6
Der Regen ließ nach, als die Geister flohen. Ich hatte nur den einen besiegt, aber auch die anderen wandten sich zur Flucht und kehrten zu den Tümpeln zurück, in denen sie hausten. Vielleicht war meiner der Anführer gewesen; vielleicht werden Menschen im Tode feige. Ich weiß es nicht.
Was meine eigenen Feiglinge betraf: Es hatte keinen Ort gegeben, zu dem sie fliehen konnten, und ich fand sie leicht. Makin fand ich als Ersten. Wenigstens er kehrte zu mir zurück.
»Du hast es also mit der Angst zu tun gekriegt, wie?«, rief ich ihm zu.
Er blieb kurz stehen und sah mich an. Es regnete nicht mehr so stark wie vorher, aber er stand trotzdem klatschnass da. Das Wasser strömte über seinen Brustharnisch und durch die Beulen und Dellen darin. Wachsam und noch immer nervös blickte er über die Sümpfe zu beiden Seiten der Totenstraße und ließ das Schwert sinken.
»Einem Mann ohne Angst fehlt ein Freund, Jorg«, sagte er, und ein Lächeln fand den Weg auf seine dicken Lippen. »Weglaufen ist nicht schlecht. Zumindest wenn man dabei die richtige Richtung einschlägt.« Er zeigte dorthin, wo Rike mit einem Binsenbüschel rang; der Schlamm reichte ihm schon bis zur Brust. »Die Angst hilft einem Mann, seinen Kampf zu wählen. Du kämpfst gegen alle, mein Prinz.« Und er verbeugte sich dort auf der Totenstraße, mitten im Regen.
Ich warf Rike einen kurzen Blick zu. Maical hatte ähnliche Probleme in einem Tümpel auf der anderen Seite der Straße. Allerdings standen ihm die Probleme bis zum Hals.
»Letztendlich kämpfe ich gegen sie alle«, erwiderte ich.
»Wähl deine Kämpfe«, sagte Makin.
»Ich wähle den Boden, auf dem sie stattfinden«, sagte ich. »Ich wähle den Boden, aber ich laufe nicht mehr weg. Nie wieder. Das Weglaufen ist vorbei, und wir haben noch immer Krieg. Ich werde ihn gewinnen, Bruder Makin. Er wird mit mir enden.«
Er verbeugte sich erneut. Nicht so tief wie beim ersten Mal, aber ich spürte, dass er es ernst meinte. »Deshalb folge ich dir, Prinz. Wohin auch immer.«
Und so folgte er mir, als ich damit begann, Brüder aus dem Sumpf zu ziehen. Zuerst kümmerten wir uns um Maical, obwohl Rike heulte und uns verfluchte. Als der Regen noch mehr nachließ, sah ich den Grauschimmel und den Kopfkarren in der Ferne. Im Gegensatz zu Maical war der Graue so klug gewesen, auf der Straße zu bleiben. Wenn Maical so blöd gewesen wäre, ihn in den Sumpf zu führen, hätte ich ihn im Morast versinken lassen.
Als Nächsten zogen wir Rike heraus. Als wir zu ihm gelangten, hatte der Schlamm beinahe seinen Mund erreicht. Nur sein weißes Gesicht ragte aus dem Tümpel, was ihn aber nicht daran hinderte, uns hingebungsvoll zu verfluchen. Die meisten Brüder fanden wir auf der Straße, aber sechs von ihnen hatte der Sumpf zu schnell verschlungen. Sie waren für immer verloren und bereiteten sich vermutlich darauf vor, die nächste Reisegruppe heimzusuchen.
»Ich kehre zum alten Gomsty zurück«, sagte ich.
Wir waren ein ganzes Stück über die Straße gekommen, und das Licht des Tages hatte uns fast ganz verlassen. Wenn man zurücksah, konnte man den Galgen nicht mehr erkennen; graue Regenschleier verhüllten ihn. Draußen im Sumpf warteten die Toten. Ich fühlte, wie mir ihre kalten Gedanken über die Haut krochen.
Ich forderte die Brüder nicht auf, mich zu begleiten. Keiner von ihnen wollte mitkommen, das wusste ich, und ein Anführer verliert Autorität, wenn er einen Befehl erteilt, den niemand befolgt.
»Was willst du mit dem alten Priester machen, Bruder Jorg?«, fragte Makin. Er bat mich, nicht zum Galgen zu reiten. Er brachte es nur nicht fertig, es mir direkt zu sagen.
»Willst du ihn noch immer verbrennen?« Trotz des Schlamms grinste Rike wieder und freute sich.
»Ja«, sagte ich. »Aber ich kehre nicht deshalb zu ihm zurück.« Und ich ging über die Totenstraße, in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Regen und Dunkelheit umhüllten mich. Ich verlor die auf der Straße wartenden Brüder aus den Augen. Weiter vorn warteten Gomst und der Galgen auf mich. Ich schritt in einem Kokon aus Stille, nur begleitet von den leisen Worten des Regens und dem Geräusch meiner Stiefel auf der Totenstraße.
Ich gebe es jetzt zu: Die Stille machte mir schwer zu schaffen. Es ist die Stille, die mir Angst macht. Die leere Seite, auf die ich meine Furcht schreiben kann. Von den Geistern der Toten steht nichts darauf. Jener Geist hatte mir die Hölle zeigen wollen, aber es war nur eine billige Imitation des Entsetzens gewesen, das ich in die Dunkelheit eines stillen Moments malen kann.
Und dort hing er, Pater Gomst, Priester des Hauses Ankrath.
»Pater«, sagte ich und deutete eine Verbeugung an. In Wirklichkeit aber war ich nicht zum Scherzen aufgelegt. Ich hatte einen dumpfen Schmerz hinter den Augen, jene Art von Schmerz, der Leute töten konnte.
Aus großen Augen sah er mich an, als sei ich ein aus dem Schlamm gekrochener Sumpfgeist.
Ich ging zur Kette, an der der Käfig am Galgen hing. »Gib gut Acht, Pater.«
Das Schwert, das ich zog, hatte keine vierundzwanzig Stunden zuvor den alten Bovid Tor aufgeschlitzt. Jetzt schwang ich es, um einen Priester zu befreien. Die Kette gab unter der Schneide nach. Magie steckte in der Klinge, oder vielleicht irgendeine Teufelei. Vater hatte mir erzählt, dass sich das Schwert seit vier Generationen im Besitz der Ankraths befand und vom Haus Or stammte. Der Stahl war also schon alt gewesen, als ihn zum ersten Mal eine Ankrath-Hand berührt hatte. Es war alt gewesen, bevor ich es gestohlen hatte.
Der Käfig fiel, prallte hart und schwer aufs Pflaster. Pater Gomst schrie und stieß mit dem Kopf gegen das Gitter. Ein blutiges Muster blieb auf der Stirn zurück. Die Käfigtür war mit Draht gesichert, den unser Ahnenschwert, zweimal gestohlen, mühelos durchschnitt. Für einen Moment dachte ich an Vater und stellte mir vor, wie er voller Zorn eine Grimasse schnitt, weil ich eine erhabene Klinge so niedere Arbeit verrichten ließ. Meine Vorstellungskraft ist groß, aber es fiel mir schwer, Gefühl in Vaters steinernes Gesicht zu meißeln.
Gomst kroch aus dem Käfig, so steif und schwach, wie es seinem Alter entsprach. Es gefiel mir, dass er den Anstand hatte, die Jahre auf seinen Schultern zu fühlen. Manche Leute werden mit den Jahren einfach nur zäh.
»Pater Gomst«, sagte ich, »du solltest dich besser beeilen, denn sonst kommen die Toten der Sümpfe und erschrecken uns mit ihrem Stöhnen und Heulen.«
Er sah mich an und wich zurück, als hätte er einen Geist gesehen. Dann beruhigte er sich.
»Jorg«, sagte er voller Anteilnahme. Er war voll davon, es lief ihm aus den Augen, wenn es nicht nur der Regen war. »Was ist mit dir passiert?«
Ich will euch nicht anlügen. Die Hälfte von mir wollte ihm das Messer in den Leib stoßen, so wie beim rotgesichtigen Gemt. Mehr als nur die Hälfte. In meiner Hand juckte das Bedürfnis, das Messer zu ziehen. Der Kopf schmerzte mir davon, als zöge jemand einen Schraubstock an meinen Schläfen fest.
Ich bin als Querkopf bekannt gewesen. Wenn jemand Druck ausübt, drücke ich zurück. Selbst wenn derjenige, von dem der Druck kommt, ich selbst bin. Es wäre leicht gewesen, ihm hier und jetzt den Bauch aufzuschneiden. Leicht und befriedigend. Aber der Wunsch war zu groß. Ich fühlte mich von ihm unter Druck gesetzt.
Ich lächelte und sagte: »Verzeih mir, Pater, denn ich habe gesündigt.«
Und der alte Gomsty, obwohl steif vom Käfig und in allen Gliedern wund, neigte den Kopf, um sich meine Beichte anzuhören.
Ich sprach im Regen zu ihm, leise und ruhig. Aber laut genug für Pater Gomst, und laut genug für die Toten, die in den Sümpfen um uns herum hausten. Ich erzählte von den Dingen, die ich getan hatte, und auch von denen, die ich tun würde. Mit leiser, ruhiger Stimme schilderte ich meine Pläne für alle, die sie hören konnten und wollten. Die Toten ließen uns daraufhin in Ruhe.
»Du bist der Teufel!« Pater Gomst trat einen Schritt zurück und griff nach dem Kreuz an seinem Hals.
»Wenn das nötig ist.« Ich widersprach ihm nicht. »Aber ich habe gebeichtet, und du musst mir vergeben.«
»Eine Abscheulichkeit bist du …«, hauchte der Priester.
»Und noch mehr«, pflichtete ich ihm bei. »Und jetzt vergib mir.«
Pater Gomst fand wieder zu sich, zögerte aber trotzdem. »Was willst du von mir, Luzifer?«
Eine faire Frage. »Ich will gewinnen«, sagte ich.
Er schüttelte verwirrt den Kopf, und so erklärte ich es ihm.
»Manche Männer kann ich mit dem an mich binden, was ich bin. Andere binde ich mit dem, wohin ich gehe und reite. Wieder andere wollen wissen, wer mich begleitet. Ich habe dir gebeichtet. Ich bereue. Jetzt geht Gott an meiner Seite, und du bist der Priester, der den Gläubigen sagen wird, dass ich sein Krieger bin. Sein Werkzeug, das Schwert des Allmächtigen.«
Stille herrschte zwischen uns, gemessen von Herzschlägen.
»Ego te absolvo.« Pater Gomst zwang die Worte von zitternden Lippen.
Seite an Seite gingen wir über die Straße und kehrten zu den anderen zurück. Makin hatte sie Aufstellung beziehen lassen. Im Dunkeln warteten sie, mit einer einzelnen Fackel und der am Kopfkarren hängenden Laterne.
»Es wird Zeit, dass wir aufbrechen, Hauptmann Bortha«, sagte ich zu Makin. »Bis zur Pferdeküste haben wir noch einen weiten Weg vor uns.«
»Und der Priester?«, fragte er.
»Vielleicht machen wir einen kleinen Umweg an der Hohen Burg vorbei und setzen ihn dort ab.«
Meine Kopfschmerzen wurden stärker.
Möglicherweise lag es daran, dass mir ein alter Geist bis ins Mark meiner Knochen gedrungen war, aber diesmal fühlten sich meine Kopfschmerzen an, als schlüge mich jemand mit einem Stock, wie um mich anzutreiben, und darüber ärgerte ich mich immer mehr.
»Ich glaube, wir rasten in der Hohen Burg.« Ich biss die Zähne zusammen, als mir Dolche durch den Kopf stachen. »Wir übergeben den alten Gomsty hier persönlich. Mein Vater hat sich bestimmt Sorgen um mich gemacht.«
Rike und Maical gafften blöd. Der Fette Burlow und der Rote Kent wechselten einen Blick. Der Nubier rollte mit den Augen und tastete mit der einen Hand nach seinen Waffen.
Ich sah Makin an: groß, breit in den Schultern, das schwarze Haar nass vom Regen. Er ist mein Springer, dachte ich. Gomst ist mein Läufer und die Hohe Burg mein Turm. Dann dachte ich an Vater. Ich brauchte einen König. Man kann Schach nicht ohne einen König spielen. Ich dachte an Vater, und es fühlte sich gut an. Nach der Begegnung mit dem Geist war ich nachdenklich geworden. Der Geist hatte mir seine Hölle gezeigt, und ich hatte ihn ausgelacht. Aber jetzt dachte ich an Vater, und es fühlte sich gut an zu wissen, dass ich mich noch fürchten konnte.