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Von der Roten Burg blieben keine Ruinen übrig, die man betrachten konnte – es blieben nur die Ruinen des Berges, auf dem sie gestanden hatte. Wir traten schneller als sonst den Rückzug an, dankbar dafür, dass der Wind uns entgegenwehte, anstatt uns den Rauch und das Gift von Gelleth zu bringen. In jener Nacht schliefen wir in der Kälte, und niemand von uns hatte Hunger, nicht einmal Burlow.

Die Straße von der Roten Burg zur Hohen Burg ist lang, und unsere Rückkehr schien sie noch länger zu machen. So waren wir auf dem Hinweg geritten, und jetzt mussten wir zu Fuß gehen. Und all die Meilen führten nach unten. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich an einem Berg lieber nach oben klettern als nach unten. Der Weg die Hänge hinab brachte eine andere Art von Schmerz in die Beine. Das Gefälle zog die ganze Zeit über an uns, als wollte es uns steuern und die Kontrolle über uns an sich reißen. Beim Weg hinauf kämpft man gegen den Berg.

»Verdammt, wie sehr ich das Pferd vermisse«, sagte ich.

»Ein feines Stück Pferdefleisch.« Makin nickte und spuckte von staubigen Lippen. »Lass den Stallmeister ein anderes für dich zureiten. Bestimmt gibt es in Ankrath nicht eine Koppel ohne mindestens einen von Gerrods Nachkömmlingen.«

»Er war ein lüsterner Bursche, das stimmt.« Ich sammelte Speichel und spuckte ebenfalls. Die Rüstung rieb auf meiner Haut, und das Metall hielt die Hitze der Nachmittagssonne gefangen. Schweiß rann darunter.

»Es fühlt sich nicht richtig an«, sagte Makin. »Es ist der überzeugendste Sieg seit Jahrhunderten, und wir haben nichts anderes vorzuweisen als das Fehlen unserer Pferde.«

»Eine Bauernhütte gibt mehr Beute her!«, rief Rike von weiter hinten.

»Beim blutenden Christus! Bringt bloß nicht unseren Kleinen Rikey in Fahrt«, sagte ich. »Wir sind auf eine Weise reich, die am meisten zählt, meine Brüder. Wir kehren beladen mit Sieg und Triumph zurück.« Das war eine Währung, mit der man am Hof durchaus etwas anfangen konnte. Alles steht für den richtigen Preis zum Verkauf. Die Gunst eines Königs, eine Thronfolge, sogar der Respekt eines Vaters.

Und das war eine andere Sache, die die Meilen der Rückkehr länger machte. Ich musste nicht nur zu Fuß gehen und Rüstung und Proviant tragen, ich hatte auch noch eine andere Last. Es ist schwer, das Gewicht von Neuigkeiten zu tragen, die man erst in einigen Tagen mit jemandem teilen kann. Gute Nachrichten sind so schwer wie schlechte. Ich stellte mir vor, wie ich mich am Hof des Sieges rühmte und ihn unter Nasen rieb, insbesondere unter die Nase einer gewissen Stiefmutter. Was ich nicht an die Leinwand meiner Fantasie malen konnte, war die Reaktion meines Vaters. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er ungläubig den Kopf schüttelte. Oder wie er lächelte, aufstand und mir die Hand auf die Schulter legte. Ich versuchte zu hören, wie er mich lobte und Sohn nannte. Doch meine Augen wurden blind, und die Worte, die mein Vater sprach, waren so leise, dass ich sie nicht verstand.

Die Brüder hatten während der Rückreise nicht viel zu sagen. Sie fühlten die Lücken in unseren Reihen und waren heimgesucht von der Leere dort, wo der Nubier sein sollte. Gog hingegen war quicklebendig, lief immer wieder voraus, jagte Hasen und stellte dauernd Fragen.

»Warum ist das Dach blau, Bruder Jorg?«, fragte er. Er schien die Außenwelt für eine größere Höhle zu halten. Manche Philosophen stimmen ihm da zu.

Es gab auch andere Veränderungen. Die geröteten Stellen auf Gogs Haut zeigten ein kräftigeres Rot, und die nächtlichen Lagerfeuer faszinierten ihn. Wie verzaubert starrte er in die Flammen und rückte immer näher an sie heran. Gorgoth schien darüber besorgt zu sein und stieß den Jungen mehrmals vom Feuer zurück in die Schatten.

Die Straße wurde vertrauter, das Gelände weniger steil, die Felder und Wiesen üppiger. Ich wandelte auf den Wegen meiner Kindheit. Eine goldene Zeit war es, leichte Tage ohne Sorgen, begleitet von der Musik meiner Mutter und ihrem Gesang, ohne Missklang bis zu meinem sechsten Lebensjahr. Damals hatte mich mein Vater die erste der harten Lektionen gelehrt – Lektionen, bei denen es um Schmerz, Verlust und Opfer ging. Gelleth war die Summe jener Lektionen. Sieg ohne Kompromiss, ohne Gnade oder Zögern. Ich nahm mir vor, König Olidan für den Unterricht zu danken und ihm zu schildern, was ich mit seinen Feinden gemacht hatte. Er würde es bestimmt zu schätzen wissen.

Unterwegs dachte ich auch an Katherine. Meine müßigen Momente füllten sich mit ihrem Bild, mit Erinnerungen daran, wie ich ihr ganz nahe gewesen war. Ich sah, wie das Licht auf sie fiel, auf ihr Gesicht und die vollen Lippen.

Müde und mit wunden Füßen erreichten wir das Landesinnere von Ankrath und waren so tief in Gedanken versunken, dass wir nicht einmal daran dachten, uns Pferde für den Rest der Reise zu stehlen. Wenn ich die Augen schloss, sah ich die neue Sonne über Gelleth aufgehen und hörte die Schreie der Geister.

Wir sahen die Zinnen der Hohen Burg von der Ostenkamm, und von dort aus waren es noch sieben Meilen bis zu den Toren. Im Westen ging die Sonne unter, scharlachrot, und drängte uns zur Eile.

»Kehren wir als Helden zurück, Jorg?«, fragte Elban. Er lispelte stärker und klang unsicher, als müssten ihn all die Jahre erst noch lehren, dass der Zweck die Mittel heiligte.

»Helden?« Ich zuckte die Schultern. »Wir kehren als Sieger heim, und drauf kommt es an.«

Die letzte Meile legten wir im Dunkeln zurück. Die Wächter am Tor der Unteren Stadt stellten mir keine Fragen. Vielleicht erkannten sie den Prinzen. Oder sie wussten meinen Gesichtsausdruck zu deuten, woraufhin ihr Selbsterhaltungstrieb sie zu Rücksicht gemahnte. Jedenfalls passierten wir das Tor, ohne dass sich uns jemand in den Weg stellte.

»Bruder Kent, wie war’s, wenn du zur Unteren Stadt gehst und für die Jungs etwas zu trinken suchst? Zum Beispiel im Gefallenen Engel.« Sir Makin und ich würden den Weg zum Hof fortsetzen. Die übrigen Brüder wären in der Hohen Burg nicht willkommen gewesen.

Mit Makin an meiner Seite ging ich zur Oberen Stadt und verdrängte meine Müdigkeit, als wir durchs Dreifache Tor kamen. Wir überquerten den Vortragsplatz in der Düsternis der beginnenden Nacht.

Als wir die Tafelritter vor Vaters Tür erreichten, fühlte ich neue Kraft in mir. Zuerst hielt ich nach Sageous Ausschau, suchte ihn neben dem König und dann in der prachtvollen Menge. Ich überließ es dem Herold, uns vorzustellen, und noch einmal glitt mein Blick umher, auf der Suche nach dem Heiden. Ich fand Katherine neben der Königin, eine Hand auf der Schulter ihrer Schwester. Für den armen Jorgy hatte sie nur einen strengen Blick übrig. Ich ließ die Stille noch etwas länger andauern.

»Wo hast du deinen bemalten Heiden versteckt, Vater? Wie gern hätte ich den alten Vergifter meiner Träume wieder gesehen.«

Erneut strich mein Blick über das Meer aus Gesichtern.

»Die Dienste für die Krone haben Sageous von uns fortgeführt.« Das Gesicht meines Vaters blieb ausdruckslos, aber mir entging nicht, dass er einen kurzen Blick mit der Königin und ihrer Schwester wechselte.

»Wenn er zurückkehrt, werde ich es nicht versäumen, ihn zu begrüßen.« Der Heide war also vor mir weggelaufen.

»Wie ich hörte, bist du ohne die Waldwache zurückgehumpelt.« Königin Sareth sprach an der Seite meines Vaters, mit den Händen auf ihrem großen Bauch. »Müssen wir daraus schließen, dass du hohe Verluste erlitten hast?« Ein Lächeln entkam der geraden Linie ihres Munds. Und es war ein außergewöhnlich hübscher Mund, muss ich sagen.

Ich schenkte ihr eine kleine Verbeugung. Eine für meinen Halbbruder, der versuchte, aus ihrem Schoß zu kriechen. »Lady, es gibt Verluste bei der Waldwache, das kann ich nicht leugnen.«

Vater neigte den Kopf, als sei die Krone auf seinem Haupt zu schwer geworden. Die blassen Augen unter den dichten Brauen beobachteten mich aufmerksam. »Wir wollen die Einzelheiten dieser großen Niederlage erfahren.«

»Lord Vincent de Gren kam ums Leben …« Ich zählte ihn am Zeigefinger ab.

Die versammelte Aristokratie schnappte erschrocken nach Luft.

»Sogar der Kommandeur der Wache!« Königin Sareth mühte sich auf die Beine. »Er hat sogar den Kommandeur der Wache verloren! Und dieser Junge strebt nach unserem Thron?«

»Lord Vincent de Gren«, fuhr ich fort. »Ich musste ihn die Temus-Kaskade hinunterstoßen. Coddin ist jetzt der Kommandeur, von niederer Geburt, aber zuverlässig.«

»Jed Willox.« Ich zählte einen zweiten Finger. »Bei einem Messerkampf über ein Kartenspiel ums Leben gekommen, als die Grenze von Gelleth zwei Tagesreisen hinter uns lag.«

»Mattus von Lee.« Ich zählte einen dritten Finger. »Offenbar urinierte er versehentlich auf einen Bär. Das legendäre Waldgeschick der Waldwache scheint ein wenig übertrieben zu sein. Und … das war’s.«

Ich hielt die drei Finger auf Armeslänge über meinem Kopf, drehte mich nach links und rechts und behielt dabei mein Publikum im Auge.

»Die Verluste unter meinen eigenen Leuten waren ähnlich groß, aber zu unserer Verteidigung muss gesagt werden, dass das Schleifen einer Burg mit neunhundert gellethianischen Veteranen eine recht gefährliche Angelegenheit ist. Mir standen nur zweihundertfünfzig leicht bewaffnete Waldsoldaten zur Verfügung, und den Dingen, die damit ohne Verluste erreicht werden können, sind Grenzen gesetzt.«

»Der Feigling hat die Rote Burg nie erreicht!« Die Königin zeigte auf mich – für den Fall, dass jemand nicht verstanden hatte, wen sie meinte –, und ihre Stimme wurde zu einem Kreischen.

Ich lächelte und blieb ruhig. Frauen neigen dazu, die Perspektive zu verlieren, wenn sie schwanger sind. Ich sah, wie Katherine Sareth drängte, sich wieder zu setzen.

»Ich habe dir befohlen, die Rote Burg anzugreifen.« Vaters Worte enthielten eine Andeutung von Ärger und klangen dadurch noch drohender.

»Das hast du.« Ich näherte mich dem Thron und ließ Sir Makin hinter mir. »Gib mir Gelleth, hast du gesagt.«

Nur noch ein Meter trennte uns voneinander, mehr nicht, als der erste Palastwächter seine Armbrust hob. Vater bewegte einen Finger, und wir hielten inne, ich und der in seinem Kettenhemd schwitzende Wächter.

»Gib mir Gelleth, hast du gesagt. Und du warst so großzügig, mir dafür die Waldwache zu geben.«

Ich griff in den Straßenbeutel an meiner Hüfte und schenkte den auf mich gerichteten Armbrüsten und den Fingern, die sich um ihre Abzüge krümmten, keine Beachtung.

»Hier ist Merl Gellethar, Lord von Gelleth, Herr der Roten Burg.« Ich öffnete die Hand, und Staub rieselte mir durch die Finger. »Und hier …« Ich holte einen Stein hervor, nicht größer als eine Walnuss. »Hier ist der größte Stein, der von der Roten Burg übrig geblieben ist.«

Ich ließ den Stein fallen, in Stille. Natürlich waren weder Stein noch Staub das, was ich behauptete, aber dennoch lag dort die Wahrheit auf dem Boden des Thronraums. Merl Gellethar war Staub im Wind, seine Burg zerstört.

»Wir haben sie alle getötet. Jeder Mann in der Burg ist tot.« Ich sah zur Königin. »Und jede Frau. Alle Frauen, Küchenjungen, Arbeitssklaven und Huren.« Mein Blick fiel auf ihren Bauch. »Auch alle Kinder und Säuglinge in ihren Krippen.« Ich hob die Stimme. »Jedes Pferd und jeder Hund, jeder Falke und jede Taube. Jede Ratte und jeder Floh, bis hin zum letzten. Nichts lebt dort mehr. Dieser Sieg ist keine halbe Sache.«

Vater sprang auf.

Ein Schritt, und ich stand beinahe Nase an Nase mit ihm. Ich wusste nicht zu deuten, was da in seinen Augen glänzte, aber die alte Furcht hatte mich verlassen, als sei sie mir wie der Sand durch die Finger geronnen.

»Gib mir mein Geburtsrecht.« Ich hielt alle Farbe aus meiner Stimme fern, obwohl es in den Kiefern schmerzte. »Lass mich unsere Heere führen, und ich nehme das Reich und mache es wieder ganz. Lass den Heiden beiseite, ihn und seine Pläne.« Bei diesen Worten ging mein Blick zur neuen Königin.

Ich hätte Vater im Auge behalten sollen. Ich hätte daran denken sollen, woher die Gemeinheit in mir stammte.

Ich fühlte einen plötzlichen Schmerz unter dem Herzen, so heftig, dass ich mir fast die Zungenspitze abgebissen hätte. Der Geschmack von Blut lag mir im Mund, heiß und kupfrig. Ein Schritt zurück, dann noch einer, ein taumelnder. Ich sah die Klinge in Vaters Hand, als sie aus der Wunde kam.

Ist das ein Dolch, was ich vor mir erblicke?. Das Zitat stieg in mir auf, und Lachen folgte ihm, es blubberte zusammen mit scharlachrotem Speichel aus mir heraus. Ich wollte sprechen, aber diesmal fehlten mir die Worte. Sie flossen zusammen mit dem Blut aus mir heraus.

Das Bild des Thronraums verschwamm vor meinen Augen, als verlöre seine Architektur angesichts eines solchen Verrats an Gewissheit. Alle Augen beobachteten meinen Rückzug zur Tür. Die Blicke spießten mich auf, Lords und Ladies, Prinzessin, Königin und König. Die Beine, die mich von Gelleths Roter Burg hierher getragen hatten, ließen mich nun im Stich, als erinnerten sie sich plötzlich an die vielen zurückgelegten Meilen.

Er hat einen Dolch in mich gestoßen!

Einst hatte ich meinen Vater geliebt. Zu einer Zeit, an die ich mich in meinen Träumen erinnere, und manchmal auch, ganz kurz, in wachen Momenten, wie der Schatten einer hohen Wolke, die über meinen Geist streicht. Es gibt da ein lachendes Gesicht aus einem Jahr, das nicht mehr mir gehört, aus einem Damals, als ich zu jung war, um die Distanz zwischen uns zu sehen. Das Gesicht ist bärtig und streng, aber ohne Drohung.

Ist das ein Dolch, was ich vor mir erblicke? Meine Lippen können den Scherz nicht formen, als hätte der Dolch die Stimmbänder zerschnitten. Ich kann nur lachen, als ich falle.

Eine Ewigkeit lag ich vor ihnen, die Wange auf kaltem Marmor. Ich hörte Makin schreien. Ich hörte ein Rasseln und Klappern, als er unter zu vielen Wächtern zu Boden ging. Das langsame Pochen eines Herzschlags hallte in meinen Ohren.

Als ich fiel, sah ich das schwarze Haar meines Vaters, dunkler als die Nacht, mit einem ganz leichten smaragdgrünen Schimmer, wie der Flügel einer Elster.

»Bringt ihn weg.« Er klang müde. Endlich ein kleiner Hinweis auf menschliche Schwäche.

»Soll er neben dem Grab seiner Mutter liegen?« Eine neue Stimme. Die Worte dehnten sich über ein ganzes Zeitalter, aber sie hatten ein Echo irgendwo in mir, und ich sah den Mann, von dem sie stammten. Der alte Lord Nossar, der uns auf den Schultern getragen hatte, Will und mich, vor einem Leben. Der alte Nossar kam, um mich ein letztes Mal zu tragen. Ich hörte die Antwort, zu leise und zu tief, um sie zu verstehen. Meine Augen wurden blind. Ich spürte, wie mir der Boden über die Wange strich, und dann fühlte ich nichts mehr.