17
Die alten Flure umfingen mich, und vier Jahre wurden zu einem Traum. Vertraute Kurven, dieselben Vasen, dieselben Rüstungen, dieselben Gemälde an den Wänden, sogar dieselben Wachen. Vier Jahre, und alles war genau wie vorher. Bis auf mich.
In den Nischen verbrannten kleine Silberlampen Öl aus Walen in fernen Meeren. Ich wanderte von einem Lichtkreis zum nächsten, hinter einem Wächter, dessen Rüstung meine eigene schäbig wirken ließ. Makin und Gomst waren zu anderen Orten geführt worden, und ich ging allein dem Empfang entgegen, der mich erwartete, wie auch immer er beschaffen sein mochte. Der Burg gelang es noch immer, mir das Gefühl zu geben, klein zu sein. Die Türen waren wie für Riesen bestimmt und die Decken so hoch, dass ein Mann mit einer Lanze sie kaum berühren konnte. Würde mich Vater hier empfangen? Von Mann zu Mann, im Arboretum? Die Seelen entblößt unter der Kuppel des Planetariums? Ich hatte mir vorgestellt, wie er in der schwarzen Klaue seines Throns saß und über den Hof brütete, während mich zwei Kaiserliche Wachen zu ihm führten.
Ich folgte dem einen Wächter und fühlte vage Enttäuschung. Wollte ich von Bewaffneten umgeben sein? War ich so gefährlich geworden? Um in Ketten gelegt zu werden? Wollte ich, dass Vater mich fürchtete? Vierzehn Jahre alt, und der König von Ankrath zitterte hinter seinem Leibwächter?
Für einen Moment kam ich mir wie ein Narr vor. Ich strich mit der Hand über das Heft meines Schwerts. Die Klinge bestand aus dem Metall, das in den Mauern der Burg steckte. Ein echtes Erbstück, mit einer Herkunft, die mindestens tausend Jahre tiefer in die Vergangenheit reichte als meine. Ich fieberte einer Konfrontation entgegen. Stimmen ertönten in meinem Hinterkopf, rangen miteinander und versuchten, sich gegenseitig zu übertönen. Ein Prickeln erfasste meinen Nacken, und die Muskeln sehnten sich nach Aktion.
»Ein Bad, Prinz Jorg?«
Die Frage stammte von dem Wächter. Fast hätte ich das Schwert gegen ihn gezogen.
»Nein«, sagte ich und zwang mich zur Ruhe. »Ich will sofort zum König.«
»König Olidan hat sich zurückgezogen, Prinz«, sagte der Wächter. Erlaubte er sich ein Grienen? In seinen Augen sah ich eine Intelligenz, die ich nicht mit der Palastwache in Verbindung brachte.
»Er schläft?« Ich hätte ein oder zwei Jahre meines Lebens dafür gegeben, die Überraschung aus diesen Worten zu nehmen. Ich fühlte mich, wie sich Hauptmann Coddin gefühlt haben musste: Zielscheibe eines Spotts, den ich noch nicht ganz verstand.
»Sageous erwartet Euch in der Bibliothek, mein Prinz«, sagte der Mann. Er wandte sich zum Gehen, aber ich hatte ihn an der Kehle.
Mein Vater hatte sich zurückgezogen und schlief? Sie spielten mit mir, der König und sein Magier.
»Dieses Spiel«, sagte ich. »Es mag für jemanden amüsant sein, aber wenn du mich noch einmal … ärgerst, werde ich dich töten. Denk daran. Du bist eine Figur im Spiel eines anderen, und es wird dir nur eine Schwertklinge in den Bauch einbringen, wenn du dich nicht innerhalb von zwanzig Sekunden eines Besseren besinnst.«
Es kam einer Niederlage gleich, in einem Spiel von Spitzfindigkeit und Raffinesse zum Mittel grober Gewalt zu greifen, aber manchmal muss man eine Schlacht opfern, um den Krieg zu gewinnen.
»Prinz, ich … Sageous wartet auf Euch …« Ich sah deutlich, dass es mir gelungen war, seine selbstgerechte Überlegenheit in Entsetzen zu verwandeln. Was ich zum Anlass nahm, aus den Spielregeln zu treten. Meine Hand schloss sich noch etwas fester um die Kehle. »Warum soll ich mit diesem … Sageous sprechen? Was bedeutet er mir?«
»Er … er genießt die Gunst des Königs. B-bitte, Prinz Jorg …«
Er quetschte die Worte an meinen Fingern vorbei. Man braucht nicht viel Kraft, um einen Mann zu erdrosseln, wenn man weiß, wo es zuzudrücken gilt.
Ich ließ ihn los, und er schnappte nach Luft. »In der Bibliothek, sagst du? Wie heißt du, Mann?«
»Ja, mein Prinz, in der Bibliothek.« Er rieb sich den Hals. »Robart. Ich heiße Robart Hool.«
Ich schritt durch den Saal der Speere und hielt auf die mit Leder gepolsterte Tür der Bibliothek zu. Davor blieb ich stehen und drehte mich zu Robart um. »Es gibt Wendepunkte, Robart. Gabelungen im Weg, den wir durch unser Leben beschreiten. Gelegenheiten, bei denen wir zurückblicken und sagen: ›Wenn doch nur.‹ Dies ist eine solche Gelegenheit. Es geschieht nicht oft, dass jemand auf sie hinweist. An dieser Stelle beschließt du entweder, mich zu hassen oder mir zu dienen. Überlege sorgfältig, bevor du deine Entscheidung triffst.« Ich riss die Tür zur Bibliothek auf. Sie schlug an die Flurwand, und ich trat hindurch.
In meiner Erinnerung reichten die Wände der Bibliothek bis in den Himmel, und sie waren voller Bücher, schwanger mit geschriebenen Worten. Ich hatte schon mit drei lesen gelernt. Im Alter von sieben Jahren sprach ich mit Sokrates und lernte Form und Ding von Aristoteles. Ich hatte lange Zeit in dieser Bibliothek gelebt. Doch die Realität sah anders aus als meine Erinnerung. Jetzt wirkte die Bibliothek klein, klein und verstaubt.
»Ich habe mehr Bücher als diese hier verbrannt!«, sagte ich.
Sageous kam aus einem der alten Philosophie gewidmeten Gang. Er war jünger als erwartet, höchstens vierzig, und trug nur weißes Tuch, wie die römische Toga. Seine Haut hatte den dunklen Ton der Mittländer, vielleicht Indus oder Persien, aber ich sah sie nur an den wenigen von der Tätowierungsnadel unberührten Stellen. Sageous trug den Text eines kleinen Buches auf seiner lebenden Haut, in der fließenden Schrift der Mathmagier. Seine Augen … Nun, ich weiß, dass wir uns unter dem Blick mächtiger Männer ducken sollen, aber Sageous’ Augen blickten sanft. Sie waren braun und ruhig, erinnerten mich an die Kühe auf der Burgstraße. Das Beunruhigende war die Tiefe, in die dieser Blick reichte. Irgendwie schien er sich durch meine äußere Schale zu graben, vielleicht mit Hilfe der Schrift unter den Augen. Ich kann nur sagen: Für einige lange Sekunden sah ich nichts als die Augen des Heiden, hörte nur seinen Atem und stand, ohne einen Muskel zu rühren, bis auf den meines Herzens.
Er ließ mich los, wie einen Fisch, den man zurück ins Wasser wirft, weil er für den Topf zu klein ist. Von Angesicht zu Angesicht standen wir uns gegenüber, nur wenige Zoll voneinander entfernt, ohne dass ich mich daran erinnerte, so nahe an ihn herangetreten zu sein. Aber ich war zu ihm gekommen, und wir standen inmitten der Bücher. Die klugen Worte von zehntausend Jahren umgaben uns. Platon zu meiner Linken, kopiert, kopiert und nochmals kopiert. Die »Moderne« zu meiner Rechten: Russel, Popper, Xiang und die anderen. Eine leise Stimme in mir, ganz tief in mir, rief nach Blut. Aber der Heide hatte mir das Feuer genommen.
»Offenbar verlässt sich mein Vater auf dich, Sageous«, sagte ich. Meine Finger zuckten und verlangten nach dem Schwert. »Ein Heide am Hof dürfte den Priestern ein Dorn im Auge sein. Wenn der Papst es heutzutage wagen würde, Rom zu verlassen … Er käme hierher, um deine Seele zu ewigem Höllenfeuer zu verdammen!« Ich hatte nichts anderes als das Dogma, um ihn zu schlagen.
Sageous lächelte. Es war ein freundliches Lächeln, als hätte ich gerade eine Besorgung für ihn getan. »Willkommen zu Hause, Prinz Jorg.« Er sprach ohne richtigen Akzent, doch seine Worte waren fließend und melodisch, wie bei einem Sarazenen oder Mauren.
Er war nicht größer als ich – wahrscheinlich überragte ich ihn um einen Zoll. Außerdem war er dünn. Ich hätte ihn packen, zu Boden werfen und das Leben aus ihm herauswürgen können. Ein mörderischer Gedanke nach dem anderen kam nach oben und verschwand wieder.
»Du hast viel von deinem Vater in dir«, sagte Sageous.
»Hast du auch ihn gezähmt?«, fragte ich.
»Man zähmt keinen Mann wie Olidan Ankrath.« Das freundliche Lächeln gewann etwas Amüsiertes. Ich hätte den Witz gern verstanden. Sageous konnte mit mir fertigwerden, aber nicht mit meinem Vater? Oder war er zwar imstande, den König zu manipulieren, zog es aber vor, mit einem Grinsen darüber hinwegzugehen?
Ich stellte mir den tätowierten Kopf des Heiden von den Schultern geschnitten vor, das Lächeln erstarrt, und Blut, das aus dem Halsstumpf floss. In dem Augenblick ergriff ich das Schwert und steckte meine ganze Willenskraft hinter diese Bewegung. Der Knauf fühlte sich kalt an. Ich wölbte die Finger ums Heft, aber bevor ich richtig zufassen konnte, sackte meine Hand wie etwas Totes nach unten.
Sageous wölbte eine Braue – seine Brauen waren haarlos wie der Kopf und ebenfalls tätowiert. Er wich einen Schritt zurück.
»Du bist ein interessanter junger Mann, Prinz Jorg.« Das Sanfte verschwand aus seinen Augen, und der Blick wurde hart und scharf. »Wir müssen herausfinden, was dich antreibt, nicht wahr? Ich lasse dich von Robart zu deinem Zimmer führen; du musst müde sein.« Während er sprach, folgten die Finger der rechten Hand den Worten auf dem linken Arm, glitten über ein Symbol, sprangen weiter nach oben zu einer schwarzen Mondsichel, unterstrichen einen Satz und unterstrichen ihn dann noch einmal. Ich war tatsächlich müde. Ich fühlte Blei in allen Gliedmaßen, eine Schwere, die mich zu Boden zog.
»Robart!«, rief Sageous durch den Flur.
Dann wandte er sich wieder an mich, erneut mit sanftem Blick. »Bestimmt hast du Träume, Prinz, nachdem du so lange fort gewesen bist.« Seine Finger strichen über neue Zeilen, die linke Hand am rechten Arm. Sie folgten den Konturen von Worten am Handgelenk, schwärzer als die Nacht. »Träume sagen einem Mann, wer er ist.«
Ich strengte mich an, die Augen offen zu halten. An Sageous’ Hals, unmittelbar links von seinem Adamsapfel und inmitten all der dicht an dicht gedrängten Schriftzeichen, bemerkte ich einen Buchstaben größer als die anderen, so verschnörkelt, dass er wie eine Blume wirkte.
Berühr die Blume, dachte ich. Berühr die hübsche Blume. Und wie durch Magie bewegte sich meine verräterische Hand. Meine Finger an seinem Hals, das überraschte ihn. Ich hörte, wie sich die Tür hinter mir öffnete.
Er ist dünn, dachte ich. So dünn. Ich fragte mich, ob ich die Hand um seinen Hals schließen konnte. Nicht die Andeutung von Gewalt ließ ich zu, nur Neugier. Und dort war sie: meine Hand um seinen Hals. Ich hörte, wie Robart nach Luft schnappte. Sageous stand erstarrt, mit halb offenem Mund, wie fassungslos.
Ich konnte mich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten und musste mich zwingen, nicht zu gähnen. Aber ich sah Sageous in die Augen und gab ihm zu verstehen, dass die Hand an seinem Hals eine Drohung war und nicht nur verhindern sollte, dass ich zu Boden sank.
»Meine Träume gehören mir, Heide«, sagte ich. »Bete, dass du nicht Teil von ihnen wirst.«
Ich drehte mich um, bevor ich fiel, und ging an Robart vorbei. Im Saal der Speere schloss er zu mir auf.
»Ich habe nie gesehen, wie jemand Sageous angefasst hat, mein Prinz.«
Mein Prinz. Das klang besser. Es lag Bewunderung in seiner Stimme, vielleicht echt, vielleicht nicht. Ich war zu müde, um mich dafür zu interessieren.
»Er ist ein gefährlicher Mann, seine Feinde sterben in ihrem Schlaf. Oder sie zerbrechen innerlich. Lord Tale verließ den Hof vor zwei Tagen, nachdem er sich im Beisein Eures Vaters mit dem Heiden gestritten hatte. Es heißt, dass er jetzt nicht mehr allein essen kann und jeden Abend ein altes Kinderlied singt.«
Ich erreichte die Westtreppe, und Robart schwatzte neben mir. Plötzlich unterbrach er sich. »Zu Eurem Gemach geht es durch den Roten Flur.« Er blieb stehen und sah auf seine Stiefel hinab. »Die Prinzessin hat Euer früheres Zimmer.«
Prinzessin? Und wenn schon. Morgen, morgen konnte ich mehr herausfinden. Ich ließ mich von Robart zu meinem Gemach führen, zu einem der Gästezimmer des Roten Flurs. Es war groß genug, so manche der Tavernen aufzunehmen, in denen ich übernachtet hatte, aber es lief trotzdem auf eine vorbedachte Beleidigung hinaus. Ein Zimmer für einen Landbaron oder einen fernen Cousin, der aus einem der Protektorate zu Besuch kam.
Ich verharrte an der Tür und schwankte vor Erschöpfung. Sageous’ Zauber grub sich tiefer, und die Kraft floss aus mir wie Blut aus einer aufgeschnittenen Ader.
»Ich habe dir gesagt, dass du eine Entscheidung treffen musst, Robart«, sagte ich und zwang die Worte eins nach dem anderen aus dem Mund. »Hol Makin Bortha hierher. Lass ihn heute Nacht diese Tür bewachen. Triff deine Entscheidung.«
Ich wartete die Antwort nicht ab. Wenn ich das getan hätte, wäre Robart gezwungen gewesen, mich zum Bett zu tragen. Ich taumelte ins Zimmer, lehnte mich drinnen an die Tür und drückte sie dadurch zu. Dann sank ich zu Boden, und es fühlte sich an, als sänke ich tiefer und immer tiefer, in einen endlosen Schacht.