12
Vier Jahre zuvor
Von der Hohen Burg liegt mehr im Boden als darüber. Eigentlich sollte man sie Tiefe Burg nennen. Es dauerte eine Weile, bis wir die Verliese erreichten. Als uns noch ein Stockwerk davon trennte, hörten wir die Schreie, durch dicken Erbauer-Stein.
»Dieser Besuch ist vielleicht keine gute Idee«, sagte Lundist und blieb vor einer eisernen Tür stehen.
»Es ist meine Idee, Lehrer«, sagte ich. »Ich dachte, du möchtest, dass ich durch Fehler lerne?«
Ein weiterer Schrei drang an unsere Ohren, kehlig und heiser, wie ein Geräusch von einem Tier.
»Dein Vater würde diesen Besuch nicht gutheißen«, sagte Lundist. Er presste die Lippen zu einer Linie zusammen und machte keinen Hehl aus seinem Missfallen.
»Dies ist das erste Mal, dass du auf die Weisheit meines Vaters zurückgreifst, um ein Problem zu lösen. Schäm dich, Lehrer Lundist.« Jetzt würde mich nichts mehr zurückhalten.
»Es gibt Dinge, die Kinder …«
»Zu spät. Das Pferd ist bereits weggelaufen und der Stall abgebrannt.« Ich schob mich an ihm vorbei und klopfte mit dem Knauf meines Dolchs an die Tür. »Aufmachen.«
Schlüssel rasselten, und die Tür schwang an geölten Angeln nach innen. Der Gestank, der uns entgegenquoll, verschlug mir den Atem. Ein warziger alter Bursche in Wärterleder beugte sich vor und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
»Klappe halten«, sagte ich und zeigte mit der Spitze des Dolchs auf seine Zunge.
Ich ging weiter, gefolgt von Lundist.
»Du hast mich immer aufgefordert, genau hinzusehen und mir eine eigene Meinung zu bilden, Lundist«, sagte ich. Dafür respektierte ich ihn. »Für Zimperlichkeiten haben wir keine Zeit.«
»Jorg …« Er war hin und her gerissen, ich hörte es in seiner Stimme, zwischen Gefühlen, die ich nicht verstand, und Logik, die ich sehr wohl verstehen konnte. »Prinz …«
Erneut ein Schrei, viel lauter diesmal. Ich hatte dieses Geräusch schon einmal gehört. Es stellte sich mir entgegen und versuchte, mich zurück zu drängen. Als ich solchen Schmerz zum ersten Mal gehört hatte, den Schmerz meiner Mutter, hatte mich etwas festgehalten. Ich sage euch, dass es die Dornen waren, die mich nicht losließen. Ich zeige euch die Narben. Aber in der Nacht, bevor die Träume kommen, flüstert eine Stimme in mir, dass es Furcht und Entsetzen waren, die mich im Dornenstrauch festhielten, in Sicherheit, während die anderen starben.
Ein weiterer Schrei, noch schrecklicher und verzweifelter als zuvor. Ich fühlte die Dornen in meinem Fleisch.
»Jorg!«
Ich schüttelte Lundists Hände von mir ab und lief in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Ich musste nicht weit laufen. Im Eingang eines großen, von Fackeln erhellten Raums mit Zellentüren auf drei Seiten verharrte ich. In der Mitte standen zwei Männer an den gegenüberliegenden Seiten eines Tisches, auf dem ein dritter Mann lag, mit Ketten gefesselt. Der größere der beiden Wärter hielt einen eisernen Schürhaken, das eine Ende in einer Pfanne mit glühenden Kohlen.
Die drei Männer bemerkten mich ebenso wenig wie die an die Gitter der Zellentüren gepressten Gesichter. Ich betrat den Raum und hörte, wie Lundist hinter mir an der gleichen Stelle stehen blieb wie zuvor ich selbst und die Szene in sich aufnahm.
Ich ging weiter, und der Wärter ohne Schürhaken sah in meine Richtung. Er zuckte wie unter einem Schlag zusammen. »Was zum …« Er schüttelte den Kopf, als traute er seinen Augen nicht. »Wer? Ich meine …«
Ich hatte mir die Folterer als schreckliche Männer mit grausamen Gesichtern vorgestellt, mit dünnen Lippen und Hakennasen, mit den Augen seelenloser Dämonen. Ihre Gewöhnlichkeit kam einem Schock für mich gleich. Der kleinere der beiden Männer wirkte ein bisschen einfältig, aber auf eine freundliche Art und Weise. Sanft und harmlos sah er aus.
»Wer bist du?« Der andere Mann mutete brutaler an, aber ich konnte ihn mir in einer Taverne vorstellen, wie er Bier trank und sang, oder wie er mit seinem Sohn Ball spielte.
Ich trug nichts von meinem höfischen Lametta, nur ein einfaches Wams für den Unterricht. Es gab keinen Anlass für die Wärter, mich als Prinzen zu erkennen. Sie würden die Gewölbe durchs Schurkentor betreten und waren wahrscheinlich nicht weit oben in der Hohen Burg gewesen.
»Ich bin Jorg«, sagte ich im Ton eines Bediensteten. »Mein Onkel hat das alte Warzengesicht an der Tür bezahlt, damit ich die Gefangenen sehen kann.« Ich deutete auf Lundist. »Morgen gehen wir zur Hinrichtung, aber ich wollte die Verbrecher vorher aus der Nähe sehen.«
Mein Blick galt jetzt nicht den Wärtern, sondern dem Mann auf dem Tisch. Nur einmal hatte ich schwarze Haut gesehen, beim Sklaven eines Adligen, der aus dem Süden gekommen war und Vaters Hof besucht hatte. Aber jener Mann war eher braun gewesen. Die Haut des Burschen auf dem Tisch hingegen war schwärzer als Tinte. Er drehte den Kopf in meine Richtung, ganz langsam, wie von Blei beschwert. Das Weiße der Augen schien in all dem Schwarz zu funkeln.
»Warzengesicht? He, das gefällt mir.« Der große Wärter entspannte sich und griff wieder nach dem Eisen. »Wenn auch zwei Dukaten für mich und Grebbin hier drin sind, kannst du bleiben und diesen Kerl schreien sehen.«
»Das scheint mir nicht richtig zu sein, Berrec.« Grebbin runzelte die Stirn. »Weil er noch so jung is un’ so.«
Berrec zog den Schürhaken aus den Kohlen und zeigte damit auf Grebbin. »Du willst nicht zwischen mir und einem Dukaten stehen, mein Freund.«
Die Brust des schwarzen Manns glänzte unter der glühenden Spitze. Das Eisen hatte scheußliche Verbrennungen auf den Rippen hinterlassen. Rotes Fleisch wölbte sich dort aus neu gepflügten Furchen. Ich nahm den Geruch von gebratenem Fleisch wahr.
»Er ist sehr schwarz«, sagte ich.
»Er ist ein Nubier, das ist er«, sagte Berrec. Er richtete einen prüfenden Blick auf den Schürhaken und steckte ihn wieder ins Feuer.
»Warum foltert ihr ihn?«, fragte ich und fühlte mich nicht wohl unter dem Blick des Nubiers.
Die Frage verwirrte die beiden Wärter. Die Falten fraßen sich tiefer in Grebbins Stirn.
»Der Teufel steckt in ihm«, antwortete Berrec schließlich. »In allen Nubiern. Sind Heiden, ohne Ausnahme. Ich habe gehört, wie Pater Gomst, der den König beim Gebet begleitet, gesagt hat, dass man die Heiden verbrennen muss.« Berrec legte die Hand auf die Magengrube des Nubiers, eine Geste, die täuschend sanft, fast zärtlich wirkte. »Wir lassen den Burschen nur ein bisschen brutzeln, bevor morgen der König kommt und zusieht, wie er getötet wird.«
»Hingerichtet.« Grebbin sprach das letzte Wort mit der Präzision von jemandem aus, der es oft geübt hat.
»Getötet, hingerichtet, wo ist der Unterschied? Sie enden alle als Würmerfraß.« Berrec spuckte in die Kohlen.
Der Nubier hielt den Blick auf mich gerichtet und musterte mich stumm. Ich fühlte etwas, für das ich keinen Namen hatte. Irgendwie kam es mir falsch vor, an diesem Ort zu sein. Ich biss die Zähne zusammen und begegnete dem Blick des schwarzen Mannes.
»Was hat er getan?«, fragte ich.
»Getan?« Grebbin schnaubte. »Er ist ein Gefangener.«
»Und sein Verbrechen?«, hakte ich nach.
Berrec zuckte die Schultern. »Hat sich schnappen lassen.«
Lundist stand noch immer in der Tür. »Ich glaube … Jorg, dass alle für die Hinrichtung vorgesehenen Gefangenen Räuber sind, die vom Heer der Grenzmark gefasst wurden. Der König befahl ihren Einsatz, um Überfällen über die Totenstraße nach Norwood und in andere Protektorate vorzubeugen.«
Mein Blick verließ den Nubier und strich über die Zeichen seiner Folterung. Wo die Haut unverbrannt geblieben war, formten Narben Symbole, die, obwohl einfach beschaffen, ins Auge sprangen. Ein schmutziger Lendenschurz hing an den Hüften. Hände und Füße waren mit eisernen Schellen gefesselt, die mit einfachen Schlossstiften gesichert zu sein schienen. Blut rann über die kurzen Ketten, die die Schellen mit dem Tisch verbanden.
»Ist er gefährlich?«, fragte ich und trat näher. Ich glaubte, das verbrannte Fleisch nicht nur zu riechen, sondern auch zu schmecken.
»Ja.« Der Nubier lächelte, als er mir diese Antwort gab, mit blutigen Zähnen.
»Halt dein heidnisches Maul, du.« Berrec riss das Eisen aus dem Feuer. Funken stoben, als er den weißglühenden Schürhaken auf Augenhöhe hob. Das Glühen stellte etwas Sonderbares mit seinem Gesicht an. Es erinnerte mich an eine stürmische Nacht, als ein Blitz die Gesichter von Graf Renars Männern erhellt hatte.
Ich wandte mich dem Nubier zu. Wenn seine Augen dem Eisen gefolgt wären, hätte ich ihn seinem Schicksal überlassen.
»Bist du gefährlich?«, fragte ich ihn.
»Ja.«
Ich zog den Stift aus der Schelle an der rechten Hand.
»Zeig es mir.«