Hier haben wir Lexie, die am Marble Arch
auf dem Bür-L gersteig steht. Sie rückt die Ferse ihres Schuhs
zurecht, knotet sich ein Tuch um den Hals. Es ist ein warmer Abend,
kurz nach sechs. Männer in Anzügen und Frauen mit Hüten und
Stöckelschuhen, die Kinder hinter sich her ziehen, umströmen sie
wie ein Fluss einen Felsblock.
Vor zwei Tagen hat sie ihre neue Stelle angetreten,
als Fahrstuhlführerin in einem großen Warenhaus. Das Arbeitsamt hat
sie dorthin vermittelt, nachdem sie beim Maschineschreiben
erbärmlich abgeschnitten hat. Seit zwei Tagen sagt sie nun schon:
»Welche Etage, Madam?« und »Aufwärts, Sir.« Und »Dritter Stock,
Haushaltswaren, Kurz- und Modewaren, bitte sehr.« Sie hätte nie
gedacht, dass es etwas so Langweiliges geben könnte. Oder dass sie
es schaffen würde, den gesamten Abteilungsplan eines
siebenstöckigen Kaufhauses im Kopf zu behalten. Oder dass es
Menschen gibt, die so viele Sachen kaufen - Hüte, Gürtel, Schuhe,
Strümpfe, Gesichtspuder, Haarnetze, Kostüme. Über die Schultern
ihrer Passagiere hinweg hat Lexie die Listen in ihren
behandschuhten Händen gesehen. Aber sie weiß: Das hier ist nur der
Anfang. Sie ist angekommen, sie ist in London. Jeden Augenblick
wird der Farbenmeer-Abschnitt ihres Lebens beginnen, davon ist sie
überzeugt, das steht für sie fest - es kann nicht anders
sein.
Die junge Frau, die da auf dem Bürgersteig steht,
sieht anders aus als die Lexie in Innes’ Schlafzimmer, die nackte
Lexie im bunt gestreiften Hemd. Anders auch als die Alexandra mit
dem blauen Kleid und dem gelben Tuch, die bei ihren Eltern im
Garten auf einem Baumstumpf saß. Sie wird in ihrem Leben noch viele
Inkarnationen durchmachen. Sie besteht aus unzähligen Lexies und
Alexandras, ineinander verschachtelt wie russische Puppen.
Sie hat ihre Haare hochgesteckt. Sie trägt die
rot-graue Livree des Warenhauses, samt dazugehörigem roten
Halstuch. Die Mütze mit der Kordel hat sie in ihre Tasche gestopft.
Ihre Jacke, zu der auch ein Gürtel gehört, ist für diesen schwülen
Nachmittag eine Spur zu warm. Lexie steht mit hochgezogenen,
verspannten Schultern da. Man kann nicht den ganzen Tag stur
höflich sein, ohne dass es Spuren hinterlässt. Sie bindet das
scharlachrote Halstuch los, reißt es herunter und stopft es in die
andere Tasche. Reibt sich die Schultern, um sie zu lockern. Lächelt
zwei anderen Fahrstuhlführerinnen zu, die aus der Tür kommen und
auf dem überfüllten Bürgersteig Arm in Arm und in ihren hohen
Lackschuhen leicht kippelnd davongehen.
Sie atmet ein. Sie atmet aus. Ihre Schultern senken
sich ein wenig. Sie sieht zu dem hellen Himmelsstreifen auf und
geht los; das Warenhaus mit dem Lift, seinen Knöpfen und der Glocke
lässt sie bis morgen hinter sich. Sie muss sich beeilen, um noch
knapp vor einer heranrumpelnden Straßenbahn auf die andere
Fahrbahnseite zu gelangen. Ein Auto hupt, als sie den
gegenüberliegenden Bürgersteig erreicht, und während sie einem Mann
ausweicht, der einen Blumenkarren schiebt, steigt so etwas wie ein
Lachen in ihr auf. Aber vielleicht ist es auch gar kein Lachen.
Nur, was ist es dann? Als sie um die Ecke biegt, wird sie plötzlich
vom Schein der
tief stehenden Abendsonne übergossen; auf Pflaster und Asphalt
liegen lange, spitze Schattenstreifen. Ein Zeitungsverkäufer kommt
ihr entgegen und ruft immer wieder zwei langgezogene Silben:
Aaaahm Blatt, Aaaahm Blatt. Und plötzlich weiß Lexie, was
sie empfindet: Es ist Freude. Schiere, reinste Freude. Sie ist mit
einer Studienkollegin verabredet, die seit einem Jahr in London
lebt. Sie wollen zusammen ins Kino. Sie hat eine Arbeit, sie hat
eine Unterkunft, sie hat es nach London geschafft. Das Gefühl ist
Freude.
Aaaahm Blatt ruft der Zeitungsverkäufer
wieder, diesmal bereits hinter ihr. Mit einem Blick über die
Schulter springt Lexie vom Bürgersteig und läuft über die Straße.
Sie lässt ihre Tasche schwingen und knöpft ihren Mantel auf. Ah,
was für ein Hochgefühl, wenn man zum ersten Mal begreift, dass man
tun und lassen kann, was man will, ohne dass einem irgendjemand
dreinredet. Die Leute drehen sich erstaunt nach ihr um, eine alte
Frau schnalzt missbilligend mit der Zunge, als sie vorbeirennt, und
die lang gezogenen Rufe des Zeitungsverkäufers hallen wehmütig
hinter ihr her.
Sie kommt erst spät wieder zurück nach Kentish
Town, doch zum Glück nicht zu spät, denn Mrs. Collins hat die Tür
noch nicht verriegelt. Nachdem sie eine Minute mit dem Schloss
gekämpft hat, schlüpft sie hinein und zieht die Tür leise hinter
sich zu. Statt in der Diele von Grabesstille und Dunkelheit
empfangen zu werden, wie sie es erwartet hat, brennen alle Lampen,
und von irgendwoher dringen lautes Stimmengewirr und Gelächter an
ihr Ohr. Auf der Treppe hocken mehrere Frauen, Mieterinnen wie
Lexie.
Verwundert geht sie auf sie zu. Gibt jemand eine
Party? Weiß Mrs. Collins davon? Vielleicht ist sie heute Abend
ausgegangen.
»Ah, da kommt sie ja!«, ruft jemand.
»Wir haben uns schon langsam Sorgen gemacht«, sagt
Hannah, hinter einem Frauenrücken hervorlugend. Sie hält ein Glas
in der Hand und hat leicht gerötete Wangen.
Da an ein Durchkommen ohnehin nicht zu denken ist,
knöpft Lexie erst einmal ihre Jacke auf. »Mir geht’s gut.« Sie
lässt den Blick über die fidele Runde schweifen. »Ich war im Kino,
mit einer Fr…«
»Sie war im Kino!«, ruft Mrs. Collins, die, wie
Lexie jetzt erst sieht, auf dem ersten Treppenabsatz auf einem
Stuhl sitzt.
»Was ist los?«, fragt Lexie lächelnd. »Feiern wir
ein Hausfest?«
»Nun ja«, sagt Mrs. Collins mit einem Anflug ihrer
üblichen Strenge. »Irgendjemand musste ja schließlich Ihren Besuch
unterhalten.«
Lexie sieht sie an. »Meinen Besuch?«
Mrs. Collins packt sie am Arm und schiebt sie durch
das Dickicht aus Beinen und Menschen. »So ein amüsanter junger
Mann«, sagt sie. »Wie Sie wissen, dulde ich ja normalerweise keine
Herrenbesuche, aber nachdem er mit Ihnen verabredet war und Sie ihn
so schnöde versetzt haben, wollte ich Sie nicht blamieren und
…«
Lexie, Mrs. Collins und Hannah biegen um die Ecke
zur nächsten Treppe. Auf der vierten Stufe sitzt Innes.
»Und wie hat er darauf reagiert?«, fragt er gerade
eine graue Maus mit Überbiss. »Maßlos zerknirscht, möchte ich
hoffen.«
»Mr. Kent hat sich ein Spiel für uns ausgedacht.«
Mrs. Collins drückt Lexies Arm. »Wir erzählen ihm die peinlichsten
Augenblicke unseres Lebens, und er darf entscheiden, welche von uns
am meisten gelitten hat. Diejenige ist
dann die Gewinnerin.« Ihr entfährt ein keuchendes Lachen, und sie
schlägt sich die Hand vor den Mund.
»Tatsächlich?«, sagt Lexie.
Innes wendet sich ihr zu, mustert sie von oben bis
unten. Er lächelt. Er bewegt leicht die Hand, in der er seine
Zigarette hält. Es könnte ein Winken sein oder ein
Achselzucken.
»Da sind Sie ja«, sagt er. »Wir haben uns schon
gefragt, wo Sie wohl abgeblieben sind. Sind Sie wieder durch die
falsche Tür gegangen? Ein Tor in eine andere Welt?«
Lexie legt den Kopf auf die Seite. »Heute nicht,
nein. Nur die Tür zum Kino.«
»Ah. Der Lockruf des Zelluloids. Es wurde schon
gemunkelt, dass man Sie womöglich entführt hätte, aber ich habe
dagegengehalten, dass eine Frau von Ihrem Kaliber jeden
potenziellen Entführer in die Flucht schlagen würde.«
Sie sehen sich an. Innes kneift die Augen zusammen
und zieht an seiner Zigarette.
Hannah ergreift das Wort. »Mr. Kent hat uns
erzählt, dass er dich von der Uni kennt.«
Lexie zieht eine Augenbraue hoch. »Ach ja?«
»Ganz richtig«, wirft Innes ein. »Und dann haben
mich diese lieben Menschen aus Mitleid hereingebeten. Irgendjemand
hat ein Fläschchen Brandy beigesteuert, und Ihre gütige Frau Wirtin
hat mich mit Fleischbällchen bewirtet. Das wäre auch schon das Ende
vom Lied.«
Lexie weiß nicht, was sie sagen soll, außer: »Und
wie waren die Fleischbällchen?«
»Unvergleichlich.« Er steht auf, reckt sich und
drückt die Zigarette in einem Aschenbecher aus, der eine Stufe
unter ihm steht. »Ich muss mich dann leider verabschieden. Sie
brauchen sicher alle Ihren Schönheitsschlaf. Meine Damen,
es war mir ein Vergnügen. Ich freue mich schon auf das nächste
Mal. Mrs. Collins, Ihnen gebührt der Preis für die peinlichste
Geschichte. Würden Sie mich wohl noch zur Tür begleiten, Lexie?« Er
bietet ihr seinen Arm an.
Sie zögert. Alles ringsum ruft: »Müssen Sie
wirklich schon gehen?«, »Was für einen Preis bekommt denn Mrs.
Collins?«, »Und was hat sie noch mal erzählt?« Lexie hakt sich bei
ihm ein, und sie gehen zusammen die Treppe hinunter. Nachdem ihnen
die Frauenmeute bis zur untersten Stufe gefolgt ist, bleibt sie
taktvoll, aber widerwillig zurück.
Lexie glaubt, dass er sich an der Haustür
verabschieden will, doch er zieht sie hinter sich her nach draußen
und sagt mit gedämpfter Stimme: »In Wahrheit waren die Klopse
unvergleichlich furchtbar. Zwischen den Zähnen wie Sägemehl, auf
der Zunge wie Schuhleder. Verlangen Sie nie wieder von mir, dass
ich Fleischbällchen esse.«
»Bestimmt nicht.« Sie stutzt. »Als ob ich es je von
Ihnen verlangt hätte.«
Er geht nicht darauf ein. »Warum hat man
Fleischbällchen überhaupt erfunden? Wozu sind sie nütze? Dafür
müssen Sie mir Wiedergutmachung leisten.«
Lexie zieht ihre Hand unter seinem Arm weg. »Was
meinen Sie damit? Und was machen Sie eigentlich hier? Wie haben Sie
mich gefunden?«
Er sieht ihr tief in die Augen. »Wissen Sie, wie
viele Pensionen für ledige Frauen es in Kentish Town gibt?«
»Nein, woher sollte ich …«
»Zwei«, sagt er. »Es war also keine besondere
Meisterleistung. Ein simples Ausschlussverfahren, das den Zufall
ins Kalkül einbezieht. Dass Sie bald nach London kommen würden,
konnte ich mir denken. Sehr viel länger hätten Sie es zu Hause
nicht ausgehalten. Nur den genauen Zeitpunkt
wusste ich nicht. Das alles tut natürlich überhaupt nichts zur
Sache. Denn die Sache ist doch die: Wann gehen Sie mit mir
lunchen?«
»Ich weiß nicht.« Lexie reckt das Kinn. »Ich habe
viel zu tun.«
Innes lächelt und schiebt sich eine Idee näher an
sie heran. »Wie wäre es mit Samstag?«
Lexie tut so, als müsste sie ihre Manschette
geradezupfen. »Ich weiß nicht«, wiederholt sie. »Ich glaube,
samstags muss ich arbeiten.«
»Ich auch. Um ein Uhr, was meinen Sie? Sie haben
doch eine Mittagspause, oder nicht? Wo arbeiten Sie? Können Sie
jetzt sechzig Wörter in der Minute tippen?«
Sie starrt ihn erstaunt an. »Sagen Sie bloß, daran
erinnern Sie sich noch?« Sie fängt an zu lachen. »Und daran, dass
ich nach Kentish Town in eine Ledigenpension ziehen wollte?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich vergesse nie
etwas. Was entweder eine Art Behinderung ist oder eine geniale
Begabung. In meinem Fall weiß ich das nicht so genau. Was ich
einmal gehört habe, bleibt jedenfalls hier drin.« Er tippt sich an
den Kopf. »Für immer.«
Unwillkürlich stellt sie sich vor, wie es unter
seiner Schädeldecke von Informationen nur so wimmelt. »Ich weiß
nicht, wann ich wegkann. Es ist schließlich meine erste Woche
…«
»Schon gut, schon gut. Ich mache Ihnen einen
Vorschlag. Kommen Sie doch einfach zu mir. Ich bin in meiner
Redaktion in Soho. Den ganzen Tag und wahrscheinlich auch die ganze
Nacht. Wann immer es Ihnen passt. Wenn Sie Feierabend haben. Haben
Sie meine Visitenkarte noch?«
Lexie nickt.
»Gut. Die Adresse steht drauf. Dann sehen wir uns
am Samstag?«
»Ja.«
Er lächelt und zögert kurz. Lexie fragt sich, ob er
sie wohl küssen wird. Aber er küsst sie nicht. Ohne eine
Abschiedsgeste geht er die Treppe hinunter und über die
Straße.

Am Rand von Soho bleibt Lexie stehen. Sie tastet
nach Innes Kents Zettel und Visitenkarte, die sie seit dem Tag, an
dem sie ihn kennengelernt hat, in ihrer Handtasche bei sich trägt.
Sie muss sie nicht lesen, aber sie tut es trotzdem.
Herausgeber, steht da, elsewhere magazine, Bayton Street,
Soho, London WI.
Am Morgen war Lexie Mrs. Collins auf der Treppe in
die Arme gelaufen, und ihr rutschte aus Versehen heraus, dass sie
im Laufe des Tages nach Soho wollte. Die Wirtin reagierte
schockiert. Lexie wollte wissen, warum. »Soho?«, antwortete Mrs.
Collins. »Da treiben sich doch nur Trinker und Künstlertypen
herum.« Sie kniff die Augen zusammen. »Sie«, sagte sie und zeigte
mit dem Finger auf Lexie. »Sie wollen immer wissen, warum. Neugier
ist der Katze Tod.« Lexie lachte. »Aber ich bin keine Katze, Mrs.
Collins«, rief sie und sprang die letzten Treppenstufen
hinunter.
Lexie blickt die Straße hinauf, die auf ihrem
Stadtplan als Moor Street verzeichnet ist. Für ein Viertel, in dem
es von Trinkern nur so wimmelt, kommt es ihr ruhig und f riedlich
vor. Ein Auto parkt am Bordstein; ein Mann lehnt an einem
Türpfosten und liest Zeitung; eine Markise über einem Laden ist
halb eingerollt; eine Frau beugt sich aus einem Fenster im dritten
Stock und gießt ihren Blumenkasten.
Lexie macht einen Schritt nach Soho hinein, dann
noch
einen und noch einen. Sie hat das seltsame Gefühl, sich selbst gar
nicht zu bewegen, als ob sich der Bürgersteig unter ihr
hinwegschiebt und die Häuser und Straßenschilder an ihr
vorbeigleiten. Ihr Schuhe machen beim Gehen ein helles Geräusch:
tock-tock. Der Mann mit der Zeitung blickt auf. Die Frau im
Fenster hält mit dem Blumengießen inne.
Sie kommt an einem Käseladen vorbei, in dessen
Schaufenster sich wagenradgroße Laibe stapeln. Ein Mann in einer
weißen Schürze steht im Eingang und ruft einer Frau mit Kind auf
der anderen Straßenseite in einer fremden Sprache etwas zu. Er
lacht Lexie an und nickt, sie lächelt zurück. Vor einem Café um die
Ecke unterhalten sich Männer in einer anderen fremden Sprache. Sie
bilden eine Gasse, durch die Lexie knapp hindurchpasst, und einer
von ihnen spricht sie an, aber sie dreht sich nicht um.
Die Gebäude stehen dicht an dicht, dunkler
Backstein, enge Straßen. In der Gosse strömt und plätschert noch
das Regenwasser. Um die nächste Ecke und die übernächste, vorbei an
einem chinesischen Lebensmittelladen, wo eine Frau narbige gelbe
Früchte zu einer Pyramide auftürmt, vorbei an einem Eingang, in dem
zwei lachende schwarze Männer auf Stühlen sitzen. Mitten auf der
Straße eine Schar Matrosen in blau-weißen Uniformen, die im Chor
schief und holprig ein Lied singen; ein Botenjunge auf einem
Fahrrad, der um die Seeleute herumkurven muss, dreht sich
schimpfend nach ihnen um. Zwei oder drei Matrosen, die sich darüber
ärgern, sprinten hinter ihm her, aber der Junge tritt kräftig in
die Pedale und verschwindet um die nächste Ecke.
Das alles sieht Lexie. Ihr entgeht nichts. Und
alles, was sie sieht, scheint wichtig zu sein: das flatternde Band
an der Mütze eines der Matrosen, die rotbraune Katze, die sich auf
einem Fensterbrett putzt, die Dampfschwaden, die vor einer
Bäckerei in der Luft wabern, die - italienischen, portugiesischen?
- Wörter in Kreideschrift auf einer Tafel, die neben einem Laden
hängt, die mit Gelächter durchsetzten Melodienfetzen, die aus einem
vergitterten Kellerfenster auf den Bürgersteig wehen, der Mantel
mit dem Pelzkragen und die Tasche mit dem goldenen Verschluss der
Frau, die ihr auf der anderen Straßenseite entgegenkommt. Mit einem
Gefühl, das zwischen Panik und Euphorie hin und her schwankt, saugt
Lexie alles in sich auf, jedes noch so kleine Detail: Es ist
vollkommen, alles hier ist vollkommen, es könnte nicht vollkommener
sein, aber was, wenn sie sich nicht alles merken kann, was, wenn
ihr auch nur die winzigste Kleinigkeit entgeht?
Etwas unvermittelt findet sie sich auf einmal vor
dem Haus in der Bayton Street wieder. Es ist zwischen zwei höhere
Gebäude eingezwängt und hat eine symmetrisch gestaltete Front; in
der Mitte die Eingangstreppe und rechts und links davon
Schiebefenster. Von den Fenstersimsen und der Regenrinne schält
sich in Kringeln die Farbe ab. Im zweiten Stock fehlt eine
Scheibe.
Hinter den Fenstern im Erdgeschoss kann Lexie
etliche Leute erkennen. Zwei Männer halten etwas ans Licht und
betrachten es angestrengt, eine Frau telefoniert, nickt und macht
sich Notizen. Eine andere misst mit einem Lineal ein Blatt Papier
ab und unterhält sich über ihre Schulter hinweg mit einem Mann, der
hinter ihr an einem Schreibtisch sitzt. In einer Ecke des Raums
drängt sich eine Menschentraube vor einigen Seiten, die an die Wand
geheftet sind. Und neben den Männern, die etwas ans Licht halten,
steht Innes, ohne Jacke und mit hochgekrempelten Ärmeln.
Innes ist zur Zeit wie elektrisiert von seiner
Zeitschrift. Das ganze Blatt wird komplett umgestaltet -
Aufmachung,
Inhalt, Ausstrahlung. Die erste runderneuerte Ausgabe ist einer
Künstlerin gewidmet, von der Innes überzeugt ist. Er glaubt, dass
sie Zukunft hat und dass man sich noch lange an sie erinnern wird,
nachdem all diese Leute hier zu Staub zerfallen sind.
Staub ist überhaupt ein Thema, das ihn heute stark
beschäftigt. Die Künstlerin arbeitet nämlich mit weißem Lehm, den
sie so lange bürstet und glättet, bis er die Textur von warmem
Kinderfleisch annimmt, was unweigerlich dazu führt, dass …
Fleisch? Innes stolpert über das Wort und bleibt
daran hängen. »Fleisch« ist kein gutes Wort. Doch halt: Muss es
zwangsläufig Tod bedeuten? Nein, muss es nicht. Aber dass es ihn
impliziert, genügt Innes, um das Wort aus dem Absatz zu tilgen, an
dem er im Geiste feilt, während er den Fotografen darauf hinweist,
dass er bei diesen Aufnahmen Staub auf dem Objektiv gehabt haben
muss, denn die Klarheit und das leicht schmutzige Weiß, die das
Erkennungszeichen dieser Künstlerin sind, kommen überhaupt nicht
heraus.
Innes fährt gedanklich mehrgleisig. Er denkt: Ist
es richtig, den Titelkopf leicht angeschrägt zu platzieren? Kommt
so die Schlichtheit der neuen Schrifttype ausreichend zur Geltung?
Denn die Schrift muss schlicht sein, Helvetica vielleicht oder Gill
Sans, auf keinen Fall Times oder Palatino, sie darf nicht von der
Aufnahme der Skulptur ablenken. Er denkt: Warmes Kinderfleisch?
Nein. Braucht er das Wort »Kind« überhaupt? Warme Haut? Warmes
Fleisch? Kann die Nebeneinanderstellung von »warm« und »Fleisch«
die Anklänge an den Tod aufheben? Er denkt: Überlasse ich es
Daphne, in der Druckerei anzurufen, oder kümmere ich mich doch
lieber selbst darum?
Während er durch das Büro geht, fällt sein Blick
aus dem Fenster, und er ist so versunken in die Gedanken an seine
Zeitschrift, dass sich das Bild der Frau auf dem Bürgersteig in
seinen Kopf stiehlt wie ein Geräusch in die Träume eines
Schlafenden. Augenblicklich sieht Innes die Frau neben ihm am
selben Tisch an einer Schreibmaschine sitzen, die eleganten Knöchel
übereinandergeschlagen, das Kinn in die Hand gestützt, den Kopf zur
Seite gedreht, um auf die Straße hinausblicken zu können, während
sie nachdenkt.
Innes bleibt wie angewurzelt stehen. Der Titelkopf
darf nicht angeschrägt sein. Er muss gerade sein, rechtsbündig,
ganz unten auf der Titelseite. Das hat es noch nie gegeben! Als
Schrift kommt nur Gill Sans in Frage, fett, 48 Punkt,
Kleinbuchstaben. So:
elsewhere
Und darüber schwebt dann die Aufnahme von der
Skulptur, als wäre der Titelkopf, der Name der Zeitschrift, der
Boden, der Tragbalken, das Sprungbrett des Werks. Was ja, wie Innes
findet, auch irgendwie stimmt!
»Halt!«, ruft Innes dem Layouter zu. »Augenblick.
Ganz nach unten damit. So. Nein, hierher. Gill Sans, fett, 48
Punkt. Ja, Gill Sans. Nein. Perfekt. Ja.«
Die Männer mit den Kontaktabzügen, Daphne am
Telefon, der Filmkritiker, der gerade zu Besuch ist, und der
Layouter lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, als Innes erst
sekundenlang die Tür anstarrt und dann urplötzlich nach draußen
stürmt.
Innes Kent springt die Treppe hinunter. »Sie«, sagt
er. »Sie haben mich warten lassen. Kommen Sie sofort hierher.« Er
breitet schwungvoll die Arme aus.
Lexie blinzelt. Sie hat noch ihren Stadtplan und
seine
Visitenkarte in der Hand. Aber sie geht zu ihm - wie auch nicht?
-, und er umfängt sie in einer Umarmung. Während sich ihr Gesicht
in seinen Anzug presst, hat sie auf einmal den Eindruck, dass sich
der Stoff bekannt anfühlt. Sie streicht mit der Fingerkuppe
darüber, macht sich los und sieht ihn sich genauer an.
»Filz«, sagt sie.
»Wie bitte?«
»Filz. Ihr Anzug ist aus Filz.«
»Ja. Gefällt er Ihnen?«
»Ich weiß nicht.« Nachdenklich tritt sie einen
Schritt zurück. »Ich habe noch nie einen Anzug aus Filz
gesehen.«
»Das kenne ich.« Er grinst. »Das ist ja gerade der
Clou. Mein Schneider wusste auch nicht, was er davon halten sollte.
Aber zum Schluss habe ich ihn dann doch überzeugt.« Er nimmt ihre
Hand und zieht sie mit sich. »Also dann. Lunch. Haben Sie Hunger?
Hoffentlich gehören Sie nicht zu den jungen Frauen, die nichts
essen.« Er redet fast so schnell, wie er geht. »Sie sehen nicht so
aus, als ob Sie viel essen. Aber ich bin halb verhungert. Ich
könnte eine ganze Schafherde vertilgen.«
»Sie sehen auch nicht gerade wie ein großer Esser
aus.«
»Bin ich aber. Der Schein trügt. Sie werden schon
sehen.«
Zügig marschieren sie die Straße entlang, eine
Gasse hinunter, um eine Ecke, vorbei an einem Mann, der mit zwei
Frauen Händchen hält, eine auf jeder Seite, beide mit glänzenden
Ledergürteln, alle drei lachend. Vorbei an einem Laden mit
ausländischen Zeitungen auf Drehständern, vorbei an einer Gruppe
dunkelhäutiger Mädchen, die schwere Säcke tragen. Vor einem
Restaurant bleibt Innes stehen. Über der Tür blinkt in blauer
Neonschrift der Name: »APOLLO«. Er hält ihr die Tür auf. »Da wären
wir«, sagt er.
Aus der Sonne heraus geht es eine dunkle
Wendeltreppe hinunter, die in einen niedrigen Raum führt. Auf den
Tischen flackern Kerzen, die in Weinflaschen stecken. In einer Ecke
spielt ein Mann, der einen federgeschmückten Frauenhut trägt, mehr
schlecht als recht Klavier. Zwei andere Männer, die sich rechts und
links zu ihm auf die Bank gequetscht haben, unterhalten sich laut
über seinen Kopf hinweg. Ganz egal, was draußen jetzt für eine
Tageszeit wäre, denkt Lexie, egal ob Nachmittag oder Mitternacht,
hier unten bekäme man nichts davon mit. Von einer Männergruppe, die
an drei aneinandergeschobenen Tischchen hockt, wird Innes mit
lautem Rufen, erhobenen Weingläsern und raumgreifendem Winken
begrüßt. Einer fragt: »Ist das deine Neue?« Und: »Was ist denn aus
Daphne geworden?«
Innes hakt Lexie unter und führt sie ans hintere
Ende des Lokals. Pfiffe und Gejohle schallen hinter ihnen her. Sie
setzen sich in eine Nische, einander gegenüber.
»Wer sind die?«, fragt Lexie.
Innes dreht sich um und lässt den Blick über die
Männer schweifen, die angefangen haben, den Klavierspieler mit
Kerzenstummeln zu bewerfen, und lautstark nach Wein verlangen. »Sie
haben viele Namen«, antwortet er, als er sich ihr wieder zuwendet.
»Sie nennen sich Künstler, aber ich würde sagen, dass nur einer
oder höchstens zwei von ihnen diese Bezeichnung verdienen. Die
anderen sind Säufer und Schnorrer. Einer ist Fotograf. Und einer«,
er beugt sich vor, »ist eine Frau, die sich als Mann ausgibt. Aber
ich bin der Einzige, der das weiß.«
»Wirklich?« Lexie ist fasziniert.
»Na ja.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich und ihre
Mutter. Und ihre Geliebte, würde ich mal vermuten. Es sei denn, sie
wäre besonders unterbelichtet. Was wollen wir essen?«
Vergeblich versucht Lexie, die Speisekarte zu
lesen. Sie ist abgelenkt von Innes in seinem blauen Filzanzug, der
konzentriert die Karte studiert, von den Künstlern oder Säufern,
von denen sich inzwischen einer die Kellnerin - eine rotgesichtige,
üppige Mittfünfzigerin - auf den Schoß gesetzt hat, von den leeren
Weinflaschen, die auf den Wandbrettern aufgereiht sind, von den
Wirbelmustern auf der Tischplatte.
»Was haben Sie?« Innes tippt ihr auf den Arm.
»Ach, ich weiß auch nicht«, bricht es aus ihr
heraus. »Ich wünschte bloß … Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich
hätte rote Stöckelschuhe und goldene Kreolen.«
Innes verzieht das Gesicht. »Dann würden Sie nicht
mit mir hier sitzen.«
»Nein?«, sagt sie. Innes holt seine Zigaretten
heraus. »Könnte ich auch eine haben?«
Während er mit dem Streichholz zwei Zigaretten
gleichzeitig anzündet und eine an sie weiterreicht, wendet er nicht
für eine Sekunde den Blick von ihrem Gesicht. »Sie wünschen sich in
Wirklichkeit gar keine goldenen Kreolen, das bilden Sie sich nur
ein.«
Lexie steckt die Zigarette in den Mund. »Woher
wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß, was Sie brauchen«, sagt er leise. Er
sieht ihr noch immer in die Augen.
Sie stutzt, dann fängt sie an zu lachen, auch wenn
sie es sich selbst nicht recht erklären kann. Was meint dieser
Mensch bloß damit? So schnell es gekommen ist, so schnell bricht
ihr Lachen auch wieder ab, denn auf einmal regt sich ein fremdes
Gefühl in ihr, in den Tiefen ihres Körpers. Es ist, als ob ihr Blut
und ihre Knochen ihn gehört haben und ihm antworten. Darüber muss
sie wieder lachen, und er fällt in ihr Lachen ein, als ob er
verstanden hätte.
Er legt seine Hand um ihr Gesicht und fährt mit dem
Daumen die Konturen ihres Kinns ab.
In Innes geht etwas Ungewöhnliches vor. Er versteht
es selbst nicht ganz. Aber er kann genau sagen, wann es angefangen
hat, diese leise Verrücktheit, diese Besessenheit: Als er vor gut
zwei Wochen über eine Hecke spähte und eine Frau auf einem
Baumstumpf sitzen sah. Er schaut auf den Tisch, auf den Boden.
Einen Augenblick lang spürt er die riesigen Ausmaße der Stadt, ihre
ganze Vitalität und Weite, und es ist ein Gefühl, als ob er und
dieses Mädchen, diese Frau, sich genau in ihrem Zentrum befänden,
im Auge des Sturms, als ob sie dort ganz allein wären. Er sieht sie
einmal kurz von der Seite an, aber nur, um einen Blick auf ihre
übereinandergelegten Handgelenke zu erhaschen und wie sich die
Ärmel darüberbreiten.
Es kommt ihm merkwürdig und zugleich vollkommen
selbstverständlich vor, dass sie hier mit ihm sitzt. In ihm regt
sich der unbestimmte Wunsch, ihr etwas kaufen zu wollen - egal was.
Ein Gemälde. Einen Mantel. Ein Paar Handschuhe. Er würde ihr gern
dabei zusehen, wie sie ein Geschenk auspackt, wie ihre Finger das
Band lösen und das Papier zurückschlagen. Aber er schiebt den
Gedanken beiseite. Er darf keinen Fehler machen, nicht dieses Mal,
nicht bei ihr. Er weiß nicht, warum, doch er erkennt, dass diese
Frau anders ist, dass er sie braucht. Ein unerklärlicher
Gedanke.
Um sich abzulenken redet er. Er erzählt ihr von
seiner Zeitschrift, von seiner letzte Reise nach Paris, wo er
mehrere Gemälde und zwei Skulpturen gekauft hat. Er handelt nämlich
nebenher ein wenig mit Kunst. Das müsse er, weil die Zeitschrift
überhaupt kein Geld abwerfe. Die Skulpturen seien von unbekannten
Künstlern, und genau das sei für ihn das Auf regende daran. Das
Werk eines etablierten Künstlers
kaufen könne schließlich jeder. An dieser Stelle unterbricht sie
ihn: Jeder, der Geld hat, und er nickt und sagt: Stimmt. Aber um
auf einen Unbekannten zu setzen, brauche man Sachverstand und eine
gehörige Portion Wagemut. Er könne nicht beschreiben, was für ein
Gefühl es sei, wenn man in das Atelier eines Künstlers komme und
sofort wisse, jawohl, das ist es, das hat etwas. Und dann
beschreibt er es ihr in aller Ausführlichkeit.
Er erklärt, wie er ein Kunstwerk verpacken lässt,
erst in Sägespäne, dann in Zeitungspapier und zuletzt in Kisten.
Nachdem er es wieder ausgepackt habe, müsse er mit einem weichen
Naturhaarpinsel das Sägemehl abstauben. Diese Aufgabe vertraue er
nie jemand anderem an, was, wie er zugibt, ein wenig lächerlich
sei. Denn es bedeute, dass er die meisten Abende mit einem kleinen
Pinsel in der Hand im Hinterzimmer der Redaktion verbringe. Beim
Bilderpinseln?, sagt sie, und er lacht. Ja, so könne man es
ausdrücken.
Sie stellt nicht viele Fragen, aber sie hört zu.
Mein Gott, und wie sie zuhört. Wie ihm noch nie ein Mensch zugehört
hat. Als ob jedes einzelne seiner Wörter Sauerstoff enthielte. Mit
großen Augen und vorgebeugtem Oberkörper. So konzentriert, dass er
sich am liebsten so weit zu ihr neigen würde, bis sich ihre Köpfe
berühren, um sie flüsternd zu f ragen: Was? Was ist es, was ich
sagen soll? Worauf wartest du, auf welches Wort?
Sein Vater, erzählt er ihr, war Engländer, seine
Mutter eine Mestizin aus dem damals noch unter spanischer
Kolonialherrschaft stehenden Chile. Halb chilenisch, halb
schottisch, daher sein schottischer Vorname und seine schwarzen
Haare. Lexie fallen fast die Augen aus dem Kopf. Seine Mutter
stammte aus Valparaiso, sagt er. Lexie bildet das Wort mit den
Lippen nach, als ob sie es sich genau einprägen
wolle. Sein Vater sei nach Chile geschickt worden, um dort sein
Glück zu machen. Er sei der zweitgeborene Sohn wohlhabender Eltern
gewesen. Als er zurückgekommen sei, habe er ein Vermögen
mitgebracht und eine recht exotische Ehefrau. Er sei bei einem
Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als Innes zwei Jahre alt war.
Können Sie sich noch an ihn erinnern?, fragt Lexie, und Innes sagt,
nein, überhaupt nicht. Seine Mutter habe immer davon gesprochen,
nach Chile zurückzukehren, aber sie sei in England geblieben. Sie
hätte es ohnehin nicht gekonnt. Warum nicht?, will Lexie wissen.
Anscheinend will sie immer alles wissen. Weil es dort nichts mehr
für sie gab, sagt er, nichts, was sie noch kannte. Es ist heute ein
anderes Land.