle sofort zu Ihnen gehen; es sei nicht eine Secunde Zeit zu verlieren, er habe Ihnen etwas ganz außerordentlich Wichtiges mitzutheilen.«
»Unsinn! Er mag morgen wiederkommen.«
»Er sagte, Sie würden großen Schaden erleiden, wenn Sie ihn nicht vorließen. Ich solle Ihnen nur sagen, daß Sie jetzt belauscht worden sind.«
»Donnerwetter? Das wäre! Wo ist er?«
»Im Vorsaale. Ich habe da die Lampen angebrannt.«
»Ich gehe mit.«
Im Vorsaale angekommen, fand er den Genannten seiner wartend. Er fragte ihn zornig:
»Was fällt Ihnen ein, mich nach Mitternacht um eine Audienz zu bitten?«
Der Gefragte zeigte keine Spur von Bestürzung. Er fixirte den Freiherrn mit überlegenem Blicke und antwortete:
»Was ich thue, das thue ich zu Ihrem Nutzen.«
»Was haben Sie sich um mich zu bekümmern?«
»Mehr, als Sie zu denken scheinen. Wissen Sie, daß Ihre Tochter kürzlich bei mir gewesen ist?«
»Nein.«
»So, so! Heute habe ich erfahren, daß sie mit dem Lieutenant von Hagenau vermählt werden soll.«
»Wer sagte das?«
»Das ist meine Sache!«
»Geht Ihnen aber gar nichts an!«
»Sogar sehr viel! Ihre Tochter ist meine Verlobte.«
»Unsinn!«
»O, doch! Sie brauchte Geld. Ich schenkte ihr dreißigtausend Gulden. Dafür hat sie mir eine schriftliche Erklärung gegeben, daß sie meine Braut ist.«
»Die Unvorsichtige!« entfuhr es dem Freiherrn.
Der Einsiedler stieß ein höhnisches Lachen aus und meinte:
»Sollten Sie wirklich nichts davon gewußt haben, so wissen Sie es wenigstens jetzt. Ich habe das Recht, mich um meine Braut zu bekümmern. Zwar hat sie mir verboten, sie zu besuchen, aber da ich hörte, daß sie einen Anderen heirathen will, so bin ich ein wenig auf Spionage gegangen. Ich habe das Schloß beobachtet. Ich sah ein Fenster erleuchtet. Theodolinde stand an demselben. Dann kamen Sie mit einem Manne und traten heimlich durch die hintere Thür –«
»Donnerwetter! Sie haben den Teufel zu lauschen!«
»Danken Sie Gott, daß ich es gethan habe! Ich habe dabei bemerkt, daß Sie sich in Gefahr befinden.«
»Daniel sagte, Sie hätten vom Belauschen gesprochen?«
»Allerdings.«
»Sie haben natürlich sich selbst gemeint!«
»Nein. Hinter Ihnen kamen noch zwei andere Männer. Ich stak hinter einem Baume. Ich hatte gehört, was Sie mit Ihrem Begleiter sprachen, ich hörte auch, was diese Beiden zu einander sagten. Sie wollten erfahren, was da oben in dem erleuchteten Zimmer gesprochen werde.«
»Meinen Sie wirklich, daß ich an dieses Ihr Hirngespinst glauben soll?«
»Thun Sie das oder nicht, mir ist es sehr gleichgiltig. Sie werden mein Schwiegervater, und darum ist es meine Pflicht, Sie zu warnen. Die beiden Kerls nahmen eine Leiter, legten sie an und befinden sich jetzt in dem Zimmer neben demjenigen, in welchem Sie sich jetzt unterhalten haben.«
»Alle Teufel!« stieß der Freiherr hervor.
»Es ist so!«
»So sind es Diebe!«
»Nein, es sind nur Lauscher. Ich hörte ja ihre Worte. Uebrigens habe ich sie bereits am Nachmittage gesehen. Sie befanden sich in der Nähe meines Thurmes und belauschten den Mann, welcher vorhin mit Ihnen gekommen ist.«
»Wie? Wie? Ist das wahr?«
»Ja. Ich habe trotz der Dunkelheit sie Beide und auch ihn sofort erkannt. Meine Augen sind sehr gut.«
»Beschreiben Sie mir diese beiden Menschen!«
Winter that es, und der Freiherr erkannte nun, von wem die Rede war. Jetzt hatte er nun auch die Ueberzeugung, daß er nur belauscht, nicht aber bestohlen werden solle. Ein Baron und ein Doctor der Philosophie? Er glaubte das nicht. Er war ganz geneigt, sie für verkappte Polizisten zu halten. Es bemächtigte sich seiner eine außerordentliche Angst. Sie hatten jedenfalls Alles gehört. Sie kannten die Anwesenheit Simeons, sie wußten auch, weshalb dieser da war. Es war nothwendig, sie unschädlich zu machen. Dabei konnte ihm der Einsiedler von Nutzen sein. Darum sagte er zu diesem: »Ist das wahr, was Sie von meiner Tochter sagten?«
»Ja, wirklich.«
»Hm! Vielleicht bin ich nicht abgeneigt, Ihren Wunsch zu erfüllen; aber Sie müssen mir beweisen, daß Ihnen wirklich an meinem Wohle liegt!«
»Das thue ich doch, indem ich Sie warne!«
»Das ist nicht genügend. Wollen Sie mir gegen diese beiden Lauscher helfen?«
»Sehr gern. Was soll ich thun?«
»Sie haben etwas, gehört, was kein Mensch hören darf. Ich muß sie zu ewigem Schweigen bringen. Aber wie soll ich das anfangen?«
»Ah, das ist doch sehr leicht.«
»Wieso?«
»Die Kerls sind bei Ihnen eingestiegen, also Spitzbuben, Räuber. Sie können sie niederschießen.«
»Ermorden? Das ist stark!«
»Wer spricht vom Ermorden! Es ist ganz einfach Nothwehr. Sie haben das Recht dazu.«
»Es widerstrebt meinen Gefühlen. Und doch gebe ich zu, daß es das Beste sein würde.«
»Nicht wahr? Seien wir offen. Ich kenne Sie. Ich will diese Angelegenheit auf mich nehmen, wenn Sie mir fest versprechen, mir Ihre Tochter zur Frau zu geben.«
Es fiel dem Baron gar nicht ein, diesen Menschen als Schwiegersohn zu nehmen, aber versprechen konnte er es ihm dennoch. Darum sagte er: »Sie wollen diese Beiden auf sich nehmen?«
»Ja. Geben Sie mir eine Doppelflinte.«
»Gut! Da sollen Sie Theodolinde haben.«
»Topp! Ich schieße sie Beide nieder. Aber Sie müssen mit hinunter in den Garten. Die Sache kann nicht verborgen bleiben und so müssen wir uns gegenseitig als Zeugen dienen. Haben Sie eine Doppelflinte?«
»Ja. Ich hole sie gleich. Warten Sie.«
Er kehrte zunächst nach dem Zimmer zurück, in welchem sich seine Tochter mit dem Goldarbeiter befand, und flüsterte ihnen zu: »Seid still! Hier nebenan sind Lauscher eingestiegen!«
Dann eilte er, ohne sich um den Eindruck seiner Worte zu bekümmern, da er keine Zeit zu verlieren hatte, nach dem Waffenschranke und nahm ein geladenes Doppelgewehr heraus. Auch einen Nickfänger nahm er zu sich und begab sich damit schleunigst zu dem Einsiedler.
»Hier ist das Gewehr, es ist mit Kugeln geladen,« sagte er. »Und hier ist auch ein Messer, wenn die Flinte nicht ausreichen sollte.«
»Gut! Kommen Sie!«
»Die Kerls werden doch noch zu haben sein!«
»Hoffentlich.«
Sie machten trotz ihrer Eile einen kleinen Umweg, um nicht gehört zu werden. Als sie die an die Obstbaumanlage stoßende Waldecke erreichten, traten sie unter die Bäume und schritten leise nach der Giebelseite vor.
»Hier bleiben wir stehen,« sagte der Einsiedler. »Da kann man uns nicht bemerken.«
»Nein, wir müssen näher hinzu!«
»O bewahre. Wenn wir unter den Bäumen vortreten, können sie uns sehen, und das müssen wir vermeiden.«
»Aber Sie haben unsicheres Ziel!«
»Da irren Sie sich. Ich bin ein besserer Schütze, als Sie meinen, und die Mauer ist ja weiß. Wenn die beiden Kerls heraussteigen, werden sich ihre dunklen Gestalten so deutlich gegen dieselbe abzeichnen, daß ich gar nicht fehlen kann. Sie können sich darauf verlassen, daß Jeder die Kugel in den Kopf erhält. Passen wir auf.«
Sie warteten und hielten die Blicke fest auf die Leiter und das betreffende Fenster gerichtet.
»Sehen Sie!« flüsterte der Freiherr.
»Ja,« antwortete leise der Andere.
»Das ist Einer. Aber, zum Sapperment! Er steigt von unten hinauf. Was ist das?«
»Sollte es ein Dritter sein? Ich schieße ihn weg.«
Er erhob das Gewehr und legte an. Aber in dem Augenblicke, als er losdrückte, wurde ihm der Lauf des Gewehres zur Seite geschlagen und eine weibliche Stimme rief: »Halt! Herbei, herbei! Ihr sollt ermordet werden!«
»Verflucht! Wer ist das?« stieß der Einsiedler hervor.
Er wendete sich zur Seite. Er erblickte eine nicht zu hohe Frauengestalt, welche die Flinte und seinen Arm gefaßt hielt. Er entriß ihr das Gewehr und sagte: »Verdammte Kröte! Fahre zum Teufel!«
Er holte aus, um sie mit dem Kolben niederzuschlagen, wurde aber von hinten gepackt, und eine zweite weibliche Stimme rief.
»Zu Hilfe, Herr Lieutenant! Schnell, schnell!«
»Ah, noch eine!« rief er wüthend. »Na, da geht mit einander in die Hölle!«
Er schüttelte auch die Andere von sich ab, welche in demselben Augenblicke von dem Freiherrn gepackt wurde. Da es sich nur um weibliche Personen handelte, so hatte der Letztere den Muth dazu.
Es begann ein kurzes Ringen zwischen den zwei schwachen Wesen und den beiden Männern, wobei diese Letzteren nicht bemerkten, daß Der, welcher an der Leiter emporgestiegen war und, als der Schuß fiel, bereits das Fenster erreicht hatte, schnell herabglitt. Auch aus dem Fenster kamen zwei Gestalten in höchster Eile gestiegen und rutschten an der Leiter herab. Alle Drei eilten herbei.
»Das war Ellen’s Stimme!« sagte dabei Holm. »Und auch diejenige meiner Schwester. Drauf!«
Die drei Männer kamen im Nu herbei. Sie erblickten die miteinander Ringenden. Holm erfaßte sofort den Einen und erkannte ihn.
»Ah, Herr von Tannenstein!« rief er. »Sie sind es gerade, den wir suchen. Wir verhaften Sie im Namen des Gesetzes.«
»Noch nicht!« rief dieser.
Er riß sich los und sprang zwischen den Bäumen davon.
Robert Bertram hatte mit dem Dritten, den zu erkennen noch keine Zeit gewesen war, den Einsiedler gepackt. Dieser ließ das Gewehr, welches ihm nichts nützte, fallen und zog das Messer.
»Da, Hund!« rief er.
Die Klinge fuhr dem Einen in die Schulter. Winter kam frei und eilte dem davonspringenden Freiherrn nach, augenblicklich verfolgt von dem Gestochenen.
»Ellen?« fragte Holm.
»Max!« antwortete sie. »Bist Du getroffen?«
»Nein.«
»O, Gott sei Dank!«
»Wer ist denn die Andere?«
»Um Gottes willen! Wie kommt Ihr hierher?«
»Das läßt sich in Kürze nicht so leicht sagen. Du hattest mit Herrn Bertram heute so viel zu flüstern. Ihr spracht von Grünbach, von dem Freiherrn. Ich hörte einige Ausdrücke, welche mich besorgt machten. Dann wart Ihr fort. Es wurde fast Mitternacht und Ihr kamt nicht zurück. Da hatten wir große Angst. Der Herr Lieutenant von Hagenau war zu Deinem Vater gekommen und bis so spät geblieben. Wir beschlossen, hierher zu gehen, und baten ihn um seinen Schutz, um seine Begleitung.«
»Welche Unvorsichtigkeit!«
»Du wärst jetzt todt, erschossen, wenn wir nicht gekommen wären, lieber Max.«
»So war der Herr, welcher uns half, der Lieutenant?«
»Ja.«
»Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, er ist den Fliehenden nachgeeilt.«
»Wie aber habt Ihr Euch hierher gefunden?«
»Wir betrachteten das Schloß von allen Seiten. Es gab nirgends Licht, als hier an diesem Fenster. Geschah etwas, so geschah es hier. Der Herr Lieutenant verließ uns einen Augenblick, um zu recognosciren. Da kamen die beiden Männer. Sie wollten Euch erschießen. Der Lieutenant stieg dort an der Leiter empor. Sie sahen es und der Eine legte auf ihn an. Hilda ergriff das Gewehr und lenkte den Schuß ab. Sie hat ihm das Leben gerettet.«
»Wie tapfer! Ihr habt gar nicht gewußt, in welche Gefahr Ihr Euch begabt, als Ihr hierher gingt. Aber wir dürfen jetzt nicht plaudern. Wir müssen uns Simeon’s und dieses Mädchens versichern. Kommen Sie, Herr Bertram!«
»Um Gottes willen!« sagte Ellen. »Ist’s gefährlich?«
»Gar nicht. Begebt Euch vorn nach dem Haupteingange. Wir lassen Euch dann ein.«
»Geht Ihr nicht mit?«
»Nein. Wir steigen gleich zur Leiter empor. Da haben wir sie augenblicklich.«
Er eilte mit Robert zur Leiter, stieg in das Zimmer, schob den Riegel zurück und trat in das erleuchtete Gemach. Da saß der Goldarbeiter, welcher die beiden jungen Leute ganz erschrocken anstarrte.
»Guten Morgen, Herr Simeon!« sagte Holm. »Wo haben Sie Fräulein von Tannenstein?«
»Sie verließ vor einer Minute das Zimmer.«
»Wir werden sie finden. Zunächst aber wollen wir uns Ihrer lieben Person versichern.«
»Oho! Was fällt Ihnen ein! Sind Sie etwa Polizist?«
»So versuchen Sie es, mich festzunehmen!«
Er riß den Revolver aus der Tasche; aber Holm hatte ihn in demselben Moment gepackt und entrang ihm die Waffe. Er war dem Alten weit überlegen und drückte ihn zu Boden. Robert machte in Eile zwei Gardinenschnuren los und dann banden sie den Gefangenen.
»Jetzt nun zu der Dame!« sagte Holm.
Er nahm das Licht an sich. Sie verließen das Zimmer, schlossen hinter sich zu und zogen den Schlüssel ab. Sie eilten durch Bibliothek, Salon und Empfangszimmer. Alle drei Räume waren leer. Aber im Vorzimmer stand der Diener.
»Wo ist Ihre Herrin?« fragte Holm.
»Was haben Sie nach ihr zu fragen?« antwortete er in höhnischem Tone. »Wer sind sie?«
»Wir sind Polizisten.«
»Beweisen Sie es!«
»Sie sind nicht der Kerl dazu, diesen Beweis von uns zu verlangen. Wo ist das Fräulein?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Oho! Wie es in den Wald schallt, so schallt es auch wieder heraus. Sie sind unser Gefangener.«
»Das lassen Sie sich doch wohl nicht träumen!«
»Träumen nicht. Sie sind es in Wirklichkeit.«
»Versuchen Sie es!«
Er warf sich in eine vertheidigende Stellung.
»Dummer Mensch!« lachte Holm. »Mit Dir wird gar kein großer Summs gemacht. Da hast Du!«
Er holte aus und gab ihm mit der Faust einen blitzschnellen und so kräftigen Schlag in’s Gesicht, daß der Getroffene sofort zu Boden stürzte. Holm kniete augenblicklich auf ihn und sagte zu Robert: »Ich glaube, auch hier giebt es Gardinenschnuren. Geben Sie einmal her!«
In wenigen Augenblicken war auch der Diener gefesselt. Sie schlossen ihn ebenso im Zimmer ein und steckten den Schlüssel zu sich. Draußen war es indessen lebendig geworden. Das übrige Dienstpersonal war erwacht. Sie Alle kamen herbei.
»Hat Jemand von Euch das Fräulein gesehen?« erkundigte sich Holm.
»Ja,« antwortete die Köchin.
»Wo?«
»Sie hatte ein Packet im Arme und eilte mit dem gnädigen Herrn die Treppe hinab und zum Thore hinaus.«
»Ihr bleibt Alle hier. Wer nicht gehorcht wird arretirt. Rührt Euch nicht von der Stelle!«
Die Beiden sprangen die Treppe hinab und zur Thür hinaus. Da standen Ellen und Hilda, ihrer wartend. Sie berichteten, daß der Freiherr mit seiner Tochter an ihnen vorübergegangen sei, in allerhöchster Eile. Noch während sie sprachen, kam ein Mann herbei, in dem sie den Lieutenant von Hagenau erkannten.
»Ah, hier sind Sie!« sagte er. »Kommen Sie! Ich brauche Sie sehr nothwendig.«
»Wozu?«
»Sagen Sie mir erst, ob der Freiherr etwas begangen hat, was ihn strafwürdig macht.«
»Ja, sehr viel. Er ist leider entkommen.«
»Sie sollen ihn haben. Ich weiß, wo er ist. Ich sprang den Beiden nach. Sie blieben stehen, ohne mich zu bemerken. Sie waren ganz außer Athem, so daß sie sehr laut und unvorsichtig sprachen. Der Freiherr sagte, daß er verrathen und verloren sei, daß er fliehen müsse, aber nicht wisse, wohin sogleich. Da sagte der Andere, er solle seine Tochter schnell holen und mit ihm nach dem Thurme kommen. Dort werde ihn kein Mensch finden.«
»Das ist gut, sehr gut. Er hat die Tochter geholt, wie ich gehört habe, und ist mit ihr fort. Wir müssen nach.«
»So kommen Sie schnell!«
Er wollte fort; aber Hilda Holm ergriff ihn bei der Hand und sagte voller Angst:
»Halt, Herr Oberlieutenant, Sie müssen hier bleiben! Sie sind ja verwundet!«
Man hatte im Flur ein Licht angebrannt. Im Schein desselben, welcher bis vor das Thor drang, sah man das Blut, welches an ihm herniederfloß.
»Verwundet?« fragte er, sich betrachtend. »Wahrhaftig, das habe ich gar nicht bemerkt. Aber gefährlich kann es nicht sein, sonst würde ich es fühlen. Ich gehe also mit!«
»Nein, nein!« sagte das schöne Mädchen. »Ich lasse Sie nicht fort. Sie bleiben! Sie müssen verbunden werden!«
»Ja, Herr Lieutenant, meine Schwester hat recht,« sagte Holm. »Wir werden die Flüchtigen auch ohne Sie bekommen. Sehen Sie nach Ihrer Wunde. Ist sie nicht gefährlich, dann um so besser. In diesem Falle können wir Ihnen die beiden Gefangenen anvertrauen. Hier sind die Schlüssel!«
Er instruirte ihn und dann eilte er mit Robert davon.
»Na, so muß ich den Damen gehorchen!« sagte Hagenau. »Bitte, kommen Sie herein. Ich werde mich der zwei Gefangenen vergewissern. Das ist zunächst die Hauptsache.«
Er trat mit den beiden Damen in den Schloßflur. Oben an der Treppe stand die Dienerschaft. Diese Leute kannten ihn als den Sohn des benachbarten Grundbesitzers. Sie wußten auch, daß er Offizier sei und hatten Respect vor ihm. Seine militärische Umsicht machte sich auch sofort geltend, denn er befahl einem der Leute: »Du wirst mich kennen und mir also gehorchen. Es sind hier Dinge geschehen, die Euch gefährlich werden können, wenn Ihr nicht sofort und genau thut, was ich von Euch verlange. Eile in das Dorf und wecke den Ortsvorsteher. Er soll die Männer und die Burschen aus den Betten holen lassen und sich möglichst rasch hier bei mir einfinden. Wer eine Waffe hat, soll sie mitbringen, denn die Leute sind bestimmt, hier im Schlosse und wohl auch noch anderswo Wache zu stehen.«
Der Mann eilte schleunigst fort, um dem Befehle Gehorsam zu leisten. Die Köchin wurde beauftragt, Leinenzeug zum Verband herbeizuholen und die Anderen mußten mit in das Vorzimmer kommen, wo der Diener Daniel lag.
Dieser war so fest gebunden, daß er kein Glied zu rühren vermochte. Der Goldarbeiter Jacob Simeon wurde herbeigeholt. Man mußte ihn tragen, da ihm nicht nur die Arme, sondern auch die Beine gefesselt waren. Beide Gefangenen legte man nebeneinander auf die Dielen. Die Dienerschaft erhielt die strenge Weisung, bei ihnen zu bleiben und sie streng zu bewachen. Erst jetzt dachte Hagenau an sich. Die Köchin hatte das Verbandzeug gebracht und er begab sich mit Ellen und Hilda in das Nebenzimmer, um sich von ihnen verbinden zu lassen.
In solchen Fällen, wo es sich um eine vielleicht schwere, ja lebensgefährliche Verwundung handelt, ist man nicht prüde. Die sonst gewöhnliche Zurückhaltung ist da nicht an ihrem Platze, und so entblößte der Oberlieutenant ohne alle Scheu die betreffende Körperstelle.
Die Wunde blutete stark. Flur, Treppe und Vorzimmer, wo er gewesen war, zeigten eine blutige Fährte, und da, wo er jetzt stand, bildete sich eine große Blutlache. Hilda hatte alle Farbe aus ihren Wangen verloren. Sie zeigte größere Besorgniß um den Verwundeten, während die erfahrene und practische Amerikanerin mehr Geschick in der Behandlung der Wunde an den Tag legte.
»Leise, leise, behutsam!« bat Hilde die Freundin. »Es muß ihm ja außerordentlich wehe thun.«
»Pah!« antwortete Hagenau. »Es ist ein kleiner Aderlaß, gut für Schnupfen und Kopfweh. Ich glaube, der kleine Stich wird mir nur nützlich sein.«
»O,« antwortete Ellen, »der Stich ist nicht so unbedenklich, wie Sie zu meinen scheinen. Er ist sehr tief.«
»Mag sein. Aber ins Leben ist er nicht gedrungen.«
»Wollen es hoffen. Wir werden sofort nach einem Arzte senden müssen.«
»Bitte, nicht sofort. Wir wissen jetzt gar nicht, wo der Arzt mich treffen wird, ob noch hier oder daheim.«
»Sie können doch unmöglich fort von hier!«
»Jetzt noch nicht, da ich ja noch gebraucht werde, später aber will ich berufeneren Personen nicht im Wege sein.«
»Sie müssen sich doch erst von einem Fachmanne untersuchen lassen, ob Sie transportabel sind!«
»Transportabel?« lachte er. »Das klingt ja genauso, als ob ich per Siechkorb oder Krankenbahre von hier fortgetragen werden solle! Nein, so gefährlich ist es denn doch wohl nicht. Ich werde recht gut nach Hause gehen können.«
»Das warten wir ab! So! Jetzt bin ich fertig. Hoffentlich hält der Verband. Ziehen Sie den Rock wieder an und dann setzen Sie sich hübsch hier auf das Sopha, und da bleiben Sie ganz ruhig sitzen!«
»Gnädiges Fräulein, ich bin von diesem Sophasitzen gar kein großer Freund!«
»Das geht mich nichts an. Bis ein Anderer kommt, bin ich Ihr Arzt und Sie haben mir zu gehorchen!«
»Sapperment, sind Sie ein scharfer Commandeur! Na, genade Gott Dem, dessen Ehefeldwebel Sie einmal werden! Er ist zu bedauern!«
»Hoffentlich aber wird er sich dabei wohl befinden.«
»Hm, ja! Für Manchen ist scharfes Pflaster gut! Ich aber liebe das nicht. Horch! Da scheinen die Kriegshelden aus dem Dorfe zu kommen.«
Er wollte auf und fort. Ellen hielt ihn fest und sagte:
»Halt! Hier geblieben! Wenn Sie nicht sitzen bleiben, dictire ich Ihnen vierzehn Tage strengen Arrest!«
»Wohl gar auf Latten und bei Wasser und Brod?« fragte er.
»Ja, gewiß!«
Als Hilda sah, daß er sich doch nicht wieder setzte, legte sie ihm das Händchen auf den Arm und sagte bittend:
»Herr Oberlieutenant, bleiben Sie hier! Wollen Sie auch auf mich nicht hören?«
Da ging es wie heller Sonnenschein über sein Gesicht und seine sonst schnarrende Stimme klang ganz außerordentlich mild: »All mein Lebelang möchte ich einzig nur auf Sie hören, auf Sie und keine Andere! Aber hier ruft die Pflicht. Sie wissen nicht, was in solchen Fällen gethan werden muß. Ich muß hinab, wirklich, wirklich!«
Und damit war er schon zur Thür hinaus. Die beiden Damen hörten seine laute, befehlende Stimme unten erschallen; darauf ertönten feste Männerschritte in den Corridoren und dann, erst nach einer längeren Weile kam er wieder zu ihnen zurück.
»So,« sagte er. »Jetzt habe ich meine Pflicht gethan. Es werden alle Thüren, Gänge und Fenster bewacht. Nun kann nichts Gesetzwidriges geschehen, und ich will Ihnen Gehorsam leisten und hier auf dem Sopha Massenquartier nehmen. Wissen Sie, was das heißt?«
»In diesem Falle nicht,« antwortete Ellen.
»Nun, Massenquartier ist das Gegentheil von Einzelquartier. Ich will nicht allein auf dem Sopha sitzen, sondern Sie sollen sich neben mich placiren, die Eine rechts und die Andere links. Dann können Sie mich besser pflegen, als wenn Sie sich in meilenweiter Entfernung von mir auf irgend einen Stuhl niederlassen!« –Holm und Robert Bertram waren, wie bereits gesagt, fort geeilt, um nach dem Thurme zu gehen. Als sie an den Obstbäumen vorüberkamen, sagte der Letztere, indem er stehenblieb: »Halt! Da kommt mir ein Gedanke. Werden wir in den Thurm können?«
»Wohl schwerlich.«
»Ja; die Flüchtlinge werden sich dort einschließen. Ich habe am Nachmittage gesehen, daß sich Fenster in dem Mauerwerk befinden. Vielleicht sind wir gezwungen, durch eins derselben einzusteigen.«
»Kann man nicht wissen. Möglich ist es.«
»Wie aber kommen wir hinauf an ein Fenster!«
»Ah, Sie denken vielleicht an die Leiter dort?«
»Ja. Wollen wir sie mitnehmen?«
»Sie hält uns auf, sie ist uns hinderlich!«
»Aber es ist doch besser, wir haben sie, wenn wir sie brauchen, als daß wir sie dann erst holen müssen und dabei vielleicht wichtige Zeit verlieren.«
»Vielleicht haben Sie Recht. Nehmen wir sie also mit!«
Sie begaben sich nach der Giebelseite des Gebäudes, wo die Leiter noch am Fenster lehnte. Dabei trat Holm auf einen harten Gegenstand. Er bückte sich und hob ihn auf.
»Hier habe ich ein Doppelgewehr,« sagte er. »Es ist jedenfalls dasjenige, mit welchem auf den Lieutenant geschossen wurde. Es war nur ein Schuß. Vielleicht – ja, da fühle ich es, daß der eine Lauf noch geladen ist. Dieses Gewehr kann uns von großem Vortheile sein.«
Er warf es über. Dann ergriffen sie die Leiter. Diese war nicht gar sehr lang und also nicht zu schwer. Einer vorn und der Andere hinten, konnten sie damit ganz gut im Trabe fortkommen.
Da sie den Thurm bereits am Tage gesehen hatten, kannten sie die Lage desselben und so verfehlten sie ihn nicht, trotzdem es ziemlich dunkel war. Eins der schießschartenähnlichen Fenster war erleuchtet.
»Sie sind da,« sagte Bertram. »Hier auf dieser Seite befindet sich die Thür. Probiren wir, ob sie offen ist!«
»Werden sich hüten! Sie haben den Eingang auf alle Fälle verschlossen. Das versteht sich ganz von selbst.«
Sie legten die Leiter nieder und näherten sich dem Eingange. Hinter der starken, aus Bohlen gezimmerten Thür ließ sich ein grimmiges Knurren hören.
»Ein Hund!« sagte Bertram.
Das Thier hatte seine Stimme gehört. Es schlug laut an.
»Zurück!« flüsterte Holm. »Der Hund wird unsere Anwesenheit verrathen.«
»Wir müssen aber doch handeln, und da merken sie doch, daß wir hier sind.«
»Aber ehe wir handeln, müssen wir wissen, woran wir sind. Ich bin einige Male in Bad Reitzenhain gewesen, um Vater und Schwester zu besuchen. Da habe ich Gelegenheit gehabt, von diesem Einsiedler zu hören. Er ist ein ausgesprochener Menschenfeind und läßt seinen Thurm von einem Hunde bewachen, der ein wahrer Teufel sein soll, eine Art Bluthund, der auf den Mann geht und Jeden zerreißt, der sich zu weit vorwärts wagt.«
»So ist es zu verwundern, daß sich das Thier hinter der Thür und nicht hier außen befindet.«
»Der Hund wird unbemerkt mit ihnen eingedrungen sein. Kommen Sie jetzt da an das Fenster.«
Sie hoben die Leiter wieder auf und legten sie an. Sie war höher als das Fenster; sie reichte ein ganzes Stück über dasselbe empor. So war es möglich, daß alle Beide hinaufsteigen und in das Fenster blicken konnten, Holm auf der Leiter stehend und Bertram sich von unten an die Sprossen haltend.
Das Fenster war fast manneshoch, aber seine Breite betrug nicht mehr als eine Elle, so daß im Nothfalle ein Mann nur in Querstellung hineinsteigen konnte. Der Rahmen schloß nicht ganz an den Stein, der Mörtel, welcher beide zusammengehalten hatte, war im Laufe der Zeit ausgebröckelt, darum konnte man von außen die Stimmen der drin Sprechenden vernehmen.
Zu sehen war nur Theodolinde. Sie saß auf einem alten Polsterstuhle und schien der Unterhaltung der beiden Männer, welche der Blick der Lauscher nicht zu erreichen vermochte, mit Spannung zuzuhören. Ihr Gesicht hatte einen gespannten, hochmüthigen Ausdruck. Zuweilen blitzte ihr Auge verächtlich oder zornig auf, oder sie zuckte zusammen und bewegte sich hastig auf dem Stuhle, als ob sie auf Jemand einspringen oder irgend Einen hastig auf etwas Wichtiges aufmerksam machen wolle.
Endlich nahm sie auch mit Theil an der Unterhaltung. Die Beiden hörten sie sagen:
»Ja, bleiben können wir nicht.«
»Fort müssen wir, schleunigst fort,« erklang die Stimme ihres Vaters.
»Und zwar noch diese Nacht!«
»O, hier bei mir wird man Sie nicht suchen!« bemerkte der unsichtbare Einsiedler.
»Warum nicht? Wir haben seit einiger Zeit Pech. Ich habe keine Lust, mich dem Glücke oder dem Zufalle anzuvertrauen. Wir gehen.«
»Aber wohin?«
»Das muß besprochen werden. Zunächst fort von hier.«
»Haben Sie denn die zur Flucht nothwendigen Mittel?«
»Leider nein.«
»Hm! Sie haben mir die Ehe versprochen und Ihr Vater hat mir jetzt das Jawort gegeben. Ich habe also die Verpflichtung, für Sie zu sorgen. Ich gehe mit Ihnen.«
»Wirklich? Ueberall hin?«
»Wohin Sie wollen!«
»Haben denn Sie Geld?«
»Soviel Sie nur brauchen!«
»Bedenken Sie, daß ich gewohnt bin, Ansprüche zu machen.«
»Ich bin reich, sehr reich.«
»Können Sie das beweisen?«
»Ja, wenn Sie es verlangen.«
»So thun Sie es!«
»Warten Sie einen Augenblick!«
Er schien sich zu entfernen. Bertram und Holm bemerkten, daß der Freiherr zu seiner Tochter trat. Beide flüsterten leise mit einander. Man sah es ihren Mienen an, daß es nichts Gutes war, was sie besprachen.
»Ich glaube, sie werden dem Einsiedler gefährlich werden,« sagte Holm leise zu Bertram.
»Sicher! In ihren Zügen ist nur Schlimmes zu lesen. Ah, sehen Sie, was er in der Hand hat?«
»Ein Messer! Er steckt es wieder ein. Donnerwetter! Sie werden den Einsiedler doch nicht gar ermorden wollen!«
»Das dürfen wir nicht geschehen lassen! Horch!«
Jetzt erklang die Stimme Winters wieder:
»Kommen Sie heraus in meine Kammer! Ich habe Kisten und Kasten geöffnet. Sie sollen sich überzeugen, daß Sie an meiner Seite wie eine Fürstin leben können.«
Theodolinde erhob sich von dem Stuhle, um dieser Aufforderung Folge zu leisten. Dabei warf sie einen triumphirenden, halb auffordernden Blick auf ihren Vater. Dieser Blick sagte ebenso deutlich wie hörbare Wörter: »Jetzt ist der Augenblick gekommen, jetzt müssen wir handeln, also vorwärts!«
Da flüsterte Holm:
»Es geschieht etwas! Schnell hinunter! Wir legen die Leiter an das andere Fenster.«
Eine Secunde später hatten sie den Erdboden erreicht und im nächsten Augenblicke lehnte die Leiter über der nächsten Fensteröffnung. Beide stiegen so schnell empor, wie es Ihnen möglich war, und blickten hinein.
Sie sahen eine alte, mit Eselsfell beschlagene Truhe, wie sie im vorigen Jahrhundert im Gebrauch waren, daneben eine geöffnete Lade und eine offene Kiste. Was sich in diesen drei Behältern befand, konnten sie nicht sehen. Sie sahen nur, daß der Einsiedler mit der Hand auf dieselben zeigte und dabei ein stolzes, übermüthiges Lächeln sehen ließ. Theodolinde kam herbei und blickte in die Truhe. Sie sprach, aber man konnte von außen ihre Worte nicht verstehen.
Auch ihr Vater trat hinzu. Die Lauscher hatten jetzt alle die drei Personen deutlich vor Augen. Der Freiherr, welcher zur linken Hand des Einsiedlers stand, sagte zu diesem Letzteren etwas, worauf Winter sich tief niederbeugte, um in die Lade zu langen.
In diesem Augenblicke blitzte das Messer in der Hand des Tannensteiners; die Klinge fuhr dem Einsiedler in die Schulter. Der Getroffene stieß einen lauten, fürchterlichen Schrei aus.
»Herrgott! Sie morden ihn!« rief Robert Bertram und zwar viel, viel lauter, als sich mit seiner Lauscherrolle in Einklang bringen ließ.
»Warte, Hallunke!« antwortete Holm.
»Er holt zum zweiten Male aus!«
»Soll ihn aber nicht treffen!«
Holm, welcher fest auf der Leiter stand, hatte gleich beim ersten Messerstoße das Gewehr von der Schulter gerissen und in Anschlag gebracht. Zugleich mit seinen Worten drückte er ab. Der Schuß krachte, und der Freiherr, welcher die Hand eben zum zweiten Stoße erhoben hatte, taumelte und stürzte dann, durch den Kopf geschossen, zu Boden.
Theodolinde stieß einen Schrei des Entsetzens aus und sank neben ihrem Vater nieder. Ihr Schrei war freilich nicht zu hören, er ging unter in einem lauten Klirren und Krachen. Holm hatte mit dem Gewehrkolben das ganze Fenster zertrümmert und mit sammt dem alten, morschen Rahmen in die Kammer geschlagen.
»Hinein!« gebot er. »Vielleicht ist noch Hilfe möglich!«
Er trat auf die Fensterbrüstung, zwängte sich hindurch und sprang in die Kammer. Bertram, welcher bis jetzt mit Händen und Füßen nach unten an den Leitersprossen gehangen hatte, schwang sich schnell auf die Leiter hinauf und folgte ihm augenblicklich. –Als der Freiherr den Entschluß gefaßt hatte, seine Tochter zu holen, um mit ihr zu fliehen, hatte er keine Zeit zu einer ausführlichen Erklärung oder Auseinandersetzung. Er konnte ihr nur sagen, daß Alles entdeckt sei und sie fliehen müßten. Er nahm sein Geld, welches er noch besaß, zu sich; sie raffte einige Werthsachen in ein Bündel zusammen und folgte ihm.
Der Einsiedler war ihnen voraus; jetzt, indem sie ihm folgten, konnten sie mit einander sprechen.
»Ich begreife Dich nicht,« sagte sie, vor eiligem Laufen fast athemlos. »Fliehen? Alles im Stiche lassen? Das Schloß, alle unsere Besitzungen!«
»Ja, ja, wir müssen, wenn wir nicht in’s Zuchthaus wollen.«
»Wer hat uns denn belauscht?«
»Die beiden Kerls, welche mit uns in der Post saßen und die ich dann im Walde traf. Sie sind auf einer Leiter in das Nebenzimmer gestiegen.«
Er erklärte ihr in aller Eile Alles, auch den Kampf und daß noch ein Dritter und sogar zwei Frauenzimmer dabei gewesen seien.
»So sind diese Menschen Polizisten,« sagte die Tochter.
»Jedenfalls. Sie sind uns schon von der Residenz aus gefolgt; sie müssen uns also bereits dort beobachtet und Alles erfahren und gewußt haben. Es bleibt uns gar nichts übrig, als Flucht auf Nimmerwiederkehr.«
»Herr Gott! Aber Geld, Geld!«
»Sei nicht dumm! Dieser Winter hat Geld!«
»Ah, ja! Er ist ganz verschossen in mich. Er schafft Geld, und dann, dann –«
Sie wollte ihren Gedanken nicht sofort Worte geben; aber ihr Vater errieth sie entweder oder hatte er ganz dieselbe Ansicht, denn er vervollständigte ihre Rede: »Und dann lassen wir ihn sitzen!«
»Aber er wird mit wollen!«
»Das kann er. Es wird uns zu jeder Zeit leicht sein, ihn zu verlassen.«
»Oder – ah, wenn ich ein Mann wäre!«
»Was dann?«
»Er blieb hier und nur sein Geld ginge mit.«
»Wird sich bedanken!«
»Muß, muß! Ein Schuß! Ein Messerstich!«
»Ah, so meinst Du es.«
»Ja. Aber ich bin leider kein Mann und auch Du bist keiner. Auf Dich kann man sich nicht verlassen.«
»Oho! In einer solchen Lage ist mir Alles gleich. Wir müssen fort, müssen Alles hinter uns lassen, unsere Besitzungen, unseren Namen, unseren Adel, unsere Ahnen. Wir müssen die Mittel zu einer neuen und keineswegs armseligen, sorgenvollen Existenz haben. Ich werde diese Mittel da wegnehmen, wo ich sie finde.«
»Ich werde sehen, ob Du wirklich den Muth dazu hast. Da vorn läuft Einer. Das ist Winter, mein heißgeliebter Bräutigam. Wollen machen, daß wir ihn einholen. Dann wird sich ja finden, was zu thun ist.«
Da er langsam ging, erreichten sie ihn sehr bald. Er knurrte vergnügt vor sich hin, als er bemerkte, daß der Freiherr wirklich die Tochter mitbrachte. Jetzt war sie sein, das war gewiß. Eine Flüchtige, ohne Geld, ohne alle Mittel, sie mußte sich auf ihn verlassen, sie hing nun nur von ihm ab. Das schöne, üppige Mädchen gehörte nun ihm.
»Hat man Sie gesehen?« fragte er, sich zu ihnen zurückwendend.
»Einige von der Dienerschaft,« antwortete der Freiherr.
»Aber man weiß nicht, wohin Sie sind?«
»Nein. Kein Mensch kann eine Ahnung haben, außer Daniel, weil der weiß, daß Sie bei mir gewesen sind.«
»Kommen Sie nur! Bei mir sind Sie sicher.«
»Hm! Wenn man Daniel zum Sprechen bringt, so wird man unsere Fährte finden.«
»Ich verstecke Sie im Thurme. Es ist ein alter Keller da, den kein Mensch findet. Zwar ist es nicht sehr comfortabel darin, es giebt da Ratten, Spinnen und Kröten und ähnliches Viehzeug, aber man ist desto sicherer aufgehoben.«
»Pfui!« meinte Theodolinde. »Da hinein bringen Sie mich auf keinen Fall.«
»Mich auch nicht,« stimmte ihr Vater bei. »Wir können überhaupt nicht bleiben. Wir müssen fort, schleunigst fort, noch während dieser Nacht.«
»Wohin denn?«
»Das werden wir überlegen.«
»Gut. Ueberlegen wir es. Dort sehe ich den Thurm. Kommen Sie. Dort können wir eher sprechen als hier.«
Sie wurden von dem Geknurr des Hundes empfangen, doch schwieg das Thier, sobald es seinen Herrn witterte.
»Bleib hier außen vor der Thür!« befahl dieser. »Du mußt aufpassen!« Und zu den Beiden gewendet, erklärte er: »Solange der Hund vor der Thür hält, sind wir sicher. Er wird die Nähe eines jeden Menschen anzeigen und den Allzukühnen, welcher sich den Zutritt erzwingen wollte, ganz sicher zerreißen.«
Er zog den Schlüssel hervor und schloß auf. Als sie eingetreten waren, schloß er wieder zu und schob überdies einen starken Riegel vor. Da es ganz dunkel war, hatte er nicht bemerkt, daß sich der Hund mit hereingeschlichen und dann neben der Treppe niedergelegt hatte.
Oben in der Wohnstube angekommen, brannte der Besitzer des abenteuerlichen Aufenthaltsortes ein Licht an, ließ den Besuch sich niedersetzen und bat dann um die Erklärung des heutigen Ereignisses. Der Freiherr erzählte ihm ein Märchen, welches ihm da einfiel, denn die Wahrheit zu gestehen, konnte ihm gar nicht in den Sinn kommen. Das aber, was er erzählte, war so eingerichtet und ausgesonnen, daß es eine schleunige Entfernung aus der Gegend erforderte. Als der Erzähler geendet hatte, sah der Einsiedler eine Weile vor sich nieder; dann fragte er: »Können Sie Ihre Flucht ohne Hilfe bewerkstelligen?«
»Leider nicht.«
»An wen wollen Sie sich wenden?«
»Ich habe, aufrichtig gestanden, zu keinem Menschen ein richtiges Vertrauen.«
»Auch zu mir nicht?«
»Sie wären allerdings der Einzige.«
»Nun, ich bin gern bereit, Ihnen nach Kräften beizustehen; aber Ihre Tochter ist die Verlobte Hagenau’s.«
»Fällt keinem Menschen ein!«
»Wirklich? Ich verlange, daß Sie mir in aller Form und Aufrichtigkeit sagen, ob ich Ihnen als Schwiegersohn willkommen bin.«
»Wenn Sie beweisen, daß Sie meine Tochter wahrhaft lieb haben, ja.«
»Wie soll ich das beweisen?«
»Durch Ihre Hilfe.«
»Gut. Ich habe mehr Mittel, Ihnen zu helfen, als Sie denken. Horch! Schlug nicht der Hund an?«
Der Einsiedler hatte doch recht vernommen, beruhigte sich aber doch und fuhr im Gespräche fort. Die Drei ahnten nicht, daß draußen eben jetzt eine Leiter angelegt wurde, zum Zwecke, ihr Gespräch zu belauschen. Holm und Robert Bertram hörten die nun folgenden Worte und dann begab sich Winter in die nebenan liegende Kammer.
»Jetzt zeigt er uns sein Geld,« flüsterte Theodolinde.
»Ob es viel sein wird?«
»Er scheint fürchterlich reich zu sein. Ein Hieb, ein Stich jetzt, und Alles gehört uns. Willst Du?«
»Hm! Ich habe hier das Messer, welches ich ihm vorhin borgte. Es ist spitz und scharf –«
»Also! Willst Du?«
»Wenn es nicht zu schwer ist.«
»Pah! Du stellst Dich neben ihn, zu seiner Linken, damit Du die rechte Hand zum Stoße hast. Ich werde ihn veranlassen, sich zu bücken. Ein Stoß von hinten in das Herz, und seine ganze Habe gehört uns. Ich hoffe, daß Du einmal keine Memme, sondern ein Mann bist.«
»Gut, der Kerl soll sterben, notabene, wenn es sich der Mühe verlohnt!«
Er steckte das Messer wieder zu sich und bald darauf kam Winter unter die Thür, um sie aufzufordern, zu ihm in die Kammer zu treten.
Dort hatte er seine Reichthümer ihren erstaunten Augen zugänglich gemacht. Was sie sahen, blendete sie förmlich. Theodolinde gab ihrem Vater einen Wink, in Folge dessen er sich an Winter’s linke Seite stellte. Der Freiherr befand sich beim Anblicke des funkelnden Reichthums wie im Traume. Eine entsetzliche Habgier bemächtigte sich seiner; er zog das Messer hervor – Winter bückte sich, von einer Bemerkung des Mädchens dazu verleitet, und sofort bohrte sich das Messer in seinen Rücken. Der Mörder wollte abermals stoßen, da krachte es am Fenster, der Blitz des Schusses durchzuckte die Kammer, und der Freiherr stürzte mit zerschmettertem Kopfe nieder. Halb vor Schreck, halb vor Angst warf Theodolinde sich neben ihn hin.
Da flog das Fenster sammt dem Rahmen herein und die beiden Lauscher kamen nachgesprungen.
»Mörderin! Sie sind meine Gefangene!« rief Holm, indem er das Mädchen erfaßte und emporriß.
Sie blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, gerade so, als ob sie ein Gespenst erblicke.
»Mörderin? Ich?« stieß sie hervor.
»Ja. Sie haben es angestiftet!«
»Nein!«
»Schweigen Sie! Wir haben Alles gehört!«
»Es ist nicht wahr, nicht wahr! Lassen Sie mich!«
Sie riß sich los und sprang nach der Thür, um zu entfliehen; aber Holm ergriff sie schnell und schleuderte sie zurück, indem er sagte: »Herr Bertram, bewachen Sie dieses Scheusal, während ich nachsehe, wieviel Leben sich noch in diesen beiden Männern befindet.«
Das Mädchen sah sich verloren und sank auf einen Stuhl nieder. Robert Bertram stellte sich zwischen die Thür und die Sünderin. Holm bückte sich zu dem Freiherrn nieder.
»Todt!« sagte er. »Die Kugel hat nur zu gut getroffen. Dieser Kerl sollte leben, um eine ganz andere Strafe zu erleiden. Schade, schade!«
Die Tochter hörte diese Worte, sie vernahm, daß ihr Vater todt sei. Sie that nichts, was ein Zeichen ihrer kindlichen Lebe gewesen wäre. Es war ihr zu Muthe, als ob sie selbst todt sei. Der falsche Muth war verschwunden.
Jetzt untersuchte Holm den Einsiedler. Er meinte:
»Dieser scheint noch nicht todt zu sein, sondern nur besinnungslos. Er athmet, wenn auch so leise, daß man es kaum bemerkt.«
»Ziehen Sie ihm das Messer aus dem Rücken!« sagte Robert Bertram wohlmeinend.
»Werde mich hüten! Dann verblutet er sich vielleicht in kurzer Zeit. Wir müssen versuchen, ihn in dem gegenwärtigen Zustande wenigstens so lange zu erhalten, bis ein Arzt gekommen ist. Horch! Hören Sie nicht Jemand rufen?«
»Herr Holm!« erklang es unten.
Und zugleich erhob der Hund unten an der Treppe ein lautes Wuthgeheul. Holm trat an das Fenster und fragte, wer unten sei.
»Ich, Hagenau,« antwortete es.
»Kommen Sie herauf, hier!«
»Gleich! Ah, da ist ja eine Leiter! Was ist geschehen? Giebt es noch Gefahr da oben?«
»Nein. Es ist vorüber.«
»Na, warten sie!«
Der Oberlieutenant schob sich zum Fenster herein und sprang von da herab auf die Diele. Er warf einen Blick in der Kammer umher und sagte dann erschrocken: »Alle Teufel! Zwei Leichen! Was ist geschehen?«
Holm erzählte ihm den ganzen Vorgang und fragte dann:
»Wie aber kommen Sie hierher, Herr von Hagenau?«
»Wir hörten Ihren Schuß. Wir wußten, daß Sie nach dem Thurme waren und keine Waffen bei sich hatten. Da glaubten wir natürlich, daß auf Sie geschossen worden sei und machten uns schleunigst auf die Socken, um Ihnen womöglich Hilfe zu bringen.«
»Pah! Wird nicht ans Leben gehen! Aber giebt es hier eine Masse Geld! Alle Wetter! Dieses Dämchen wollen wir fest halten. Sie soll nicht so gleich wieder an das Heirathen denken. Eigentlich war der Alte keinen Schuß Pulver werth. Sie hätten sich diese Mühe ersparen können!«
»Ich mußte schießen, um dem Anderen womöglich das Leben zu erhalten.«
»Aber ob er lebt!«
Da erklang es leise von da her, wo Winter lag:
»Ich – ich – lebe.«
»Er spricht!« sagte Hagenau. »Sehen wir nach!«
Er trat zu dem Einsiedler, welcher auf der Diele lag, mit dem Rücken, in welchem das Messer stak, nach oben gerichtet. Er bog sich nieder und fragte ihn: »Sie leben? Sie hören, was wir sprechen?«
»Ja.«
»Wissen Sie, was geschehen ist?«
»Ja.«
»So haben Sie Ihre volle Besinnung?«
»Vollkommen.«
Er antwortete allerdings nicht geläufig, sondern langsam und so Athem holend, daß es fast wie Pfeifen klang.
»Wollen Sie nicht aufstehen?« fuhr Hagenau fort. »Kommen Sie, ich will Ihnen helfen.«
»Ich kann nicht, es geht nicht, ich kann kein Glied bewegen. Das Messer –«
»Sapperment! Ich bin kein Wundarzt und Quacksalber, aber vielleicht hat das Messer gerade einen Bewegungsnerv getroffen oder so etwas derartiges. Wir wollen es doch herausziehen.«
»Nein!« bat der Verwundete. »Dann ist’s aus, dann verblute ich mich. Oh, dieser Schuft, dieser – dieser – wo ist seine Tochter?«
»Hier sitzt sie.«
»Dann wünsche ich, daß der tausendfache Teufel –«
Er zwang sich mit ganzer Gewalt zu einer Bewegung, er brachte sie nicht fertig. Die Folge dieser Anstrengung war ein Blutstrom, welcher ihm aus dem Munde quoll und ihn fast erstickte.
Die drei Männer eilten herbei, um ihn zu unterstützen. Er brachte längere Zeit kein Wort hervor. Sein Blick wurde starr, sein Gesicht färbte sich braunroth. Nach und nach erholte er sich wieder, aber so deutlich wie vorhin vermochte er nicht wieder zu sprechen. Sie verstanden kaum, was er flüsterte: »Telegraph – Telegraph – schnell – schnell!«
»Wir sollen telegraphiren?« fragte Holm.
»Ja,« hauchte er.
»Wohin?«
»An wen?«
»Hauck – Paukenschläger.«
»Den kenne ich!« sagte Doctor Holm überrascht. »Was sollen wir ihm telegraphiren?«
»Gleich kommen – ich heiße nicht Winter – sondern auch – auch Hauck – ah!«
Nach dem vorhergehenden Blutverluste hatte ihn das Sprechen zu sehr angestrengt; er verlor die Besinnung. Die Drei traten zusammen, um von Theodolinde nicht gehört zu werden. Holm fragte den Lieutenant: »Was thun wir mit der Gefangenen und ihrem Vater?«
»Beide bleiben hier, das wird das Beste sein. Sie müssen warten, bis die Gerichte kommen. Es soll hier Alles in dem Zustande erhalten bleiben, in welchem wir es gefunden haben. Wir müssen einmal telegraphiren und depeschiren dabei gleich mit an die Staatsanwaltschaft.«
»Wer führt die Aufsicht hier bis dahin?«
»Das mag Herr Bertram übernehmen. Ich habe einige handfeste Kerls mitgebracht, welche unten warten. Ich muß nach Hause. Ich fühle, daß meine Wunde denn doch nicht so ganz ohne ist. Da werde ich einen Boten mit der Depesche nach dem Telegraphenbüro schicken.«
»Lassen Sie mich das Telegramm verfassen. Ich weiß, an wen es gerichtet werden und wie es lauten muß.«
»Thun Sie es.«
Holm riß ein Blatt aus seinem Notizbuche und schrieb:
»Dem Fürsten von Befour.
Sofort Extrazug – nach Grünbach kommen, Station Wildau – von da besorge ich Pferde. Robert Bertram’s Kette geraubt – mehrere Gefangene – Staatsanwalt, Assessor Schubert und Paukenschläger Hauck mitbringen.«
Alles Uebrige wurde in Eile besprochen, dann wurden die Wächter heraufgeholt, wobei allerdings der Hund nur schwer zur Ruhe gebracht werden konnte. Hagenau begab sich mit Holm nach dem Schlosse zurück.
Der Letztere wurde von Braut und Schwester mit außerordentlicher Freude empfangen. Dabei bemerkten sie gar nicht, daß der Oberlieutenant ganz entkräftet auf das Sopha sank. Erst nach einer Weile fiel Hilda’s Blick auf sein blutleeres, todtenbleiches Angesicht. Sie stieß einen Laut des Schreckes aus, eilte zu ihm, ergriff seine Hand und fragte: »Was ist mit Ihnen, Herr von Hagenau? Befinden Sie sich schlimmer?«
Er zwang sich zu einem Lächeln und antwortete:
»Es war mir wunderlich – so schwach. Aber jetzt, da Sie meine Hand halten, bin ich stark, sehr stark.«
»O nein! Sie sind sehr schwach. Sie haben sich zu sehr angegriffen. Sie hätten uns gehorchen und nicht nach dem Thurme gehen sollen.«
»Hm, ja! Als ich dort so hoch am Fenster herabsprang, da ist etwas in der Wunde geschehen. Ich fühlte es gleich. Man hat hier Pferde und Wagen. Ich werde mich nach Hause bringen lassen. Wir haben da auch so einen alten Diener Daniel wie hier, der wird mich pflegen.«
»Ein Diener? Nein. Ich gehe mit!«
Sie sagte das in so entschlossenem Tone, als ob es sich ganz von selbst verstehe. Hagenau’s Blick bekam Leben, begann beinahe zu leuchten.
»Sie wollen mit? Wirklich?« fragte er.
»Ja. Ich bin es Ihnen schuldig. Wir haben Ihnen Veranlassung gegeben, mit uns zu gehen. Sie sind in Folge dessen verwundet worden. Sie haben keine Mutter, keine Schwester – ich fahre mit!«
Er blickte zu ihrem Bruder hin und fragte:
»Sie hören es, Herr Doctor. Was sagen Sie dazu?«
»Sie hat Recht. Wären Sie nicht gekommen, so sähe es schlimm mit uns aus. Sie haben uns das Leben gerettet. Ihnen Pflege bieten, das ist so wenig, was wir thun können – leider! Ich hoffe, daß Sie das Anerbieten der Schwester nicht zurückweisen.«
»Zurückweisen?« lächelte Hagenau ganz glücklich. »Das fällt mir nicht ein. Ich habe sehr viele Dummheiten begangen, diese aber wäre die allergrößte, und so will ich sie unterlassen. Wer aber führt dann hier im Schlosse die Aufsicht?«
»Ich bleibe hier. Sie dürfen glauben, daß Alles geschehen wird, wie es geschehen soll. Aber die Depesche, welche Sie besorgen wollten, Herr Oberlieutenant?«
»Wird besorgt, trotzdem ich verwundet bin, darauf können Sie sich verlassen.«
Kurze Zeit später hielt ein Kutschwagen vor dem Thore. Hagenau stieg ein und Hilda setzte sich ihm gegenüber. Es wurde unterwegs kein Wort gesprochen. Erst als der Wagen im Hofe des Schlosses Reitzenhain hielt, hörte das Mädchen das erste Wort: »Was ist – wo sind wir?«
»Daheim bei Ihnen, Herr Oberlieutenant,« antwortete sie.
»Ah – so! – Verzeihen Sie! Ich muß wirklich schwächer sein, als ich angenommen habe. Ich weiß von der ganzen Fuhre nichts. Ich muß ohnmächtig gewesen sein. Und da, da ist es naß. Ich glaube, daß ich blute.«
Niemand hatte von dem Vorhaben Hagenau’s gewußt. Die Bewohner des Schlosses schliefen. Der Portier kam schnell herbei und erhielt seine Befehle. Hagenau verbot, seinen Vater zu wecken; aber er schickte sofort nach dem Badearzte und sandte auch einen Boten mit der Depesche fort.
Als der Verwundete in seinem Zimmer ankam und sich untersuchen ließ, zeigte es sich, daß sich der Verband gelockert hatte. Dann kam der Arzt, welcher die Wunde kunstgerecht behandelte. Er beruhigte den Kranken. Er sagte, die Wunde sei gar nicht gefährlich, nur sei der Blutverlust ein bedeutender gewesen. Es werde sich ein nicht ganz unbedeutendes Wundfieber einstellen; das sei aber auch Alles.
Der Patient versank in Schlaf, und dann trat Hilda herein, um an seinem Lager zu wachen.
Als sie so allein bei ihm saß, kamen und gingen ihr allerlei Gedanken. Sie hielt den Blick auf sein Gesicht gerichtet und gab sich keine Rechenschaft darüber, daß sie dieses unschöne Gesicht immer und immer wieder ansehen mußte. So verging die Nacht in lautloser Stille. Gegen Morgen bewegte sich der Lieutenant. Er öffnete die Augen, er sah sie, Er blickte sie an, als ob er sich erst besinnen müsse; dann sagte er.
»Fräulein Holm? Sind Sie wirklich da? Oder träume ich noch?«
»Es ist Wirklichkeit,« lächelte sie.
»Wie herrlich! Ich träumte nämlich, Sie wären – ah, ich schulde Ihnen sehr großen Dank. Welch ein Opfer von Ihnen! Sie bedürfen doch selbst des Schlafes.«
»O, ich könnte nicht schlafen, ganz unmöglich.«
»Warum nicht? Sagen Sie es, bitte, sagen Sie es mir!«
Sie erröthete; aber sie antwortete offen und ehrlich:
»Weil ich Angst habe; ich sorge mich um Sie.«
»Sie sorgen sich um mich? Herrgott! Sie wissen doch, Fräulein Holm, daß ich von meinen Kameraden der Kranich genannt werde?«
»Ja. Man hat freilich keine schöne Bezeichnung gewählt.«
»Es war doch immer noch die beste für so einen Ausbund von Häßlichkeit, wie ich bin.«
»Häßlich? Das finde ich nicht.«
»Nicht? O bitte, sehen Sie mich doch an!«
»Das habe ich schon oft gethan. Ein Mann darf unschön sein, eine Frau aber nicht. Und die Schönheit zeigt sich ja nicht nur in den Zügen. Wer ein gutes Gemüth hat, der kann nicht häßlich sein.«
»Wirklich? O, dann bin auch ich nicht häßlich; da bin ich sogar der schönste Kerl, den es nur geben kann. Ich sage Ihnen, ich habe ein Gemüth, ein Gemüth wie eine überreife Pflaume; sie fällt sogleich vom Baume, wenn man nur ein ganz klein wenig schüttelt.«
»Sie bedienen sich höchst trefflicher Vergleiche,« lachte sie.
»Ja. In Ihrer Nähe werde ich geistreich; das ist wahr.«
Er sah ganz glücklich aus und dieses Glück verschönte seine bleichen Züge mehr, als man hätte glauben sollen. Er lag lange, lange still lächelnd und mit geschlossenen Augen da. Er wußte wohl selbst gar nicht, daß er immer leise flüsterte: »Sie sorgt sich um mich – oh, um mich, um mich!«
Er schlief wieder ein.
Gegen Morgen kam der Arzt. Er war unterdessen auf Schloß Grünbach und in dem Thurme gewesen. Er schickte Hilda fort, in das Zimmer, welches ihr angewiesen worden war, und untersuchte die Wunde zum zweiten Male. Dann hielt er es für nothwendig, den Vater Hagenau’s wecken zu lasen. Er begab sich zu ihm, um ihn vorzubereiten und ihm Alles zu erzählen. Dann entfernte er sich.
Natürlich suchte dann der Vater den Sohn auf. Dieser ergänzte den Bericht des Arztes, wo derselbe lückenhaft war, und versicherte, daß er sich verhältnißmäßig ganz wohl fühle.
»Welch ein Ereigniß!« sagte der Vater. »Jetzt müssen wir freilich verzichten?«
»Auf was?«
»Nun, Du kennst doch meine Absichten in Bezug auf den Tannensteiner und seine Tochter.«
»Vater, danken wir Gott, daß mir dieses Frauenzimmer nicht gefallen hat. Dieses Volk hat selbst kein Geld. Nun ist er todt, die Dame aber mag im Zuchthause die Schloßherrin spielen.«
»Beide haben es verdient. Und doch – doch – ah, ich erwarte heute wieder einen Wechsel! Mach, daß Du bald gesund wirst. Es ist wirklich wahr, es ist nicht anders: Nur eine reiche Heirath kann uns retten.«
»Ich heirathe nicht oder arm, sehr arm.«
»Du scherzest!«
»Nein. Ich sage Dir aufrichtig, daß ich gewählt habe. Ich liebe, ich liebe wahr und innig, und ich glaube, daß ich wieder geliebt werde.«
»Du? Wieder geliebt?« fragte der Vater ungläubig.
»Ja. Das ist es ja eben, was mich so unendlich glücklich macht. Denke Dir: Der Kranich wird geliebt!«
»Na, möglich ist ja Vieles!«
»Ja. Sie sorgt sich um mich. Denke Dir! Sie ist besorgt um mich – o, o!«
»Wer denn?«
»Nun sie, Diejenige!«
»Darf man denn nicht ihren Namen hören?«
»O doch. Sie heißt Holm.«
»Also nicht von Adel?«
»Sehr sogar, sehr! Sie ist durch und durch adelig, obgleich sie kein Von vor ihrem Namen trägt.«
»Du meinst also Herzensadel, Gesinnungsadel?«
»Ja.«
»Hm! Mein lieber Junge, Du kennst mich. Ich bin ein sehr nüchterner Character und da –«
»Weiß – weiß, lieber Vater! Du bist nüchtern und ich bin berauscht.«
»So scheint es.«
»Sie ist aber auch herrlich! O, Hilda, Hilda!«
Er faltete die Hände zusammen, wie zum Gebete, und richtete den seligen Blick nach der Decke.
»Holm? Hilda?« fragte der Vater. »Ahne ich es?«
»Ja. Laß Dir erzählen!«
Der Vater blieb eine sehr lange Zeit bei dem Sohne. Als er ihn sodann verließ, hatte sein Gesicht ein sehr ernstes, keineswegs aber unglückliches Aussehen. Er fragte, wo man Fräulein Holm placirt habe, und suchte sie auf.
Sie erröthete verlegen, als sie ihn eintreten sah. Sie war ja bei ihm eingedrungen, ohne ihn um Erlaubniß gefragt zu haben. Er sah es, er legte ihr die Hand auf den schönen Kopf und sagte: »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Fräulein Hilda! Sie haben mir heute Nacht meinen Sohn erhalten, indem Sie ihm das Leben retteten –«
»O nein,« fiel sie schnell ein, »er war vielmehr unser Retter.«
»Nein. Der Lauf des Gewehres war bereits auf ihn gerichtet, da fielen Sie dem Mörder in den Arm und hatten den Muth, mit ihm zu kämpfen. Das werde ich Ihnen nicht vergessen. Gott segne Sie! Sie haben sich des Verwundeten angenommen. Betrachten Sie dieses Haus als das Ihrige. Man wird Ihre Befehle respectiren.«
Er ging.
Was hatte das zu bedeuten? Das war mehr als die Höflichkeit der Gastfreundschaft. Sie sollte sich förmlich als Schloßherrin betrachten! Dieser Gedanke trieb ihr das Blut in die Wangen. Herrin auf Schloß Reitzenhain, Frau von Hagenau! Sie senkte das Köpfchen wieder und griff mit der Hand nach dem klopfenden Herzen.
Ja, der Lieutenant war nicht schön, aber so lieb und gut. Welch ein Glück, dem Manne zeigen und beweisen zu können, daß man ihn nicht wegen so werthloser, vergänglicher Eigenschaften liebt!
Am frühen Vormittage stellte sich Holm ein, um nach dem Verwundeten zu sehen. Er stellte sich natürlich zunächst dessen Vater vor, der ihn mit offenbarer Hochachtung empfing. Er stand bereits im Begriff, sich zu empfehlen, da bat der alte Herr ihn, noch für einige Augenblicke zu bleiben.
»Ich möchte eine Angelegenheit berühren,« sagte er, »welche für mich von allergrößter Wichtigkeit ist und jedenfalls auch Sie berührt, Herr Doctor. Ich liebe die Offenheit und Sie sind ein Ehrenmann. Mein Sohn hat mir vorhin mitgetheilt, daß er Ihre Schwester liebt.«
Holm zeigte keine Spur von Ueberraschung. Er nickte leise mit dem Kopfe und sagte:
»Ich weiß es. Natürlich mißbilligen Sie diese Liebe?«
»Ich habe sehr triftige Gründe dazu, es zu thun!«
»Das begreife ich und kann Ihnen gar nicht zürnen. Leider muß ich annehmen, daß seine Liebe erwidert wird.«
»Ah! Was Sie sagen!«
»Ja. Hilda ist – oh, ich bin der Bruder und darf sie nicht loben. Sie braucht vor keiner Dame von tausend Ahnen zurücktreten; aber ich sehe ein, daß diese Neigung aussichtslos ist und so werde ich mich arrangiren. Ich gehe in nächster Zeit mit meiner Braut nach Italien und werde Hilda mitnehmen.«
»Also dieser Liebe wegen?«
»Ja.«
»Sie meinen, daß die Beiden einander vergessen werden?«
»Ich will es wenigstens versuchen. Doch ist Hilda ein so tief gegründetes Gemüth, daß ich bei ihr an diesen Erfolg fast nicht zu glauben wage.«
»Warum ihr also den Schmerz bereiten? Lassen Sie sie doch lieber hier!«
»Hier lassen? Ah, Sie sehen mich erstaunt, gnädiger Herr. Ich denke, Ihnen beweisen zu wollen, daß –«
»Papperlapapp!« wurde er unterbrochen. »Daß Sie brav sind und ein Ehrenmann, das weiß ich. Ich verkehre ja mit Ihrem Vater. Ich habe schon vorher zu meinem Sohne gesagt, daß ich mir keine bessere Schwiegertochter wünschen könne als Fräulein Hilda.«
»Wie? Das hätten Sie gesagt?«
»Ja. Freilich ahnte ich nicht, daß es meinem Jungen in Wirklichkeit einfallen werde, sie zu lieben. Lassen Sie uns aufrichtig sprechen. Ich bin ein Lebemann, aber ein schlechter Rechner gewesen. Ich stehe jetzt vor dem nackten Nichts. Mein Sohn hat davon keine Ahnung gehabt; er hat mich vielmehr für colossal reich gehalten und nach diesem Maßstabe gelebt. Ich war gezwungen, ihm die Augen zu öffnen und ihm zu sagen, daß nur eine reiche Verbindung uns retten könne. Der gute Junge war bereit, uns zu retten; da aber sah er Ihre Schwester, und jetzt theilt er mir mit, daß er lieber hungern werde, als sich einer Anderen verkaufen.«
»Sie werden ihm sehr zürnen!«
»Gar nicht. Ich bin ein ebenso sonderbarer Kauz wie er. Ich habe das Leben genossen; ich bin satt. Ich habe eingesehen, daß es nur das eine Glück giebt, welches er jetzt erstrebt. Er soll glücklich sein. Man mag mir Alles nehmen und mich hier hinausjagen; ich lache darüber. Er wird zwar den Dienst quittiren müssen, aber er ist kein dummer Kerl, eine Anstellung ist ihm zweifellos sicher, wenn auch im Civildienste. Na, dann mag er Ihre Schwester nehmen und ich ziehe zu Ihnen. Wir sind bescheiden und werden nicht verhungern.«
Holm erhob sich von seinem Sitze und schritt erregt im Zimmer auf und ab. Endlich sagte er: »Das ist entweder eine Weltverachtung oder eine Hochherzigkeit, welche ich nicht erwartet habe. Sie sprechen wirklich im Ernste, gnädiger Herr?«
»Vollständig! Ich bin überzeugt, daß Hilda wenigstens gerade so viel werth ist, wie mein morscher Stammbaum, unter dessen Zweigen ich baldigst verhungern würde.«
»Sie würden also Ihr Jawort geben?«
»Unbedingt!«
»Hier meine Hand! Sie zwingen mir eine Hochachtung ab, welche nur Ihnen, nicht aber Ihrem adeligen Namen gilt. Da aber Sie so aufrichtig gegen mich sind, will ich es gegen Sie auch sein. Hilda hat von mir eine Beisteuer zu erwarten, welche sie wohl vor dem Verhungern schützen wird.«
»Ab! Sie werden sie beschenken?«
»Ja.«
»Ich meine, Sie selbst sind arm?«
»Ich hatte mir im Laufe meiner Kunstreisen eine Summe verdient, welche mir verloren ging. Das betreffende Bankhaus hat sich indessen mehr als erholt und mir den Verlust sammt guten Zinsen zurückerstattet. Diese Summe bestimme ich zur Aussteuer meiner Schwester.«
»Aber Sie brauchen es ja selbst!«
»Nein. Meine Braut ist sehr reich, sie besitzt Millionen.«
»Himmeldonnerwetter!«
»Sie sehen, daß ich eine Wenigkeit verschenken kann.«
»Dann allerdings, Sie Glückspilz! Nun, einige tausend Gulden in einer jungen Ehe sind eine große Hilfe.«
»Nicht Gulden, sondern Dollars.«
»Ah!«
»Ja. Ich war Virtuos. Manches Concert brachte mir bis fünftausend Dollars ein.«
»Was Sie da sagen!« meinte der erstaunte Hagenau.
»Darum ist es mir jetzt möglich, meiner Schwester über zweimalhundertausend Dollar mitzugeben.«
Hagenau hatte den Mund weit auf. Erst nach einer langen, langen Weile sagte er sylbenweise:
»Zwei – mal – hun – dert – tau – send – Dollars. Das ist ja eine halbe Million Gulden!«
»Hilda soll nicht darben. Jetzt denken Sie von der Sache, was Sie wollen. Bitte, sagen Sie dem Herrn Lieutenant nichts davon. Bleiben die Beiden ihrer Liebe treu, so soll das Glück nicht ausbleiben!«
Er ging. Der Alte aber stand am Fenster, blickte ihm strahlenden Auges nach und murmelte:
»Eine halbe Million! Gott stehe mir bei! Wer hätte das gedacht! Gerettet, gerettet! Und welche eine Schwiegertochter! Jetzt fange ich erst an, zu leben! Bisher bin ich zu dumm gewesen, wirklich glücklich zu sein!«
Doctor Holm war von Grünbach herüber gekommen, um den Fürsten zu empfangen. Er wartete bei seinem Vater, von dessen Logis aus man die nach Wildau führende Straße überblicken konnte. Er hatte noch nicht lange gewartet, so kamen zwei Kutschwagen. Er trat vor das Haus und wurde bemerkt. Die Wagen hielten und die Herren stiegen aus – der Fürst, der Oberstaatsanwalt, Assessor Schubert und – der Paukenschläger Hauck, welcher gar nicht begreifen konnte, wie und wozu er in eine so vornehme Gesellschaft gerathen war.
Man begab sich in das nahe liegende Gasthaus, wo Holm die Ereignisse des gestrigen Tages und der vergangenen Nacht erzählte. Die Herren hörten natürlich mit gespanntester Aufmerksamkeit zu.
»Recht so, daß Sie telegraphirten,« sagte der Fürst. »Die Kosten des Privatzuges sind nichts gegen das, was wir hier finden. Haben Sie nach der Kette und dem Kinderzeug gefragt und gesucht?«
»Nein. Ich wollte Ihnen nicht vorgreifen.«
»Sehr gut! Aber warum sollte ich hier Herrn Hauck mitbringen. Der steht gar nicht in Beziehung zu dieser Angelegenheit.«
»Gar sehr, ganz im Gegentheile. Er hat die Thäter am Gerichtsgebäude erwischt und wurde in Folge dessen von Jacob Simeon niedergeschlagen. Und weiter! Herr Hauck, haben Sie Verwandte?«
»Nein,« antwortete der Gefragte.
»Gar keine? Gar Niemanden? Besinnen Sie sich!«
»Alles todt! Alles gestorben!«
»Ein alter Herr, den ich kenne, muß Ihr Verwandter sein. Er heißt auch Hauck.«
»Wohl nicht. Der einzige Verwandte, der vielleicht noch lebt, steckt in Sibirien.«
»Was thut er da?«
»Er ist Pelzhändler. Nur um uns zu ärgern, hat er früher immer von seinem Reichthum geschrieben. Der Kerl muß Geld haben, wie Heu!«
»In welchem Grade sind Sie mit ihm verwandt?«
»Er ist mein Oheim, meines Vaters Bruder.«