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Vier Jahre zuvor
Für eine ganze Weile schoben die Gedanken an Rache alles andere beiseite. Die erste Folterkammer baute ich in den dunklen Gewölben meiner Fantasie. Ich lag im Heilsaal auf blutigen Laken und entdeckte Türen in meinem Geist, die ich bis dahin nicht gesehen hatte, Türen, von denen ein neunjähriges Kind nicht wissen sollte, wie man sie öffnet. Türen, die sich nie wieder schlossen.
Ich stieß sie weit auf.
Sir Reilly fand mich im Dornenstrauch, keine zehn Meter von den qualmenden Resten der Kutsche entfernt. Fast hätten sie mich nicht gefunden. Ich sah, wie sie die Leichen auf der Straße erreichten. Ich beobachtete sie durch die Dornen, sah den silbrigen Glanz von Sir Reillys Rüstung und das Rot von den Wämsern der ankrathischen Fußsoldaten.
Mutter war leicht zu erkennen, ganz in Seide.
»Heiliger Jesus! Es ist die Königin!« Sir Reilly gab Anweisung, sie umzudrehen. »Vorsichtig! Zeigt Respekt …« Er schnappte nach Luft. Die Männer des Grafen hatten Mutter nicht besonders schön zurückgelassen.
»Sir! Der Große Jan liegt hier, und auch Grem und Jassar.« Ich sah, wie sie Jan umdrehten, dann auch die beiden anderen Wächter.
»Sie sollten besser tot sein!«, zischte Sir Reilly. »Sucht die Prinzen!«
Ich sah nicht, wie sie Will fanden, aber ich wusste, dass sie ihn fanden, denn plötzlich breitete sich Stille unter den Männern aus. Ich ließ mein Kinn auf die Brust sinken und beobachtete die dunklen Blutflecken auf den trockenen Blättern zu meinen Füßen.
»Lieber Himmel …«, murmelte einer der Männer.
»Legt ihn auf ein Pferd, aber vorsichtig«, sagte Sir Reilly. Seine Stimme brach. »Und sucht den Erben!« Mit mehr Nachdruck, aber ohne Hoffnung.
Ich versuchte zu rufen, aber die Kraft hatte mich verlassen. Ich konnte nicht einmal mehr den Kopf heben.
»Er ist nicht hier, Sir Reilly.«
»Sie haben ihn als Geisel genommen«, sagte Reilly.
Irgendwie war richtig, was er sagte. Etwas hielt mich gegen meinen Willen fest.
»Legt ihn neben die Königin.«
»Vorsicht! Geht sanft mit ihm um …«
»Bindet sie fest«, sagte Sir Reilly. »Wir reiten schnell zur Hohen Burg.«
Ein Teil von mir wollte sie ziehen lassen. Ich fühlte keinen Schmerz mehr, nur ein dumpfes Stechen, und selbst das ließ nach. Frieden umgab mich, mit dem Versprechen von Vergessen.
»Sir!«, entfuhr es einem der Männer.
Ich hörte das Klirren und Klappern einer Rüstung, als Sir Reilly näher stapfte und sich etwas ansah.
»Ein Stück von einem Schild?«, fragte er.
»Hab’s im Schlamm gefunden. Das Kutschenrad muss es in den Dreck gedrückt haben.« Die Stimme des Soldaten verklang. Ich hörte ein Kratzen. »Sieht nach einem schwarzen Flügel aus.«
»Eine Krähe«, sagte Reilly. »Eine Krähe auf rotem Grund. Das sind Graf Renars Farben.«
Graf Renar? Ich hatte einen Namen. Das Hoheitszeichen erschien vor meinem inneren Auge, tief eingebrannt von den Blitzen des Gewitters der vergangenen Nacht. Ein Feuer brannte in mir, und der Schmerz von hundert Dornen glühte in jedem Glied. Ein Stöhnen entrang sich meiner Kehle. Ich spürte, wie sich meine Lippen teilten und trockene Haut nachgab.
Und Reilly fand mich.
»Da ist etwas!« Ich hörte ihn fluchen, als die Dornen des Gestrüpps alle Ritzen in seiner Rüstung fanden. »Schnell! Zieht dies zur Seite!«
»Tot«, flüsterte jemand hinter Sir Reilly, als er mich frei schnitt.
»Er ist so bleich.«
Ich schätze, ich bin im Hakendorn beinahe verblutet.
Die Männer holten einen Karren und legten mich darauf. Ich schlief nicht. Ich beobachtete, wie der Himmel dunkel wurde, und dachte nach.
Im Heilsaal schnitten mir Bruder Glen und sein Helfer Inch die Dornen aus dem Leib. Sie hatten die Messer in der Hand, und ich lag auf dem Tisch, als Lundist eintraf, mein Lehrer. Er kam mit einem Buch so groß wie ein Teutonenschild, und dreimal so schwer, wie’s aussah. Lundist war kräftiger, als sein verschrumpelter dürrer Körper vermuten ließ.
»Ich hoffe, du hast die Messer in Feuer gereinigt, Mönch?« Lundist sprach mit dem Akzent seiner Heimat im Äußersten Osten und neigte dazu, die Hälfte eines Wortes unausgesprochen zu lassen, als sollte ein intelligenter Zuhörer imstande sein, die Lücken selbst zu füllen.
»Es ist die Reinheit des Geistes, die Fäulnis vom Fleisch fernhalten wird, Lehrer«, erwiderte Bruder Glen. Er warf Lundist einen missbilligenden Blick zu und machte sich dann daran, die nächsten Dornen herauszuschneiden.
»Trotzdem, säubere die Messer, Mönch. Das Heilige Amt schützt kaum vor dem Zorn des Königs, wenn der Prinz in deinem Saal stirbt.« Lundist legte sein Buch neben mir auf den Tisch, und ich hörte, wie einige Meter entfernt ein Gestell mit Ampullen rasselte. Er schlug das große Buch an einer markierten Stelle auf.
»›Die Dornen des Hakendorn finden oft den Knochen.‹« Lundist strich mit einem gelben Finger über die Zeilen. »›Die Spitze kann brechen und das Fleisch entzünden.‹«
Bruder Glen stieß plötzlich zu, und mir sprang ein schmerzerfüllter Laut aus dem Mund. Der Mönch legte das Messer beiseite und wandte sich an Lundist. Ich sah nur seinen Rücken, den braunen Stoff, der sich an den Schultern spannte, mit dunklen Flecken von Schweiß.
»Lehrer Lundist«, sagte Bruder Glen, »ein Mann deines Standes mag glauben, dass alles Wissenswerte den Seiten eines Buches entnommen werden kann, oder der richtigen Schriftrolle. Das Lernen hat durchaus seinen Sinn, mein Herr, aber bitte halt mir keine Vorträge übers Heilen, nur weil du einen Abend mit einem Folianten verbracht hast.«
Bruder Glen setzte sich durch, und der Wachmann »half« Lehrer Lundist aus dem Saal.
Selbst im Alter von neun Jahren musste ich einen erheblichen Mangel an geistlicher Reinheit gehabt haben, denn meine Wunden entzündeten sich innerhalb von zwei Tagen, und neun Wochen lang lag ich im Fieber, geplagt von dunklen Träumen, an der Grenze des Todes.
Man erzählt mir, wie ich schrie und heulte. Getobt soll ich haben, als Eiter aus den Schnitten quoll, in denen die Dornen gesteckt hatten. Ich erinnere mich an den Gestank der Fäulnis. Er hatte etwas Süßes, eine Süße, bei der man kotzen möchte.
Inch, der Helfer des Mönchs, wurde müde, mich festzuhalten, obgleich er die Arme eines Holzfällers hatte. Schließlich banden sie mich ans Bett.
Von Lehrer Lundist erfuhr ich, dass Bruder Glen nach der ersten Woche nicht mehr zu mir kam, weil ein Teufel in mir stecke, wie er meinte. Wie sonst könne einem Kind so Schreckliches von den Lippen kommen?
In der vierten Woche entkam ich den Stricken, die mich ans Bett fesselten, und setzte den Saal in Brand. Ich erinnere mich nicht an meine Flucht, auch nicht daran, wie man mich im Wald fand. Als sie in den Trümmern suchten, fanden sie die Reste von Inch, mit dem Schürhaken des Kamins in seiner Brust.
Oft stand ich an der Tür zum Jenseits. Ich hatte gesehen, wie man meine Mutter und meinen Bruder durch jene Tür warf, blutig und zerbrochen, und in den Träumen trugen mich meine Füße immer wieder dorthin. Mir fehlte der Mut, ihnen zu folgen; an den Dornen der Feigheit hielt ich fest.
Manchmal sah ich das Land der Toten jenseits eines dunklen Flusses oder auf der anderen Seite einer tiefen Schlucht, von einer schmalen Steinbrücke überspannt. Einmal sah ich die Tür in Gestalt des Portals, das in den Thronsaal meines Vaters führte, aber voller Raureif und Eiter, der aus allen Ritzen drang. Etwas zwang mich, die Hand auf die Klinge zu legen …
Graf Renar hielt mich am Leben. Das Versprechen seiner Pein zertrat meine eigene unter ihrem Stiefel. Hass hält einen am Leben, wenn Liebe versagt.
Und dann, eines Tages, verließ mich das Fieber. Meine Wunden blieben zornig und rot, aber sie schlossen sich. Man fütterte mich mit Hühnersuppe, und meine Kraft kehrte zurück, wie etwas Fremdes.
Der Frühling kam und malte wieder Blätter an die Bäume. Meine Kraft war zurück, aber etwas anderes schien mir genommen zu sein. Es fehlte so sehr, dass ich diesem Etwas nicht einmal einen Namen geben konnte.
Die Sonne zeigte sich, und sehr zu Bruder Glens Verdruss besuchte mich Lehrer Lundist und setzte den Unterricht fort.
Als er das erste Mal kam, saß ich auf dem Bett. Ich beobachtete, wie er die Bücher auf den Tisch legte.
»Dein Vater wird zu dir kommen, sobald er von Gelleth zurückkehrt«, sagte Lundist. In seiner Stimme erklang ein leiser Tadel, der jedoch nicht mir galt. »Der Tod der Königin und des Prinzen William lasten schwer auf ihm. Wenn sein Schmerz nachlässt, kommt er bestimmt, um mir dir zu sprechen.«
Ich verstand nicht, warum Lundist eine Lüge für notwendig hielt. Ich wusste, dass mein Vater keine Zeit an mich vergeuden würde, solange es den Anschein hatte, dass ich im Sterben lag. Ich wusste, dass er erst kommen würde, wenn ihm der Besuch etwas nützte.
»Erkläre mir, Lehrer«, sagte ich, »ist Rache eine Wissenschaft oder eine Kunst?«