Lexie steht mit einer Zigarette in der Hand am Fenster und blickt auf die Straße hinunter. Die alte Frau aus der Wohnung unter ihr macht sich zu ihrem täglichen Spaziergang auf. In der einen Hand die Hundeleine, in der anderen die Einkaufstasche, den Rücken zum Komma verkrümmt, schiebt sie sich, ohne nach links oder rechts zu schauen, im Schneckentempo über die Fahrbahn.
»Eines schönen Tages kommt sie noch unters Auto«, murmelt Lexie.
»Wer?« Innes hebt den Kopf von der Matratze.
Lexie deutet mit der Zigarette nach draußen. »Deine Nachbarin. Die mit dem Buckel. Und wahrscheinlich unter dein Auto.«
Sie sieht anders aus als das Mädchen, das lesend auf dem Baumstumpf saß. Zum einen ist sie - bis auf ein offenes, bunt gestreiftes Hemd von Innes - nackt. Zum anderen hat sie eine neue Frisur, einen angeschrägten Pagenkopf, der ihr Gesicht seidig umspielt.
Innes gähnt, reckt sich und dreht sich auf den Bauch. »Wieso sollte ich meine Nachbarin überfahren wollen? Und wenn du den alten Drachen von unten meinst, die hat keinen Buckel, sondern eine in der Fachwelt als ›Kyphose‹ bekannte Veränderung der Brustwirbelsäule. Hervorgerufen durch …«
»Ach, sei still«, sagt Lexie. »Woher weißt du denn das schon wieder?«
Innes stützt sich auf den Ellenbogen. »Das kommt dabei heraus, wenn man seine Jugend vergeudet. Jahrelang habe ich meine Nase nur in Bücher gesteckt, statt nach Frauen wie dir Ausschau zu halten.«
Während sie lächelnd den Rauch ausströmen lässt, erreichen die Frau und der Hund die andere Straßenseite. Es ist ein drückend schwüler Oktobertag. Schwere Wolken hängen am Himmel, und es sieht nach Wetterleuchten aus, aber die Frau trägt dasselbe wie immer: einen dicken Tweedmantel. »Na, das hast du ja inzwischen alles nachgeholt«, sagt Lexie.
»Dabei fällt mir was ein.« Innes schlägt den Zipfel der Bettdecke zurück. »Komm her zu mir. Mich lüstet nach deiner Zigarette und deinem Körper.«
Sie rührt sich nicht. »In dieser Reihenfolge?«
»Egal in welcher Reihenfolge. Ab ins Bett!« Er klopft auf die Matratze.
Lexie zieht noch einmal an der Zigarette. Sie schrammt mit dem einen nackten Fuß über den anderen, wirft noch einen letzten Blick auf die jetzt leere Straße und setzt zu einem Sprint ins Bett an. Nach drei, vier Schritten hebt sie mit einem graziösen Satz vom Boden ab. Innes sagt: »Mensch, Frau.« Das gestreifte Hemd flattert wie Flügel, und von der Zigarette rieselt weiß die Asche, aber sie bekommt davon nichts mit. Sie weiß nur, dass sie sich gleich zum zweiten Mal an diesem Tag lieben werden. Sie hat keine Ahnung, dass sie jung sterben wird, dass ihr nicht so viel Zeit bleibt, wie sie denkt. Sie hat eben erst die Liebe ihres Lebens gefunden, und nichts liegt ihr ferner als der Tod.
Sie plumpst aufs Bett. Kopfkissen und Decke fliegen herunter, Innes packt ihre Hand, ihren Arm, ihre Taille. »Das brauchen wir nicht«, sagt er, während er ihr das Hemd auszieht und auf den Boden wirft, während er sie aufs Bett legt und sich zwischen das V ihrer Beine schiebt. Er hält einen Augenblick inne, um ihr die Zigarette aus den Fingern zu pflücken, nimmt einen Zug und drückt sie im Aschenbecher auf dem Nachttisch aus.
»Also dann«, sagt er, bevor er sich wieder Lexie zuwendet.
Doch wir wollen nicht vorgreifen. Der Film muss ein Stück zurückgespult werden. Aufgepasst. Innes saugt eine Rauchwolke ein, nimmt eine Zigarettenkippe aus dem Aschenbecher, hüllt Lexie in ein Hemd und schubst sie von sich, die Kissen springen aufs Bett, und Lexie saust zurück zum Fenster. Dann liegen sie wieder im Bett, beide nackt, und es ist schon erstaunlich, dass Sex im Rücklauf auch nicht viel anders aussieht, abgesehen davon, dass sie einander jetzt liebevoll ein Kleidungsstück nach dem anderen anziehen, dann flitzen sie zur Tür hinaus, laufen die Treppe hinunter, und Innes zieht seinen Schlüssel aus dem Schloss. Der Film wird schneller. In Innes’ Auto rasen sie rückwärts die Straße entlang, Lexie mit Kopftuch. In einem Restaurant stochern sie sich mit der Gabel das Essen aus dem Mund und legen es auf den Teller; jetzt sind sie wieder im Bett, und dann fliegen ihre Kleidungsstücke auf sie zu. Eine Frau mit einem roten Pillbox-Hut ist zu sehen, die sich rückwärts von Lexie entfernt. Und da ist wieder Lexie, die an einem Gebäude in Soho hinaufblickt und dann ein paar Schritte zurückwatschelt. Lexie steigt rückwärts eine lange, düstere Treppe hinauf. Der Film wird immer schneller. Ein Zug kommt aus einem großen, verqualmten Bahnhof, rattert rückwärts über Land; an einem kleinen Bahnhof sieht man Lexie aussteigen und ihren Koffer abstellen. Ende des Films. Wir sind genau wieder da angekommen, wo wir stehen geblieben waren.
005
Lexies Mutter hat ihr zwei gute Ratschläge mit nach London auf den Weg gegeben: 1. Such dir eine Stelle als Schreibkraft in einer großen, erfolgreichen Firma, »dann lernst du die richtigen Männer kennen«. 2. Betritt nie ein Zimmer, in dem sich ein Mann und ein Bett befinden.
Ihr Vater sagte: Schlag dir die Uni endgültig aus dem Kopf. Studieren macht unweiblich.
Ihre jüngeren Geschwister sagten: Du musst unbedingt die Königin besuchen.
Ihre Tante, die in den Zwanzigerjahren eine Zeitlang in London gelebt hatte, riet ihr, nie mit der U-Bahn zu fahren (sie sei schmutzig und voller unappetitlicher Gestalten), nie ein Café zu besuchen (dort wimmele es von Bazillen), stets einen Hüfthalter zu tragen und immer einen großen Bogen um Soho zu machen.
Selbstverständlich schlug sie sämtliche Tipps in den Wind.
006
Lexie stand in der Tür, den Koffer in der Hand. Die möblierte Kammer im Dachgeschoss eines hohen, schmalen Reihenhauses hatte eine niedrige Decke mit fünf verschiedenen Schrägen. Die Tür und der Rahmen, die Fußleisten, der mit Brettern vernagelte offene Kamin und der Schrank unter dem Fenster waren samt und sonders gelb gestrichen. Nicht leuchtend gelb - oder, wenn man so will, osterglockengelb - sondern ein kränkliches, blasses, schmutziges Gelb. Das Gelb von Greisengebissen, von Kneipendecken. Wo die Farbe abgeblättert war, kam ein düsteres Braun zum Vorschein. Irgendwie tat Lexie der Gedanke gut, dass hier jemand hatte wohnen müssen, der von einer noch hässlicheren Farbe umgeben war als sie selbst.
Sie ging ein paar Schritte ins Zimmer hinein und stellte ihren Koffer hin. Das enge Bett hing durch, das Kopfteil war schief. Das Oberbett hatte ein verschossen violettes Schnörkelmuster. Als Lexie es zurückschlug, sah sie, dass die Matratze grau, fleckig und durchgelegen war. Schnell breitete sie es wieder darüber. Sie zog ihre Jacke aus und blickte sich nach einem Haken um. Es gab keinen. Sie hängte ihn über die Lehne des einzigen Stuhls, der auch irgendwann einmal eine gelbe Schicht Farbe abbekommen hatte, hellgelb, aber eine etwas andere Schattierung als die Fußleisten. Anscheinend hatte ihre Wirtin einen Gelbfimmel.
Mrs. Collins, eine dünne Frau im Hauskleid und mit schillernd schattierten Lidern, hatte sie an der Haustür mit der Frage empfangen: »Sie sind doch hoffentlich keine Italienerin?«
Lexie hatte verdutzt mit Nein geantwortet und zurückgefragt, ob sie etwas gegen Italiener habe.
»Kann sie nicht ausstehen«, grummelte Mrs. Collins, während sie kurz verschwand und Lexie solange in der Diele mit der braunen Tapete, die sich stellenweise ablöste, dem Telefon an der Wand und der Hausordnung warten ließ. »Alles schmierige Typen. Hier sind Ihre Schlüssel.« Mrs. Collins kam aus dem Wohnzimmer und drückte ihr zwei Türschlüssel in die Hand, »einen für unten, einen für Ihr Zimmer. Es gelten die üblichen Regeln.« Sie zeigte auf den Aushang am Schwarzen Brett. »Keine Herrenbesuche, keine Haustiere, immer einen Aschenbecher benutzen, das Zimmer sauber halten, nie mehr als zwei Besucher gleichzeitig, Ausgang bis elf Uhr abends, danach wird die Tür verriegelt.« Sie beugte sich weit zu Lexie vor und musterte sie prüfend. »Sie mögen vielleicht wie eine nette, ordentliche junge Frau aussehen, aber Sie sind eine von der Sorte, die auf Abwege geraten kann. Das erkenne ich auf den ersten Blick.«
»Ach ja?« Lexie steckte die Schlüssel in ihre Handtasche, ließ sie zuschnappen und bückte sich nach ihrem Koffer. »Unterm Dach, sagten Sie?«
»Ganz oben.« Mrs. Collins nickte. »Auf der linken Seite.«
Lexie zog den Schlüssel aus dem Schloss und legte ihn auf den Kaminsims. Sie ließ sich vorsichtig auf dem Bett nieder und dachte aufatmend: Ich hab’s geschafft, ich bin hier. Sie strich sich die Haare glatt, ließ die Hand über die violetten Schnörkel gleiten. Dann kniete sie sich hin, lehnte sich aufs Fensterbrett und sah hinaus. Tief unter ihr lag ein struppiges Rasenviereck, das auf allen Seiten von efeuüberwucherten Mauern eingefasst wurde. Sie blickte die Reihe der Gärten entlang. In einigen wuchsen Bohnen und Salatköpfe, Rosen oder Jasmin, in anderen zeichneten sich unter dem Rasen, der Erde oder einem Steingarten noch die Höcker der Luftschutzkeller ab. Etwas weiter weg stand eine Kinderschaukel. Sie sah sogar eine riesige Rosskastanie mit flatternden, wehenden Blättern. Und gegenüber die Rückseite eines Reihenhauses, das so ähnlich aussah wie ihres - grau-braune Londoner Backsteine mit einem Zickzackmuster aus Rohren, die Fenster kreuz und quer darauf verteilt, eines mit Pappe zugeklebt. Sie entdeckte zwei Frauen, die wohl aus einem der Fenster geklettert waren und sich auf einem flachen Dachabschnitt sonnten, die Schuhe abgestreift, die hochgerafften Röcke von der Brise gebauscht. Unter ihnen - und von ihnen aus nicht zu sehen - lief ein Kind mit einem scharlachroten Flatterband in der Hand in immer kleiner werdenden Kreisen durch den Garten. Ein paar Häuser weiter hängte eine Frau Wäsche auf die Leine, ihr Mann lehnte mit verschränkten Armen in der Tür.
Lexie schwindelte. Der Unterschied zwischen dem Blick nach hinten in ihre dunkle Kammer und dem Blick nach vorn auf die Welt vor dem Fenster war einfach zu merkwürdig. Einen berauschenden Augenblick lang kamen ihr das Zimmer und sie selbst nicht mehr real vor. Es war, als schwebte sie in einer Seifenblase und spähte auf das LEBEN hinaus, in dem Menschen lachten und redeten, lebten, starben und sich verliebten, arbeiteten und aßen, sich kennenlernten und wieder trennten, während sie nur eine stumme, reglose Beobachterin war.
Sie entriegelte das Fenster und schob die untere Hälfte nach oben. So. Schon viel besser. Der Schleier zwischen ihr und der Welt war gelüftet. Sie hielt den Kopf in den Wind, schüttelte ihn ein paarmal und löste ihr Haar, so dass es ihr frei ums Gesicht spielen konnte. Und es tat ihr gut, wie es sie kitzelte. Sie hörte, wie der kleine Junge, der im Kreis lief, vor sich hin brummte und die beiden Sonnenanbeterinnen leise plauderten. Sie spürte, wie das Fensterbrett unter ihren Ellenbogen scheuerte. Es war ein gutes Gefühl. Ein sehr gutes.
Nach einer Weile nahm sie sich ihre Kammer vor. Sie rückte den Stuhl näher ans Fenster. Sie wuchtete das Bett an die Wand. Sie hängte den Spiegel gerade. Sie lief polternd die Treppe hinunter, um sich von einer verdutzten Mrs. Collins Eimer und Schrubber, Waschsoda und Essig, Besen und Kehrblech auszuborgen. Sie fegte, und sie staubte ab, sie wischte den Boden und die Wände, die Schrankfächer und die Gaskochplatte. Sie schüttelte das Oberbett aus dem Fenster aus, klopfte die Matratze, bis dicke Staubwolken im Zimmer hingen, und bezog alles mit der frischen Bettwäsche, die sie zu Hause hatte mitgehen lassen.
Die Wäsche roch nach Lavendel, Waschpulver und Stärke - eine Mischung, bei der sie stets an ihre Mutter dachte - und auch in Zukunft immer denken würde. Lexie prügelte das Kopfkissen in den Bezug. Am vergangenen Abend hatte sie der Familie beim Essen verkündet, dass sie am nächsten Morgen nach London abreisen würde. Es sei alles arrangiert. Sie habe ein Quartier, sie habe am Montagmorgen einen Termin beim Arbeitsamt, sie habe ihre gesamten Ersparnisse abgehoben, um sich bis zu ihrem ersten eigenen Gehalt über Wasser zu halten. Und wenn sie sich auf den Kopf stellten, sie werde sich nicht aufhalten lassen.
Sofort brach der erwartete Tumult los. Ihr Vater schlug mit der Faust auf den Tisch, ihre Mutter schimpfte und löste sich in Tränen auf. Ihre ältere Schwester, mit dem Baby auf dem Arm, tröstete die Mutter und ließ Lexie mit spitz verkniffenem Mund wissen, das sei ja wieder einmal typisch für ihr »verantwortungsloses Benehmen«. Zwei ihrer Brüder rannten unter lautem Indianergeheul um den Tisch. Das zweitjüngste Kind, das die atmosphärische Störung spürte, plärrte in seinem Hochstuhl.
Sie warf das Kopfkissen aufs Bett und nahm das Oberbett aus dem Fenster. Draußen war es inzwischen dunkel geworden; die Fenster des gegenüberliegenden Hauses leuchteten wie gelbe Kästen, die im tintenschwarzen Weltraum schwebten. Hinter einem bürstete sich eine Frau die Haare, hinter einem anderen las ein Mann mit der Brille auf der Nasenspitze Zeitung. Irgendwo ließ jemand eine Jalousie herunter; irgendwo beugte sich ein Mädchen in die Nacht hinaus und löste ihr Haar, genau wie Lexie es am Nachmittag gemacht hatte.
Lexie zog sich aus, legte sich ins Bett und versuchte, den Duft der Wäsche nicht zu riechen. Sie lauschte auf die Geräusche im Haus. Schritte auf der Treppe, zufallende Türen, ein Frauenlachen, ein leises Pst. Mrs. Collins Stimme, nörgelnd und vorwurfsvoll. Draußen im Garten eine Katze, die in einem fort jaulte. Ein Rohr in der Wand, das erst klopfte, dann zischte. Das Klappern und Scheppern von Töpfen. Jemand auf der Toilette eine Etage tiefer, das Rauschen und Tosen des Wassers, das langsame Tröpfeln, mit dem sich der Spülkasten wieder auffüllte. Lexie wälzte sich in der gestärkten Bettwäsche und sah lächelnd an die rissige Decke.
Am nächsten Tag lernte sie Hannah kennen, ein Mädchen, das im Erdgeschoss wohnte und ihr einen Trödelladen um die Ecke empfahl, wo Lexie Teller, Tassen und Töpfe kaufen konnte. »Akzeptier ja nicht den Preis, den man dir zuerst nennt«, warnte Hannah sie. »Du musst feilschen.« Als Lexie zurückkam, schleppte sie eine Spanplatte an, die Hannah mit ihr die Treppe hinauftrug. Im dritten Stock mussten sie eine Pause machen, um wieder zu Atem zu kommen und ihre Strümpfe hochzuziehen. »Wozu brauchst du das Ding?«, f ragte Hannah keuchend.
Lexie legte die Platte mit der einen Seite aufs Bettgestell, mit der anderen auf den Rand des Waschbeckens. Darauf kamen ein paar Bücher, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, ihr Füller, ein Tintenfläschchen.
»Was hast du damit vor?«, fragte Hannah, die wie hingegossen auf dem Bett lag und Rauchringe blies.
»Ich weiß auch nicht.« Lexie starrte auf die seltsame Konstruktion. »Ich muss mir eine Schreibmaschine kaufen, tippen üben und … ach, ich weiß nicht.« Sie konnte nicht aussprechen, dass sie sich etwas aufbauen wollte, eine Karriere, eine Zukunft. Sie wusste zwar nicht, wie sie das anstellen sollte, aber ein eigener Schreibtisch wäre vielleicht immerhin ein Anfang. Sie fuhr mit der Hand an der Kante entlang. »Ich musste es einfach haben.«
»Wenn du mich fragst«, sagte Hannah, während sie ihre Zigarette auf dem Fenstersims ausdrückte, »wären Töpfe und Pfannen wahrscheinlich nützlicher gewesen.«
Lexie, die sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte, um die Vorhänge abzunehmen, lächelte. »Vielleicht.«