19
Ich erwachte früh. Graues Licht kroch durch die Fensterläden und zeigte mir zum ersten Mal mein Zimmer. Groß war es, gut eingerichtet, an den Wänden Tapisserien mit Jagdszenen. Ich löste die Finger vom Griff meines Schwerts, streckte mich und gähnte. Es fühlte sich nicht richtig an, dieses Bett. Es war zu weich, zu sauber. Als ich die Decke zurückschlug, fiel die Rufglocke vom Nachtschränkchen. Mit einem fast musikalisch klingenden Läuten fiel sie auf den steinernen Boden, rollte zum Teppich und blieb dort stumm liegen. Niemand kam. Was mir nur recht war – die letzten vier Jahre hatte ich mich allein angezogen. Zum Teufel auch, ich hatte mich kaum jemals ausgezogen! Und selbst die einfachste Lakaienkleidung hätte edel gewirkt im Vergleich mit den Lumpen, die mir zur Verfügung standen. Trotzdem. Niemand kam.
Ich trug den Brustharnisch über dem grauen, zerrissenen Hemd. Auf der nahen Kommode lag ein Spiegel. Ich ließ ihn dort liegen, die spiegelnde Seite nach unten. Mit den Fingern strich ich mir kurz durchs Haar, auf der Suche nach Läusen, die dick genug waren, um gefunden zu werden, und dann war ich bereit für den Tag.
Zuerst öffnete ich die Fensterläden, deren Verschluss diesmal sofort nachgab. Ich sah auf den Hinrichtungshof hinab, ein von den kahlen Mauern der Hohen Burg umschlossenes Quadrat. Küchenjungen und Dienstmädchen eilten über den Hof, gerufen von ihren Pflichten, und niemand von ihnen achtete auf das blasse Stück Himmel hoch über ihnen.
Ich wandte mich vom Fenster ab und machte mich auf den Weg. Jeder Prinz kennt die Küche besser als jeden anderen Ort seiner Burg oder seines Schlosses. Wo sonst kann man so viel Abenteuer finden? Wo sonst wird die Wahrheit so offen ausgesprochen? William und ich hatten in der Küche der Hohen Burg hundertmal mehr erfahren als aus unseren Latein- und Strategiebüchern. Mit von Tinte schmutzigen Händen waren wir aus dem Unterrichtsraum geschlichen, durch Flure gelaufen und Treppen hinuntergesprungen, um in der Küche Zuflucht zu suchen.
Durch dieselben Flure ging ich nun, und die nahen Wände weckten Unbehagen in mir. Ich hatte zu viel Zeit unter freiem Himmel verbracht, zu lange blutig gelebt. In der Küche erfuhr man auch vom Tod. William und ich hatten beobachtet, wie der Koch mit einer kurzen Handbewegung lebende Hühner in totes Fleisch verwandelte. Wir hatten gesehen, wie Ethel das Brot die dicken Hennen rupfte und sie im Tode nackt machte, bereit fürs Ausweiden. Wenn man etwas Zeit in der Burgküche verbringt, lernt man schnell, dass es im Tod weder Eleganz noch Würde gibt. Man lernt, wie hässlich er ist, der Tod, und wie gut er schmeckt.
Am Ende des Roten Flurs brachte ich die Ecke hinter mich und war so in Erinnerungen versunken, dass ich nicht aufpasste. Ich sah nur eine Gestalt, die sich mir näherte. Auf der Straße erworbene Instinkte ließen mich handeln. Bevor ich das lange Haar und die Seide bewusst zur Kenntnis nehmen konnte, hatte ich die fremde Gestalt an die Wand gedrückt, die Hand auf ihrem Mund und das Messer an ihrer Kehle. Wir standen Auge in Auge, und sie hielt meinem Blick stand, mit Augen, die ein unwirkliches Grün zeigten, wie das von Buntglas. Ich ließ mein Knurren zu einem Lächeln werden und zwang die zusammengebissenen Zähne auseinander. Dann trat ich einen Schritt zurück und gab der Person Gelegenheit, sich von der Wand zu lösen.
»Ich bitte um Verzeihung, Lady«, sagte ich und deutete eine Verbeugung an. Die Frau war groß, fast so groß wie ich, und bestimmt nicht viel älter.
Sie schenkte mir ein grimmiges Lächeln und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Ein bisschen Blut blieb daran kleben – sie hatte sich auf die Zunge gebissen. Bei den Göttern, sie war eine Augenweide. Sie hatte ein ausdrucksvolles Gesicht mit scharfer Nase, hohen Wangenknochen und vollen Lippen, umrahmt von dunkelrotem Haar.
»Lieber Himmel, wie du stinkst, mein Junge«, sagte sie und trat um mich herum, als begutachtete sie ein Pferd auf dem Markt. »Du kannst von Glück sagen, dass Sir Galen nicht bei mir ist. Dann hätte jetzt ein Dienstmädchen deinen abgeschlagenen Kopf aufheben können.«
»Sir Galen?«, fragte ich. »Ich werde auf ihn Acht geben.« Die Frau trug Diamanten am Hals, auf einem komplexen Netz aus Gold. Spanardische Arbeit: Niemand an der Pferdeküste konnte so etwas herstellen. »Es geziemt sich nicht für die Gäste des Königs, sich gegenseitig umzubringen.« Ich hielt sie für die Tochter eines Kaufmanns, der gekommen war, um vor dem König zu katzbuckeln. Ein sehr reicher Kaufmann, oder vielleicht die Tochter eines Grafen oder Earls aus dem Osten. In ihrer Stimme gab es einen leichten östlichen Akzent.
»Du bist ein Gast?«, fragte die junge Frau und wölbte eine Braue, die sehr hübsch war. »Ich glaube nicht. Du scheinst dich hereingeschlichen zu haben, über die Abort-Rutsche, dem Geruch nach zu urteilen. Die Mauern bist du bestimmt nicht hochgeklettert, nicht in der klapprigen alten Rüstung.«
Wie ein Tafelritter schlug ich die Hacken aneinander und bot ihr den Arm an. »Ich bin auf dem Weg zur Küche, um zu frühstücken. Dort kennt man mich. Vielleicht möchtest du mich begleiten und meine Referenzen überprüfen, Lady?«
Sie nickte und schenkte meinem Arm keine Beachtung. »Ich kann einen Küchenjungen zu den Wachen schicken, damit sie dich festnehmen. Falls wir unterwegs keinen begegnen.«
Und so gingen wir Seite an Seite durch den Flur und mehrere Treppen hinunter.
»Meine Brüder nennen mich Jorg«, sagte ich. »Wie nennt man dich, Lady?« Ich fand die Sprache des Hofes umständlich auf der Zunge, insbesondere da mein Mund seltsam trocken war. Die junge Lady duftete wie Blumen.
»Du kannst mich ›Lady‹ nennen«, sagte sie und rümpfte erneut die Nase. Wir kamen an zwei Hauswächtern vorbei, die Rüstungen aus glänzender Feuerbronze und Federbüsche trugen. Beide sahen mich wie ein Stück Dreck an, das irgendwie aus dem Abort entkommen war, aber die junge Lady sagte nichts, und die Wachen ließen uns passieren.
Wir erreichten die Lagerräume, wo gesalzenes Rindfleisch und eingelegtes Schweinefleisch in Fässern lagerten, die sich bis zur Decke stapelten. Meine Begleiterin schien den Weg zu kennen. Ihre smaragdgrünen Augen warfen mir einen Blick zu.
»Bist du hierhergekommen, um zu stehlen oder mit deinem Dolch zu töten?«, fragte sie.
»Vielleicht sowohl das eine als auch das andere.« Ich lächelte.
Es war eine gute Frage. Ich wusste nicht, warum ich gekommen war, abgesehen davon, dass jemand meine Rückkehr zur Hohen Burg verhindern wollte – so fühlte es sich jedenfalls an. Seit ich Pater Gomst in seinem Galgenkäfig gefunden und jenen Geist erst in mich aufgenommen und dann in die Flucht geschlagen hatte, seit die Hohe Burg wieder in meinen Gedanken erschienen war … Es fühlte sich an, als wollte mich jemand von ihr fernhalten, und diesem Druck, woher auch immer er kam, stemmte ich mich entgegen.
Wir gelangten über die Kurze Brücke, nicht mehr als drei Mahagoniplatten über den großen Toren, die die unteren Bereiche vom Hauptteil der Burg trennten. Sie bestanden aus Stahl, waren fast einen Meter dick und glitten aus einer Öffnung im Flurboden, hatte Lehrer Lundist gesagt. Ich hatte sie nie aus der Nähe gesehen. Fackeln brannten hier; man vergeudete keine silbernen Laternen an die Bediensteten-Etagen. Der Geruch von Teer-Rauch gab mir deutlicher als alles andere das Gefühl, zu Hause zu sein.
»Vielleicht bleibe ich hier«, sagte ich.
Der Küchenbogen lag direkt voraus. Ich konnte Dräne sehen, den stellvertretenden Koch, wie er ein halbes Schwein durch die Tür schleppte.
»Würden deine Brüder dich nicht vermissen?«, fragte die Lady. Sie hob die Hand zu ihrem Mundwinkel, wo sich die von meinen Fingern stammenden Druckstellen rot abzeichneten. Ihre Hand berührte nur den Mund, und gleichzeitig berührte sie auch mich, und ich reagierte darauf. Wärme durchströmte mich und sammelte sich an einer bestimmten Stelle.
Ich zuckte die Schultern und zog an den Gurten des linken Armschutzes. »Es gibt viele Brüder auf der Straße«, sagte ich. »Ich zeige dir die Art von Brüdern, die ich meine …«
»Lass es mich versuchen«, sagte die Lady ungeduldig.
Der Fackelschein brannte im Rot ihres Haars. Mit geschickten Fingern löste sie die Spangen – sie schien sich mit Rüstungen auszukennen. Vielleicht beschränkte sich Sir Galen nicht nur darauf, Rüpel mit schlechten Manieren zu köpfen.
»Und nun?«, fragte sie. »Ich habe schon andere Arme gesehen, wenn auch nicht so schmutzige.«
Ich lächelte und drehte den Arm, damit sie das Zeichen der Bruderschaft am Handgelenk sehen konnte: drei hässliche streifenförmige Verbrennungsnarben. Falten des Abscheus bildeten sich in ihrer Stirn.
»Du bist ein Söldner?«, fragte sie. »Darauf bist du stolz?«
»Ich verbinde damit mehr Stolz als mit den Resten meiner wahren Familie.« Ich spürte einen Anflug von Ärger. Plötzlich war mir danach, der verwirrenden und mich ablenkenden Kaufmannstochter einen Schrecken einzujagen.
»Was ist damit?« Ihre Finger glitten von den Brandnarben zum Ellenbogen und begegneten dort der Rüstung. »Jesus! Unter dem Hemd gibt es mehr Narben als Junge!«
Ihre Berührung schickte einen kalten Schauer durch mich, und ich wich zurück. »Ich bin in einen Dornenstrauch gefallen, als … als ich ein Kind war«, sagte ich mit ein wenig zu scharf klingender Stimme.
»Was für ein Dornenstrauch soll das gewesen sein?«
Ich zuckte die Schultern. »Einer mit Dornen wie Dolche«, antwortete ich. »Ein Hakendorn.«
Der Mund der jungen Lady formte ein erschrockenes O. »In einem solchen Strauch darf man sich nicht rühren«, sagte sie, den Blick noch immer auf meinen Arm gerichtet. »Das weiß jeder. Die Dornen scheinen dich regelrecht zerfetzt zu haben.«
»Heute weiß ich, dass man sich in einem Hakendorn nicht bewegen sollte.« Ich setzte den Weg zur Küche fort und ging mit langen Schritten.
Die junge Frau lief und schloss mit wogender Seide zu mir auf. »Warum hast du dich bewegt? Warum hast du nicht damit aufgehört?«
»Ich war dumm«, sagte ich. »Heute würde ich nicht mehr gegen die Dornen ankämpfen.« Ich wollte, dass mich die dumme Kuh in Ruhe ließ. Plötzlich hatte ich keinen Hunger mehr.
Mein Arm brannte mit der Erinnerung an ihre Finger. Sie hatte Recht, die Dornen hatten tief in mich geschnitten. Mehr als ein Jahr lang erwachte alle paar Wochen das Gift in den Wunden und strömte durchs Blut. Und wenn das Gift in mir floss, stellte ich Dinge an, die selbst den Brüdern Angst machten.
Dräne stapfte durch die Küchentür, als ich sie erreichte. Er blieb abrupt stehen und wischte sich die Hände an der schmutzigen weißen Schürze ab, die sich über seinem Bauch spannte. »Was bei allen …« Er sah an mir vorbei, und seine Augen wurden groß. »Prinzessin!« Plötzlich wirkte er erschrocken und wurde zu einem zitternden Fettkloß. »Prinzessin! W-was führt Euch zur Küche? Dies ist kein Ort für eine Lady in Seide und so.«
»Prinzessin?« Ich drehte mich um und starrte sie an. Mein Mund war offen, und so schloss ich ihn.
Sie gab mir ein Lächeln, bei dem ich mich fragte, ob ich es ihr aus dem Gesicht schlagen oder es besser küssen sollte. Bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, legte sich mir eine schwere Hand auf die Schulter, und Dräne drehte mich um. »Und was erdreistet sich ein Rüpel wie du, die Prinzessin in die Irre zu führen …« Er unterbrach sich plötzlich. Sein Gesicht verwandelte sich in eine Faltenlandschaft, und er versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort hervor. Schließlich ließ er mich los und fand die Stimme wieder. »Jorg? Kleiner Jorg?« Tränen strömten ihm über die Wangen.
Will und ich hatten diesem Mann beim Töten so einiger Hühner und beim Backen so einiger Torten zugesehen. Es gab keinen Grund, warum er wegen mir zu flennen beginnen sollte. Dennoch, ich ließ ihm die peinlichen Tränen durchgehen, denn er hatte mir Gelegenheit gegeben, Ihre Königliche Hoheit überrascht zu sehen. Ich schaute sie an, lächelte und machte eine höfische Verbeugung.
»Prinzessin, wie? Was vermutlich bedeutet, dass der Abschaum von der Straße, den du von der Palastwache festnehmen lassen wolltest, dein Stiefbruder ist.«
Sie fasste sich schnell, das musste ich ihr lassen.
»Du dürftest wohl eher mein Neffe sein«, sagte sie. »Dein Vater hat meine ältere Schwester vor zwei Monaten geheiratet. Ich bin deine Tante Katherine.«