35

 

»Inzwischen hätten wir etwas sehen sollen«, sagte Makin.

Ich schaute über die Schulter zurück. Die hässliche Masse des Honasbergs streckte dem Himmel eine schwarze Faust entgegen, in der die Rote Burg ruhte. Hinter uns stapften die Brüder, eine Linie aus Vagabunden, die sich den Hang hinunter mühten.

»Dieser Tod wandert langsam, Makin«, sagte ich. »Eine unsichtbare Hand mit fatalen Fingern.« Ich lächelte.

»Mit tödlichen Fingern, die jeden Säugling in seiner Krippe finden?« Makin presste voller Abscheu die Lippen zusammen.

»Würdest du sie lieber von Rike finden lassen, oder von Row?«, fragte ich und legte ihm die Hand auf die Schulter, Panzerhandschuh auf Rüstungsplatte, beides mit grauem Dreck aus dem Fluchttunnel beschmiert. Er hatte das Zeug auch in seinem Haar; es trocknete auf den schwarzen Locken.

»Du scheinst in letzter Zeit besorgt zu sein, alter Freund«, sagte ich. »Sind die vergangenen Sünden so schwer, dass du ihnen keine weiteren hinzufügen möchtest?«

Ich stellte fest, dass wir fast gleich groß waren, obwohl Makin zu den größeren Männern zählte. Noch ein Jahr, und er würde zu mir hochsehen müssen.

»Manchmal machst du selbst mir was vor, so gut bist du, Jorg.« Er klang müde. Ich sah das Netz aus dünnen Falten in seinen Augenwinkeln. »Wir sind keine alten Freunde. Vor etwas mehr als drei Jahren bist du gerade mal zehn gewesen. Zehn! Vielleicht sind wir Freunde, ich weiß es nicht, aber ›alte‹?Nein.«

»Und worin bin ich so gut?«, fragte ich.

Er zuckte die Schultern. »Darin, in eine Rolle zu schlüpfen. Mit deiner Intuition fehlende Jahre zu ersetzen. Mangelnde Erfahrung mit Einfallsreichtum wettzumachen.«

»Du glaubst, ich müsste alt sein, um mit einem alten Kopf zu denken?«, fragte ich.

»Ich glaube, du müsstest länger gelebt haben, um das Herz eines Mannes wirklich zu verstehen. Du müsstest mehr Geschäfte in deinem Leben gemacht haben, um den Wert des Geldes, das du so unbekümmert ausgibst, besser zu schätzen.« Makin drehte sich um und beobachtete, wie die Brüder langsam zu uns aufschlossen.

Ganz hinten kam Rike in Sicht, als er eine Anhöhe erklomm, eine dunkle Silhouette vor dem dämmerungsblassen Himmel. Die Wolken hinter ihm bildeten Streifen, das schmutzige Violett eines frischen Blutergusses, und streckten sich gen Westen. Verbände an Rikes Oberarm und an der Stirn flatterten im Wind.

Etwas kitzelte mich, der Hauch eines Flüsterns, kälter als der Wind.

Makin wollte weitergehen.

»Warte …«

Schreie. Das Entsetzen jener, die bereits tot waren.

Es ertönte kein Geräusch, aber der Berg Honas hob sich, wie ein Riese, der Atem holte. Ein Licht erwachte unter den Felsen, ein Gleißen blutete durch breiter werdende Risse. In nur einem Moment verschwand der Berg, in einer höllischen Spirale gen Himmel geschleudert. Und irgendwo in diesem Wirbel befand sich jeder Stein der Roten Burg, vom tiefsten Kellergewölbe bis zum höchsten Turm.

Ein Leuchten überstrahlte alles, nahm dem Land die Farben und tauchte die Welt in blendendes Weiß. Rike wurde zu einem dunklen Flackern vor dem grellen Himmel. Ich fühlte den heißen Kuss des fernen Feuers, wie ein Sonnenbrand auf den Wangen.

Was so hell brennt, kann nicht von langer Dauer sein. Das Licht verblasste und ließ uns im Schatten, in jener Art von Düsternis, die einem Sturm vorausgeht. Ich sah seine Vorreiter, neugeborene Geister, die vor seinem Zorn flohen. Ich beobachtete, wie sie übers Land huschten, wie die Welle, die von einem ins Wasser geworfenen Stein ausgeht, ein grauer Ring, der Fels in Staub verschwinden ließ, schnell wie meine Gedanken. Auch der Himmel kräuselte sich, und aus den Wolkenstreifen wurden Peitschen für den Donner.

»Heiliger Jesus.« Makin stand mit offenem Mund da und schien alle Worte verloren zu haben.

»Lauft!« Burlows Ruf klang seltsam gedämpft.

»Warum?« Ich breitete die Arme aus und hieß die Zerstörung willkommen. Wohin sollten wir laufen?

Ich beobachtete, wie die Brüder fielen. Die Zeit dehnte sich, und das Blut floss kalt in meinen Adern. Zwischen zwei Herzschlägen riss es uns alle von den Beinen, Rike als Ersten – er verlor sich im grauen Mahlstrom, war wie ein Kind vor einer gewaltigen Meereswelle. Heißer Wind hob mich an. Ich fühlte, wie der Tod durch mich strömte, und schmeckte erneut die bittere Galle des Nekromantenbluts.

Eine Zeit lang schwebte ich, wie Rauch über einem Gemetzel.

Ich lag in nichts. Ich wusste nichts. Ein Frieden tiefer als Schlaf, bis …

»Oh! Bravo!« Die Stimme schnitt in meinen Geist, war sehr nahe und klang irgendwie vertraut. »So hat dieser verlorene Sohn den Winter unseres Hundertkriegs in grässlichen Sommer verwandelt.« Die Stimme hatte einen seltsamen Rhythmus, und fremde Akzente lagen in ihr.

»Du verschandelst Shakespeare noch schlimmer als seine Muttersprache, Sarazen.« Das war die Stimme einer Frau, samten und voll.

Lauf einfach.

»Er hat eine Erbauer-Sonne geweckt, und du machst Witze?« Ein Kind, ein Mädchen.

»Bist du noch nicht tot, Kind? Obwohl der Berg auf dich fiel?« Die Frau klang enttäuscht.

»Vergiss das Kind, Chella. Sag mir, wer hinter diesem Jungen steht. Hat Corion genug von Graf Renar und eine neue Figur aufs Spielbrett gesetzt? Oder hat die Stille Schwester ihren Zug gemacht?«

Sageous! Ihn erkannte ich.

»Glaubt sie, das Spiel mit diesem Halbwüchsigen gewinnen zu können?« Die Frau lachte.

Und sie kannte ich ebenfalls. Die Nekromantin.

»Ich habe dich zur Hölle geschickt, mit dem Bolzen aus der Armbrust des Nubiers in deinem Herzen«, sagte ich.

»Was bei Kalis Na …«

»Er hört uns?« Sie unterbrach ihn, Chella, ich kannte ihre Stimme. Die einzige Leiche, die mir jemals eine Erektion beschert hatte.

Ich suchte nach ihnen, dort im Rauch.

»Nein, das ist unmöglich«, sagte Sageous. »Wer steht hinter dir, Junge?«

Ich fand nichts in dem blinden Wogen, das mich umgab.

»Jorg?« Ein Flüstern an meinem Ohr. Wieder das Mädchen. Das leuchtende Kind der Ungeheuer.

»Jane?« Ich sprach ebenfalls ganz leise, oder glaubte es zumindest. Allerdings konnte ich nicht fühlen, wie sich meine Lippen – oder andere Teile meines Körpers – bewegten.

»Der Äther verbirgt uns nicht«, sagte Jane. »Wir sind der Äther.«

Ich dachte kurz darüber nach. »Lasst mich euch sehen.«

Ich konzentrierte meine Willenskraft darauf. »Lasst mich euch sehen.« Lauter diesmal. Und ich malte ihre Bilder in den Rauch.

Chella erschien zuerst, schlank und reizvoll wie bei unserer ersten Begegnung, halb von ätherischen Nebelstreifen umhüllt. Dann kam Sageous. Er beobachtete mich mit seinen so täuschend sanft blickenden Augen, größer und ruhiger als Mühlteiche – mein Wille schnitt seine Gestalt aus dem Nichts. Jane trat neben ihn, mit schwachem Glühen, ihr Licht nicht mehr als ein Glimmen unter der Haut. Es gab noch andere, Schemen im Dunst, einer dunkler als die anderen, die Umrisse halb vertraut. Erneut nahm ich meine Willenskraft zusammen und versuchte, ihn zu erkennen. Der Nubier fiel mir ein, meine Hand an einer Tür, das Gefühl, ins Leere zu fallen. Deja-vu. »Wer gibt dir diese Kraft, Jorg?« Chella lächelte verführerisch und trat um mich herum, ein Panther, der mit seinem Opfer spielte.

»Ich habe sie mir genommen.«

»Nein.« Sageous schüttelte den Kopf. »Das Spiel ist zu alt für Tricks und Schwindel. Alle Spieler sind bekannt. Und die Beobachter ebenfalls.« Er nickte Jane zu.

Ich schenkte ihm keine Beachtung und hielt den Blick auf Chella gerichtet. »Ich habe den Berg auf dich herabstürzen lassen.«

»Und ich bin begraben. Na und?« Etwas von ihrem wahren Alter erklang in der Stimme.

»Bete, dass ich dich nie ausgrabe«, sagte ich.

Ich sah Jane an. »Bist du ebenfalls begraben?«

Für einen Moment flackerte ihr Glühen, und eine andere Jane nahm ihren Platz ein, eine zerbrochene. Eine Flickenpuppe, an einem dunklen Ort, wo das einzige Licht von ihr selbst stammte, zwischen Felssplittern gehalten. Knochen ragten aus Hüfte und Schulter, auffallend weiß und voller Blut, das in der Düsternis schwarz wirkte. Sie drehte ansatzweise den Kopf, und der Blick ihrer silbrigen Augen begegnete meinem. Das Flackern wiederholte sich, und sie stand wieder vor mir, frei und unverletzt.

»Ich verstehe nicht.« Aber ich verstand.

»Arme kleine Jane.« Chella ging um das Mädchen herum, kam ihm aber nicht zu nahe.

»Sie wird sauber sterben«, sagte ich. »Sie fürchtet das Ende nicht. Sie wird den Weg nehmen, vor dem ihr solche Angst habt. An Aasfleisch festzuhalten und tief in der Erde zu verfaulen, daran lässt euch Feigheit festhalten.«

Chella fauchte, das Gesicht voller Gift, in der Lunge der Schleim von Verwesung. Der Rauch nahm sie wieder, wand sich ihr wie eine Schlange um den Leib.

»Töte ihn langsam, Sarazen.« Sie warf Sageous einen strengen Blick zu und verschwand.

Ich fühlte Jane an meiner Seite. Es kam kein Licht mehr von ihr. Ihre Haut hatte die Farbe feiner Asche, die übrig bleibt, wenn das Feuer alles verbrannt hat, was brennen kann. »Gib für mich auf Gog Acht, und auf Gorgoth«, flüsterte sie. »Sie sind die letzten Leucrota.«

Die Vorstellung, dass Gorgoth jemanden brauchen sollte, der auf ihn Acht gab, brachte scharfe Worte auf meine Zunge, aber ich schluckte sie hinunter. »Das werde ich.« Vielleicht meinte ich es sogar ernst.

Sie nahm meine Hand. »Du kannst die Siege erringen, die du anstrebst, Jorg, aber nur, wenn du bessere Gründe für sie findest.« Kraft prickelte durch meine Finger. »Sieh nach den verlorenen Jahren, Jorg. Sieh nach der Hand auf deiner Schulter, nach den Fäden, die dich führen …«

Sie ließ mich los, und Rauch wogte, wo sie gerade noch gestanden hatte.

»Kehr nicht nach Hause zurück, Prinz Jorg.« Sageous ließ seine Drohung wie einen väterlichen Rat klingen.

»Wenn du jetzt losläufst, erwische ich dich vielleicht nicht«, sagte ich.

»Corion?« Er sah in den gestaltlosen Äther hinter mir. »Schick diesen Jungen nicht gegen mich. Es würde schlimm enden.«

Ich griff nach meinem Schwert, aber er war verschwunden, bevor ich es aus der Scheide ziehen konnte. Der Rauch wurde bitter, brannte in meinem Hals, und ich hustete.

»Er kommt zu sich.« Ich hörte Makins Stimme wie aus weiter Ferne.

»Gib ihm mehr Wasser.« Das war Elban.

Ich stemmte mich hoch, hustete und spuckte Wasser. »Bei Gottes Hure!«

Eine gewaltige Wolke, wie ein riesiger Pilz, ragte dort auf, wo der Honasberg gewesen war.

Ich blinzelte und ließ mich von Makin auf die Beine ziehen.

»Du bist nicht der Einzige, den es ziemlich hart getroffen hat.« Makin nickte in Richtung Gorgoth, der einige Meter entfernt saß, mit dem Rücken zu uns.

Ich wankte zu ihm und blieb stehen, als ich die Hitze bemerkte, die Hitze und ein Glühen, das trotz des Tageslichts eine Silhouette aus Gorgoth machte, als säße er dicht vor einem Lagerfeuer. Ich wandte mich ein wenig zur Seite und sah an ihm vorbei. Gog lag zusammengerollt wie ein Ungeborenes im Bauch der Mutter, jeder Zoll von ihm weiß glühend, als strahlte das Licht der Erbauer-Sonne aus ihm. Selbst Gorgoth musste ein wenig zurückweichen.

Während ich den Jungen beobachtete, wechselte seine Haut durch die Farben, die man bei Eisen in der Esse beobachten kann: heißes Orange, dann dunkleres Rot. Ich trat vorsichtig einen Schritt näher, und er öffnete die Augen, wie weiße Löcher, die ins Zentrum einer Sonne führten. Er schnappte nach Luft, die Innenseite seines Munds geschmolzen, rollte sich dann noch enger zusammen. Manchmal tanzte Feuer über seinen Rücken, lief über die Arme und verschwand. Zehn Minuten dauerte es, bis Gog so weit abgekühlt war, dass wieder seine alten Farben zum Vorschein kamen und man neben ihm stehen konnte.

Schließlich hob er den Kopf und lächelte. »Mehr!«

»Du hast genug gehabt, Junge«, lautete meine Antwort. Ich wusste nicht, was die Erbauer-Sonne in ihm geweckt hatte, aber ich fand, es sollte besser wieder schlafen.

Ich sah zur riesigen Wolke, die noch weiter über dem Honasberg zu wachsen schien, und ließ den Blick über eine Landschaft streichen, die über viele Meilen hinweg brannte.

»Ich glaube, es wird Zeit für die Heimkehr, Jungs.«