30
Ich zog das Schwert und folgte dem Bogen meiner Familienklinge zur Nekromantin. Es ist eins von jenen Schwertern, die den Wind bluten lassen können. Und seine Schneide fand nur leere Luft, die wie getroffen zischte.
Die Nekromantin wich so schnell zurück, dass ich sie nicht erreichen konnte. Mit dem Totenschädel hatte ich sie überrascht, aber jetzt war sie auf der Hut.
Ich schätze, der Schädel traf sie am Nasenrücken, denn dort zeigte sich die Wirkung. Kein Blut, aber ein dunkler Fleck und sich windendes Fleisch, wie von hundert kriechenden Würmern.
Die meisten Brüder standen noch immer reglos da, von der Benommenheit erfasst, die mich bis eben festgehalten hatte. Der Nubier legte einen weiteren Bolzen in seine Armbrust. Makin hatte das Schwert halb aus der Scheide gezogen. Gorgoth ließ Gog los.
Die Nekromantin holte Luft, und es klang nach einer Feile, die über Eisen schabte. Der Atem rasselte in ihrer Kehle. »Das«, sagte sie, »war ein Fehler.«
»Es tut mir ja so leid!«, erwiderte ich fröhlich und sprang vor. Sie glitt hinter eine Säule, und meine Klinge traf Stein.
Gog stürzte Magog entgegen und riss seinen Bruder aus dem einhändigen Griff des Skeletts. Ich sah Druckstellen, von Knochenfingern an einem dünnen Hals zurückgelassen.
Vorsichtig trat ich hinter die Säule und musste feststellen, dass die Nekromantin hinter einer weiteren Säule verschwunden war, fünf Meter entfernt.
»Ich bin sehr eigen damit, wem ich erlaube, einen Zauber auf mich zu legen.« Ich drehte mich und trat nach Rike, den man kaum verfehlen kann. »Komm schon, Rikey! Aufgewacht!«
Mit einem wortlosen Heulen, das nach einer Mischung von zornigem Walross und aus dem Winterschlaf gerissenem Bär klang, löste sich Rike aus seiner Starre. Direkt vor ihm bückten sich die beiden Skelette, um die auf dem Boden liegenden Leucrota-Kinder zu packen. Rike ragte weit über den beiden Untoten auf, nahm einen Schädel in jede Hand und knallte sie gegeneinander. Sie zerbrachen, und Knochensplitter flogen.
Rike brüllte etwas Unverständliches. »Kalt!«, brachte er dann hervor. »Verdammt kalt!«
Ich wandte mich wieder der Nekromantin namens Chella zu, mit einer humorvollen Bemerkung auf der Zunge. Doch der Spott blieb mir im Hals stecken, als ich sie sah. Das ganze Gesicht war jetzt in Bewegung. Geschrumpftes Fleisch klebte an ihren Knochen und pulsierte. Der Körper, der mich eben noch so verlockt hatte, besaß nun den Reiz einer Toten, die den Hungertod gestorben war. Sie richtete ihren dunklen Blick auf mich, und ihre Augen funkelten umgeben von Fäulnis. Sie lachte, und ihr Lachen klang wie im Wind flatternde nasse Lumpen.
Die Brüder waren jetzt bei mir. Gorgoth stand da und bewegte sich nicht. Die beiden Leucrota-Jungen hockten dicht nebeneinander in den Schatten.
»Wir sind viele, und du bist allein, Teuerste. Und außerdem bist du auch noch verdammt hässlich. Du solltest also besser beiseite treten und uns passieren lassen«, sagte ich. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, dass sie nicht so einfach nachgeben würde, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt, wie es so schön heißt.
Im wurmigen Gesicht wuchs ein so breites Lächeln, dass sich die Kieferknochen zeigten. Plötzlich veränderten sich die brodelnden Züge der Nekromantin, und für einen Moment sahen wir Gains, wie er schreiend in die Tiefe stürzte.
»Die Toten sind viele, mein Junge«, sagte die Nekromantin. »Ihr könnt gehen – in ihre Sphäre.«
Die Temperatur fiel, sehr schnell, sie stürzte wie Gains, in bodenlose Tiefen. Es wurde erst unangenehm, dann schmerzhaft und schließlich einfach absurd, innerhalb weniger Sekunden. Und das Geräusch. Wieder ertönte um uns herum das schreckliche Knirschen und Knarren, mit dem die beiden Skelette ihre Knochen zusammengesetzt hatten, und gleichzeitig stieg Geisterdunst auf. Es war ein Geräusch, bei dem man sich am liebsten die Zähne aus dem Mund gerissen hätte. Die Fackel in Makins Hand gab ihren Kampf gegen die Kälte auf und erlosch.
Der Nebel umhüllte alles, und ich konnte nur noch die Brüder sehen, die in meiner unmittelbaren Nähe standen. Die Skelette näherten sich langsam, wie in einem Traum. Wenn nicht das Feuer von Gorgoths Fackel gewesen wäre, hätte uns stockfinstere Dunkelheit umgeben.
Ich schwang mein Schwert nach dem ersten Angreifer. Das Heft fühlte sich eisig an in meiner Hand, aber ich wollte es nicht loslassen – ich brauchte Bewegung, um mir Wärme zu bewahren. Die spröden Knochen des Skeletts zerbrachen sofort, als meine Klinge sie traf. Mir blieb keine Zeit für Jubel, denn schon kam das nächste Skelett aus dem Nebel.
Wir fanden in den Rhythmus des Kampfes, und das Zeitgefühl verließ uns. In einem kalten Limbus hingen wir, in dem nur brechende Knochen und Schwerthiebe Bedeutung hatten. Jedes Mal, wenn ich mit meiner Klinge durch Geisterfleisch schnitt, schien die Kälte tiefer in meinen Leib zu beißen. Das Schwert wurde schwer in meiner Hand, bis es sich anfühlte, als sei es aus Blei geschmiedet.
Ich sah Roddat sterben. Ein Skelett erwischte ihn, als er nicht aufpasste. Knochenfinger fanden beide Seiten seines Kopfs, und Blässe breitete sich von ihnen aus – das lebende Fleisch starb dort, wo das Geisterfleisch es berührte. Er war ein Wiesel, unser Roddat, aber es bereitete mir eine gewisse Genugtuung, das Ding zu zerhacken, das ihn getötet hatte.
Hinter mir schrie jemand. Es klang nach Bruder Jobe. Und es war ein Schrei, von dem man nicht wieder aufsteht.
Makin erschien an meiner Seite, mit Raureif am Brustharnisch. Seine Lippen waren blau. »Es kommen immer mehr.«
Ich hörte Gebrüll hinter uns. Der Dunst schien Geräusche zu schlucken, doch das Brüllen fand einen Weg hindurch.
»Rike?« Ich musste rufen, damit Makin mich hörte.
»Gorgoth!«, erwiderte er. »Du solltest ihn kämpfen sehen. Er ist ein Ungeheuer!«
Dabei musste ich lächeln.
Es kamen tatsächlich immer mehr. Endlos stapften sie aus der Dunkelheit, ein Skelett nach dem anderen. Jemand starb neben mir. Ich wusste nicht, wer es war.
Zweihundert von den Mistkerlen mussten wir erledigt haben, aber es kamen immer mehr.
Mein Schwert verfing sich in den Rippen des Skeletts, nach dem ich schlug. Nicht genug Kraft in den Hieb gelegt. Makin schwang seine Klinge und köpfte den Knochenmann.
»Danke.« Das Wort klang beinahe tonlos, es kam zwischen tauben Lippen hervor.
Ich werde hier nicht sterben, dachte ich immer wieder, aber dieser Gedanke verlor allmählich an Überzeugungskraft. Ich werde hier nicht sterben. Es war zu kalt fürs Denken. Ich sterbe nicht an diesem Ort. Nach unten schlagen, um die Hände zu treffen, die sich dir entgegenstrecken. Diese Burschen fühlen es nicht einmal. Aber die Schlampe, sie hat’s gefühlt, als ich ihr den Totenschädel ins Gesicht schmetterte. Die Schlampe.
Man lasse sich im Zweifelsfall vom Hass leiten. Normalerweise halte ich nichts von diesem Rat. Er macht einen Mann berechenbar. Aber in jenem elenden Knochensaal war mir das alles egal. Mir blieb nur der Hass, um mich ein wenig zu wärmen.
Ich schlug ein Skelett nieder und lief daran vorbei.
»Jorg!«, hörte ich Makin hinter mir rufen. Dann nahm mir Dunkelheit die Sicht, und der Dunst legte eine dicke Decke über den Krach des Kampfes.
Oh, es war finster dort draußen. So finster, dass die Dunkelheit einem alle Erinnerungen an Farben stahl. Ich schwang mein Schwert einige Male, zerbrach Knochen, zerschnitt die Luft und traf schließlich eine Säule, mit solcher Wucht, dass mir das Schwert aus der kalten Hand sprang. Erschrocken suchte ich nach der Klinge, mit Händen, die so taub waren, dass ich nicht einmal mein eigenes Gesicht mit ihnen gefunden hätte. Allmählich wurde mir klar, dass sich keine Skelette mehr in der Nähe befanden. Es streckten sich mir keine Knochenhände aus dem Dunkel entgegen. Ohne Schwert und orientierungslos wankte ich durch den Dunst.
Die Schlampe. Sie musste hier irgendwo sein. Ganz bestimmt. Sie wartete darauf, unsere Seelen zu fangen, wenn wir starben. Sie wartete auf Nahrung.
Ich blieb stehen, so reglos, wie es mein Zittern erlaubte. Die Nekromantin hatte den Schleier gehoben. Ich erinnerte mich an die Worte des Nubiers: Sie hatte den Schleier zwischen den Welten gehoben, und jetzt kamen die Toten zu uns. Wenn ich die Nekromantin erledigte, würden auch keine Toten mehr kommen. Ich horchte. Ich horchte in eine Stille so samten wie die Dunkelheit. Noch immer stand ich reglos, strengte meine Ohren an und suchte nach einem Hinweis.
»Nelken.« Meine Lippen formten das Wort. Ich rümpfte die Nase. Nelkenöl? Der Geruch zeigte mir den Weg. Schwächer als schwach hing er in der Luft, aber er weckte meine Aufmerksamkeit, da ich mich nicht mehr auf den Kampf konzentrieren musste. Ich folgte ihm, wandte mich nach rechts und links, suchte nach seinem Ursprung.
Meine Hände fanden einen schmalen Zugang, und ich betrat einen Raum, der das flackernde Licht einer zu Boden gefallenen Fackel empfing.
Plötzlich verstand ich, was es mit dem Geruch auf sich hatte. Die Armbrust des Nubiers lag neben der Fackel, achtlos fallen gelassen, die Kabelsehne gespannt, aber ohne Bolzen. Der Nubier hatte die anderen Brüder vor mir verlassen und sich auf die Suche nach der Nekromantin gemacht. Er war schneller gewesen als ich.
»Nekromantin«, sagte ich.
Sie stand vor einem der Erbauer-Schächte. Sein quadratisches Maul war hinter ihr geöffnet, und das schwache Licht der Fackel reichte nicht aus, um die Dunkelheit daraus zu vertreiben. Die Nekromantin hielt den Nubier vor sich, den Kopf zur Seite gedrückt, ihr Mund an den Sehnen seines Halses. Ich sah die gespannten Muskeln seiner Arme, die nutzlos gekrümmten Finger – das Schwert lag zu seinen Füßen, mit dem Heft über dem Rand des Schachtes.
Die Nekromantin hob ihr Gesicht vom Hals des Nubiers. Blut tropfte von ihren Zähnen. Wie viel Kraft auch immer sie ihm gestohlen hatte, es war genug für die Wiederherstellung ihres früheren Aussehens. Das Blut rann über volle Lippen und ein makelloses Kinn.
»Einen so Frischen hast du zu mir geschickt, Prinz Jorg«, sagte sie. »Mhm, mit heidnischen Gewürzen aromatisiert. Ich danke dir.«
Ich bückte mich und hob die Armbrust auf. Ihr Gewicht erstaunte mich immer wieder. Ich nahm auch den daneben liegenden Bolzen und legte ihn vor die gespannte Sehne. Die Nekromantin trat hinter den Nubier und benutzte ihn als Schild. Direkt hinter ihr gähnte die Leere des Schachts.
»Dir ist kalt, mein Prinz«, sagte Chella. Die plötzliche Musik ihrer Stimme traf mich unvorbereitet. Es war eine komplexe Melodie, und sie ging tief. »Ich könnte dich wärmen.«
Mein müder Leib fühlte sich zu der dunklen Musik hingezogen. Es war die Erinnerung an Gains Gesicht in ihrem wurmigen Fleisch, die mich darin hinderte, ihrer Verlockung zu erliegen. Ich hob die Armbrust und wusste, dass ich sie nicht lange halten konnte.
»Es ist Grabeskälte in dir.« Ihre Stimme wurde zu einem Zischen. »Sie wird dich töten.«
Über die Schulter des Nubiers hinweg lächelte sie mich an und genoss meine Hilflosigkeit. »Du zitterst, Jorg. Leg die Armbrust weg. Wahrscheinlich könntest du nicht einmal deinen Freund hier treffen, geschweige denn mich.«
Wie groß die Versuchung war, die Armbrust sinken zu lassen.
»Er ist nicht mein Freund«, sagte ich.
Die Nekromantin schüttelte den Kopf. »Er würde für dich sterben. Ich schmecke es in seinem Blut.«
»Du spielst das falsche Spiel mit mir, totes Ding.« Ich hob die Armbrust und zielte. Das Zittern meiner Arme ließ die Spitze tanzen. Ein bisschen mehr, und es hätte den Bolzen aus seiner Furche geschüttelt.
Die Nekromantin lachte. »Ich sehe, wie die Lebenden miteinander verknüpft sind. Du hast nur zwei Freunde, Prinz Jorg. An diesen Mann mit dem süßen Blut bist du so gebunden wie ein Sohn an seinen Vater.«
Opfer.
Die verlockend schöne Frau setzte ihre Finger auf die roten Löcher im Hals des Nubiers. »Gib mir die anderen. Gib mir ihren Lebenssaft, und ihr beide, dieser Mann und du, könnt bei mir bleiben. Ihr könnt mir helfen, die Leucrota zu ernten. Es existieren mehrere Stämme, und einige von ihnen sind recht aufsässig. Und ein lebender Verbündeter so klug wie du könnte gegen die anderen Nekromanten ein nützlicher Verbündeter sein.«
Spiel das Spiel.
Die Nekromantin lächelte, und in mir brannte wieder das dunkle Feuer. »Ich mag dich, Prinz. Wir können zusammen unter dem Berg herrschen.« Sex tropfte von ihren Worten. Nicht das blasse Rollen unter Laken, das Sally mir gegeben hatte, sondern etwas, das mächtiger war, unsichtbar und aufzehrend. Diese Frau bot mir ein Remis an. Leben, Macht und Herrschaft. Aber in ihren Diensten.
Spiel das Spiel, um zu gewinnen.
Der Nubier sah mich an, und zum ersten Mal wusste ich seinen Blick zu deuten. Ich hätte mit allem fertigwerden können. Mit Hass und Angst, auch mit Flehen. Aber er verzieh mir.
WruOmm!
Der Bolzen traf den Nubier in die Brust, riss ein Loch in sie beide und ließ sie nach hinten kippen, in den dunklen Schacht. Keiner von ihnen schrie, und es dauerte eine Ewigkeit, bis sie tief unten auf den Boden schlugen.