11

 

Vier Jahre zuvor

 

Ich folgte Lundist in den Tag.

»Warte.« Er hielt mir seinen Stock an die Brust. »Es zahlt sich nie aus, blind zu gehen. Erst recht nicht in der eigenen Burg, wo Vertrautheit so viel verschleiert – selbst wenn man Augen zum Sehen hat.«

Wir blieben auf der Treppe stehen, blinzelten im Sonnenschein und nahmen die Wärme auf. Das düstere Unterrichtszimmer zu verlassen, brachte keine wirkliche Überraschung für mich. An vier von sieben Tagen hielten mich meine Studien an Lundists Seite, im Unterrichtsraum, dem Observatorium oder in der Bibliothek, aber oft verbrachten wir die Stunden auch mit der Jagd nach Wundern. Ob es im Arnheim-Saal um die Mechanik von Belagerungsmaschinen ging oder im Salzkeller um die Geheimnisse des Erbauer-Lichts, das ohne Flamme brannte – jeder Teil der Hohen Burg enthielt eine Lektion, die Lundist lehren konnte.

»Hör nur«, sagte er.

Ich kannte dieses Spiel. Lundist war der Ansicht, dass ein Mann, der beobachten kann, abseits steht. Ein solcher Mann kann Gelegenheiten erkennen, wo andere nur Hindernisse an der Oberfläche einer Situation sehen.

»Ich höre Holz auf Holz. Übungsschwerter. Die Knappen beim Spiel«, sagte ich.

»Manche würden es nicht Spiel nennen. Tiefer! Was sonst noch?«

»Ich höre den Gesang von Vögeln. Lerchen.« Dort war es, ein Geräusch wie eine Silberkette, von weit oben, so süß und leicht, dass ich es zunächst überhört hatte.

»Tiefer.«

Ich schloss die Augen. Was gab es noch? An der Innenseite meiner Lider kämpfte Grün gegen Rot. Das Klacken der Schwerter, das Schnaufen und Keuchen der Knappen, das leise Kratzen von Schuhwerk auf Stein, der Lerchengesang. Was sonst noch?

»Ein Flattern.« Am Rand des Hörvermögens. Vermutlich bildete ich es mir nur ein.

»Gut«, sagte Lundist. »Was ist es?«

»Keine Flügel. Es geht tiefer. Etwas im Wind«, sagte ich.

»Es weht kein Wind auf dem Hof«, sagte Lundist.

»Also weit oben.« Plötzlich fiel es mir ein. »Eine Fahne!«

»Welche Fahne? Sieh nicht hin. Sag es mir einfach.« Lundist drückte mit dem Stock zu.

»Nicht die Festfahne. Auch nicht die Königsfahne, denn die hängt an der Nordwand. Nicht die Farben, denn wir sind nicht im Krieg.« Nein, nicht die Farben. Jede Neugier in mir erstarb, als ich mich an Graf Renars Erwerb erinnerte. Ich überlegte: Wenn sie auch mich getötet hätten, welcher Preis wäre dann höher gewesen? Hätte mein Vater ein zusätzliches Pferd bekommen?

»Nun?«, fragte Lundist.

»Die Hinrichtungsfahne, Schwarz auf Scharlachrot«, sagte ich.

So ist es immer mit mir gewesen. Antworten kommen, wenn ich aufhöre, darüber nachzudenken, wenn ich einfach nur spreche. Der beste Plan, den ich entwickeln kann, setzt sich bei meinem Handeln in die Tat um.

»Gut.«

Ich öffnete die Augen. Das Licht tat nicht länger weh. Die Hinrichtungsfahne wehte im Westwind.

»Dein Vater hat befohlen, die Verliese zu räumen«, sagte Lundist. »Es wird ziemlich viel los sein am Saint-Crispin’s-Tag.«

Das lief auf eine Untertreibung hinaus, wusste ich. »Hängen, Köpfen, Pfählen, meine Güte!«

Ich fragte mich, ob Lundist versuchen würde, mich davon fernzuhalten. Es zuckte in meinem Mundwinkel bei der Vorstellung, dass er vielleicht glaubte, ich hätte nicht schon Schlimmeres gesehen. Bei den Massenhinrichtungen des vergangenen Jahrs hatte Mutter uns für einen Besuch bei Lord Nossar auf seinem Anwesen in Elm mitgenommen. William und ich hatten das Kastell Elm fast für uns allein. Später erfuhr ich, dass fast ganz Ankrath zur Hohen Burg gekommen war, um die große Schau zu sehen.

»Schrecken und Unterhaltung sind die Waffen des Staates, Jorg.« Lundist sprach in einem neutralen Tonfall, und sein Gesichtsausdruck blieb unergründlich, abgesehen von den zusammengepressten Lippen, die darauf hindeuteten, dass jene Worte einen schlechten Geschmack hatten. »Hinrichtungen vereinen beide Elemente.« Er sah zur Fahne. »Bevor ich auf Reisen ging und Sklave des Volkes deiner Mutter wurde, wohnte ich in Ling. Im Äußersten Osten ist Schmerz eine Kunst.

Herrscher bauen ihren Ruf und den ihres Landes auf die Extravaganz ihrer Folter. Sie wetteifern damit.«

Wir beobachteten die Knappen bei ihren Übungen. Ein großer Ritter gab Anweisungen, manchmal mit der Faust.

Einige Minuten lang blieb ich still und stellte mir vor, wie Graf Renar den Gnaden eines Foltermeisters in Ling ausgesetzt war.

Nein – ich wollte sein Blut und seinen Tod. Ich wollte, dass es für ihn mit dem Wissen zu Ende ging, warum er starb, und wer das Schwert hielt, das ihn tötete. Aber der Schmerz? Sollte er leiden, während er in der Hölle brannte.

»Erinnere mich daran, nie nach Ling zu reisen, Lehrer«, sagte ich.

Lundist lächelte und führte mich über den Hof. »Das Land ist nicht auf den Karten deines Vaters verzeichnet.«

Wir kamen nahe am Duellplatz vorbei, und ich erkannte den Ritter an seiner Rüstung, an den Platten mit den silbernen Intarsien und den eindrucksvollen Ätzmustern auf dem Brustharnisch.

»Sir Makin von Trent«, sagte ich und wandte mich ihm zu. Lundist ging einige Schritte weiter und merkte erst dann, dass ich mich nicht mehr an seiner Seite befand.

»Prinz.« Sir Makin deutete eine Verbeugung an. »Halt das Schwert höher, Cheeves!« Eine scharfe Anweisung, die einem der älteren Jungen galt.

»Nennt mich Jorg«, sagte ich. »Wie ich hörte, hat mein Vater Euch zum Hauptmann der Wache gemacht.«

»Er war mit den Diensten meines Vorgängers nicht zufrieden«, erwiderte Sir Makin. »Ich hoffe, den Ansprüchen des Königs gerecht zu werden.«

Seit dem Überfall auf unsere Kutsche hatte ich Sir Grehem nicht mehr gesehen. Ich vermutete, dass der Zwischenfall den früheren Hauptmann der Wache mehr gekostet hatte als Graf Renar.

»Wollen wir hoffen«, sagte ich.

Makin strich sich mit der Hand über sein dunkles, schweißfeuchtes Haar. Er hatte ein leicht fleischiges, ausdrucksvolles Gesicht, und etwas darin verriet innere Festigkeit.

»Wollt Ihr Euch nicht zu uns gesellen, Prinz? In der Not nützt Euch eine gute Finte mehr als noch so viel Wissen aus Büchern.« Er lächelte. »Vorausgesetzt natürlich, Ihr habt Euch gut genug von Euren Wunden erholt.«

Lundist legte mir die Hand auf die Schulter. »Der Prinz leidet noch immer an den Nachwirkungen seiner Verletzungen.« Er sah Sir Makin mit seinen zu blauen Augen an. »Vielleicht solltet Ihr Proximus’ These über die Verteidigung von Königlichen lesen. Das heißt, wenn Ihr Sir Grehems Schicksal vermeiden wollt. Ihr findet das Buch in der Bibliothek.« Er wollte mich fortziehen, aber ich blieb stehen, allein aus Prinzip.

»Ich glaube, der Prinz kann selbst entscheiden, Lehrer.« Sir Makin schenkte Lundist ein breites Lächeln. »Dein Proximus kann seinen Rat für sich behalten. Ein Ritter vertraut dem eigenen Urteil, und dem Gewicht seines Schwerts.«

Sir Makin nahm ein Holzschwert vom Karren auf der linken Seite und reichte es mir mit dem Griff voran. »Kommt, mein Prinz. Mal sehen, wie es um Eure Kampfkunst steht. Wie war’s, wenn Ihr gegen den jungen Stod hier antretet?« Er deutete auf den kleinsten Knappen, einen schmächtigen Jungen, der ein Jahr älter sein mochte als ich.

»Ich kämpfe gegen ihn.« Ich nahm das Schwert und zeigte auf den größten der Knappen, einen ungeschlachten Bengel, etwa fünfzehn und mit dichtem fuchsroten Haar.

Sir Makin wölbte eine Braue, und sein Lächeln wuchs in die Breite. »Robart? Du willst tatsächlich gegen Robart kämpfen?«

Er trat an die Seite des Jungen und fasste ihn am Nacken. »Dies hier ist Robart Hool, dritter Sohn des Hauses Arn. Von diesem traurigen Haufen ist er der Einzige, der die Chance hat, sich eines Tages seine Sporen zu verdienen. Kann gut mit der Klinge umgehen, unser Meister Hool.« Sir Makin schüttelte den Kopf. »Versucht es mit Stod.«

»Versuch es mit niemandem von ihnen, Prinz Jorg.« Es gelang Lundist nicht, den Ärger aus seiner Stimme zu verbannen. »Dies ist dumm und töricht. Du hast dich noch nicht vollständig erholt.« Er sah den immer noch lächelnden Hauptmann an. »König Olidan wird es gar nicht mögen, wenn sein einziger Erbe einen Rückfall erleidet.«

Sir Makin zog die Stirn kraus, aber ich sah, dass ihn sein Stolz zu weit getragen hatte; es gab kein Zurück für ihn. »Geh vorsichtig mit ihm um, Robart. Ganz vorsichtig.«

»Wenn dieser dämliche Rotschopf nicht sein Bestes gibt, sorge ich dafür, dass sich sein zukünftiges Rittertum darauf beschränkt, nach der Tjost den Dung fortzuschaffen«, sagte ich.

Ich näherte mich Robart und musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm hoch zu sehen. Sir Makin trat zwischen uns, mit einem Übungsschwert in der linken Hand. »Zuerst ein kurzer Test, mein Prinz. Ich muss sicher sein, dass Ihr die Grundlagen gut genug versteht, um Euch nicht selbst zu verletzen.«

Die Spitze seines Schwerts klackte gegen meine, rutschte fort und zielte auf mein Gesicht. Ich schlug sie beiseite und tat einen halben Sprung nach vorn. Der Ritter wehrte meinen Vorstoß mühelos ab. Ich versuchte es mit einem Angriff auf die Seite, aber er schlug nach meinen Beinen, und ich konnte nur im letzten Moment verhindern, dass er einen Treffer erzielte.

»Nicht schlecht, nicht schlecht.« Sir Makin neigte den Kopf. »Ihr habt recht guten Unterricht genossen.« Er schürzte die Lippen. »Ihr seid wie alt? Zwölf?«

»Zehn.« Ich beobachtete, wie er das Übungsschwert auf den Karren legte. Er war Rechtshänder.

»Na schön.« Sir Makin bedeutete den Knappen, sich um uns herum im Kreis aufzustellen. »Sehen wir uns ein Duell an. Robart, zeig dem Prinzen gegenüber keine Gnade. Er ist gut genug, um den Kampf nur mit verletztem Stolz zu verlieren.«

Robart kam auf mich zu, voller Sommersprossen und Selbstvertrauen. Der Moment schien Gestalt anzunehmen und scharf zu werden. Ich fühlte den Sonnenschein auf der Haut und den Schmutz zwischen den Sohlen meiner Schuhe und den Steinplatten.

Sir Makin hob die Hand. »Wartet auf das Zeichen.«

Ich hörte die silbernen Stimmen der Lerchen, unsichtbar am blauen Himmelszelt über uns. Ich hörte das Flattern der Hinrichtungsfahne.

»Kämpft!«, sagte Sir Makin und senkte die Hand.

Robart griff sofort an und schwang die Klinge tief. Ich ließ mein Schwert auf den Boden fallen. Robarts Hieb traf mich an der rechten Seite, dicht unter den Rippen. Es hätte mich entzwei geschnitten, wenn es ein Schwert aus Stahl gewesen wäre, aber das war es nicht. Ich erwischte ihn an der Kehle, mit meiner Handkante – eine östliche Kampfmethode, die Lundist mich gelehrt hatte. Robart ging zu Boden, als wäre eine Mauer auf ihn gefallen.

Ich beobachtete, wie er sich hin und her wand, und für einen Augenblick glaubte ich, Inch im Heilsaal zu sehen: auf Händen und Knien, mit dem Feuer überall um uns herum und dem Blut, das ihm aus dem Rücken strömte. Ich fühlte es, das Gift in meinen Adern, die Dornen in meinem Fleisch, das einfache Verlangen zu töten – das reinste Gefühl, das ich kannte.

»Nein.« Ich fand Lundists Hand an meinem Handgelenk; er hinderte mich daran, Robart zu erreichen. »Das genügt.«

Es genügt nie. Worte in meinem Kopf, gesprochen von einer Stimme, die nicht mir gehörte, einer Stimme, an die ich mich vom Dornenstrauch und dem Fieberbett erinnerte.

Eine Zeit lang beobachteten wir, wie der Junge zitternd und nach Luft ringend auf dem Boden lag. Sein Gesicht war rot angelaufen.

Das Seltsame verließ mich. Ich hob mein Schwert auf und gab es Sir Makin zurück.

»Eigentlich gehört Proximus nicht Lundist, sondern Euch, Hauptmann. Proximus war ein borthanischer Gelehrter aus dem siebten Jahrhundert. Einer unserer Ahnen. Vielleicht solltet Ihr ihn lesen. Es wäre mir alles andere als lieb, nur Robart hier – und sein Urteil – zwischen mir und meinen Feinden zu haben.«

»Aber …« Sir Makin kaute auf der Lippe. Nach dem »Aber« schien ihm nichts mehr einzufallen.

»Er hat gemogelt.« Der junge Stod fand die Worte für sie alle.

Lundist hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt. Ich drehte mich mit der Absicht um, ihm zu folgen und sah dann noch einmal zurück.

»Es ist kein Spiel, Sir Makin. Wenn Ihr diesen Jungen beibringt, Regeln zu beachten, so werden sie verlieren. Es ist kein Spiel.«

Und wenn wir einen Fehler machen, können wir uns keinen Ausweg kaufen. Weder mit Pferden noch mit Gold.

Wir erreichten das Rote Tor auf der anderen Seite des Hofes. »Der Junge könnte sterben«, sagte Lundist. »Ich weiß«, erwiderte ich. »Bring mich zu den Gefangenen, die mein Vater hinrichten will.«