23
Mein Buch bewegte sich erneut. Ich sage »mein« Buch, aber in Wahrheit war es gestohlen, aus Vaters Bibliothek stibitzt, als wir die Hohe Burg verlassen hatten. Das Buch sprang mir entgegen und drohte zuzuschnappen, mit meiner Nase zwischen den Deckeln.
»Lieg still, verdammt«, sagte ich.
»Mmmgfl.« Sally murmelte schläfrig und schmiegte ihr Gesicht ans Kissen.
Ich legte das Buch zwischen ihre Hinterbacken und drückte ihre Beine mit den Ellenbogen etwas weiter auseinander. Über den oberen Buchrand hinweg sah ich die kleinen Höcker von Sallys Wirbelsäule, wie sie über den glatten Rücken nach oben wanderten und sich unter den roten Locken am Hals verloren. Ich fragte mich, ob der Text vor mir interessanter war als das, was darunter lag.
»Hier steht, dass es in Gelleth eine Schlucht namens Leucrota-Klamm gibt«, sagte ich. »Sie befindet sich im Ödland unterhalb der Roten Burg.«
Morgenlicht kam durchs offene Fenster. Eine gewisse Kühle lag in der Luft, aber eine angenehme, wie die Bitterkeit von Bier.
»Mhm.« Sallys Stimme kam vom Kissen.
Ich hatte sie erschöpft. Man kann selbst Huren erschöpfen, wenn man so jung ist. Die Kombination von Frau und reichlich freier Zeit war neu für mich, und ich fand, dass sie mir gefiel. Es hat viele Vorteile, nicht in einer Schlange zu stehen oder nicht fertig werden zu müssen, bevor die Flammen das ganze Gebäude erfassten. Und die Bereitschaft! Auch die war neu, obgleich sie bezahlt wurde. In der Dunkelheit konnte ich mir vorstellen, dass sie gratis war.
»Wenn ich das Altgriechische richtig verstehe, und das tue ich, ist ein Leucrota ein Monstrum, das mit menschlicher Stimme spricht, um seine Opfer anzulocken.« Ich neigte den Kopf und biss Sally in dem Oberschenkel. »Jedes Monstrum, das mit menschlicher Stimme spricht, ist nach meiner Erfahrung ein Mensch. Oder war’s.«
Meine Füße hingen über den Rand des Bettes. Ich wackelte mit den Zehen. Manchmal hilft das.
Ich nahm das älteste der drei Bücher, die ich gestohlen hatte. Ein Erbauer-Text auf Plastik-Blättern, von altem Feuer zerknittert. Gelehrte im Osten zahlten hundert in Gold für Erbauer-Texte, aber ich erhoffte mir mehr.
Lehrer Lundist hatte mich die Sprache der Erbauer gelehrt. In einem Monat hatte ich sie gelernt, und Lundist hatte überall damit geprahlt, bis Vater ihn mit einem seiner finsteren Blicke, für die er berüchtigt war, zum Schweigen gebracht hatte. Der alte Lundist meinte, ich spräche die Sprache der Erbauer genauso gut wie alle anderen, die über sie Bescheid wussten, doch ich verstand nicht mehr als die Hälfte der Wörter in dem kleinen gestohlenen Buch.
Ich verstand das »Streng geheim« oben und unten auf jeder Seite, aber »Neurotoxikologie«, »karzinogen« und »mutogen«?
Vielleicht waren alte Hüte damit gemeint. Ich weiß es bis heute nicht. Doch die anderen Worte, die einen Sinn ergaben, waren interessant genug: »Waffen«, »Vorrat«, »Massenvernichtung«. Die vorletzte Seite zeigte sogar eine kleine glänzende Karte, mit Konturen und Höhen. Lehrer Lundist hatte mich auch Geografie gelehrt. Ich verstand genug davon, um die kleine Karte mit den »Ansichten von der Roten Burg« in Verbindung zu bringen, detailliert beschrieben im großen, aber recht langweiligen Buch namens Die Geschichte von Gelleth, das in der Spalte von Sallys leckerem, zu neckischen Bissen einladendem Hinterteil ruhte.
Selbst wenn die Worte der Erbauer einen Sinn für mich ergaben – es bedeutete noch lange nicht, dass ich mit den von ihnen gebildeten Sätzen etwas anfangen konnte. »Die Freisetzung binärer Waffen ist endemisch. Die unären Leichter-als-Luft-Komponenten zeigen kaum toxische Wirkung, aber Rosiosis ist ein verbreitetes topologisches Expositionssyndrom.«
Auf der gleichen Seite hieß es: »Stromab binärer Lecks sind mutagene Effekte weit verbreitet.« Ich stellte mein Griechisch auf eine harte Probe, aber es schien kaum einen Sinn zu haben. Hatte ich vielleicht ein altes Märchenbuch gestohlen?
»Jorg!« Makins Stimme kam durch die Tür. »Die Eskorte für den Weg zur Waldwache ist da.«
Sally wollte sich aufsetzen, aber ich drückte sie nach unten.
»Sag ihr, sie soll warten!«, rief ich.
Die Waldwache würde mir kaum etwas nützen, solange sie nicht zehntausend Freunde hatte, die mitkommen wollten.
»Heiliger Jesus, ich bin ganz wund.« Sally kam erneut nach oben. »Oh! Es ist schon Morgen. Sammeth bringt mich um.«
»Bleib liegen, verdammt.« Ich nahm eine Münze aus meinem Geldbeutel auf dem Tisch und warf sie ihr zu. »Das ist für deinen Sammeth.«
Mit wohligem Protest sank Sally aufs Bett zurück.
»Freisetzung binärer Waffen …« Als könnte ich den Worten Bedeutung geben, wenn ich sie laut aussprach.
»Willst du zur Roten Burg?«, fragte Sally und gähnte.
Ich hob die Hand zu einem Schlag, der sie zum Schweigen bringen sollte. Sally sah sie gar nicht, und Die Geschichte von Gelleth blockierte das beste Ziel.
»Richte all den kleinen roten Leuten einen Gruß von mir aus«, sagte sie.
Rosiosis.
Ich senkte die Hand zu ihrer Hüfte. »Kleine rote Leute?«
»Mhm.«
Sally bewegte sich unter meiner Hand. Ich drückte fester zu. »Kleine rote Leute?«
»Ja.« Ein Hauch von Ärger schlich sich in ihre Stimme. »Warum, glaubst du, heißt die Burg ›Rote Burg‹?«
Ich setzte mich auf. »Makin! Komm rein!« Ich rief es so laut, dass man mich überall in der Taverne hörte. Er kam sofort herein, das Schwert in der Hand. Ein Lächeln fand einen Weg zu seinen Lippen, als er Sally nackt auf dem Bett sah, aber das Schwert blieb in seiner Hand.
»Mein Prinz?«
Diesmal ließ sich Sally nicht zurückhalten. Sie schaffte es beinahe auf alle viere, und Die Geschichte von Gelleth flog zur Seite.
»Prinz? Niemand hat was von einem Prinzen gesagt! Er ist kein verdammter Prinz!«
Ich drückte sie erneut aufs Bett zurück.
»Das Gespräch, das wir gestern geführt haben, Makin …«, sagte ich.
»Ja?«
»Möchtest du der Beschreibung noch etwas hinzufügen? Vielleicht etwas, das die neunhundert Veteranen betrifft?«, fragte ich.
Für einen Moment war sein Gesicht so leer wie das des Idioten Maical.
»Etwas, das mit der Farbe zu tun hat?«, half ich ihm auf die Sprünge.
»Oh.« Makin lächelte. »Die Röter? Ja. Sie sind so rot wie gekochte Hummer, jeder von ihnen. Etwas im Wasser, heißt es. Ich dachte, das wüssten alle.«
Rosiosis.
»Ich wusste es nicht«, sagte ich.
»Vielleicht hätte dir dein Vater einen anderen Lehrer geben sollen«, erwiderte Makin. »Es ist allgemein bekannt.«
Dort unten gibt es Monstren.
»Er ist auf keinen Fall ein Prinz!« Sally schien außer sich zu sein.
»Du bist königlich gebumst worden.« Makin verbeugte sich vor ihr.
Und oben die Rote Burg mit all ihren roten Soldaten.
Ich stand auf.
Ein Vorrat an Waffen.
Freisetzung. Ein Leck.
»Können wir jetzt aufbrechen?«, fragte Makin.
Ich langte nach meiner Hose. Als ich sie anziehen wollte, rollte Sally herum, und das half keineswegs. Ich betrachtete ihre Nacktheit im Licht der Morgensonne und fragte mich: Sollte ich das Leben der Waldwächter und der Brüder wegen einiger Mutmaßungen und Spekulationen in Bezug auf seltsame Worte in einem alten Buch aufs Spiel setzen?
»Sag ihnen, in einer Stunde.« Ich legte die Hose wieder beiseite. »In einer Stunde bin ich so weit.« Sally sank auf die Kissen zurück und lächelte. »Prinz, wie?« Es schien mir plötzlich eine gute Idee zu sein, im Bett zu bleiben.