25
Durch das Altstadttor kehrten wir zur Hohen Burg zurück, die Mittagssonne heiß im Nacken. Ich trug das Familienschwert auf dem Sattel, und niemand wagte es, uns den Weg zu versperren.
Die Pferde ließen wir auf dem Westhof zurück.
»Sorg dafür, dass er gut beschlagen wird. Wir haben eine Straße vor uns.« Ich klopfte Gerrod auf die Rippen, und der Stalljunge führte ihn weg.
»Wir haben Gesellschaft.« Makin legte mir die Hand auf die Schulter. »Sei vorsichtig.« Sein Nicken galt der anderen Seite des Hofs, und dort kam Sageous die Treppe vom Hauptteil der Burg herab, eine kleine Gestalt in Weiß.
»Unser kleiner Heide kann bestimmt lernen, Prinz Jorgy wie alle anderen zu lieben«, sagte ich. »Er könnte uns durchaus nützlich sein.«
Makin runzelte die Stirn. »So nützlich wie ein Skorpion. Ich habe mich umgehört. Der Glasbaum, den du zerstört hast. Er war kein Schmuckstück. Sageous hat ihn wachsen lassen.«
»Er wird mir verzeihen.«
»Er hat ihn aus einem Stein wachsen lassen, Jorg. Aus einer grünen Perle. Zwei Jahre dauerte es. Er wässerte den Baum mit Blut.«
Hinter uns kicherte Rike, ein kindliches Geräusch, das bei einem solchen Riesen sehr seltsam klang.
»Sein eigenes Blut«, fügte Makin hinzu.
Ein anderer Bruder lachte schnaubend. Sie alle hatten die Geschichte von Sir Galen und dem gläsernen Baum gehört.
Sageous blieb einen Meter vor mir stehen und musterte die Brüder. Einige von ihnen kümmerten sich noch um ihre Pferde; andere standen dicht neben mir. Der Blick des Magiers ging an Rike empor.
»Warum bist du weggelaufen, Jorg?«, fragte er.
»Prinz. Du hast ihn Prinz zu nennen, du heidnischer Hund.« Makin trat vor und zog das Schwert halb aus der Scheide. Sageous sah ihn sanft an, und Makins Hand sank schlaff nach unten, sein Ärger plötzlich verflogen.
»Warum bist du weggelaufen?«
»Ich bin nicht weggelaufen«, sagte ich.
»Vor vier Jahren bist du aus dem Haus deines Vaters gelaufen.« Sageous sprach ruhig, und die Brüder beobachteten ihn so fasziniert wie eine sich drehende Münze.
»Ich bin aus gutem Grund gegangen«, sagte ich. Diese Art des Angriffs verunsicherte mich.
»Aus welchem Grund?«
»Um jemanden zu töten.«
»Hast du ihn getötet?«, fragte Sageous.
»Ich habe viele Menschen getötet.«
»Und diesen einen? Hast du ihn getötet?«
»Nein.« Graf Renar lebte und atmete noch.
»Warum nicht?«
Warum hatte ich ihn am Leben gelassen?
»Hast du ihn verletzt? Ihn oder seine Interessen?«
Nein, das hatte ich nicht. Eher war das Gegenteil der Fall. Wenn man meinen Weg während der vergangenen vier Jahre auf der Straße verfolgte, konnte man zu dem Schluss gelangen, dass ich Renars Interessen dienlich gewesen war. Die Brüder und ich hatten Baron Kennick immer wieder in die Fersen gebissen und dafür gesorgt, dass sein Ehrgeiz nicht zu groß wurde. In Mabberton hatten wir das Herz aus etwas gerissen, das vielleicht eine Rebellion geworden wäre.
»Ich habe seinen Sohn getötet. Ich habe ein Messer in Marclos gestoßen, Renars Fleisch und Erben.«
Sageous gestattete sich ein dünnes Lächeln. »Als du dich deinem Zuhause genähert hast, kamst du unter meinen Schutz. Die dich lenkende Hand fiel von dir.«
Stimmte das? Ich konnte keine Lüge in ihm erkennen. Ich betrachtete die Tätowierungen in seinem Gesicht, die vielen kleinen Schriftzeichen einer fremden Sprache. Er war wie ein offenes Buch, aber ich konnte ihn nicht lesen.
»Ich kann dir helfen, Jorg. Ich kann dir dein Selbst zurückgeben, deinen freien Willen.«
Er streckte die Hand aus, mit der Innenfläche nach oben.
»Freier Wille muss genommen werden«, sagte ich. Man greife im Zweifel auf die Weisheit anderer zurück, in diesem Fall auf Nietzsche. Manche Argumente erfordern ein Messer, wenn man der Sache ans Herz gehen will. Bei anderen ist es nötig, einen Schädel mit dem Stein der Weisen einzuschlagen.
Ich nahm Sageous’ Hand von unten und schloss die Finger um seine Knöchel.
»Meine Entscheidungen habe ich allein getroffen, Heide«, sagte ich. »Wenn jemand versucht hätte, mich zu lenken, wäre das meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen.«
»Bist du sicher?«
»Und wenn ich es bemerkt hätte … Oh, ich hätte dem Betreffenden eine Lektion in Schmerz erteilt, bei der selbst die Koten Männer des Ostens neue Tricks gelernt hätten.« Die Worte klangen hohl, als sie meine Lippen verließen, hohl und dumm.
»Nicht ich bin es gewesen, der dich geführt hat, Jorg«, sagte Sageous.
»Wer dann?« Ich drückte die Hand, bis ich die Knochen knacken hörte.
Sageous zuckte die Schultern. »Bitte um deinen Willen, und ich gebe ihn dir.«
»Wenn ein Zauber auf mir läge, würde ich jenen suchen, von dem er stammt, und ihn töten.« Ich fühlte ein Echo des alten Schmerzes, der mich auf der Straße plagte, ein Stechen von Schläfe zu Schläfe, hinter den Augen, wie von einem Glassplitter. »Aber es gibt keinen, und mein Wille gehört mir allein«, sagte ich.
Sageous zuckte erneut die Schultern und wandte sich ab. Ich senkte den Blick und stellte fest, dass ich meine linke Hand in der rechten hielt, und Blut sickerte zwischen meinen Fingern hervor.