29

 

Die Erbauer schienen keine Treppen gemocht zu haben. Gorgoth führte uns über tückische Wege, die sich aus dem Gestein gehauen in langen, endlosen Spiralen durch vertikale Schächte wanden. Vielleicht hatten sich die Erbauer Flügel wachsen lassen, oder sie konnten allein mit Willenskraft schweben, wie die Weitseher von Indus. Jedenfalls hatten die Hacken späterer Menschen eine Treppe in den gegossenen Stein der Schachtwände genagt, die Stufen schmal und höckrig. Wir kletterten sie mit großer Vorsicht hinauf, die Arme nach vorn gestreckt. So schmal wie möglich machten wir uns, um nicht durch ein unachtsames Schulterzucken das Gleichgewicht zu verlieren und in die dunkle Tiefe zu stürzen. Wenn sie nicht so dunkel gewesen wäre, hätten die Brüder vermutlich die Spitze eines Schwerts für den Weg nach oben benötigt. Aber die Finsternis verbirgt alle Sünden, und wir konnten uns einreden, dass uns nur ein paar Meter vom Boden trennten.

Wie seltsam: Je tiefer das Loch, desto mehr zieht es den Menschen an. Die Faszination, die auf der schärfsten Schneide lebt und an ihrer Spitze funkelt, wartet auch im tiefen Fall. Bei unserem Aufstieg spürte ich jenes Zerren die ganze Zeit über.

Für den Weg nach oben schien Gorgoth von uns allen am wenigsten geeignet zu sein, aber seine Bewegungen erweckten den Anschein von Leichtigkeit. Die beiden Leucrota-Kinder tanzten vor mir und sprangen die Stufen mit einer Unbekümmertheit hoch, die mich in Versuchung geraten ließ, sie ins Dunkel zu stoßen.

»Warum laufen sie nicht weg?«, rief ich Gorgoth zu. Er antwortete nicht. Vermutlich musste man die Achtlosigkeit der Jungen mit dem Schicksal vergleichen, das sie erwartete, wenn sie gesund und munter das Ende der Treppe erreichten.

»Du führst sie zu ihrem Tod. Warum folgen sie dir?« Ich rief die Worte seinem breiten Rücken entgegen.

»Frag sie.« Gorgoths Stimme hallte wie fernes Donnergrollen durch den Schacht.

Ich packte den älteren Bruder am Hals und hielt ihn über den Rand der Treppe. Er schien fast nichts zu wiegen, und ich brauchte eine Rast. Die vielen Stufen blieben nicht ohne Wirkung auf mich; sie hatten ein Feuer in meinen Beinmuskeln entzündet.

»Wie heißt du, kleines Ungeheuer?«, fragte ich.

Er sah mich aus Augen an, die dunkler und tiefer zu sein schienen als die tiefe Dunkelheit neben mir.

»Name? Kein Name«, erwiderte er, mit einer Stimme hoch und süß.

»Das ist nicht gut. Ich gebe dir einen Namen«, sagte ich. »Ich bin ein Prinz. Prinzen dürfen so was. Du bist Gog, und dein Bruder kann Magog sein.«

Ich sah zum Roten Kent, der schnaufend hinter mir stand. Nicht das geringste Erkennen zeigte sich in seiner Bauernmiene.

»Gog, Magog … Jesus, wo ist ein Priester, wenn man jemanden braucht, der eine biblische Anspielung versteht?«, fragte ich. »Ich hätte nie gedacht, dass ich Pater Gomst einmal vermissen würde!«

Ich wandte mich wieder an den jungen Gog. »Warum bist du so fröhlich? Der alte Gorgy-Goth dort vorn … Er bringt dich als einen Leckerbissen für die Toten nach oben.«

»Kann gegen sie kämpfen«, antwortete Gog ruhig. »Das sagt das Gesetz.« Wenn er es unbequem fand, am Genick über der Tiefe gehalten zu werden, so gab er das durch nichts zu erkennen.

»Was ist mit dem kleinen Magog?« Ich nickte seinem Bruder zu, der auf der nächsten Stufe hockte. »Wird auch er kämpfen?« Ich lächelte bei der Vorstellung, dass diese beiden Knirpse gegen Todesmagier antreten wollten.

»Ich werde ihn schützen«, sagte Gog. Plötzlich begann er zu zappeln, so heftig, dass ich ihn absetzen musste, um nicht von ihm in die Tiefe gerissen zu werden.

Er eilte zu seinem Bruder und legte eine gestreifte Hand auf eine gestreifte Schulter. Beide beobachteten sie mich mit ihren schwarzen Augen, stiller als Mäuse.

»Vielleicht wird’s interessant«, sagte Kent hinter mir.

»Ich wette, der Kleinere hält am längsten durch!«, rief Rike und brüllte vor Lachen, als hätte er etwas Komisches gesagt. Fast wäre er von der Stufe gefallen, und sein Lachen hörte ganz plötzlich auf.

»Wenn du dieses Spiel gewinnen willst, Gog, musst du den kleinen Magog sich selbst überlassen.« Als ich diese Worte sprach, richtete mir eine sonderbare Kühle die Nackenhaare auf. »Zeig mir, dass du die Kraft hast, dich um dich selbst zu kümmern. Dann finde ich vielleicht etwas, das die Nekromanten mehr wollen als deine dürre Seele.«

Gorgoth setzte sich wieder in Bewegung, und die beiden Knaben folgen ihm wortlos.

Ich zählte tausend Stufen, und ich begann damit aus reiner Langeweile, nach den ersten zehn Minuten des Aufstiegs. Meine Beine wurden wachsweich, die Rüstung schien aus vier Zoll dickem Blei zu bestehen, und meine Füße wurden so schwerfällig, dass sie kaum mehr die nächste Stufe fanden. Bruder Gains brachte Gorgoth dazu, Rast zu machen, indem er in die Leere trat und zehn Sekunden lang heulte, bevor ihn der im Dunkeln verborgene Boden zum Schweigen brachte.

»All diese Stufen, damit wir die ›Große Treppe‹ erreichen.« Ich spuckte dem verstorbenen Bruder Gains Schleim hinterher.

Makin lächelte und wischte sich schweißfeuchte Locken aus den Augen. »Vielleicht tragen uns die Nekromanten nach oben.«

»Wir brauchen einen neuen Koch.« Der Rote Kent spuckte Gains ebenfalls hinterher.

»Schlimmer als Gains kocht niemand.« Der Fette Burlow bewegte nur die Lippen. Der Rest von ihm war dicht an der Wand zusammengesackt. Ich hielt es für keine besonders gute Grabrede, zumal Burlow mehr von Gains’ kulinarischen Bemühungen verdrückt hatte als wir anderen zusammen.

»Rike wäre schlimmer«, sagte ich. »Er geht ein Abendessen mit der gleichen Einstellung an, die er beim Niederbrennen eines Dorfs zeigt. Ich hab’s gesehen.«

An Gains gab es nichts auszusetzen. Er hatte mir einmal eine Knochenflöte geschnitzt, als ich erst seit kurzer Zeit bei den Brüdern gewesen war. Auf der Straße verabschieden wir unsere Toten mit einem Fluch und einem Scherz. Wenn Gains bei uns nicht beliebt gewesen wäre, hätte niemand ein Wort über ihn verloren. Ich kam mir ein wenig dumm vor, weil ich Gorgoth Gelegenheit gegeben hatte, uns ohne Pause nach oben zu führen. Es hatte einen bitteren Geschmack, und ich nahm ihn und fügte ihm eine scharfe Kante hinzu, für die Nekromanten bestimmt, falls sie unseren Eifer auf die Probe stellen wollten.

Wir erreichten das Ende der Treppe, ohne einen weiteren Bruder zu verlieren. Gorgoth brachte uns durch einige Säle mit vielen Säulen und leeren Echos, die Decke so niedrig, dass Rike sie berühren konnte. Breite, gewölbte Rampen geleiteten uns von einem Saal zum nächsten. Sie alle ähnelten sich und boten nichts als staubige Leere.

Der Geruch schlich sich an uns heran, so langsam, dass ich nicht wusste, wann ich ihn bewusst zur Kenntnis nahm. Der Gestank des Todes hat viele Aromen, aber ich gehe davon aus, den Sensenmann in allen seinen Verkleidungen erkennen zu können.

Immer mehr Staub bedeckte alles – an manchen Stellen bildete er eine Schicht, die einen ganzen Zoll dick war. Hier und dort lag gelegentlich ein Knochen darin. Wir stapften weiter und fanden mehr Knochen; manchmal lag auch ein Schädel zwischen ihnen. Wo der Erbauer-Stein Risse aufwies, durch die Wasser sickerte, verwandelte sich der Staub in grauen Schlamm und floss in Miniaturdeltas. Ich zog einen Schädel aus einem solchen Sumpf. Mit einem zufrieden stellenden Schmatzen löste er sich aus dem Schlick, und Matsch floss zäh wie Sirup aus den Augenhöhlen.

»Wo sind deine Nekromanten, Gorgoth?«, fragte ich.

»Wir wandern zur Großen Treppe. Sie werden uns finden«, sagte er.

»Sie haben euch gefunden.« Sie glitt hinter der Säule hervor, die mir am nächsten war, eine Frau aus der Nacht meiner Fantasie. Sie bewegte sich über den rauen Stein, als bestünde er aus glatter Seide, und ihre Stimme war wie Samt an den Ohren, dunkel und weich.

Nicht ein Schwert verließ die Scheide. Der Nubier hob seine Armbrust und spannte die Sehne, wobei die dicken Muskeln in seinem schwarzen Arm noch deutlicher hervortraten. Die Nekromantin schenkte ihm keine Beachtung. Mit der Zärtlichkeit einer Liebenden ließ sie die Säule los und wandte sich mir zu. Ich hörte, wie Makin neben mir nach Luft schnappte. Die Frau vereinte geschmeidige Kraft mit einer Üppigkeit, die junge Prinzen an den Rand ihrer Studienblätter malen. Sie trug nur Farben und Bänder, die ein grauschwarzes Knotenmuster bildeten.

Lauf, wenn du sie triffst.

»Ich grüße dich, Verehrteste.« Ich deutete eine Verbeugung an.

Lauf einfach.

»Gorgoth, du hast uns nicht nur Tribut gebracht, sondern auch Gäste!« Das Lachen der Frau schuf ein Prickeln in meinen Lenden.

Lauf einfach. Sonst nichts.

Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich zögerte für einen Moment.

»Und du bist wer?« Ihre Augen, die zuvor nichts als den Widerschein des Fackelfeuers enthalten hatten, stahlen nun das Grün, an das ich mich aus einem fernen Thronraum erinnerte.

»Prinz Honorous Jorg Ankrath.« Ich nahm die Hand, kühl und schwer, und küsste sie. »Zu deinen Diensten.« Und das meinte ich ernst.

»Chella.« Ein dunkles Feuer brannte in meinen Adern. Chella lächelte, und ich fühlte das gleiche Lächeln auf meinem Gesicht. Sie kam näher. Meine Haut sang mit ihrem Liebreiz. Ich atmete ihren Duft, den bitteren Geruch kalter Gräber, mit der heißen Schärfe von Blut.

»Zuerst der kleine Junge, Gorgoth«, sagte sie, ohne den Blick von mir abzuwenden.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Gorgoth Gog in seine große Hand nahm.

Die Luft wurde plötzlich eisig. Ein Geräusch erklang, wie von einem Felsen, der über einen anderen knirschte, und es ging mir durch und durch. Der Saal selbst schien erleichtert zu seufzen, und mit diesem Ausatmen wogte Dunst zwischen uns, Geister, die für kurze Zeit Gestalt in Form von vagen Nebelfetzen fanden. Ich fühlte, wie meine Finger in dem Matsch des Schädels gefroren, den ich noch immer in der Hand hielt.

Das Knirschen und Kratzen hörte auf, als Knochen ihre Partner fanden. Das erste Skelett erhob sich in einem komplexen Ballett aus ineinander greifenden Gelenken, dann das nächste. Der Dunst umgab jeden Knochen mit der gespenstischen Nachahmung von Fleisch.

Ich sah, wie Gog in Gorgoths unnachgiebigem Griff wild zappelte. Der kleine Magog wich nicht von der Stelle, als sich ihm das erste Skelett näherte. Gog war so außer sich vor Zorn, dass er Gorgoth nicht einmal aufforderte, ihn freizugeben. Das von ihm kommende Gebrüll klang komisch, schrill und voller Wut.

Die Nekromantin schlang einen Arm um mich. Ich kann euch nicht sagen, wie es sich anfühlte.

Wir drehten uns um und beobachteten, wie Magog kämpfte.

Der Leucrota-Junge reichte dem Skelett nur bis zum Knie, nicht höher. Er sah eine Chance, oder glaubte sie zu sehen, und warf sich nach vorn. Von einem Fünfjährigen kann man nicht viel erwarten. Der Untote packte ihn mit seinen Knochenfingern und warf ihn achtlos gegen eine Säule. Der Aufprall war hart und ließ Magog blutig zu Boden rutschen. Doch kein Laut des Schmerzes kam aus seinem Mund. Er versuchte aufzustehen, als sich ihm das zweite Skelett näherte. Ein Fetzen der hübschen gestreiften Haut hing lose vom roten Fleisch der Schulter.

Ich wandte den Blick ab. Dieses Spektakel schmeckte bitter, selbst mit Chellas weichem Leib an meiner Seite. Meine Augen fanden Gog, der sich noch immer in Gorgoths Faust hin und her wand. Gorgoth hielt ihn jetzt mit beiden Händen, obwohl selbst ich vielleicht nicht imstande gewesen wäre, mich aus dem Griff des großen Monstrums zu befreien. Wer hätte gedacht, dass ein kleiner dürrer Junge solche Kraft entfalten konnte.

Das Skelett hatte Magog inzwischen in einer Hand, und zwei Finger der anderen Hand zielten auf seine Augen.

Mir schien, dass ein Sturm losbrach, obwohl er vielleicht nur in mir toste, ein Sturm, der in einer mondlosen Nacht heulte und mit Dolchen aus Blitzen nach der Welt stach. Die Stimme eines Kindes heulte in meinem Kopf und wollte nicht verstummen, obwohl ich sie verfluchte. Mit jeder Faser meines Körpers versuchte ich, mich zu bewegen, und doch zuckte ich nicht einmal. Dornige Haken hielten mich fest. Im Arm der Nekromantin beobachtete ich, wie Knochenfinger in große schwarze Leucrota-Augen stachen.

Als die Hand explodierte, war ich ebenso überrascht wie alle anderen. Ein großer Armbrustbolzen macht so etwas mit einer Hand. Der Nubier wandte sein Gesicht vom Visier der Armbrust ab und mir zu. Ich sah die weiße Sichel seines Lächelns, und plötzlich waren meine Glieder frei. Ich schwang den Arm nach oben, schnell und kraftvoll, und der Totenschädel in meiner Hand knallte mit einem befriedigenden Knirschen ins Gesicht der Nekromantin.