15
Vier Jahre zuvor
Wir verließen die Hohe Burg durchs Braune Tor, eine kleine Tür am unteren Hang des Berges, jenseits der Hohen Mauer. Ich bildete den Abschluss, mit den Schmerzen all der Stufen in den Beinen.
Blasse rote Fußspuren zeigten sich auf der obersten Stufe. Der Eigentümer dieses Blutes blutete vermutlich noch immer, weit hinter uns.
Für einen Moment sah ich Lundist, wie er auf dem Boden gelegen hatte, als wir ihn verließen.
Wir waren aus den Tiefen der Burggewölbe gekommen und nahmen den am wenigsten prahlerischen Ausgang. Dungmänner beschritten diesen Weg ein Dutzend Mal am Tag und trugen die Schätze des Aborts fort. Und ich sage euch: Königliche Scheiße stinkt nicht weniger als andere.
Der Bruder vor mir drehte sich im Torbogen und zeigte mir seine Zähne mit einem Grinsen. »Frische Luft! Atme sie tief ein, Burgjunge.«
Ich hatte gehörte, wie der Nubier diesen Mann Row nannte: ein drahtiger Bursche, ganz Knorpel und Knochen, mit alten Narben und bösem Blick. »Eher lecke ich den Hals eines Leprakranken, als dass ich deinen Gestank tief einatme, Bruder Row.« Ich schob mich an ihm vorbei. Es war mehr nötig als wie ein Bruder zu sprechen, um einen Platz unter diesen Männern zu gewinnen, und auch nur ein bisschen nachzugeben war nicht der richtige Anfang.
Ankrath erstreckte sich rechts von uns. Links stiegen der Rauch und die Türme von Crath City hinter der Alten Mauer auf. Gewitterlicht fiel auf beides herab. Jene Art von Licht, die herrscht, wenn sich Gewitterwolken am Tag zusammenballen. Ein fahles Licht, das selbst eine sehr vertraute Landschaft vollkommen fremd erscheinen lässt. Es erschien mir angemessen.
»Wir reisen schnell und hart«, sagte Price.
Price und Rike, die einzigen wahren Brüder unter uns, standen ganz vorn, Schulter an Schulter. Rike runzelte die Stirn, während Price darauf hinwies, was uns erwartete. »Wir bringen so viele Meilen wie möglich zwischen uns und dieses Scheißloch. Das Gewitter wird unsere Spuren verwischen. Unterwegs besorgen wir uns Pferde und überfallen das eine oder andere Dorf, wenn es nötig ist.«
»Glaubst du, die Jäger des Königs sind nicht in der Lage, zwei Dutzend Männer durch ein bisschen Regen zu verfolgen?« Ich wünschte, meine Stimme hätte nicht so hoch und rein geklungen, als ich dies sagte.
Sie drehten sich alle zu mir um. Der Nubier warf mir einen Blick zu, die Augen groß, und machte eine Geste, die mich aufforderte, still zu sein.
Ich deutete zu den vielen Dächern in Richtung Fluss, wo Vaters liebevolle Untertanen ihre Häuser außerhalb der Sicherheit versprechenden Stadtmauern gebaut hatten, um ihm nahe zu sein.
»Einzeln oder zu zweit könnten die Brüder zu einem warmen Herd, einem Stück Braten und vielleicht auch zu einem Bier finden«, sagte ich. »Wie ich hörte, gibt es dort unten die eine oder andere Taverne. Ein Bruder könnte an einem Feuer sitzen und trinken, noch bevor der Regen dazu kommt, seine Spuren wegzuwaschen.
Das Königs Männer würden mit ihren guten Pferden hin und her reiten und nass werden, während sie nach den Spuren suchen, die zwanzig Männer auf einem Feld hinterlassen. Sie würden nach der Art von Aufruhr Ausschau halten, die eine Gruppe von Brüdern verursacht. Und zur gleichen Zeit sitzen wir bequem im Schatten der Hohen Burg und warten darauf, dass das Wetter besser wird.
Glaubt ihr, dass wir jemanden zurückgelassen haben, der den Ausrufern sagen kann, wie wir aussehen? Glaubt ihr, die Bürger von Crath City bemerken zwanzig mehr, die sich ihren Tausenden hinzugesellen?«
Ich sah, dass ich sie überzeugt hatte. Ich sah, wie sich der Schein wärmender Kaminfeuer in ihren Augen widerspiegelte.
»Und wie zum Teufel sollen wir für Braten und ein Dach bezahlen, unter dem wir uns verstecken können?« Price schob sich durch die Gruppe und setzte den Rotschopf namens Gemt auf seinen Hintern. »Sollen wir im Schatten der Hohen Burg stehlen und rauben?«
»Ja, wie soll’n wir bezahlen, Burgjunge?« Gemt kam wieder auf die Beine und fand für seinen Zorn ein lohnenderes Ziel in mir als in Price. »Wie soll’n wir bezahlen?«
Ich nahm zwei Dukaten aus meiner Geldbörse und rieb sie aneinander.
»Das nehme ich!« Ein durchtrieben wirkender Mann wollte sich meinen immer noch gut gefüllten Geldbeutel schnappen.
Ich zog den Dolch von meinem Gürtel und stieß ihn durch die ausgestreckte Hand.
»Lügner«, sagte ich und drückte noch etwas mehr, bis das Heft die Innenfläche der Hand berührte. Die Klinge auf der anderen Seite glänzte rot.
»Aus dem Weg, Lügner.« Price packte ihn am Genick und warf ihn den Hang hinunter.
Price ragte vor mir auf. Jeder erwachsene Mann ragte vor mir auf, aber Price fügte dem Aufragen eine ganz neue Dimension hinzu. Er nahm eine Handvoll meiner Jacke und hob mich hoch, bis ich mich auf einer Höhe mit seinen Augen befand. Der blutigen Klinge, die ich noch immer in der Hand hielt, schenkte er keine Beachtung.
»Hast du keine Angst vor mir, Junge?« Sein Gestank war schrecklich. Er kam dem eines toten Hunds sehr nahe.
Ich dachte daran, vom Dolch Gebrauch zu machen, aber was für eine Wunde ich ihm auch zufügte: Sie würde nicht verhindern können, dass er mich entzwei riss, bevor er starb.
»Hast du Angst vor mir?«, fragte ich.
Wir hatten einen Moment des Verstehens. Price ließ sich nichts anmerken, aber ich sah es in ihm, und er sah es in mir. Er ließ mich fallen.
»Wir verbringen den Tag in der Stadt«, sagte Price. »Die Getränke gehen auf Bruder Jorg. Wer von euch Ärger macht, bevor wir aufbrechen, der erlebt sein blaues Wunder von mir.«
Er streckte die Hand dorthin aus, wo ich lag. Ich machte Anstalten, sie zu ergreifen, bevor ich verstand. Daraufhin warf ich ihm den Geldbeutel zu.
»Ich gehe mit dem Nubier«, sagte ich.
Price nickte. Man würde sich an ein schwarzes Gesicht erinnern, das im Verlies fehlte. Und ein schwarzes Gesicht in einer Taverne von Crath würde Aufsehen erregen.
Der Nubier zuckte die Schultern und stapfte los, nach Osten, in Richtung der offenen Felder und Wiesen. Ich folgte ihm.
Der große schwarze Mann sprach erst, als wir uns tief im Innern des Labyrinths aus Wegen und Hecken befanden.
»Du solltest vor Price Angst haben, Junge.«
Die ersten Windstöße des heranziehenden Gewitters ließen den Weißdorn zu beiden Seiten rascheln. Ich roch die Nähe der Blitze, vermischt mit dem Geruch der Erde.
»Warum?« Ich fragte mich, ob der Nubier glaubte, dass mir die für Furcht und Angst nötige Fantasie fehlte. Manche Menschen sind zu dumm, um sich vorzustellen, was passieren könnte. Andere quälen sich mit Möglichkeiten und träumen von Schrecken, die noch furchtbarer sind als das, was ihnen der schlimmste Feind antun könnte.
»Warum sollten die Götter auf ein Kind aufpassen, das nicht auf sich selbst aufpasst?«, fragte der Nubier.
Er verharrte vor einer Weggabelung und trat näher zur Hecke. Der Wind schüttelte sie, und weiße Blütenblätter fielen zwischen die Dornen. Der Nubier sah in die Richtung, aus der wir kamen.
»Vielleicht fürchte ich auch die Götter nicht«, sagte ich.
Dicke Tropfen fielen auf uns.
Der Nubier schüttelte den Kopf. Regentropfen glänzten in seinen dichten Locken. »Du bist dumm, den Göttern die Faust zu zeigen, Junge.« Er lächelte und trat zur Ecke. »Wer weiß, was sie dir schicken.«
Offenbar war Regen die Antwort. Er schien schneller zu fallen als sonst, als ob das Gewicht des Wassers die Tropfen dem Erdboden entgegen drückte. Ich duckte mich neben den Nubier. Die Hecke bot keinen Schutz. Der Regen durchdrang meine Kleidung und war kalt genug, mir den Atem zu rauben. Ich dachte an all die Bequemlichkeiten, die ich zurückgelassen hatte, und fragte mich, ob es nicht besser gewesen wäre, Lundists Rat zu beherzigen.
»Warum warten wir?« Ich musste die Stimme heben, um mich im Prasseln des Regens verständlich zu machen.
Der Nubier zuckte die Schultern. »Die Straße fühlt sich falsch an.«
»Sie scheint mehr ein Fluss zu sein. Aber warum warten wir?«
Erneut hob und senkte er die Schultern. »Vielleicht brauche ich eine Rast.« Der Nubier tastete nach seinen Verbrennungen, verzog das Gesicht und zeigte mir die Zähne. Sie waren sehr weiß, im Gegensatz zu den Zähnen der anderen Brüder, die größtenteils aus grauschwarzer Fäulnis bestanden.
Fünf Minuten vergingen, und ich rührte mich nicht von der Stelle. Wir hätten nicht nasser werden können, wenn wir in einen Brunnen gefallen wären.
»Wie hat man dich geschnappt?«, fragte ich, und meine Gedanken gingen zu Price und Rike. Die Vorstellung, dass sie sich der Wache des Königs ergeben hatten, erschien mir fast komisch.
Der Nubier schüttelte den Kopf.
»Wie?«, fragte ich erneut, und diesmal etwas lauter.
Der Nubier sah über den Weg zurück und beugte sich zu mir herab. »Ein Traumhexer.«
»Ein Hexer?« Ich schnitt eine Grimasse und spuckte zur Seite.
»Hin Traumhexer.« Der Nubier nickte. »Der Hexer kam zu uns, als wir schliefen, und hielt uns fest, während die Männer ‹des Königs uns gefangen nahmen.«
»Warum?«, fragte ich. Selbst wenn ich das mit dem Hexer ernst genommen hätte, und das tat ich nicht: Ich war ganz sicher, dass sich kein Traumhexer in den Diensten meines Vaters befand.
»Ich glaube, er versuchte, dem König zu gefallen«, sagte der Nubier.
Plötzlich setzte er sich in Bewegung und stapfte durch den Schlamm. Ich folgte ihm und schwieg. Ich hatte Kinder gesehen, die Erwachsenen hinterher trotteten und immer wieder Fragen nach ihnen warfen, doch ich hatte meine Kindheit beiseite geschoben. Meine Fragen konnten warten, zumindest bis der Regen aufhörte.
Fast eine Stunde lang platschten wir ziemlich zügig durch Schlamm, bevor der Nubier schließlich innehielt. Aus dem Wolkenbruch war ein leichter, beständiger Regen geworden, der versprach, die ganze Nacht bis weit in den nächsten Morgen zu dauern. Diesmal duckten wir uns genau zur richtigen Zeit in die Hecke am Wegesrand, denn zehn Reiter kamen vorbei. Die Hufe ihrer Pferde ließen den Schlamm spritzen.
»Dein König will uns wieder in seinem Verlies haben, Jorg.«
»Er ist nicht mehr mein König«, sagte ich und wollte aufstehen, doch der Nubier hielt mich an der Schulter fest.
»Du hast ein sorgloses Leben in der Burg des Königs zurückgelassen, und jetzt versteckst du dich im Regen.« Er behielt mich im Auge, und seine Augen konnten viel erkennen. Das gefiel mir nicht. »Dein Onkel hat sich geopfert, damit du in Sicherheit bleibst. Ich glaube, er war ein guter Mann. Alt, stark und klug. Aber du bist mitgekommen.« Er schüttelte Dreck von seiner freien Hand. Stille senkte sich zwischen uns herab, von der Art, die man mit Beichte füllen möchte.
»Es gibt einen Mann, den ich tot will.«
Der Nubier runzelte die Stirn. »So sollten Kinder nicht denken.« Der Regen rann durch die Furchen in seiner Stirn. »Und auch Männer nicht.«
Ich löste mich aus seinem Griff und marschierte weiter. Der Nubier blieb an meiner Seite, und wir legten noch einmal zehn Meilen zurück, bevor das letzte Licht schwand.
Wir kamen an Bauernhäusern und der einen oder anderen Mühle vorbei, doch als die Nacht begann, sahen wir eine Lichtergruppe unter einem bewaldeten Höhenrücken südlich von uns. Ich erinnerte mich an Lundists Karten und vermutete, dass es sich um das Dorf Pineacre handelte, das bisher nur ein kleiner grüner Fleck auf altem Pergament für mich gewesen war.
»Ein bisschen trockenes Holz wäre nicht schlecht.« Ich roch den Rauch brennender Scheite. Plötzlich begriff ich, warum sich die Brüder so schnell davon hatten überzeugen lassen, dass Kraft in Wärme und Essen lag.
»Wir sollten die Nacht dort oben verbringen.« Der Nubier deutete zum Höhenrücken.
Der Regen fiel jetzt leicht und langsam. Er hüllte uns in eine kalte Decke, die meine Glieder schwer werden ließ. Ich verfluchte die Schwäche. Ein Tag auf der Straße, und schon war ich erschöpft.
»Wir könnten uns in eine Scheune schleichen«, sagte ich. Zwei standen abgelegen, dicht bei der Baumgrenze.
Der Nubier setzte zu einem Kopfschütteln an, als im Osten Donner grollte und mehr Regen in Aussicht stellte. Daraufhin zuckte er die Schultern. »Das könnten wir.« Die Götter liebten mich!
Wir setzten den Weg über Felder fort, die sich fast in Sümpfe verwandelt hatten. Immer wieder stolperten wir in der Dunkelheit, und ich konnte mich vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen halten.
Das Scheunentor ächzte protestierend und schwang dann mit einem Quietschen auf, als sich der Nubier dagegen stemmte. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund, aber ich bezweifelte, dass sich ein Bauer dem Regen aussetzen würde, nur weil er der Meinung eines Hunds vertraute. Wir wankten hinein und sanken ins Heu. Mein Körper fühlte sich schwer wie Blei an, und fast hätte ich vor Erschöpfung geschluchzt.
»Fürchtest du nicht, der Traumhexer könnte zu dir zurückkehren?«, fragte ich. »Er dürfte kaum begeistert davon sein, dass sein Geschenk für den König entkommen ist.« Ich gähnte herzhaft.
Hexer, dachte ich. Was die Hexerei betraf, hatte ich immer an Frauen gedacht, an Hexen. Ich hatte mir vorgestellt, wie sie sich in einem dunklen Zimmer versteckten, von dessen Existenz ich nichts ahnte. In einem Zimmer, dessen Tür sich in einen Flur öffnete, durch den ich gehen musste. Ich stellte mir vor, wie ich an dem Eingang vorbeikam, wie es mir dabei kalt den Rücken hinunterlief und unsichtbare Würmer über meine Arme zu kriechen schienen. Ich stellte mir vor, wie ich sie in der Dunkelheit sah, halb verborgen in den Schatten, ihre bleichen Hände wie Spinnen, die aus schwarzen Ärmeln krochen. Als ich zu fliehen versuchte, hielt mich etwas fest. Es fühlte sich an, als steckten meine Beine tief in Schlick. Ich gab mir alle Mühe, mich daraus zu befreien, und wollte schreien, würgte aber nur Stille. Wie eine Fliege im Spinnennetz war ich, und die Hexe kam näher, langsam und ohne dass etwas sie aufhalten konnte. Immer mehr von ihrem Gesicht geriet ins Licht, ich sah die Augen … und erwachte mit einem Schrei.
So stellte ich es mir vor.
»Hast du keine Angst, dass er dich noch einmal heimsuchen könnte?«, fragte ich.
Es donnerte plötzlich, so laut, dass die Scheune erzitterte.
»Er muss nahe sein«, antwortete der Nubier. »Er muss wissen, wo ich mich befinde.«
Ich ließ den Atem entweichen, von dem ich erst jetzt merkte, dass ich ihn angehalten hatte.
»Er wird stattdessen seinen Jäger auf uns ansetzen«, sagte der Nubier. Ich hörte ein Rascheln, als er Heu auf sich legte.
»Wie schade«, erwiderte ich. Es war lange her, seit ich zum letzten Mal von meiner Traumhexe geträumt hatte. Eigentlich gefiel mir die Vorstellung, dass sie uns hierher folgte, zu dieser Scheune, während eines Gewitters. Ich legte mich ins weiche Heu. »Ich werde versuchen, heute Nacht eine Traumhexe zu fangen, oder einen Traumhexer, was auch immer. Und wenn es mir gelingt, laufe ich nicht weg. Ich werde mich umdrehen und der Hexe – oder dem Hexer – den Bauch aufschlitzen.«