18
Ich erwachte mit dem Ruck, den man bekommt, wenn jeder Muskel merkt, dass er im Dienst eingenickt ist. Unmittelbar darauf kam der Schock darüber, wie tief ich geschlafen hatte. Auf der Straße schläft man so nicht, wenn man wieder aufwachen will. Für einen Moment gab die Dunkelheit nichts preis, das mir über die Verwirrung hinweg helfen konnte. Ich tastete nach meinem Schwert und fand nur weiche Laken. Die Hohe Burg! Plötzlich fiel es mir wieder ein. Ich erinnerte mich an den Heiden und seinen Zauber.
Ich rollte nach rechts, denn meine Ausrüstung lag immer auf der rechten Seite. Aber diesmal gab es dort nur mehr Matratze, weich und tief. Die Augen zeigten mir so wenig, dass ich genauso gut hätte blind sein können. Vermutlich waren die Fensterläden geschlossen, denn nicht das kleinste bisschen Sternenlicht erreichte mich. Es war auch still. Ich streckte die Hand nach der Bettkante aus und fand sie nicht. Ein breites Bett, dachte ich und versuchte, meiner Situation etwas Komisches abzugewinnen.
Ich ließ die Luft entweichen, die ich angehalten hatte, und fragte mich, von was ich so plötzlich aus dem Schlaf gerissen worden war. Was hatte mich in einem so komfortablen Bett vom Zauber des Heiden befreit? Ich zog die Hand zurück und krümmte die Beine. Jemand hatte mich zu Bett gebracht und meine Kleidung genommen. Nicht Makin; er würde mich nicht nackt der Nacht überlassen. Ich nahm mir vor, ein Wörtchen mit diesem Jemand zu reden. Aber es konnte bis zum Morgen warten – ich wollte schlafen, den Tag kommen lassen.
Aber der Schlaf hatte mich hinausgeworfen und wollte mich nicht zurück haben. Und so lag ich da, nackt in einem fremden Bett, und fragte mich, wo mein Schwert war.
Zuerst war das Geräusch so leise, dass ich glauben konnte, es mir eingebildet zu haben. Ich starrte in die Dunkelheit, und meine Ohren saugten die Stille auf. Das Geräusch wiederholte sich, leise wie das Flüstern von Haut auf Stein. Es war der Geist eines Geräuschs, der Hauch eines Atemzugs. Oder vielleicht nur der nächtliche Wind, der einen Weg durch die geschlossenen Fensterläden fand.
Eis kroch mir über den Rücken und prickelte auf den Schultern. Ich setzte mich auf und widerstand dem Drängen, etwas zu sagen, den in der Finsternis verborgenen Schrecken Tapferkeit zu zeigen. Ich bin nicht mehr sechs Jahre alt, sagte ich mir. Ich habe Geister in die Flucht geschlagen. Ich strich die Laken beiseite und stand auf. Wenn vom Heiden geschaffenes Entsetzen in der Dunkelheit lauerte, boten die Laken keinen Schutz. Mit nach vorn gestreckten Händen ging ich los und fand die erste Kante des Bettes und dann eine Wand. Ich drehte mich und folgte ihrem Verlauf, strich mit den Fingern dabei übers Mauerwerk. Etwas fiel und zerbrach mit einem lauten Krachen. Ich stieß mit den Schienbeinen gegen unsichtbare Hindernisse, bekam die Ecke eines Möbelstücks an einer besonders empfindlichen Stelle zu spüren und fand schließlich die Leisten eines Fensterladens.
Ich tastete am Verschluss, der mir jedoch hartnäckigen Widerstand leistete, als seien meine Finger von Kälte halb betäubt. Ich bekam eine Gänsehaut und hörte Schritte, die sich näherten. Mit ganzer Kraft zerrte ich an den Fensterläden. Jede meiner Bewegungen erschien mir langsam und schwach, als steckte ich in Schlick, wie in den Träumen, in denen man von einer Hexe verfolgt wird und nicht laufen kann.
Von einem Augenblick zum anderen gaben die Fensterläden nach. Sie klappten nach innen, und ich stellte fest, dass ich hoch über dem Hinrichtungshof stand, in Mondschein getaucht. Ich drehte mich um. Langsam, zu langsam. Und fand nichts. Nur einen Raum voller Silber und Schatten.
Das Fenster warf den Mondschein an die Wand zu meiner Rechten. Mein Schatten streckte sich durchs Zimmer, einem großen Porträt entgegen. Es war die lebensgroße Darstellung einer Frau. Jähe Taubheit erfasste mich, und mein Gesicht fühlte sich wie eine Maske an. Mutter. Mutter im großen Saal. Mutter in einem weißen Kleid, groß und kühl in ihrer Perfektion. Jenes Porträt hatte ihr nie gefallen. Sie meinte, der Künstler hätte sie zu abgehoben und distanziert dargestellt, zu sehr wie die Königin. Nur William, hatte sie gesagt, fügte der Darstellung etwas Weiches und Sanftes hinzu. Wenn William dort nicht an ihren Röcken gehangen hätte, wäre sie längst bereit gewesen, das Bild wegzugeben. Nur der kleine William hatte verhindert, dass sie sich davon trennte.
Ich wandte den Blick von ihrem Gesicht ab, das im silbrigen Licht sehr bleich wirkte. Mutter überragte mich. Sie war groß gewesen im Leben und noch größer in dem Porträt. Ihr Gewand fiel in Spitzenkaskaden; der Maler hatte es gut getroffen und dem Bild Leben gegeben.
Kühle Luft kam durch die offenen Fensterläden, und ich fühlte eine Kälte, die tiefer ging als der erste Herbstfrost. Ich fror plötzlich. Mutter hatte William nicht wegwerfen können. Aber William existierte nicht mehr … Ich trat einen Schritt zurück, zum offenen Fenster hin.
»Jesus Christus …« Ich blinzelte Tränen fort.
Mutters Augen bewegten sich; ihr Blick folgte mir.
»Jesus war nicht da, Jorg«, sagte sie. »Niemand kam, um uns zu retten. Du hast uns beobachtet, Jorg. Du hast alles gesehen, bist uns aber nicht zu Hilfe gekommen.«
»Nein.« Ich fühlte den Fenstersims kalt in meinen Kniebeugen. »Die Dornen … Die Dornen haben mich festgehalten.«
Mutter sah mich an, die Augen wie Silber im Mondschein. Sie lächelte, und für ein oder zwei Sekunden dachte ich, sie würde mir verzeihen. Dann schrie sie. Sie schrie nicht die Schreie, die ich von ihr gehört hatte, als sie von den Männern des Grafen vergewaltigt worden war. Das hätte ich ertragen können. Vielleicht. Sie schrie die Schreie, die sie geschrien hatte, als die Männer William getötet hatten. Grässliche, heisere, tierische Schreie, aus ihrem perfekten Gesicht gerissen.
Ich schrie zurück. Die Worte flogen aus mir. »Die Dornen! Ich hab es versucht, Mutter. Ich hab es versucht.«
Er kam hinter dem Bett zum Vorschein. William, der kleine William mit dem eingeschlagenen Kopf. Das Blut verklebte sein blondes Haar. Das Auge auf jener Seite war hin, aber das andere sah mich an.
»Du hast mich sterben lassen, Jorg«, sagte er, und beim Sprechen blubberte es in seiner Kehle.
»Will.« Mehr brachte ich nicht zustande.
Er hob die Hand, weiß mit scharlachroten Blutflecken.
Hinter mir gähnte das Fenster, und ich wollte zurückweichen, doch als ich einen Schritt nach hinten machte, stieß mich etwas an. Ich wankte und richtete mich auf. Will stand da und schwieg.
»Jorg! Jorg!« Eine Stimme erreichte mich, fern, aber irgendwie vertraut.
Ich sah durchs Fenster und in die Tiefe, die mich jenseits davon erwartete.
»Spring«, sagte William.
»Spring!«, sagte Mutter.
Aber Mutter klang nicht mehr wie Mutter.
»Jorg! Prinz Jorg!« Die Stimme wurde lauter, und ein heftiger Stoß warf mich zu Boden.
»Gib den Weg frei, Junge.« Ich erkannte Makins Stimme. Er stand in der Tür, mit Laternenlicht im Rücken. Und aus irgendeinem Grund lag ich zu seinen Füßen. Nicht beim Fenster. Und nicht nackt. Ich trug noch immer meine Rüstung.
»Du hast vor der Tür gelegen und sie blockiert, Jorg«, sagte Makin. »Dieser Bursche namens Robart … Er hat mich zu dir gerufen, und da lagst du schreiend hinter der Tür.« Er sah sich um und hielt nach Gefahren Ausschau. »Ich bin wegen eines verdammten Alptraums vom Südflügel hierher gelaufen, nicht wahr?« Er schob die Tür weiter auf und fügte ein verspätetes »Prinz« hinzu.
Ich stand auf und hatte das Gefühl, unter den Fetten Burlow geraten zu sein. Es hing kein Porträt von Mutter an der Wand, und es stand kein William hinter dem Bett.
Ich zog mein Schwert und wollte Sageous töten. Ich wollte es so sehr, dass ich den Wunsch wie Blut schmeckte, heiß und salzig in meinem Mund.
»Jorg?«, fragte Makin. Er sah mich besorgt an, als befürchtete er, dass ich den Verstand verloren hatte.
Ich ging zur offenen Tür. Makin trat vor und versperrte mir den Weg. »Du kannst nicht mit gezogenem Schwert durch den Flur gehen, Jorg. Der Wächter müsste versuchen, dich aufzuhalten.«
Er kam nicht an Rikes Größe oder Breite heran, aber Makin war ein großer Mann, mit breiten Schultern und mehr Kraft, als ein Mann haben sollte. Ich glaubte nicht, dass ich ihn überwältigen konnte, ohne ihn zu töten.
»Es geht um Opferbereitschaft, Makin«, sagte ich und senkte das Schwert.
»Prinz?« Er zog die Stirn kraus.
»Ich werde den tätowierten Mistkerl am Leben lassen«, sagte ich. »Ich brauche ihn.« Erneut sah ich meine Mutter, doch das Bild verblasste schnell. »Ich muss herausfinden, welches Spiel hier gespielt wird. Wer die Figuren sind und wer die Spieler.«
Die Falten fraßen sich tiefer in Makins Stirn. »Schlaf, Jorg. Und diesmal im Bett.« Er sah in den Flur. »Möchtest du etwas Licht im Zimmer?«
Diese Worte entlockten mir ein Lächeln. »Nein«, antwortete ich. »Es ist nicht die Dunkelheit, die ich fürchte.«