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Vier Jahre zuvor
Der Stock traf mein Handgelenk mit einem lauten Klatschen, und meine andere Hand hielt ihn fest, als er wieder nach oben kam. Ich versuchte, ihn an mich zu bringen, aber Lundist hielt ihn fest. Trotzdem sah ich die Überraschung im Gesicht des Lehrers.
»Wie ich sehe, hast du doch aufgepasst, Prinz Jorg.«
In Wirklichkeit war ich woanders gewesen, an einem blutigen Ort, aber mein Körper hat die Angewohnheit, bei solchen Gelegenheiten für mich aufzupassen.
»Kannst du die bisherige Lektion vielleicht zusammenfassen?«, fragte er.
»Wir sind durch unsere Feinde definiert. Das gilt für Menschen und auch für ihre Länder«, lautete meine Antwort. Ich kannte das Buch, das Lundist mitgebracht hatte. Seine zentrale Aussage bestand darin, dass unsere Feinde uns formten.
»Gut.« Lundist zog seinen Stock frei und deutete zum Kartentisch. »Gelleth, Renar und die Ken-Sümpfe. Ankrath ist das Produkt seiner Umgebung; dies sind die Wölfe vor unserer Tür.«
»Mich interessiert nur Renars Hochland«, sagte ich. »Der Rest kann mir gestohlen bleiben.« Ich kippte meinen Stuhl auf die Hinterbeine. »Wenn Vater das Tor gegen Graf Renar befiehlt, ziehe ich mit den anderen los. Ich werde Renar selbst töten, wenn sie es mir erlauben.«
Lundist warf mir einen scharfen Blick zu, um festzustellen, ob ich es ernst meinte. Derartig blaue Augen bei einem alten Mann sind irgendwie falsch, aber ob falsch oder nicht, er konnte einem mit ihnen ins Herz schauen.
»Zehnjährige Jungen sollten sich besser mit Euklid und Platon beschäftigen. Wenn wir den Krieg besuchen, wird Sun Tzu uns den Weg weisen. Strategie und Taktik, die Kraft des Geistes – das sind die Werkzeuge von Prinz und König.«
Ich meinte es ernst. Ich hatte ein Verlangen in mir, eine Sehnsucht nach dem Tod des Grafen. Der Ernst in Lundists Gesicht verriet mir, dass er von der Intensität meines Verlangens wusste.
Ich sah zum hohen Fenster, durch das Sonnenschein einen Weg ins Unterrichtszimmer fand und Staub in tanzende Goldstäubchen verwandelte. »Ich werde ihn töten«, sagte ich. Und dann, um zu schockieren, fügte ich hinzu: »Vielleicht mit einem Schürhaken. So wie ich den dämlichen Inch getötet habe.« Es ärgerte mich, dass ich jemanden umgebracht hatte und mich nicht daran erinnerte, nicht einmal an den Zorn, der die Hand mit dem Schürhaken geführt hatte.
Ich wollte neue Wahrheiten von Lundist. Ich wollte von ihm wissen, was mit mir war. Er sollte mir mich selbst erklären. Mit welchen Worten auch immer, von Alt zu Jung. Aber sogar Lehrer haben ihre Grenzen.
Ich ließ den Stuhl wieder nach vorn kippen, legte die Hände auf die Karte und sah Lundist an. Ich erkannte das Mitgefühl in ihm. Ein Teil von mir wollte es entgegennehmen und ihm sagen, wie sehr ich gegen die Dornen gekämpft hatte, wie ich Zeuge von Williams’ Tod geworden war. Ein Teil von mir sehnte sich danach, alles hinzulegen, mich von der Last zu befreien, die ich trug, vom brennenden Schmerz der Erinnerung, dem ätzenden, alles zerfressenden Hass.
Lundist beugte sich über den Tisch. Das Haar fiel ihm ins Gesicht – er trug es lang in der Tradition des Orients, und es war so weiß, dass es fast silbrig wirkte. »Wir sind durch unsere Feinde definiert, aber wir können sie auch wählen. Sei ein Feind des Hasses, Jorg. Wenn dir das gelingt, kannst du ein großer Mann werden, und was noch wichtiger ist: vielleicht sogar ein zufriedener.«
Es gibt etwas Sprödes in mir, das eher bricht als sich biegt. Etwas Scharfes, das all den sanften Worten, die ich einmal gekannt habe, Schärfe verleiht. Ich glaube nicht, dass der Graf Renar mir dieses Scharfe gab, an dem Tag, als seine Männer meine Mutter umbrachten. Ich glaube, er zog das Rasiermesser nur aus seiner Scheide. Ein Teil von mir sehnte sich danach, aufzugeben und das Geschenk zu nehmen, das Lundist mir anbot.
Ich schnitt jenen Teil meiner Seele ab. Ob zum Guten oder zum Schlechten, er starb an jenem Tag.
»Wann wird das Tor marschieren?« Nichts in meiner Stimme wies daraufhin, dass ich Lundists Worte vernommen hatte.
»Das Heer des Tores wird nicht marschieren«, sagte Lundist. Seine Schultern waren krumm, von Müdigkeit oder Niederlage.
Das traf mich in der Magengrube, ein Hieb, der es irgendwie durch meine Abwehr schaffte. Ich sprang auf, und der Stuhl fiel um. »Es wird marschieren!« Wie konnte das nicht geschehen?
Lundist wandte sich der Tür zu. Von seinem Gewand kam ein trockenes Geräusch, als er sich bewegte, wie ein Seufzen. Fassungslosigkeit lähmte mich; mein Körper schien mir nicht mehr zu gehören. Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen. »Wie kann das Heer nicht marschieren?«, rief ich Lundists Rücken zu und war zornig darauf, mich wie ein Kind zu fühlen.
»Ankrath wird durch unsere Feinde definiert«, sagte der Lehrer und setzte den Weg zur Tür fort. »Das Heer des Tores muss das Heimatland schützen, und kein anderes Heer wäre imstande, den Grafen in seinen Sälen zu erreichen.«
»Eine Königin ist gestorben.« Mutters Kehle öffnete sich erneut, und ein roter Schleier senkte sich vor meine Augen. Die Dornen brannten wieder in meinem Fleisch. »Ein Prinz des Reiches, erschlagen.« Wie ein Spielzeug zerbrochen.
»Und das alles hat einen Preis.« Lundist zögerte, die eine Hand an der Tür, als müsste er sich an ihr abstützen.
»Einen Preis aus Blut und Eisen!«
»Rechte am Fluss Cathun, dreitausend Dukaten und fünf arabische Hengste.« Lundist mied meinen Blick.
»Was?«
»Flusshandel, Gold und Pferde.« Die blauen Augen sahen mich über die Schulter hinweg an. Eine alte Hand griff nach dem Türring.
Die Worte ergaben einzeln einen Sinn, aber nicht zusammen.
»Das Heer …«, begann ich.
»Es wird nicht aufbrechen.« Lundist öffnete die Tür. Der Tag strömte herein, hell und heiß, durchsetzt vom fernen Lachen spielender Knappen.
»Dann mache ich mich allein auf den Weg. Der Mann soll winselnd sterben, durch meine Hand.« Kalte Wut kroch mir über die Haut.
Ich brauchte ein Schwert, wenigstens ein gutes Messer. Ein Pferd, eine Karte … Ich nahm die, die vor mir lag, aus altem Leder und muffig, die Grenzen mit Industinte hinein tätowiert. Ich brauchte … eine Erklärung.
»Wie? Wie kann ihr Tod bezahlt werden?«
»Dein Vater hat das Bündnis mit der Pferdeküste durch Heirat geschmiedet. Die Stärke dieses Bündnisses bedrohte Graf Renar. Der Graf hat früh zugeschlagen, bevor die Verbindung zu stark wurde, in der Hoffnung, beide zu entfernen, sowohl die Ehefrau als auch die beiden Thronfolger.« Lundist trat ins Licht, und sein Haar wurde golden, zu einem Heiligenschein im leichten Wind. »Dein Vater hat nicht die Kraft, Renar zu vernichten und die Wölfe von Ankraths Türen fernzuhalten. Dein Großvater an der Pferdeküste wird das nicht akzeptieren, und somit ist das Bündnis tot und Renar sicher. Jetzt sucht der Graf Frieden, damit er sich anderen Grenzen widmen kann. Einen solchen Frieden hat ihm dein Vater verkauft.«
Ich fiel in meinem Innern, ich stürzte kopfüber in die Tiefe, in eine bodenlose Leere.
»Komm, Prinz.« Lundist streckte die Hand aus. »Gehen wir im Sonnenschein. Dies ist kein Tag fürs Lernen im Klassenzimmer.«
Ich zerknüllte die Karte in der Faust, und irgendwo in mir fand ich ein Lächeln, scharf und bitter, aber mit einer Kühle, die mich an meiner Absicht festhalten ließ. »Natürlich, verehrter Lehrer. Lass uns im Sonnenschein gehen. Einen solchen Tag darf man nicht vergeuden, o nein.«
Und hinaus in den Tag gingen wir, und all die Wärme konnte dem Eis in mir nichts anhaben.